Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Sommerabend leuchtete über dem See. Lustig rauschte der frische Ostwind daher und blähte die weißen Segel auf, die hier und da über den See geschwommen kamen. An der Mauer hart am Wasser sprangen die Wellen hoch auf und spritzten den weißen Schaum bis zum Rand empor, wo zwei Kinder saßen, Mädchen von zehn bis elf Jahren, die bemüht waren, ihre glühenden Gesichter in dem frischen Schaume abzukühlen. Ringsum im Grase unter den hohen Pappeln und am Rande des Kiesweges saßen die Gruppen der Gespielinnen, sichtlich erschöpft vom fröhlichen Rennen und Jagen und nun, je nach Anlage und Bedürfnis, still oder laut die wohltuende Pause genießend. Drüben im dichtbelaubten Gartenhaus saßen die Lehrerinnen, die mitgekommen waren, das Fest zu feiern, eben jetzt aber, ihres Amtes eingedenk, mit ernsten Worten das Wohl der Schule besprachen.
Ein Ferientag hatte die Kinder zu fröhlichem Spiel versammelt, es war das alljährliche Fest des »Lustigmachens«, wie es genannt wurde.
Die Freundinnen auf der Mauer hatten schon eine Weile lang schweigend dagesessen, ihre Gesichter waren längst abgekühlt.
Nanny, die kleine, gewandte, mit den etwas struppigen Locken und dem künstlerisch umgeworfenen Jäckchen, folgte den Blicken der neben ihr sitzenden Freundin Hetty, sie waren schon längere Zeit unverwandt auf die hohe Pappel gerichtet, an deren Stamm gelehnt eines der Mädchen in Gedanken versunken stand.
Die hohe, schlanke Gestalt, der Ausdruck, das ganze Wesen der Staunenden schienen auf ein vorgerückteres Alter hinzuweisen als das der anderen Kinder, und doch wäre diese Annahme wohl irrig gewesen, da sie alle zu derselben Klasse gehörten und diese Schülerin unter jüngere, als sie selbst war, unmöglich konnte eingereiht worden sein.
Das Mädchen schaute mit den dunkeln Augen wie träumend über den See hin. Das reiche, braunlockige Haar spielte um ihr warmes Gesicht und ringelte sich weit über die Schultern herab.
»Hab' ich dir's nicht gesagt, daß sie anders ist als alle anderen?« sagte jetzt Nanny, die Freundin aus ihrem stillen Staunen weckend. Das war gerade, was Hetty dachte. Den ganzen Abend schon hatte sie mit unermüdlicher Aufmerksamkeit jede Bewegung des Mädchens verfolgt, das sie heute zum erstenmal sah, denn noch war es nicht lange her, daß Olga zu diesem Kreise gehörte, und Hetty selbst war darin nur ein vorübergehender Gast, eingeführt von Nanny, der nahen Freundin, bei der sie oftmals wie auch heute sich als Besuch aufhielt. Hetty lebte nicht in der Stadt, wohin die Mädchenschule gehörte, ihr Vaterhaus stand draußen im grünen Hügelland.
»Wenn ich nur zeichnen könnte wie du,« sagte Hetty, »ich würde jetzt gleich Olga abzeichnen und für mich behalten. Sieh, wie sie dort steht! Sie gefällt mir so gut; da, zeichne sie doch schnell hin!«
Hetty hatte ein kleines Notizbuch hervorgezogen und hielt es Nanny hin.
»Kann man nicht!« entgegnete diese mit Kennermiene. »Siehst du, jetzt ist das Gesicht schon wieder ganz anders, und jetzt wieder! Siehst du wohl? Ich will dir sagen, Hetty, wie Olga geht und steht und wie sie die Arme bewegt und den Mund, und wie sie alles sagt, das ist das Netteste an ihr – das kann man aber nicht zeichnen.«
Was das Netteste war, wußte Hetty gar nicht, die ganze Erscheinung hatte einen Zauber, der sie vollkommen fesselte, so daß sie nicht einmal Worte finden konnte für all die Fragen, die in ihr aufstiegen Wer dieses unerklärlich fest bannende Wesen. Endlich, vor lauter Fülle, kam die nüchterne Frage heraus:
»Habt ihr alle sie gern in der Klasse?«
»Ob wir sie gern haben?« versetzte Nanny ziemlich entrüstet; »wir sind immerfort alle im Streit, wer mit ihr und neben ihr gehen und sitzen dürfe, und wer ihre beste Freundin sei; jetzt bin ich es aber!«
Und Nanny setzte ihren Kopf etwas höher auf im Bewußtsein ihrer Stellung.
