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Hettys Vater war Landwirt; seine vielfältigen Geschäfte wie seine Interessen führten ihn weit im Land umher; überall war der hohe Landwagen mit den kräftigen Braunen bekannt, der fast täglich zu sehen war, wie er, von sicherer Hand geleitet, über die waldigen Berghöhen dahinflog.
Schon länger war die Rede davon gewesen, daß der Vater die große Fahrt nach dem Dorfe weit hinten im Land, wo Martine wohnte, machen sollte. Hetty wußte, daß sie ihn dahin, wie so oft aus seinen Fahrten, begleiten durfte. Sie freute sich in doppelter Weise darauf: einmal war es ihr eine Freude, die warmherzige Martine wiederzusehen; dann hoffte sie leise, diese möchte ihr irgendwelche Nachricht von Olga geben können, denn sie hatte nichts mehr von ihr in Erfahrung bringen können, seit jenem Sommerabend am See, und doch war nun bald ein Jahr vergangen seither. Hetty war zwar immer in Briefwechsel geblieben mit Nanny, wie es zwischen ihnen Sitte war, seit sie schreiben gelernt hatten; aber Nanny behielt auch in dieser Tätigkeit ihre eigene Weise. Diese Korrespondenz konnte eigentlich nicht mit Recht so genannt werden, denn sie bestand weniger aus Briefen, die sich gegenseitig antworteten, als vielmehr aus Schriftstücken, welche weiter in keiner Beziehung zueinander standen, sondern ganz unabhängig und unbekümmert aussprachen, was jeder der beiden Schreiberinnen gerade am Herzen lag. Hettys Briefe enthielten Fragen auf Fragen, die sich alle in irgendeiner Weise auf Olga bezogen. Nannys Antworten berührten durchweg Gegenstände, die diesen Fragen völlig fernlagen. Raupenfang und Entwicklung zu Schmetterlingen, das Aufspießen zur Bereicherung der Sammlung, eine hinten im Hof angelegte Hühnerzucht mit besonderer Berücksichtigung des Gebarens der elf Küklein waren die Punkte, die Nanny in ihren Briefen behandelte; dennoch verlor Hetty ihren Faden nicht und fragte unermüdet weiter, bis endlich eine Antwort kam, eine Nachricht über Olga, aber welche Nachricht! Nanny wisse wenig mehr von Olga, diese sitze auf der hintersten, Nanny aber auf der vordersten Bank. Ihre beste Freundin war Nanny längst nicht mehr, was ihr aber kein Leid verursachte, denn es war eine neue Schülerin eingetreten, ein vorzügliches Mädchen, mit dem sich Nanny besonders befreundet hatte. Das Mädchen war in allerlei Künsten bewandert, vornehmlich spielte es hinreißend die Mundtrommel. Dieses kleine Instrument, das man zwischen die Zähne kneift und dem man, unter Mitwirkung des Zeigefingers, jedwede Melodie in dumpf schnarrenden Tönen entlocken und durch den eingehaltenen Takt erkennbar machen kann, war damals allgemein verbreitet und von den meisten Kindern mit Vorliebe gepflegt, so auch von Hetty; dennoch begriff sie nicht, daß dieser Vorzug oder irgendein anderer über den Verlust von Olgas Freundschaft trösten könne.
So blieb allein noch Martine übrig, die von Olga etwas berichten konnte, denn daß jene alle Wege ausfindig machen werde, die zu Olga führten, dessen war Hetty sicher.
Endlich saß Hetty an einem schönen Junitag auf dem hohen Sitze des Landwagens neben ihrem Vater. Die Braunen schnaubten lustig in den Morgen hinaus, es ging nach Martines Heimatsort. Gegen Mittag ward der Flecken weit hinten im Bergtal erreicht. Im Gasthaus wurde gleich nach Martine gefragt, und der zuvorkommende Wirt gab zu der nötigen Anweisung der Wohnung gleich noch einige Personalien mit auf den Weg.
Martines Vater habe ein gutes Handelsgeschäft, er sei ein geachteter Mann im Flecken. Sein Sohn, der bedeutend älter fei als das Töchterchen, gehe ihm schon gut an die Hand. Die Frau sei etwas kränklich, aber gut geartet. Die Leute machten ein schönes Stück Geld, in der Baumwolle so gut wie in den Spezereiartikeln.
Hettys Vater brachte sie bis zu dem Hause mit den roten Kreuzstöcken und der großen Inschrift über dem Laden im Erdgeschoß; dann ging er seinen Geschäften nach.
