Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel

Endlich hatte Olga das letzte Hindernis überwunden: bereitwillig war sie auf die Bedingung eingegangen, ihren Namen abzulegen, keinem Bekannten den nun angenommenen zu nennen, noch je einen von ihnen von dem Orte ihres Auftretens in Kenntnis zu setzen. Sie konnte nicht begreifen, daß man so sehr dagegen eingenommen war, sie den idealen Weg betreten zu sehen, den sie vor sich sah und für das Schönste hielt, das ihr das Leben bieten könnte. Sah sie doch darin den unmittelbarsten Weg zum Ziel ihres ganzen Strebens, zur Veredlung ihrer selbst und alle derer, die ihr nahekamen. Und auf wie viele einzuwirken wurde ihr in dieser Weise Gelegenheit geboten! Olga kam nach Dresden. In dem Lehrer, der sie erwartete und der sie in die nötigen Kenntnisse und Vorbereitungen für die Bühne einzuführen hatte, fand sie den Mann, dessen sie bedurfte. Er regte an, er begeisterte und – was Olga mehr not tat – er sichtete mit kundiger Hand die gesammelten Schätze ihres Geistes. Die reiche, aber unklare Welt ihres Innern entfaltete und ordnete er in einer Weise vor ihren Augen, daß ihr selbst erst jetzt klar wurde, was ihr wirklich eigen war und zu ihrem Wesen gehörte. Erst durch die Ausscheidung alles Geringeren trat ihr der reiche Besitz des Vorzüglichen und dessen Kostbarkeit voll ins Bewußtsein, und erst jetzt konnte sie ihn auch mit der ganzen Kraft ihrer gesunden Natur erfassen und verwerten. Was je an tiefen und hohen Gedanken die Menschenbrust bewegt, was je die Edelsten und Besten dieser Welt gelebt und ausgesprochen hatten, das wurde ihr Eigentum, das sprach, das lebte sie nach. So flogen ihr die Monate wie Tage dahin, es wurde ein Jahr daraus, und schon ging das zweite zu Ende, als ihr Lehrer sie mit der Nachricht überraschte, es stehe ihr eine ganz erwünschte Stelle in Aussicht, für welche er sie vorgeschlagen habe. Seiner Leitung sei sie nun entwachsen und vollständig ausgerüstet für ihren Beruf. Die Anstellung, um die es sich handelte, war an einem ihrem Lehrer wohlbekannten Theater in Prag, wohin sie schon nach wenig Tagen zu einem Gastspiel erwartet wurde.

.

Nach der alten Stadt Prag zu gehen, erfreute Olga sehr, dazu in der Rolle der Maria Stuart zum erstenmal aufzutreten, war, was sie nur wünschen konnte. Sie fühlte sich vollkommen sicher in der Darstellung der unglücklichen Königin, hatte sie doch dergestalt in ihr Schicksal und Wesen, ja in jedes ihrer Worte sich hineingelebt, daß es ihr war, als habe sie jetzt beim Wiederholen durch die Erinnerungen eines eigenen, vergangenen Daseins zu gehen. Nach wenig Tagen reiste Olga von Dresden ab, begleitet von ihrem Lehrer, der bei diesem Auftreten seiner Schülerin zugegen sein wollte und der für Olga so väterlich besorgt war, daß er sie nicht allein ziehen und, wie er sagte, nicht allein ihren Kontrakt abschließen lassen wollte, da nur er wisse, was sie wert sei.

Der Abend war da. Olga trat auf. Viel tausend Augen und Gläser sah sie auf sich gerichtet, große Scharen von Menschen saßen stumm und gespannt da und erwarteten ihre Worte. So hatte sie sich's nicht vorgestellt.

Einen Augenblick verlor sie den Mut. Wie konnte sie denn zu dieser Menge die Worte sprechen, die ihr das Herz bewegten? Aber hatte sie nicht oben jetzt die Herzen dieser Scharen in ihrer Gewalt? Konnte sie nicht alle zu derselben hohen Bewegung der Seele erheben, die sie erfüllte? Noch einen Schritt trat sie vor, blaß und zaghaft, als träte die leidende Königin wie scheu in das ungewohnte, freie Sonnenlicht heraus. Es war eine lautlose Stille. Ihre Stimme zitterte leise bei den ersten Worten, aber sie fuhr fort:

»… Diese Flitter machen die Königin nicht aus. Man kann uns niedrig behandeln, nicht erniedrigen.«

Nun war sie drin. Die Stimme wurde fester, sie vergaß die Umgebung, sie war Maria. Die Szene im Garten folgte. Hier konnte Olga ihre ganze warme, poesieerfüllte Seele in die Worte hauchen, die sie selbst forttrugen in steigende Bewegung. Als sie den Jubel des Genusses der langentbehrten Freiheit mit den Worten schloß:

»Noch mehr! O die bekannte Stimme,
Schmerzlich süßer Erinnerung voll!
Oft vernahm sie mein Ohr mit Freuden
auf des Hochlands bergigen Heiden,
wann die tobende Jagd erscholl.«

da hatte es wie ein elektrischer Schlag durch die Menge gezuckt. Ein überlauter Jubel brach los. Aber die Szene mußte zu Ende geführt werden; der Lärm wurde gedämpft.

Der Schluß des Aktes kam. Da stand die gedemütigte, dann schmählich verhöhnte Königin vor ihrer machtvollen Gegnerin. Es mußte Olga leicht werden, hier mit vollendet natürlichem Stolze sich zu erheben und die höhnende Feindin vollkommen und mit solch überlegener Hoheit zu Boden zu schmettern, daß das augenblickliche, wie versteinernde Ergriffensein der Menge begreiflich war. Jetzt brach der langverhaltene Beifall mächtig los. Maria mußte erscheinen: wieder und wieder, Blumen und Kränze wurden von allen Seiten zu ihren Füßen geworfen. Mit jeder Szene steigerte sich nun die laute Teilnahme. So tief hatte Olga in keiner ihrer Proben das Schicksal durchgelebt, dessen Trägerin sie heute war. Ob das

lebendige Mitgefühl so vieler Menschenseelen dazu beitrug? Sie kam zum Schluß. Noch einmal zitterte ihre Stimme, aber nicht mehr vor Scheu. Sie sah keinen Menschen mehr. Vor ihrem inneren Auge stand die zum Tode bereite Königin, deren letzte, mild-versöhnende Worte sie noch zu sprechen hatte:

»Es war der schwerste Kampf, den ich bestand
zerrissen ist das letzte ird'sche Band.
Ich fürchte keinen Rückfall, meinen Haß
und meine Liebe hab' ich Gott geopfert.«

.