Hetty hörte mit größter Spannung die Mitteilungen an. Bis jetzt hatte sie zwar die Stelle der besten Freundin bei Nanny versehen und sich von dieser wiederum dieselbe versehen lassen; doch begriff sie vollkommen, daß, wo Olga eintrat, jede andere weichen mußte. Indessen mußte dieser Gedanke an die ältere Freundschaft soeben auch in Nanny aufgestiegen sein.
»Weißt du,« fügte sie hinzu, »deswegen bin ich doch auch deine beste Freundin geblieben, das kann ich beides sein.«
Hetty war's recht so.
»Und siehst du,« fuhr Nanny fort, »alle Menschen müssen sie gernhaben. Die Lehrer sind alle parteiisch für sie, und wir werden nicht einmal böse darüber. Sie ist aber auch in allem geschickt; du solltest nur ihre Aufsätze lesen und du solltest sie erst deklamieren hören! Du hast keinen Begriff davon!«
Nein, Hetty hatte keinen Begriff davon, nur Staunen und eine wachsende Bewunderung. Immer höher stand vor ihren Augen das Wesen da, das sich drüben an die Pappel lehnte.
»Hat sie auch Fehler?« fragte jetzt Hetty fast ängstlich.
»Nein, nein!« antwortete Nanny beruhigend. »Alles, was nicht schön ist und nicht besonders und ganz vollkommen, das ist ihr zu gering. Sie zankt auch nie, sie sieht dich nur an, wenn du ihr etwas zuleide tust, und sagt: ›Gering!‹ und kehrt dir den Rücken, aber dann für länger.« Hetty war außerordentlich froh, daß Olga keine Fehler hatte; das ideale Bild, das vor ihr stand, hätte sie nicht gern durch einen Flecken verdorben gesehen.
Olga war von der Pappel weggegangen und hatte sich in der Gruppe der Kinder verloren, die um einen alten Baumstamm sich gesammelt hatten, den Efeu davon wegzulösen und Kränze und Kronen daraus zu schlingen.
Hetty hatte sich dem See zugekehrt und schaute in die Wellen, die nun leiser und leiser heranplätscherten im stiller werdenden Abendwind. Wo die Mauer aufhörte und das Ufer wenig abschüssig war, da stand ein alter Weidenbaum am See; seine langen Zweige hingen tief hinunter bis ins Wasser und wiegten sich auf den sonnigen Wellen.
»Sieh 'mal, Nanny,« sagte nach einer Weile Hetty, »was sitzt dort unter der Weide und schimmert so rot, siehst du's?«
»Freilich seh' ich's,« lachte Nanny, »und das rote Jäckchen kenn' ich auch. Von hier aus sieht's aus wie ein Herrgottskäferchen im Gras, aber es ist das enorm komische Mädchen von da hinten im Lande. Es gehört nicht zur Schule; weil es zu Besuch ist bei einem der Mädchen von der Klasse, ist es mit eingeladen worden.«
»Hör' Nanny,« sagte Hetty etwas kriegerisch, »nennt ihr mich auch ›das enorm komische Mädchen‹, wenn ich nicht dabei bin? Ich bin ja auch von da hinten oder doch von da oben im Lande.«
»Ich denke, du wüßtest dich zu wehren, wenn wir's versuchten,« entgegnete Nanny schlagfertig; »aber da kann ich nicht helfen, an diesem Mädchen ist alles komisch von oben bis unten und dazu noch dieser Name! Wer wird denn Martine heißen!«
So hieß das Mädchen wirklich, das einsam im roten Jäckchen dort unter der Weide saß.