Hetty trat in das Haus und schaute verwundert einen Augenblick durch die Glastür, die in den Laden führte.
Es war eine unaussprechliche Mannigfaltigkeit von Dingen in dem Lokal sichtbar, denn ein solcher Hauptladen eines großen Dorfes muß alles enthalten, was zu einem Menschenleben irgendwie erforderlich sein kann. Dann stieg Hetty die hölzerne Treppe hinauf und stand vor einer offenstehenden großen Stube. Sauberkeit, Ordnung und Wohlhabenheit schauten aus jeder Ecke des Zimmers heraus. Es berührte Hetty angenehm, daß Martine so einladend wohnte; sie blieb stehen und schaute mit Wohlgefallen, wie der Sonnenschein auf die Rosen fiel, die im schönen Strauß auf dem Tische standen und die Stube schmückten, als sie plötzlich von hinten gepackt und beinahe rücklings zu Boden gerissen wurde: es war Martines freudige Überraschung, die sich in dieser Weise äußerte. In der schönen, alten Stube, in die sie nun eintraten, fühlte Hetty sich augenblicklich heimisch und wurde es noch mehr, als auch die Mutter erschien und Hetty durchaus als eine alte Bekannte begrüßte und behandelte. Martine mußte sie gut eingeführt haben bei der Mutter.
Diese verschwand indessen bald mit geschäftiger Miene, es mußten Vorbereitungen getroffen werden, den Gast in gebührender Weise zu feiern.
»Was macht sie, Hetty; was weißt du von Olga?« fragte Martine drängend, sobald die beiden allein waren und auf den zwei Stühlen saßen, die am Fenster standen.
Nun kam es denn heraus, daß weder die eine noch die andere ein Wort von Olga wußte. Erst waren sie beide etwas enttäuscht, dann meinte Hetty, sie wollten sich doch den Tag nicht dadurch verderben lassen, sie könnten doch nun einmal wieder recht von Olga reden, jedes soviel es wollte, und jedes wäre auch sicher, daß ihm das andere gern zuhöre. Martine sprach gar nichts anderes die ganze Zeit durch, als sie am Fenster saßen, als die Mutter sie mit Kaffee bewirtete, als sie Hetty durch den sonnigen Abend nach dem Gasthaus zurückgeleitete; alles, was sie über Menschen und Dinge redete, mündete irgendwie in den Namen Olga aus. Unter vielen Versprechungen von Wiederkehren und von gegenseitigem Berichterstatten, wenn von Olga irgendetwas sollte in Erfahrung gebracht werden, trennten sich die Mädchen an der Tür des Gasthauses.
Wohl zwei Jahre lang hörte Hetty von Olga gar nichts mehr. Noch einige Male war sie mit Martine zusammengekommen, aber keine hatte der anderen den leisesten Bericht zu geben, ihr großes Interesse betreffend. Während der längeren Besuchszeit, die Hetty jährlich bei der Freundin Nanny zubrachte, war alles, was sie erfahren konnte, war, daß Olgas Mutter immer leidender werde, daß keines der Schulkinder mehr in nahem Umgang mit Olga stehe, auch darum, weil sie an anderen Dingen Freude habe als die übrigen Kinder.
Nanny war eine Künstlernatur, sie hatte mannigfaltige und immer neue Interessen und so vielen nachzugehen im Menschen-, Tier- und Pflanzenreich, daß sie nicht recht begriff, mit welcher Zähigkeit Hetty immer wieder auf den einen Punkt zurückkommen konnte, der Olga hieß. So ließ endlich Hetty ihre häufigen Fragen fallen und suchte nur hier und da auf ihren Streifzügen mit Nanny bei dem Haus am See vorbeizukommen. Dann schaute Hetty hinauf nach dem Balkon mit den glänzenden Efeuranken. Olga war nie zu erblicken.
Auch die stärksten Eindrücke eines Kinderherzens, wenn sie in keiner Weise Nahrung erhalten, verlieren sich nach und nach, wenigstens für eine Zeit. So berührte es Hetty nur wenig, als Nanny nach Jahr und Tag ihr einmal mitteilte, Olga sei aus der Schule getreten und in das große Mädcheninstitut versetzt worden, das sich unweit der Stadt aufgetan hatte; es wurde aber doch treulich an Martine berichtet.
Einige Zeit nachher wurde auch Hetty in neuen Boden versetzt. Sie lebte nun ganz in der Stadt, um an einer höheren Schulanstalt ihre Kenntnisse zu vervollkommnen.