Es kamen die Schlußworte, bevor Maria ihren letzten Gang anzutreten hatte. Die lautlose Stille wurde nur von unterdrücktem Schluchzen durchbrochen.

Das Stück war zu Ende.

Jetzt brach ein Sturm los, wie ihn das Schauspielhaus lange nicht gehört hatte. Das Heraustreten der Maria wurde so lange und immer neu verlangt, daß sie entschieden verweigern mußte, nochmals zu erscheinen, wie laut und stürmisch auch ihr Name noch durch das Haus scholl.

Jetzt trat ihr Lehrer zu ihr heran, eben als sie sich zum Weggehen bereit machte. Er schwamm vollständig in Entzücken. Er führte seine Schülerin an den Wagen und brachte sie nach ihrer Wohnung.

»Mehr als man erwarten konnte, mehr als ein Mensch erwarten konnte, und ich erwartete viel!« sagte er wieder und wieder, und seine väterliche Freude machte ihm die Augen naß.

»Das habe ich Ihnen zu danken,« versicherte ihm Olga, »und daß Sie dabei waren, ist mir das Liebste am ganzen Erfolg.«

Schon am folgenden Tage trat der Lehrer bei ihr ein mit den Vorschlägen zu einer festen Anstellung am Theater. Sie war mit allem einverstanden, das Geschäftliche wurde schnell in Ordnung gebracht. Dann mußte eine passende Wohnung gefunden werden, und erst als Olga wohlgeborgen und frohen Herzens in ihrer neuen Heimat festsaß, von ihrem treuen Mädchen bedient, das ihr aus Dresden her gefolgt war, verließ sie der väterliche Freund mit dem Ausspruche, er sehe sie als ein selten bevorzugtes Wesen an, da sie, was nur wenigen gelinge, den Lebensweg gefunden, der ihr nach Neigung und Verlangen, wie nach Begabung und Tüchtigkeit, vollkommen angemessen sei, was allein den glücklichen Menschen mache.

Die Wohnung, welche Olga bezogen hatte, lag nahe bei dem alten, sturmtrotzenden Clam-Gallas-Palast, unweit der schönen Karlsbrücke, nach welcher Seite hin sie gleich von Anfang am liebsten ihre Schritte lenkte, um unter den schattigen Platanen am Franzenskai hin und her zu wandern und der ruhig fließenden Moldau nachzublicken oder über die statuenreiche Brücke hin nach dem hohen Hradschin auszuschauen. Diese hoch thronende Kaiserburg, die ihre Türme und Zinnen in den Himmel hebt und stolz beherrschend weit über Stadt und Fluß und das Gefilde niederschaut, zog sie vor allem mächtig an. Kein Tag verging nun mehr, daß sie nicht ihren Gang machte nach der schattenreichen, immer stillen Baumallee, an dem leise dahinziehenden Fluß. Manche Stunde saß sie da auf ihrer Bank unter der vollblätterigen Platane, im Angesicht des thronenden Hradschin, der grünen Bergabhänge, die bis zum Fluß herniedersteigen, und der stolzen Brücke drüben mit all den steinernen Bildern, die schon so bekannt herüberblickten. Da war ihr denn in kurzer Zeit, als hätte sie schon lange hier gelebt, als wäre die alte Stadt ihr längst hier bekannt und heimisch. Da wollte sie bleiben, ihre wirkliche Heimat hier aufschlagen, an diesem Orte, der beim ersten Anblick sie gewonnen hatte und wo bei ihrem ersten Erscheinen sie eine Freundlichkeit erfahren, die nicht ohne Eindruck auf ihr empfängliches Gemüt geblieben war. Olga war sich ihrer Macht bewußt geworden; sie wollte diese brauchen, die Menschen um sich her zu heben, sie zu begeistern für die edelsten Güter dieser Welt. Da stand sie endlich an dem lange und mit all ihren Kräften erstrebten Ziel.

Jetzt wurde »Tasso« vorbereitet.

Olga war mit ganzer Seele dabei. In der Prinzessin Leonore hatte sie nicht in eine andere sich hineinzuleben, es war ihr eigenes Wesen, das sie zur Erscheinung bringen konnte, in Worten, die, mehr als ihre eigenen es vermochten, den wahren, vollen Ausdruck ihrem Sein verliehen.

Ein Strahl der hellen Morgensonne fiel eben in Olgas Zimmer, wo Pauline, ihr treues Mädchen, das lange Lockenhaar der Herrin ordnete.

»Mach' schnell,« drängte diese; »es muß wunderschön sein draußen, ich möchte nach der Baumallee hin!«

Pauline mochte nach einem Gesprächsstoff suchen, der das Fräulein fesseln könnte; ihr Werk war noch keineswegs zu Ende, und sie war damit genauer als Olga selbst.

»Haben Sie schon den Gast gesehen, Fräulein, der den Tasso spielen soll?« begann sie nun die Unterhaltung. »Man spricht so viel von ihm.«

»So! Wer spricht denn so viel von ihm?« fragte Olga.