In Hettys Herzen stieg eine rege Teilnahme auf für den Fremdling. War sie selbst auch nah befreundet mit der gesellschaftssicheren Nanny und durch sie mit dem ganzen Kreise der kleinen Städterinnen, so hatte sie doch ein Verständnis und ein sympathisches Gefühl für die schöne Martine, die sich heute zum erstenmal unter der lebendigen Schar der schmucken Stadtmädchen befand.
Hetty sprang von der Mauer und ging der Weide zu. Sie hatte Martine vorher nicht gekannt; nur bei den Spielen des heutigen Tages war sie etwas in ihre Nähe gekommen, hatte ihr auch, ihrer ganzen Erscheinung nach, gleich das Kind vom Lande angemerkt, das nur vorübergehend zu dem Kreise gehören konnte. Als Hetty sich der Weide näherte, bemerkte sie, daß Martine, ihren Kopf in die Hände drückend, leise weinte.
»Was fehlt dir, Martine?« fragte Hetty, zu ihr herantretend.
»Nichts!« war die Antwort.
Der Kopf blieb auf den Armen liegen.
Diese Sprache verstand Hetty.
»Nichts,« hieß in solchen Fällen ja auch bei ihr, wie bei allen anderen Kindern gerade soviel wie: Es geht mir so schlimm, daß ich's gar nicht sagen will.
Hetty setzte sich neben Martine auf den Grasboden und schaute eine Zeitlang ins Wasser, auf dem die Weidenzweige leise hin und her schwammen.
Martine weinte fort.
»Hast du Heimweh, Martine?« fing Hetty wieder an.
»Nein.«
»Hat dir jemand etwas zuleide getan?«
»Nein, gerade im Gegenteil.«
»So? Etwas zulieb getan?«
»Nein, nicht so.«
»Was denn getan?«
»Gar nichts getan.«
Hier gewann Hettys angeborene Heiterkeit die Oberhand, sie brach in ein lautes Lachen aus. Erstaunt hob Martine den Kopf in die Höhe, und plötzlich angesteckt von der Heiterkeit, stimmte sie laut mit ein, während sie noch die Tränen wegzuwischen hatte.
»Es ist wie ein Rätsel, Martine, komm, ich will's gleich erraten,« sagte Hetty, sich zum Nachdenken in Bereitschaft setzend.
»Nein, nein!« rief Martine abwehrend, »es ist gar nichts Lustiges, rate nur nicht. Ich würde dir's schon sagen, aber du würdest nur lachen.«
Hetty versprach, durchaus nicht zu lachen; auch nicht einmal Lust zum Lachen wollte sie bekommen.
»Und siehst du, Martine,« sagte sie überzeugend, »du kannst wohl Zutrauen zu mir haben, ich bin zu dir hierhergekommen, weil es mir leid tat, daß du so allein hier unter der Weide sitzest.«
»Nun, so will ich dir's sagen,« sagte Martine entschlossen. »Siehst du, diesen ganzen Nachmittag hat mich Olga nicht ein einziges Mal gerufen beim Spiel und mir auch nicht einmal den Ball geworfen und mich auch gar nie angesehen, und ich weiß schon, warum; sie wird mich auch ihr Lebenlang nie ansehen, und doch wollte ich gern auf der Stelle für sie ins Wasser springen, wenn sie nur wollte; aber sie will nichts von mir, und ich weiß schon, warum.«
Martine hielt inne, vor Bewegung hatte sie ganz den Atem verloren.
Hetty war sehr erstaunt. Diesen Grund der Traurigkeit hatte sie nicht erwartet, noch viel weniger die leidenschaftliche Erregung der stillen, scheuen Martine.
»Aber was kann Olga nur gegen dich haben, wenn du sie doch so gern magst?« fragte Hetty, während ihr Erstaunen teils in Neugierde, teils in Teilnahme überging.
»Das will ich nicht sagen, und keinem Menschen; frag' mich nur nicht mehr.« Und Martine kreuzte ihre Arme fest übereinander, als wollte sie einen Riegel vorschieben.