Eben hatte sie das Schulzimmer verlassen und ging mit halbgeschlossenen Augen über den blendenden Quadern der Brücke, als sie plötzlich mit lautem Ausruf angehalten wurde und, die Augen aufmachend, Martines sonne- und freudeglänzendes Gesicht vor sich sah.
»Du hier, Martine?« rief Hetty erfreut aus.
»Ja, ja,« lachte Martine bestätigend, »und du solltest nur alles wissen, Hetty, ich bin der glücklichste Mensch auf der ganzen Welt.«
Das war Hetty eine sehr merkwürdige Nachricht. Sie nahm Martine an den Arm und zog sie mit. Gleich sollte sie erzählen, wie sie zu ihrem Glück gekommen sei, mitten in dem heißen Sommer.
In Hettys kühlem Zimmer, hinter den Jalousien sitzend, fiel Martine mitten in ihre Geschichte hinein, wie einer, der es eilig hat, die Hauptsache zu sagen.
»Ich bin immerfort mit Olga zusammen und du solltest nur wissen, wie sie jetzt ist!«
»Das konnte ich mir denken, daß dein Glück Olga heißt,« fiel Hetty ein, »und wie ist sie denn, und wie kamst du mit ihr zusammen? Erzähl' doch vom Anfang an.«
Martine berichtete nun, wie sie schon angefangen habe zu denken, sie werde von Olga nie mehr etwas hören, vergessen werde sie diese aber doch nie; da kam gerade Hettys Nachricht, Olga sei in das neue Institut eingetreten. Von dem Tage an habe sie ihrem Vater keinen Augenblick mehr Ruhe gelassen und ihn fortwährend mit Bitten bestürmt, er möchte sie doch auch ins Institut schicken. Erst habe er sie nur ausgelacht und ihr gesagt, sie sei rappelig geworden, aber dann habe sie ihm versprochen, sie wolle so gut rechnen lernen und Französisch und alles, was nötig sei, daß sie nachher den Laden ganz allein führen könne und er nie mehr fremde Leute anzustellen brauche. Und sie habe ihm immer ärger zugesetzt, bis er zuletzt gesagt habe: »So, meinetwegen!« Dann sei sie ins Institut gekommen.
»Was, du bist in dem großen Institut?« rief Hetty in höchster Verwunderung aus; »nun wirst du unrettbar eine Gelehrte, Martine! Alle, die da sind, werden es, bis auf die Köchin herunter, die soll nur nach lateinischen Rezepten kochen.«
»So gefährlich ist's nicht, und weißt du, Hetty, bei mir nun gar nicht,« sagte Martine mit gemütlichem Lächeln; »aber lernen muß ich schon allerhand, mit dem ich nichts zu tun weiß! Ich würde aber alles tun, um da zu bleiben, auch noch einmal einen Aufsatz machen ›über die philosophischen Ideen des achtzehnten Jahrhunderts‹, wenn ich schon damals, als ich ihn machen sollte, einen ganzen Tag und eine Nacht lang immerfort nachdachte und grübelte, was ich doch darüber sagen könnte, so daß am Morgen mir alles Nachsinnen ganz stockte und ich dasaß wie einer, dem man den Kopf abgeschnitten hat; nicht einen Gedanken brachte ich mehr zusammen, und um zehn Uhr sollte ich den Aufsatz bringen. So fand mich Olga und sah meine bittere Angst. Da setzte sie sich hin und schrieb den Aufsatz nur so vorweg und sagte: ›Komm, Martine, jetzt kannst du schon etwas daraus machen.‹ Das konnt' ich aber erst recht nicht. Ich schrieb alles ab, Wort für Wort, und du kannst mir glauben, ich verstand von allem nichts.«
»Und die Lehrerin?« fragte Hetty.
»Die merkte gleich alles und ich leugnete gar nicht; sie sagte, mir müsse man's zugute halten und froh sein, wenn ich das Abc richtig aufsage.«
Hetty schüttelte den Kopf.