»O, jedermann, die Leute vom Theater, in den Kaufläden, und jeder, den man so sieht, alle sagen, kein anderer komme ihm gleich. Er war schon einmal hier längere Zeit, dann ging er nach Wien, und hier konnten sie es kaum erwarten, daß er wiederkam. Jetzt ist ein rechter Aufruhr vor Freude, daß er wieder da ist. Alle Leute sind für ihn eingenommen, sogar alle am Theater, die ich kenne. Drüben im Kunstladen hängt sein Bild, haben Sie's schon gesehen?«

»Nein, wie sieht er denn aus?«

Pauline meinte, er sähe aus, als wäre er recht ernsthaft, fast traurig und so, als spräche er nie ein Wort und denke nur immer nach. Die Augen lägen ihm so tief und dunkel im Kopf drinnen, und das Gesicht sei so scharf geschnitten, wie das von der Bildsäule in Dresden, bei der das Fräulein immer stehengeblieben. Sie habe auch gehört, er sei sehr groß und gehe immer ganz aufrecht einher. Aber am merkwürdigsten sei die Stimme, die erkenne man unter Hunderten auf dem Theater, wenn man sie einmal gehört und wenn man auch die Augen zumache.

»Ich bitte dich!« sagte Olga. »Bist du bald zu Ende? Woher hast du alle diese Berichte?«

»O, man hört hier ein Wort und da ein Wort,« entgegnete Pauline, »und jetzt spricht alles von Herrn v. D., alle am Theater und wo man hinkommt. Er heißt überall der ›schwarze Tasso‹, weil er so schwarz aussieht, Haar und Augen und Augenbrauen und so das Ganze, und weil man ihn in dieser Rolle so gern sieht. Jetzt freut man sich auch recht, daß Sie beide in diesem Stück nebeneinander auftreten.«

»So. Kann ich endlich gehen?« Olga stand auf, das Werk war wirklich zu Ende. »Und hör', Pauline,« sagte sie jetzt mit bestimmtem Ton, »laß dir's noch einmal im Ernst gesagt sein, daß du dich mit den Leuten am Theater in keine Plaudereien einlässest, davon will ich nichts!«

Die Proben waren vorbeigegangen, die Aufführung des »Tasso« war auf den folgenden Tag bestimmt. Von dem »schwarzen Tasso« hatte Olga außer den Worten seiner Rolle wenig vernommen. Fast die ganze Zeit durch, da er nicht selbst tätig war, hatte er schweigend, in einer Ecke sitzend, zugebracht, und die anderen beobachtet. Daß er sie, die neu Angekommene, besonders scharf fixierte, fand sie ganz begreiflich. Offenbar war er kein gesellschaftlicher Mensch; keiner der anderen Schauspieler machte sich an ihn heran, keinem näherte er sich. Olga war er immer mit vorzüglicher Höflichkeit begegnet, hatte aber, außer den Worten seiner Rolle, wenig andere an sie gewandt. Sowie die Proben zu Ende waren, verschwand er. Der Ton der tief klingenden, melodisch-weichen Stimme hatte Olga sogleich eigentümlich berührt; auch war ihr der natürlich-schmerzliche Ausdruck des sonst so ruhigen Gesichtes in mancher bewegten Stelle des Stückes aufgefallen, vor allem bei Tassos wehmütiger Klage:

»O, faßt' ich nur noch einmal seine Hand,
nur einmal noch zu sagen: ›O verzeiht!‹
Nur noch zu hören: ›Geh, dir ist verziehn!‹
Allein ich hör' es nicht, ich hör' es nie!«

Der Sonnenschein fiel mild und lieblich auf die golden angehauchten Herbstbäume am Franzenskai. Es war still und menschenleer da in diesen Nachmittagsstunden. Nur hier und da saß ein lahmer Alter auf einer Bank unter den Platanen und schaute geruhlich auf den sonnenbeschienenen Boden zu seinen Füßen.

Olga war schon einige Male der grünen Moldau entlang auf- und niedergegangen. Nun setzte sie sich auf ihre lange schon erwählte Bank und schaute, den Rücken der Baumallee zugekehrt, dem ruhig dahinfließenden Wasser nach. Nicht lange hatte sie, in ihre Gedanken vertieft, da gesessen, als von der Brücke her, die Allee entlang, eine hohe Männergestalt sich nahte. Es war wie eine Fortsetzung ihrer Gedanken. Mit diesem Menschen hatten sie sich eben beschäftigt, und Olga war es, als habe sie erwartet und gewußt, daß der seltsame Tasso daherkommen werde. Er mußte sie von weitem schon erkannt haben. Ohne Besinnen schritt er auf die Bank zu und fragte mit großer Höflichkeit, ob er sich neben Olga setzen dürfe, was sie gern erlaubte. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Olga dachte, ihr Nachbar sei in den Anblick des herrlichen Landschaftsbildes versunken, das vor ihnen lag.

Jetzt wandte er sich zu Olga; als wären seine Worte nur eine Fortsetzung von Ausgesprochenem oder nur Gedachtem, sagte er:

»Sollten Sie wirklich den Ausblick auf die steinerne Burg und all die Kirchen- und Klostertürme dort oben demjenigen vorziehen, der Ihnen im Rücken liegt? Ich kenne nichts Wohltuenderes, als in diese reichen Baumgipfel hineinzuschauen, wo leise die Sonnenstrahlen durchbrechen und die Blätter alle in grüngoldenen Schimmer tauchen.«

Olga war sehr erstaunt.

»Ich freue mich der Aussicht vor uns täglich von neuem,« sagte sie. »Nie werde ich müde, über die ruhig fließende Moldau hinauf nach dem majestätischen Schloßberg zu schauen, den eine so erinnerungsreiche Vergangenheit umweht, daß es mir die Seele weitet, darauf zu verweilen.«

»Diese Vergangenheit hat viele beunruhigende Töne,« bemerkte Herr v D., »das stille Baumleben da drüben nicht einen

»So wenden Sie Ihre Blicke immer der Allee zu, wenn Sie hierher kommen? Das hätte ich nie gedacht,« sagte Olga verwundert.

»Das hätten Sie nicht gedacht, mein Fräulein, und warum denn nicht?« fragte Herr v. D. in seiner ruhigen Weise.