Nun fing Hettys rege Phantasie zu arbeiten an. Was konnte das Unbekannte sein, das Martine nie aussprechen würde und das Olga so gänzlich von ihr abgeschreckt hatte?
»Martine, hast du etwas Furchtbares getan?« fragte sie mit gedämpfter Stimme, denn drohende Bilder unbestimmter Untaten schwebten ihr vor.
»Gar nichts habe ich getan,« antwortete Martine trocken.
»Ja, was ist denn das für ein Geheimnis?« rief Hetty jetzt ungeduldig aus.
»Nun weiß ich, was ich tue,« rief Hetty, »ich laufe hin und frage Olga selbst.« Sie sprang auf. Aber auch Martine war aufgesprungen, mit kräftigem Arm hielt sie Hetty fest und sagte in großer Aufregung:
»Nein, nur das nicht; lieber sage ich's selbst.«
Sie zog Hetty auf ihren Sitz zurück. »Komm, ich will's sagen, aber du sagst Olga nie, nie etwas von allem, was wir zusammen geredet haben.«
Hetty versprach. Wieder unter der Weide sitzend, kehrte Martine ihren Rücken gegen Hetty und sagte abgewendet: »Darum kann sie mich nicht leiden, weil ich so häßlich bin.«
»Ach was,« rief Hetty ganz enttäuscht aus, »das ist ja gar nichts! Wie kannst du nur auf solches Zeug geraten? Komm, laß mich mal recht sehen, kehr' dich um!«
Martine gehorchte.
»Du bist ja gar nicht so häßlich, nur ein wenig chinesisch – aber das schadet ja nichts, im Gegenteil, es sieht ganz gemütlich aus.«
»Hast du denn nicht gehört, wie oft sie sagt: ›Gering‹, wenn ihr etwas nicht gefällt, und sich ganz abwendet davon?« sagte Martine immer noch in Aufregung. »So denkt sie auch von mir, ich sei gering, und sie hat recht.«
»Das ist nicht so gemeint,« rief Hetty, »das kann ich dir sagen, du hast ja nichts getan, was ihr mißfiele. Nun komm und sei wieder lustig!« Damit zog Hetty die zögernde Martine vom Boden auf. »Komm, wir wollen auch wieder mitspielen; du hast dir nur etwas eingebildet, am Ende kannst du noch Olgas beste Freundin werden.«
Bei diesen Worten flog ein hohes Rot über Martines Wangen. Die Sache mußte ihr recht tief gehen; Hetty sah es wohl, und die einfache Martine gewann immer mehr Platz in ihrem Herzen.
Die beiden gingen den Pappeln zu, wo die anderen Mädchen längst wieder ihre Spiele begonnen hatten und die Ankömmlinge verwundert begrüßten.
»Ihr seid wenigstens eine Stunde lang fortgeblieben,« rief eins der Mädchen ihnen zu.
»Eine Freundschaft unter einer Trauerweide! Darüber kann man ein Trauerspiel schreiben,« bemerkte die schnippische Malwine.
Eben wollte Hetty ihr eine passende Antwort aufsetzen, als Olga sehr lebhaft ausrief:
»Das gefällt mir! Das gefällt mir! Eine Freundschaft ist etwas Schönes. Wir wollen auch nicht mehr herumrennen, wir wollen gleich Komödie spielen. Wer spielt mit?«
Der Vorschlag wurde von allen Seiten mit Begeisterung ergriffen, Komödie sollte gespielt werden.
»Und ich weiß auch schon, was wir spielen wollen, eben habe ich mir's ausgedacht,« fuhr Olga eifrig fort. »Wir spielen die Bürgschaft; das Stück wird so schön werden, gleich will ich die Rollen verteilen.«
»Wir wollen doch etwas Lustiges spielen,« fiel Malwine ein, »nicht immer solche Sachen, die kein Mensch kennt. Wir wollen das Stück spielen vom Eierdieb und der Frau Wirtin zur Goldenen Gans.«
»Gering,« sagte Olga verächtlich und kehrte der Sprecherin den Rücken zu. »Wer spielt mit mir die Bürgschaft? Ihr beiden doch?« Olga hatte sich zu Hetty und Martine gewandt.