»Und dabei bist du nun so glücklich geworden, Martine?«
»Nicht gerade deswegen, aber ich achte es nicht so stark, denn siehst du, seit fünf Monaten bin ich nun immerfort mit Olga zusammen und sie ist so gut und freundlich und dazu ganz anders als alle anderen im Institut, alle haben auch Respekt vor ihr. Wenn etwas geschieht, das nicht sein sollte, und wir alle durcheinander rufen und es keins getan haben will, dann steht Olga ganz schweigend da; die schreit nie mit. Und kommt die Lehrerin, die doch immer alle in Verdacht hat, so sagt sie regelmäßig: ›Daß Olga so etwas nicht mitmacht, dessen bin ich sicher.‹ Und sie kann es auch sein. Aber viele der Mädchen behaupten, Olga sei stolz und kalt und habe kein Herz, denn mit jedem läßt sie sich nicht ein, und ›gering‹ sagt sie immer noch, viel öfter noch als früher, und gleich kehrt sie den Rücken, wo ihr etwas mißfällt. Viele fürchten sich auch ein wenig und gehen ihr aus dem Wege.«
»Aber du bist doch immer ihre gute Freundin?« fragte Hetty.
»O ja, und was es heißt, sie zur guten Freundin zu haben, weiß ich erst jetzt. Ich bin auch am meisten um sie. Schon am Morgen früh bin ich in ihrem Zimmer. Weißt du, wir müssen selbst unsere Zimmer in Ordnung halten, Betten machen und stäuben und alles. Nun denke dir einmal Olga mit einem Wischer in der Hand! Das könnte ja nicht sein. Natürlich geh' ich alle Morgen hinüber zu ihr und bringe alles in Ordnung und stelle ihr ein paar Rosen auf den Tisch, das hat sie so gern, und du solltest sehen und hören, wie Olga mit mir ist, Hetty, mit mir!«
»Und Olga nimmt dies alles so gern von dir an, Martine?«
»Ja, und du weißt nicht, wie gut sie gegen mich ist. Du denkst wohl, ich wäre ihr zu gering, so nah mit mir umzugehen, und du hättest schon recht, aber da siehst du, wie sie ist.«
»Nein, wirklich, Martine, so dachte ich nicht!« sagte Hetty. »Ich meinte, ob Olga sich auf diese Weise täglich bedienen lasse, ohne es zuviel zu finden.«
Diese Bemerkung mußte Martine gänzlich empört haben.
»Was meinst du denn, Hetty?« rief sie in vollem Zorn. »Wofür hältst du mich denn? Meinst du, ich werde je in meinem Leben Olga vergelten können, was sie für mich ist? Glaubst du, dafür habe ich kein Gefühl? Ich habe ganz andere Gedanken, seit ich sie kenne und besonders seit ich hier mit ihr zusammenlebe, viel bessere, und alles, was ich tue, nehme ich jetzt viel genauer, denn ich muß alles inwendig vor ihr verantworten, ich dürfte sie nicht ansehen, wenn ich täte, was ihr verächtlich ist, und früher merkte ich es gar nicht, wenn ich so etwas tat. Sie hat mich wie aus dem Staub herausgezogen und tut es noch immerfort, jeden Tag. Oft spricht sie auch so schön zu mir und sagt mir, was ich anstreben soll und was wir tun müssen, um so zu werden, daß wir vor dem Höchsten und Besten, das wir uns denken können, mit uns zufrieden sein dürfen. Ich denke dann, dies habe sie schon erreicht und sie gehöre selbst zum Besten, das man vor Augen haben könne.«
Hetty wollte nun doch auch noch wissen, ob Olga sie ganz vergessen habe und von dem Abend am See nichts mehr wisse, wo sie Freundschaft gemacht hätten. Martine versicherte, Olga erinnere sich an alles sehr wohl, habe auch nach Hetty gefragt bei ihr, und sie selbst hätte ihr lange schon über alles Nachricht gegeben, aber sie habe immer auf eine Gelegenheit gewartet, Hetty aufzusuchen, um ihr alles recht erzählen zu können.
Nun sprang Martine plötzlich auf und nahm eilig Abschied. Sie hatte vergessen, daß sie mit der Vorsteherin des Institutes zusammentreffen und mit ihr dahin zurückkehren sollte; schon hatte sie fast zu lange bei Hetty verweilt.
Dieses Zusammentreffen war für die beiden Mädchen das letzte auf Jahre. Sie waren immer beim mündlichen Verkehr geblieben, ein Briefwechsel hatte sich nie zwischen ihnen angebahnt; so kam es, daß Jahre dahingehen konnten, ohne daß sie etwas voneinander hörten. Ihre Lebenswege trafen auch in keiner Weise zusammen; dadurch trat aber nicht das leiseste Gefühl der Entfremdung zwischen sie, beide wußten, daß sie überall und zu jeder Zeit sich unverändert als die Alten wiederfinden würden.