»Weil ich geglaubt hätte,« erwiderte Olga lebhaft, »dieses großartige von der Natur wie von des Menschen Hand so herrlich ausgerüstete Gemälde müßte mehr zu Ihrem Wesen stimmen als solches Stilleben der Natur.«

Olga hatte eben vorher ähnliche Gedanken in ihrem Herzen bewegt; jetzt wußte sie aber selbst nicht recht, wie sie dazu gekommen war diese auszusprechen. Herr v. D. schwieg.

»Sie sind noch nicht lange auf der Bühne?« bemerkte er nach einer Weile

»Nein, hier in Prag bin ich zum erstenmal aufgetreten. Sie haben wohl den Neuling bald durchgefühlt?« bemerkte Olga.

»Sogleich,« sagte Herr v. D. lächelnd. »Daß nur der Hauch der alles umgestaltenden Zeit solchen Neuling niemals berühren möchte!«

Olga schwieg. Einen Augenblick schaute sie verwundert den Menschen an, den sie so kurz erst kannte, der ihr doch vorkam wie ein alter Freund, mit dem sie lange schon zu verkehren gewohnt sei.

»Ich hatte den entgegengesetzten Eindruck von Ihrem Spiel,« sagte sie dann, das Gespräch wieder ausnehmend. »Sie müssen in dieser Rolle so daheim sein, daß Sie jeden Hauch der Stimme in Ihrer Gewalt haben. Ihr Spiel und Wesen war so ganz eins, daß es mir vorkam, Sie müßten sich selbst kaum mehr von Tasso unterscheiden können.«

»Mein Übergehen in Tassos Wesen ist mehr Natur als Kunst, das ist ganz richtig,« entgegnete Herr v. D.; »fing doch die Ähnlichkeit unserer Wege schon früh an! Nur Selbsterlebtes sage ich in jenen Worten:

›Und zog die schöne Welt den Blick des Knaben
mit ihrer ganzen Fülle herrlich an,
so trübte bald den jugendlichen Sinn
der teuren Eltern unverschuldet Leid.
Eröffnete die Lippe sich, zu singen,
so floß ein traurig Lied von ihr herab?‹«

»O, wie traurig!« rief Olga in reger Teilnahme aus. »Was konnte nur so früh solch tiefe Schatten in Ihr junges Leben werfen?« Sie erschrak aber ein wenig und fügte schnell hinzu: »Verzeihen Sie, mein Mitgefühl trägt die Schuld, zu solcher Frage habe ich ja gar kein Recht.«

»Ein wahres Mitgefühl ist besser als ein Recht,« erwiderte Herr v. D. in der freundlichsten Weise. »Kann es wirklich Interesse für Sie haben zu wissen, wo und wie ich wohl eine leiderfüllte Kindheit und Jugendzeit zugebracht habe?«

»O gewiß, ein großes Interesse,« versicherte Olga. »Aber einmal waren Sie doch ein fröhliches Kind. Jeder ist das doch einmal im Leben, nicht wahr?«

»Mancher wohl kurz genug,« erwiderte Herr v. D. »Ich erinnere mich eines ungetrübten, frohen Tages meiner Kindheit, meiner ganzen Jugend. Ich ging zwischen hohen Taxushecken und Resedabeeten hin mit meiner Mutter. Sie hielt mich an der Hand. Die Resedablumen dufteten, und Sonnenschein lag auf den Hecken und auf dem grünen Rasen dazwischen. Mir war sehr wohl. Meine Mutter liebte ich über alles; sie war bei mir, und um uns war alles Schönheit und sonnige Stille. An jenem Abend trat mir die Freude des Daseins ins Bewußtsein, um nie mehr so wiederzukehren. Von der scheidenden Sonne fielen die Strahlen so auf meine Mutter, daß sie ganz von Goldglanz umflossen neben mir stand. Wie war sie so lieblich!«

Herr v. D. hielt inne, er wollte wissen, ob er Olga nicht ermüde; sie bat dringend darum, er möchte fortfahren und recht ausführlich erzählen. Er fuhr fort:

»Gleich nachher muß meine Mutter krank geworden sein. Wir wanderten nie mehr im Garten zusammen, ich saß fortwährend an ihrem Bette, da war ich nicht fortzubringen, auch nach dem Garten nicht mehr. Meine Mutter muß eine sehr poesiereiche Natur gewesen sein, sie sagte mir die Menge Lieder und Romanzen vor, wenn ich so bei ihr saß; alles wußte sie auswendig, und wie lebendig wurden die Worte in ihrem Munde!

.

Wie zitterte ich bei ihrem Erzählen um den Handschuhritter im Löwenzwinger! Wie schlug mir das Herz vor Dank und Freude, wenn der gute Fridolin gerettet wiederkam! Mit welch fieberhafter Spannung verfolgte ich erst den Drachenkampf! Dann mußte alles dargestellt werden. Schubladen wurden zu Drachenhöhlen, Fensternischen zu Kapellen, der offene Kamin zum Löwenzwinger, alle Stühle zu Kampfrossen. Ich war die handelnde Hauptperson, die Mutter alle anderen. Das waren herrliche Stunden! Aber oft mitten im Spiel kam ein tiefer Schmerzenszug auf der Mutter Angesicht, sie legte den Kopf zurück und wurde totenblaß. Eine Weile lag sie dann unbeweglich und sagte kein Wort mehr. Dann kroch ich zu ihrem Bett hin und weinte, und alle Freude war vorüber. Ich glaube, so ging es jeden Tag.

So vergingen mir die Kinderjahre. Von der Liebe und der Poesie meiner Mutter genährt und getragen, hätte ich ein schönes Dasein gehabt in unserer Abgeschiedenheit und nichts weiter verlangt, aber ihr Leiden trübte mir jeden froh begonnenen Lebenstag. Doch verzeihen Sie,« unterbrach sich hier Herr v. D., »ich vergesse mich in der Erinnerung; so lange darf ich mir nicht erlauben, Sie in Anspruch zu nehmen.«

Aber Olga bat aufs neue, Herr v. D. möchte weiter erzählen, und recht eingehend, nun sei ja ihr Interesse erst recht rege geworden.