Beide waren damit einverstanden.
»So kommt!« Olga stellte sich vor sie hin. »Ich will also der Tyrann sein, denn ihr wollt natürlich die Freunde vorstellen. Welcher Freund willst du sein, Hetty?«
»Es wäre besser so,« entgegnete diese, »ich bin der Tyrann, du bist der mit dem Dolch im Gewande, und Martine ist der Freund. Sie wird viel besser spielen, wenn sie für dich soll erwürgt werden, als für mich.«
Ganz erstaunt richtete Olga ihre großen Augen auf Martine. »Warum?« fragte sie. Martine war dunkelrot geworden, sie stand da wie eine Schuldige und blickte ängstlich nach Hetty, ob diese sie verraten werde.
»Ich kann mir das schon denken,« war Hettys Antwort.
»Kommt, wir setzen uns dort auf die Mauer und machen aus, was wir zu sagen haben.« Damit nahm Olga Martine bei der Hand mit einer Freundlichkeit, die jedem das Herz abgewonnen hätte. Welchen Eindruck mochte sie auf Martine machen! Nun saßen sie auf der Mauer, und Olga schickte sich an, die ursprünglichen Worte der Ballade so gut wie möglich zu vervielfältigen, denn treu beim Original bleibend schien das Stück als Drama etwas knapp ausfallen zu wollen.
Olga entwarf, deklamierte, verwarf, erfand neue Dinge und warf alles wieder über Bord.
»Nein, es ist alles zu gering,« rief sie aus, »wenn ich's doch nur sagen könnte, so wie ich es inwendig höre. Wenn ich nur die schönsten Worte wüßte, die es gibt! Ich weiß die Sachen so schön, und wenn ich sie in Worten sage, so sind sie gar nicht mehr die gleichen; es ist, wie wenn ich sie verdorben hätte. Wollt ihr mir nicht suchen helfen, ihr beiden?«
»Ich weiß gar nichts von dieser Geschichte,« sagte Martine schüchtern.
»Ach so! Dann will ich gleich einmal das ganze Gedicht hersagen, soll ich?«
Olga schaute die beiden fragend an. Wie gern wollten diese es anhören!
Olga begann. Immer wärmer, immer bewegter kamen die Worte aus ihrer Seele heraus; sie erlebte, was sie vortrug.
Als die Hemmnisse kamen, die den Geängstigten aufhielten, sprang sie von der Mauer herunter, sie mußte mit, sie eilte atemlos.
»Da schimmern in Abendrotsgluten
von ferne die Zinnen von Syrakus.«
Ihre Stimme bebte vor innerer Erregung; einen Augenblick hielt sie inne; dann in den weichsten Tönen tiefen Mitempfindens hauchte sie die rührenden Worte des Wiedersehens der zum Tode getreuen Freunde und des erweichten Tyrannen hervor.
Jetzt schwieg die Stimme. Hetty saß regungslos da. Der Martine liefen die hellen Tränen die Wangen herab. Olga stand an die Mauer gelehnt, bleich vor Erregung. Keines sagte ein Wort.
Die Sonne war im Untergehen. Ein glühendes Rot ergoß sich über die fernen Schneefelder und warf den hellen Schein auf alle Hügel nieder. Wie flammendes Gold leuchtete es über den See hin; auf allen weißen Segeln schimmerte der feurige Widerschein; als hätte der Himmel all seinen Glanz über die Erde ausgegossen, so lag sie da im funkelnden Sonnengold. Es war ein kurzer Augenblick. Die Sonne verschwand, die Berge erbleichten, aller Glanz war erloschen. Aber auf einmal – wollte denn die Sonne zurückkehren? – im durchsichtigen Rosenrot erglühten noch einmal alle hohen Schneegipfel; wie in Verklärung standen sie da und schauten, neues Leben verheißend, in das sonnenverlassene Tal hernieder. Nun war's vorüber. Blaß und kalt standen die Berge, grauer Schatten lag auf dem Tal. Mit mattem Plätschern kamen die Wellen zur Mauer heran, wie leise klagend um des Tages kurze Herrlichkeit.