Mit Nanny war Hetty in den alten Beziehungen geblieben; durch alle die Jahre waren sie zusammen gewandert in ungestörter Eintracht, trotz aller Verschiedenheit ihrer Anlagen wie ihrer Interessen. Jetzt mochten die Mädchen in ihrem neunzehnten Jahre stehen. Es war die Zeit des frohen Frühlingsfestes, da von allen Seiten her die Scharen des Volkes der Stadt zuströmten, um die Herrlichkeiten des Festzuges mit anzusehen und zum Schluß in den Jubel der Jugend einzustimmen, die sich um die Freudenfeuer scharte, welche ringsum von allen freien Plätzen emporstiegen.
Hetty zog mit ihrer Freundin Nanny, bei der sie seit einigen Tagen weilte, durch die bunte Menge dem Platze zu, wo soeben die Flammen von einem der Festfeuer emporschlugen. Die Mädchen standen still und schauten in die lustig auflodernden Feuergarben, als jemand sich durch die Menge zu Hetty herandrängte.
»Weißt du's schon, Hetty, weißt du's schon?« rief es, ehe diese nur sehen konnte, wer hinter ihr stand; die Stimme erkannte sie freilich sogleich.
»O, grüß Gott, Martine!« rief Hetty erfreut, »gib mir 'mal erst eine Hand, und dann sprich weiter, denn ich weiß es wirklich nicht.«
»Olga ist zum Theater gegangen!« stieß Martine hervor.
»Martine, erzähl' mir doch keine Kalendergeschichten!« sagte Hetty halb lachend.
»Was?« rief Martine und machte ihre Augen gerade so weit auf, als es die gegebenen Verhältnisse erlaubten; »glaubst du denn, ich brauche diesen Namen zu Kalendergeschichten? Nein, Hetty, nein, nein: da bist du irrig!«
Hetty sah, daß es Ernst galt. Sie nahm Martine bei der Hand und zog sie aus dem Gedränge weg der hohen Baumallee zu, wo es still war. Hier, unter den alten Linden hin- und herwandernd, mußte Martine erzählen, was sie während der Zeit erlebt, da sich die Freundinnen nicht gesehen hatten.
Martine hatte nahezu zwei Jahre neben Olga im Institut zugebracht, als diese nach Hause gerufen wurde; ihre Mutter war kränker geworden. Nun war plötzlich bei Martine aller Wissenstrieb erloschen. Bis dahin hatte sie jeden Monat ihre Eltern flehentlich gebeten, sie möchten sie doch noch fortlernen lassen, nun hatte sie auf einmal genug und wollte gern sofort heimkehren, was den Eltern ganz erwünscht war. Olga schrieb von Zeit zu Zeit an Martine, nach ihrem Versprechen. Die meiste Zeit brachte sie, wie sie schrieb, im Krankenzimmer ihrer Mutter zu, immer über ihren Büchern sitzend, die ihre Freude waren; dann starb ihre Mutter. Von der Zeit an wurden Olgas Briefe knapper und ein Ton des Unbefriedigtseins ging durch sie alle. Es war, als stehe sie ganz allein und unverstanden von denen, die sie umgaben. So verschloß sie sich mehr und mehr in sich selbst, aber ihre reiche Natur war nicht untätig, sie vertiefte sich nur um so leidenschaftlicher in ihre Gedankenwelt. Da starb der Vater. Nun trat sie plötzlich vor die Verwandten mit dem Entschluß, auf die Bühne zu gehen. Sie waren alle dagegen. Man schrieb auch an die Brüder, die beide im Ausland lebten, sie möchten ihre Einwilligung nicht geben. Es half alles nichts, in Olga war die Sache lange gereift, sie blieb bei ihrem Entschluß. Man mußte ihr ihren Willen lassen, doch unter der Bedingung, daß sie für immer ihren Familiennamen ablege und einen anderen annehme, worauf sie sogleich einging. Olga hatte an Martine geschrieben, als sie eben im Begriff war, nach Dresden abzureisen, wo sie den noch nötigen Unterricht nehmen wollte, um die Bühne betreten zu können.
Seither hatte Martine nichts mehr von ihr gehört, sie hatte auch noch keine Adresse von Olga in Dresden, obwohl diese schon seit langen Monaten da war. So konnte Martine in keiner Weise zu ihr gelangen, aber sie war voll guter Zuversicht. »Du kannst dir wohl denken,« sagte sie am Schluß ihrer Mitteilungen, »daß Olga keinen langen Unterricht nötig haben wird, und dann werden wir bald von ihr hören, dessen bin ich gewiß.« Hetty war sehr erstaunt und bewegt von allem, was sie vernommen hatte. Sollte Olga wirklich diesen Weg gehen können? Sie konnte nicht fassen, wie es möglich war. Hetty schwieg eine gute Weile und hing eifrig ihren Gedanken nach.