»Sie lebten also auf dem Lande,« sagte sie, wieder in die Erzählung einlenkend; »darf ich auch wissen, wo? Und Ihr Vater?«

»Ich erzähle Ihnen gern weiter, wenn es Ihnen nicht zu viel wird,« fuhr Herr v. D. fort. »Gewiß, wir lebten Sommer und Winter auf dem einsamen Gute, das mein Vater schon als Kind bewohnt hatte und das auf ihn, als einzigen Sohn, übergegangen war, wie es dereinst auf mich übergehen sollte, welcher Gedanke meines Vaters Glück und Stolz ausmachte. Das Gut liegt in Schlesien. Noch sehe ich die fernen blauen Linien der Schneekoppe und des waldigen Kynasts drüben am Horizont über die dunkeln Taxushecken in den Garten hereinschauen.

Mein Vater war ein stiller, immer ernster Mann; heiter sah ich ihn nie, so wie die Mutter manchmal mitten aus ihrem Leiden heraus sein konnte.

Ich glaube, der Zustand meiner Mutter machte ihn immer ernster und schweigsamer. Er war freundlich gegen mich, aber wenn er in das Krankenzimmer der Mutter kam und lange Zeit schweigend und düster in der Fensternische stand, fühlte ich mich gehemmt in meinem schönen Spiel; ein unbestimmtes Gefühl sagte mir, daß mein Vater keinen Sinn für meine Ritter und Drachen habe, die doch mein ganzes Leben erfüllten und mir näherstanden, als alle Gestalten der Wirklichkeit. Dann kam die Zeit, da ein Erzieher ins Haus einzog. Nun ging es ans Lernen. Nur meine Erholungsstunden konnte ich noch am Bette der Mutter zubringen; das tat ich auch treulich, und sie war mein bester Lehrer. An ihrer Hand, angeregt durch ihre warme Teilnahme und ihre lebensvolle Auffassung, wurde ich mehr und mehr mit den Werken unserer Literatur, vor allem mit unseren Dichtern bekannt. Es war dies das einzige meiner Lehrfächer, das mich fesselte und in dem ich meinem Lehrer Freude machte.

Ich war sechzehn Jahre alt, da starb meine Mutter. Mit ihr war mir alles ausgestorben. Mein Vater wünschte nun, daß ich einige Jahre auf einer hohen Schule zubringen und dann zu ihm aus das Gut zurückkehren sollte, um da zu bleiben. Ohne die Mutter auf diesem Gute, allein mit dem noch schweigsamer gewordenen Vater zu leben, stand mir als das Traurigste vor Augen, das die Erde mir bieten könnte. Ich zog gern auf die Schule, mit Freuden kann ich nicht sagen, Freude kannte ich nicht mehr. Ich studierte fleißig, um zu vergessen, was hinter mir lag, um nicht daran zu denken, was mir bevorstand. Wer die Zeit kam, da ich in die gefürchtete Einsamkeit, in das öde Vaterhaus zurückkehren sollte. Ich brachte es nicht über mich. Es gab einen einzigen Lichtpunkt für mich auf Erden, das Leben auf der Bühne, dahin zog es mich noch. Da konnte sich noch einmal mein Inneres aufschließen, da fand ich alle Poesie, alles Hohe und Begeisternde, das ich im wirklichen Leben entbehrte, da konnte ich noch eine Art von Lebensglück finden. Ich teilte meinem Vater meinen Wunsch mit. Er schrieb mir einen vernichtenden Brief. Mein Wunsch war für ihn ein Schwert, das ihn mitten ins Herz traf. Sollte ich ihn ausführen wollen, so mußte ich mir sagen, ich hätte seine letzten Lebenshoffnungen vernichtet, alle Bande, die ihn noch an dieses Dasein knüpften, durchgeschnitten, ich hätte den sicheren Nagel in seinen Sarg geschlagen. Dann sagte er mir einige zärtliche Worte, wie er solche nie vorher an mich gerichtet hatte, daß ich nur noch umkehren, seine stillen Tage mit ihm teilen und mit ihm das Andenken meiner Mutter ehren möchte. Das Andenken meiner Mutter! Ehrte ich diese nicht?

Alle meine Gedanken waren mit meiner Mutter verknüpft, alles, was mich hob und begeisterte, das allein mich auf die Bühne zog, hing mit Erinnerungen an meine Mutter zusammen. In meinem verödeten Vaterhause war sie nicht mehr, dahin konnte ich nicht zurückkehren. Ich betrat die Bühne. Auf wiederholte Briefe an meinen Vater erhielt ich keine Antwort mehr. Es ging mir gut. Ich wollte mir einen Namen machen und dann meinen Vater zu versöhnen suchen. Da erhielt ich die Nachricht seines plötzlichen Todes. Auch diesen Schatten noch auf meinen Lebensweg! Ich kann es nun verstehen, wie dieser schweigsame, aber tieffühlende Mann in solcher Einsamkeit von seinem Gram und so viel quälenden Gedanken hat verzehrt werden müssen. Ich war der quälendste für ihn, das weiß ich nur zu gut.«

Herr v. D. schwieg plötzlich. Er schaute vor sich hin und blieb stumm.