Die Lehrerinnen hatten sich genaht und suchten ihre Herde zu sammeln. Eine von ihnen trat zu den Mädchen heran, die noch auf der Mauer saßen.
»Kinder, wißt ihr, was ihr hier gesehen habt, wie man dies nennt?« fragte sie.
Was die Kinder gesehen hatten, wußten sie, wie man es nennt, wußten sie nicht; das Bedürfnis, ihm einen Namen zu geben, war nicht in ihnen aufgestiegen.
»Dies nennt man das Alpenglühen,« erklärte die Lehrerin.
Die Kinder sprangen von der Mauer herunter. Schon hatten sich die Reihen der fröhlich plaudernden Schar in Bewegung gesetzt. Hand in Hand wanderten die drei neuen Freundinnen, den Schluß des Zuges bildend, der Stadt zu.
Droben stand die goldene Mondsichel, und flimmernde Sterne erschienen nach und nach aus dem dunkelnden Himmelsgewölbe. Eine Weile gingen die drei schweigend nebeneinander her. Jede in ihrer Weise mit den Eindrücken des Tages beschäftigt.
Plötzlich fragte Olga:
»Bist du auch schon im Theater gewesen, Hetty?«
»Im großen Theater noch nie,« antwortete Hetty mit sichtlichem Erstaunen. »Wie kommen dir aber die Sachen so merkwürdig in den Sinn! Eben dacht' ich, wie schön es heut' war, eins nach dem anderen, und jetzt noch der schöne Mond und alle Sterne, daß man gar nicht heimgehen möchte.«
»Gerade an dies alles habe ich auch gedacht,« sagte Olga, »und so kam mir das Theater in den Sinn. Ihr solltet nur wissen, wie schön es da ist! Alle Menschen sind auch schöner da als draußen, und alle sprechen so schön und sind viel besser und vornehmer, als sonst die Leute sind.«
»Aber weißt du, Olga,« sagte Martine etwas zaghaft erst, dann aber Mut gewinnend im Eifer des Redens, »es ist ihnen nicht Ernst, sie tun nur so dergleichen. Ich habe auch beim Fastnachtsspiel manchmal schon unseres Nachbarn Peter seine schönen Sachen aufsagen hören, aber sonst flucht und schwört er immerfort und haut gleich drein.«
»Nein, nein,« fiel Olga ein, »so sind nur die Geringen, ich kann dir's sagen, die Rechten sind gerade so, wie sie reden, du hättest nur dieses Frühjahr die Dame sehen sollen, die hier spielte als Gast; sie war so, daß ich gar nichts anderes mehr denken konnte als nur an sie und immerfort wünschte und auch jetzt noch, daß ich nur so werden möchte.«
»Gehst du oft ins Theater, Olga?« fragte Hetty.
»Ja, jede Woche,« erwiderte sie, »und oft gehen wir zweimal. Es ist meine größte Freude, ich weiß gar nichts Schöneres.«
»Aber heut abend auf der Mauer am See war's doch auch schön,« sagte Hetty.
»O ja, gewiß,« rief Olga einstimmend, »wir wollen auch gleich einen Freundschaftsbund machen um dieses Abends willen. Wollen wir? Willst du, Hetty?«
»Gewiß!« und Hetty schlug fest ein in die dargebotene Hand.
»Willst du auch, Martine?« wandte sich Olga freundlich an diese.
Ob Martine wollte! Ob sie einen Freundschaftsbund mit Olga eingehen wollte! Sie konnte kein Wort sagen, aber über ihr ehrliches Gesicht ging ein völliges Leuchten. Olga mußte es verstanden haben. Mit unvergleichlicher Anmut legte sie einen Arm um Martines Hals, und den anderen ihr hinhaltend, sagte sie:
»So schlag ein!«
Treulich hatten die drei Menschenkinder, die sich heute zum erstenmal gesehen, ihren Bund geschlossen für das Leben; aber morgen schon sollten sie auseinandergehen, und keines wußte, ob sie sich je wieder zusammenfinden würden. Keines dachte auch nur daran; der Augenblick, in dem sie mit ihrem ganzen Wesen aufgingen, galt ihnen für alle Zeit.