»Kennst du den Namen, den Olga angenommen hat?« fragte sie dann.
»Ja, ich weiß ihn, aber ich spreche ihn nicht aus, ich habe es Olga versprochen. Übrigens weißt du, Hetty,« setzte Martine eifrig hinzu, »Olga darf nur erst auftreten, so werden die Zeitungen ihren Namen laut genug bringen und so von ihr reden, daß du sie bald erkennen wirst. Glaubst du das nicht auch?«
Hetty war ganz überzeugt davon. Olga mußte Glück machen auf der Bühne. Schon ihre Erscheinung konnte nicht verfehlen, einen durchaus gewinnenden Eindruck auszuüben, und ihre reiche geistige Begabung, vor allem ihr ungewöhnliches Talent der Darstellung ließen keinen Zweifel an ihren Erfolgen aufkommen.
»Eigentlich macht mich die Sache recht traurig,« sagte Hetty; »wie wird es dieser stolzen und feinfühligen Natur ergehen auf diesem ungewohnten Boden?«
»Herrlich! Du wirst sehen, welchen Namen sie sich machen wird.«
»Soll ich dir gleich schreiben, sobald ich etwas von ihr höre?« fragte Martine, jetzt vom Wege unter den Bäumen ablenkend, niederwärts dem See zusteuernd, wo sie ihren Bruder treffen sollte, mit dem sie zur Stadt gekommen war. Hetty bat sehr darum, Martine möchte ihr Nachricht geben, wenn sie von Olga hören sollte, bevor ihr Name bekannt würde als der einer hervorragenden, gefeierten Künstlerin, wie sie beide mit Zuversicht voraussahen. –
Wohl drei Jahre mochten dahingegangen sein. Hetty hatte nicht ein Wort mehr weder von Olga noch von Martine gehört. Endlich schrieb sie an die letztere, fragend, ob sie noch lebe und ob denn von Olga und ihrer neuen Tätigkeit noch nichts zu hören sei.
Bald kam die Antwort. Martine war sehr niedergeschlagen, sie wußte kein Wort von Olga, hatte seit ihrer Abreise keine Spur mehr von ihr gefunden. Seit drei Jahren hatte sie alle deutschen Blätter zusammengerafft, deren sie habhaft werden konnte, und hatte in allen Theaterberichten nach dem Namen gesucht, der ihr immerdar im Sinne lag, aber sie hatte ihn nie entdeckt. Vor lauter Kummer und Verdruß hatte sie nie an Hetty geschrieben, sie wußte ja gar nicht mehr, was sie denken sollte.
In ihrer Häuslichkeit ging es ihr sehr gut. Nur hatte sie ihre gute Mutter verloren und der Vater war recht alt geworden. Er hatte sich auch ganz aus dem Geschäft zurückgezogen, das sie nun mit ihrem Bruder Joseph zusammen verwaltete. Sie lebten sehr wohl und vergnüglich miteinander und wünschten nur, daß Hetty einmal wieder bei ihnen einkehren möchte.
Auch Hetty hatte allerlei Lebenserfahrungen durchzumachen um diese Zeit, und wie oft sie es sich auch in Gedanken vornahm, die Reise zu Martine konnte nie ausgeführt werden.
Nicht lange nachher hatten sich Hettys Familienverhältnisse so gestaltet, daß sie für immer nach der Stadt übersiedelte, und hier in den neuen Verhältnissen und Beziehungen gingen ihr einige Jahre so rasch dahin, daß sie kaum gewahr wurde, wie lange sie von den alten Bekannten nichts mehr gehört hatte. Nur daß die neue Freundin nicht mehr da war, empfand Hetty beständig als Lücke; doch konnte sie für Nanny sich nur freuen, da dieser im Ausland die Gelegenheit geboten wurde, sich zu der unabhängigen Stellung heranzubilden, nach welcher sie trachtete. Sehr energisch durch gute wie durch böse Tage ihr Ziel verfolgend, hat sie es auch vollständig erreicht und im fernen Lande die gewünschte Lebensstellung und eine befriedigende Tätigkeit gefunden. Ihre zoologischen Studien hat sie nie ganz aufgegeben, solche angeborenen Neigungen überdauern die Wechsel des Schicksals.