Auch Olga hatte lange geschwiegen. Voll warmer Teilnahme sagte sie dann: »Schauen Sie nicht mehr zurück auf die Vergangenheit, blicken Sie vorwärts, machen Sie durch ein schön und edel angewandtes Leben an der Gegenwart gut, was Sie sich vorzuwerfen haben für vergangene Tage. Bieten Sie denen, die leben, von Ihren reichen Gütern, mit denen Sie die Dahingeschiedenen nicht erfreuen konnten. Ihnen ist zu viel anderem auch noch der schöne Trost geblieben, der für so viele zum hohen Genusse wird, daß Sie das Wort in vollster Wahrheit sagen können:

›Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
gab mir ein Gott, zu sagen, was ich leide.‹

und in welcher Weise können Sie es sagen!«

Herr v. D. blickte auf. Mit dem weichen Klang seiner tiefen Stimme sagte er: »Es gibt einen Trost, der mir ganz anders wohltun kann, das ist die Teilnahme eines Menschenherzens, die mir geschenkt wird. Sollten Sie solche für mich empfinden können?«

»Gewiß habe ich herzliche Teilnahme für Sie gefaßt,« erwiderte Olga in ihrer gradsinnigen Weise. Sie reichte Herrn v. D. ihre Hand, er hielt sie fest in der seinigen. Jetzt stand Olga auf.

»Für mich ist es Zeit, nach Hause zu gehen,« sagte sie, ihre Hand leise zurückziehend. »Morgen werde ich unter den Bäumen von Belriguardo wieder mit Tasso zusammentreffen.«

Herr v. D. begleitete Olga schweigend bis zu ihrer Tür; dann verließ er sie.

Am folgenden Tage fand die Aufführung des »Tasso« statt.

Unter den Bäumen von Belriguardo trafen Tasto und Leonore zusammen, aber, seltsam: es war, als wären sie nur da für sich, als sprächen sie nur zueinander, nicht für die Menge, die da versammelt saß, um zuzuhören. Wie einfache Wirklichkeit tönten die Worte Tassos an ihr Ohr, die er mit der stillen Wärme sprach, welche nur das lebendige Gefühl aushaucht:

»So war auch ich in aller Phantasie
von jeder Sucht, von jedem falschen Trieb
mit einem Blick in deinen Blick geheilt.
Wenn unerfahren die Begierde sich
nach tausend Gegenständen sonst verlor,
trat ich beschämt zuerst in mich zurück
und lernte nur das Wünschenswerte kennen.«

Auch ihr flossen die Worte ohne Hinzutun jeglicher Kunst warm und lebendig von den Lippen:

»Wie schön befriedigt fühlte sich der Wunsch
mit ihm zu sein an jedem heitern Abend!
Wie mehrte sich im Umgang das Verlangen,
Sich mehr zu kennen, mehr sich zu verstehn!
Und täglich stimmte das Gemüt sich schöner
zu immer reinern Harmonien auf.«

Wie ein schwellender Strom rauschte die erst so gehaltene Rede des schwermütigen Dichters daher, wie er nun mit flammenden Worten ausrief:

»Beschränkt der Rand des Bechers einen Wein,
der schäumend wallt und brausend überschwillt?
Mit jedem Wort erhöhest du mein Glück,
mit jedem Worte glänzt dein Auge heller.
Ich fühle mich im Innersten verändert,
ich fühle mich von aller Not entladen,
frei wie ein Gott, und alles dank' ich dir.«

Jetzt brach der Beifallssturm, der bis dahin um der Ruhe willen oftmals gedämpft worden war, unaufhaltsam los. Tausendstimmig erscholl der Ruf nach Tasso, auch Leonorens Erscheinen wurde stürmisch verlangt. Es machte keinen Eindruck auf sie. Das Berauschende des Beifalls, das sie als Maria Stuart empfunden, war gänzlich vorüber. Sie stand wie träumend an eine Kulisse gelehnt und hörte den Lärm draußen wie etwas, das sie nichts anging. Jetzt trat Tasso zu ihr heran, er faßte sie bei der Hand, um sich mit ihr auf der Bühne zu zeigen. Das Haus erbebte von dem Lärm der entzückten Menge.

Olga folgte erst willenlos, dann besann sie sich: »Es gilt ja Ihnen,« flüsterte sie beim Eintritt und wollte stehenbleiben. Aber eine feste Hand hielt sie und zog sie leise zwingend mit sich fort. Jetzt schob Tasso sie mit leichter Bewegung voran, Leonore mußte den ersten Freudenstrom für sich gelten lassen. Sie ließ alles geschehen, sie fügte sich unwillkürlich dem Willen, der so sanft und doch so bestimmt über sie gekommen war.

Das Schauspiel war zu Ende.

Noch einmal stand Olga an Tassos Hand vor der jubelnden Menge, dann führte er sie zu ihrem Wagen.

»Das war Tasso, der echte Tasso,« sagte Olga beim Einsteigen.

»Nur die echte Leonore vermag einen solchen zu erwecken,« entgegnete Herr v. D.

»Erst seit heute weiß ich, wie Tasso sprach, wie Tasso schwieg,« sagte Olga wieder, indem sie ihm die Hand zum Abschied reichte.

»Erst seit heute weiß ich, wie Tasso empfand.« Herr v. D. drückte die Hand, der Wagen fuhr weg.

Über Olga hatte sich ein Zustand nie gekannter Lebenswonne ausgebreitet. Sie fühlte ihr ganzes Dasein wie getaucht in einen süßen Sonnenschein, der alle Kräfte und Keime ihres Wesens durchdrang und sie zu vollen Blüten entfaltete.

Ein erhöhtes Leben durchströmte sie. War es doch, als ob alles, das sie sah und hörte, auf einmal einen viel tieferen Sinn bekommen, als ob jedes Ding um sie her einen höheren Wert erhalten hätte. Jeden Morgen war das erste Gefühl des neuen Erwachens das eines vollkommenen Glückes, wieder einen Tag des schönen Erdenlebens vor sich zu haben.

Olga wußte, was ihr diese Fülle des Daseins erschlossen hatte. Es war das Zusammentreffen mit einem Wesen, das ihr im Innersten verwandt war, das mit ihr auf einem Wege dasselbe ideale Ziel erstrebte, das in allen geistigen Eigenschaften sie so weit überragte, daß jede Stunde, die sie mit ihm verlebte, ihr zum Gewinn wurde.