Die Kinderschar war bei der Brücke angekommen, hier schieden sich die Wege. Rechts und links wurden die Hände geschüttelt, und nach reichlichen Ausrufungen von Abschied und Wiedersehen zerstreuten sich die kleinen Gruppen nach allen Seiten. Hetty folgte Nanny über die Brücke nach ihrem gastlichen Elternhause.
Als Hetty am folgenden Morgen erwachte, lag es ihr ganz sonnig im Gemüte; es war die Erinnerung an die gestern geschlossene Freundschaft. Sie besann sich über alles und ließ noch einmal den ganzen Abend an ihren Augen vorübergehen. Nun sie aber weiter nachdachte, um sich klar zu machen, wo die Freundinnen lebten und was um und an zu ihrem Dasein gehörte, da fand sie sich ganz im Dunkeln: die beiden standen für sie wie in der Luft, ohne Boden und Umgebung. Nanny mußte da Bescheid wissen. Sobald diese ihren Kopf aus den Kissen erhob, wurde sie mit Fragen bestürmt. Wo stand das Haus, worin Olga wohnte? Mit wem lebte sie? Hatte sie auch Geschwister? Konnten sie denn nicht dazu gelangen, Olga noch zu sehen an diesem Morgen? Am Nachmittag war Hettys Abreise festgesetzt; war da keine Möglichkeit, sie irgendwo zu finden?
Nanny gab ziemlich lakonische Antworten. Olga lebte mit Vater und Mutter, wie jedermann, meinte sie. Geschwister hatte sie, aber viel ältere, sie lebten nicht mehr im Elternhaus, Nanny kannte sie nicht.
Die Mädchen hatten sich unterdessen fertig gemacht, viel früher als gewöhnlich, denn Hetty war in der Freude ihres Herzens in aller Frühe erwacht. Nun öffnete Nanny ihr Fenster.
»Komm hierher, Hetty,« sagte sie, »nun will ich dir erklären, wo Olga ist. Siehst du jenes hohe Dach? Das ist ihr Haus. Nun denk dir unten den See, den kannst du nicht sehen, dort hinaus gehen die Fenster; an einem sitzt die Mutter in einem Lehnstuhl und ist krank immerfort und hat eine weiße Haube auf und ist ganz weiß im Gesicht und spricht nur mit dem Hauch. Da muß man immer leise tun im Haus, und wer nicht eine nahe Freundin der Olga ist, der kommt gar nicht hinein. Es ist gar nicht so leicht, dahin zu kommen, wie du dir vorstellst, Hetty.«
Daß es gar so leicht sein würde, zu Olga zu gelangen, hatte sich Hetty eben nicht vorgestellt; nun schwand ihr alle Hoffnung, je dahin zu kommen. Sie schwieg und schaute nach dem Hause hin.
»Aber man sieht ja nur das Dach und vom Hause gar nichts,« sagte sie. »Wenn wir schnell vor dem Frühstück zum See hinüberliefen und du zeigtest mir das Haus ganz in der Nähe?«
Der Vorschlag gefiel Nanny.
Die runden Strohhüte auf den Kopf gedrückt, weiter brauchte es nichts, und die Kinder wanderten in den hellen Morgen hinaus.
»Und wo wohnt denn Martine?« fragte Hetty auf dem Weg.
»Ach, was weiß ich davon!« warf Nanny hin. »Dort hinten in einem Dorf, wo nie ein Mensch hinkommt.«
»Aber wie heißt es denn?«
Nanny nannte den Namen.
»O,« rief Hetty erfreut, »ich weiß gut, wo das ist, da komme ich hin, da war ich schon mit meinem Vater. Nun kann ich Martine jedesmal besuchen, wenn mein Vater dorthin fährt.«
»Mag dir's wohl gönnen,« erwiderte Nanny trocken.
Die Kinder waren alsbald am See angekommen, ein frischer Morgenwind wehte ihnen entgegen; am Ufer waren leichte Barken angebunden, die wiegten sich hin und her auf den Wellen. Das Wasser flimmerte weithin im Morgenglanz. Das Haus stand nah am See. Hoch an die Mauer hinauf und rings um den Balkon herum schlangen sich dichte Efeuranken und hoben ihre glänzend grünen Blätter der Morgensonne entgegen. Die Tür zum Balkon stand weit offen, die Sonne konnte tief ins Zimmer hinein scheinen, doch war alles stille, niemand war zu sehen.
Hetty war versunken in den Anblick des Schimmerns und Leuchtens von See und Himmel und des grünumkränzten Balkon da droben, wo Olga zu Hause war.
»Olga hat's gut,« sagte Hetty, sich zu Nanny wendend, die eifrig den Raupen nachspürte, welche in der hohen Gartenhecke sich finden mußten. »Aber man könnte sich's auch gar nicht denken, daß sie's anders haben sollte, nicht wahr, Nanny?«
Nanny nickte bejahend. »Du mußt aber leise reden, dort ist das Fenster offen, wo Olgas Mutter sitzt, sie schläft nie und hört alles.«
»Fürchtest du dich vor Olgas Mutter?« flüsterte Hetty.
»Nicht gerade,« antwortete Nanny in derselben Weise; »aber da ist so etwas Vornehmes um sie herum, und sie tut selbst so leise – du solltest sie nur einmal sehen!«
In diesem Augenblick trat eine große Gestalt in langem, dunklem Gewande auf den Balkon heraus. Der Sonnenschein fiel auf das weiße Häubchen und das völlig weiße Angesicht der kranken Frau. Sie trat an die Brüstung des Balkons und schaute in den leuchtenden Morgen hinaus.
Die Kinder hielten den Atem an. Eine unnahbare Hoheit lag über diese Stirn und die ganze Erscheinung ausgegossen. Nur wenige Augenblicke blieb die Frau auf dem Balkon stehen, sie schaute noch einmal über den See hinauf, dann trat sie wieder in die Tür.
»Siehst du wohl?« sagte Nanny leise; »käme es dir in den Sinn, in das Haus hinaufzulaufen, wo die Frau ist, und nach Olga zu rufen?«
Nein, das kam Hetty keineswegs in den Sinn. Aber sie zögerte noch auf dem Platze, trotz Nannys entschiedenem Ausspruch: »Nun gehen wir!« dem diese sogleich mit der Tat folgte. Noch immer stand Hetty, dann ging sie einen Schritt, dann stand sie wieder stille. Immer noch hatte sie gehofft, Olga werde irgendwo sichtbar werden, aber vergebens. Schon war Nanny um die Ecke herum und schritt entschlossen vorwärts, Hetty mußte folgen. Sie konnte sich doch nun denken, wo Olga lebte, wie schön es da war, wie ihre Mutter aussah. Aber manche neue Frage stieg ihr nun wieder auf, diese leidende Mutter betreffend, dann den Vater, dann wieder Olga selbst; aber keine ihrer Fragen und Betrachtungen, die sie noch an Nanny richtete, fand mehr Gehör bei dieser, sie war zu sehr mit ihrem eigenen Anliegen beschäftigt. Ihr Weg führte hier, außerhalb der Stadtmauer, an Gärten und Hecken vorbei, und Nanny war von jeher eine Käfer-, Raupen- und Sommervögel-Freundin gewesen; auch Schnecken und allerlei Würmer regten ihren Forschungseifer an. So hatte sie auf jeden Schritt etwas zu besichtigen und machte gewöhnlich einen Seitensprung, einem Busch oder einer Hecke zu, wenn Hetty eben eine Frage getan hatte. Sehr unstet wurde dadurch die Unterhaltung, nicht aber Hettys tiefgehendes Verlangen, das sich um so stärker einwurzelte, je weniger sie es auszusprechen vermochte; und als am Abend Hetty auf dem hohen Sitz des offenen Landwagens ihrer fernen Heimat zufuhr, da waren die Gedanken ununterbrochen bei der Weide am See, auf der Mauer im Abendschein, unter dem Balkon mit den reichen Efeuranken und vor allem und immer wieder bei der wunderbar begabten Olga, die jedes Herz in ihren Zauberkreis hineinzog und mächtig darin festhielt.