Und dieser Mann, von dem sie wie von keinem anderen Lebenden angezogen war, hatte für sie eine Aufmerksamkeit, wie er solche für keinen anderen zeigte. Er fand sie, wo sie sein mochte, er wußte so gut, auf welchen Wegen sie zu treffen war. Er blieb verschlossen und schweigend, wo er auftrat, bis Olga sich zeigte, dann wandte er sich zu ihr, und nie war er es, der den Faden brach, wenn sie, im Gespräch vertieft, die Stunden unbemerkt an sich vorbeiziehen ließen. Wie wurde ihr Blick geweitet, wie gewann ihr Urteil an Sicherheit durch diesen täglich sich erneuernden Austausch der Gedanken mit ihm! Sie wurde von ihm verstanden, wie sie es nie im Leben erfahren hatte, aus halbem Wege schon, und sein klares Verständnis machte ihr das eigene oft erst völlig klar. Führte er sie auf die Wege seiner eigenen Gedanken, daß sie auch ihn verstehe, da ging ihr mit jedem Schritt ein neues Licht, ein neuer Blick in die Tiefen des Menschenherzens auf. Aber was sie höher schätzte als all' seine geistigen Gaben und Güter, war, daß sie in ihm gefunden, woran ihr Herz geglaubt, was sie als Höchstes gesucht hatte, einen Menschen, dessen ganzes Wesen das Ideal darstellte, nach dem auch ihre Natur sich ausstreckte, unablässig, wie jede Pflanze sich ausstreckt nach dem Sonnenlicht.

Die Tage waren dahingegangen, kaum konnte Olga begreifen, wie ihr der Herbst entschwunden war, als sie entdeckte, daß ihre Bäume an der Moldau entblättert standen und das dürre Laub ihr unter den Füßen rauschte. Länger als gewöhnlich hatte sie an diesem letzten milden Spätherbsttag draußen verweilt. Es war schon dunkel, als sie in ihre Wohnung trat. Auf der Treppe stand ihr Mädchen in so eifriges Gespräch vertieft mit einer Fremden, daß es die Eintretende erst gar nicht bemerkt hatte. Nun Olga vor ihr auf der Treppe stand, erschrak Pauline, verabschiedete in Eile die vor ihr Stehende und folgte ihrer Herrin. Olga trat ohne Bemerkung ein.

Das Mädchen mochte ein Gefühl von Unrecht im Herzen haben; als wollte es sich verteidigen, sagte es: »Ja, Fräulein, wenn man aber auch Dinge hören muß, die man kaum glauben kann! Wer hätte denken können, daß Herr v. D. kein Ehrenmann sei!«

»Was erlaubst du dir, Pauline?« fuhr Olga auf.

»Wenn's aber aus der ersten Hand kommt, so muß es wohl wahr sein, ich will Ihnen auch alles erzählen,« sagte Pauline eifrig. »Da ist die junge Sängerin, Fräulein Nina, mit den braunen Augen, die sich abhärmt und ihre Augen verweint, und das ist kein Wunder, wenn man weiß, daß Herr v. D. eine ganze Zeit lang sie immer aus allen anderen heraussuchte und mit ihr spazierenging und sie besuchte und dann auf einmal sie vergessen hat und gar nicht beachtet. So etwas ist auch von einem großen Herrn nicht schön.«

»Pauline,« sagte Olga mit zurückgehaltener Aufregung, »du weißt, daß ich dich nur unter der Bedingung mit hierher genommen habe, daß du dich von allen Klatschereien fernhältst, die an jedem Theater vorkommen und gewöhnlich aus den geringsten Motiven hervorgehen. Laß es das letztemal sein, daß ich so etwas von dir höre!«

Als Olga allein in ihrem Zimmer saß, stieg ihr das Gehörte wie ein Vorwurf auf, als wäre in ihrem eigenen Hause ihrem nahen Freunde ein schweres Unrecht geschehen. Sie wollte es gut machen, sobald sie ihn am nächsten Morgen sehen würde. Nicht daß sie ihn von dem niedrigen Geschwätz in Kenntnis zu setzen dachte, sie wollte ihm nur mehr als je ihr gänzliches Vertrauen zeigen.

Als sie am nächsten Morgen ihren Gang zur Probe machte, traf sie, in das Gebäude tretend, auf die braunäugige Nina.

Zum erstenmal faßte Olga beim nahen Vorbeigehen das Mädchen fest ins Auge, und seltsam – das konnte keine Täuschung sein – auch Nina schaute sie besonders an; ein langer, wie fragender Blick war's, den sie auf Olga gerichtet hatte. Wie ein Stich ging er ihr durchs Herz. Sie fragte sich, warum? Zum erstenmal stieg ein Gefühl von Zweifel, von Verdacht in ihrem Innern auf. Ein eisiger Griff in ihr Herz machte es stillestehen; dann schlug es wieder, rasch wie nie vorher. Die Probe mußte sie mitmachen, dann eilte sie hinweg.

.

Jetzt mit Herrn v. D. zusammentreffen, wie sie's gewohnt war, konnte sie nicht. Auf ihrem Zimmer saß sie und staunte vor sich hin, unfähig, sich von dem beunruhigenden Eindruck zu befreien, den sie nicht zum klaren Gedanken zu gestalten vermochte, der als ein unbestimmtes Bangen sie quälend verfolgte.

Jetzt trat Pauline bei ihr ein. Sie konnte nicht ertragen, ihre Herrin so schweigsam und verändert zu sehen. Sie hatte sich gedacht, ihr Schwatzen habe das Fräulein verdrießlich gemacht, und bat um Verzeihung. Sie wollte in ihrem Leben nie wieder plaudern; aber was wahr sei, bleibe doch wahr, versicherte sie.

Olga wollte wissen, wie das Mädchen dazu komme, so fest zu behaupten, es hätte nur Wahres ausgesprochen. Pauline erzählte bereitwillig, die Frau, von der sie alles wisse, sei die Arbeiterin, die dem Fräulein die hübschen Kleiderbroderien liefere. Wenn sie nun hier und da zu dieser ins Haus gegangen sei, um ihr Arbeit zu bringen, dann habe so ein Wort das andere gegeben, und in der letzten Zeit habe die Frau oft gejammert und sich beklagt bei ihr, daß sie solche Sorge um ihre Tochter Nina haben müsse, die sei gar nicht mehr dieselbe, die sie früher gewesen, und nicht mehr zu erkennen. Gesundheit habe sie sonst nie viel gehabt und nun lasse sie sich noch von Kummer zerfressen; und so habe ihr die Frau nach und nach alles erzählt, schloß Pauline, und sie habe nicht gedacht, etwas Böses zu tun, als sie die Frau tröstete.

»Was,« fragte Olga, mit Gewalt ihre Bewegung unterdrückend, »alles, was du mir gestern von der jungen Sängerin gesagt, hättest du von ihrer eigenen Mutter gehört?«

Pauline bestätigte nochmals, daß sie die ganze Sache von der Mutter vernommen habe, daß diese es auch gewesen sei, mit der sie sich am vorigen Abend auf der Treppe ein wenig vergessen habe, nachdem ihr die Frau das neue Kleid für das Fräulein übergeben hätte.

Als Olga wieder allein mit ihren Gedanken saß, fing die unbestimmte Qual an mehr und mehr feste Gestalt zu gewinnen. Könnte es sein? Könnte dieser Mensch trügen? Nein, so war es nicht, das wußte sie bestimmt. Aber wie war es möglich? Wie war alles zu erklären? Klarheit mußte sie haben. Sollte sie hingehen unter die Platanen? Da mußte er jetzt auf- und niedergehen, vielleicht ihrer wartend. Nein, dazu war sie nicht imstande. Wie war Gewißheit zu erlangen? Schon ging der Tag zur Neige, und noch saß sie an ihrem Fenster, ihre Gedanken wurden immer unruhiger. Drüben am alten Clam-Gallas-Palast blickten die dunkeln Steinfiguren sie immer finsterer an; sonst schaute sie so gern hinüber, jetzt sahen sie schrecklich aus! Sie stand auf und verließ das Fenster. Es gab einen Weg, sich Gewißheit zu verschaffen, sie wollte ihn gehen.

Früh am nächsten Morgen fragte sie ihr Mädchen um die Adresse der Frau, von der sie miteinander gesprochen, sie wollte dieser neue Arbeit bringen. Pauline schaute erstaunt ihre Herrin an: Sollte sie nicht die Sache besorgen können? Olga erwiderte kurz, diesmal wollte sie selbst es tun.

Auf dem bezeichneten Wege fand sie sich leicht zurecht. Sie stieg die vielen Treppen des alten dunkeln Hauses hinan. Zuoberst angelangt, wurde es heller. Sie schaute durch das Fenster am Ende des schmalen Ganges, es ging nach dem Franzenskai hinaus, gerade auf ihre Bank hin konnte man sehen. Die Tür wurde ihr von einer Frauengestalt aufgemacht, welche Olga beim ersten Blick als die Mutter der braunäugigen Nina erkannte, wie sehr auch das ehemals schöne Gesicht eingefallen und verwittert aussah. Halb elegante, halb armselige Kleidungsstücke hingen an der Frau. Olga machte ihre Bestellungen und gab dann ihren Namen ab.

»O,« sagte die Frau, »den Namen kenne ich schon, habe auch schon öfter für die Dame gearbeitet. Die Dame ist am Theater, da habe ich auch meine Bekanntschaften. Die Dame kennt wohl auch meine Tochter Nina?«

»Wenig, nur von weitem,« entgegnete Olga, »gesprochen habe ich sie nie. Sie sieht zart aus.«

»Ja, ja, sie ist es auch und war es immer,« fiel die Frau eifrig ein; »aber blühend wie eine Rose war sie bis zu dieser verwünschten Zeit, da sie sich die jungen Augen ausweint und ihre jungen Tage verkümmert, daß sie alle Farbe verliert.«

»Was hat das Mädchen für Kummer?« fragte Olga. Die Worte kamen ihr halberwürgt aus dem Halse heraus.

»Ach, was sollte das für Kummer sein!« sagte die Frau ironisch. »Nichts Neues. Die Dame kennt ja wohl den Herrn v. D., der am Theater ist, und weiß wohl, wie der spielt! Es ist auch wahr, er spielt, wie's kein anderer ihm nachtut, und so ist er im Umgang. Kein Mensch glaubt's, der ihn nicht nahe gekannt hat; das habe ich aber, denk' ich. Wie oft kam er hierher in dies kleine Zimmer und saß bei uns und las dem Mädchen Sachen vor und sprach zu ihr, wie nie einer vorher, und tat, als hätte er ein Interesse für ihre geheimsten Gedanken. So ging's, bis sie nicht mehr ohne ihn sein konnte, dann blieb er weg und kam nicht mehr. Wenn ich das Mädchen frage, was da vorgefallen sei, so sagt sie, da sei gar nichts vorgefallen, und wenn ich meine Meinung sage, so tut sie noch, als wäre ich im Unrecht. Aber seither ist's vorbei mit ihr. Da grämt sie sich herum und sieht aus wie ihr eigener Schatten. Aber ich hab' es ihr zum voraus gesagt. Nina, sage ich, wie er das erstemal kam und ihr Bücher brachte, und es ist wahr, sie hat viel von ihm gelernt, es war ihm an ihr gelegen, aber, sagte ich zu ihr: nimm's nicht zu Herzen. Ich weiß, wen ich jedesmal zu Besuch gesehen habe bei der schönen, blonden Norwegerin, wenn ich in Geschäften zu ihr kam, solange sie hier am Theater war.«

Olga war aufgestanden. Sie hatte genug gehört, noch mehr anzuhören, war ihr unmöglich. Sie entschuldigte sich, daß ihre Zeit nicht weiter reiche. Nun entschuldigte sich auch die Frau, daß sie mit ihrem Erzählen die Dame aufgehalten, es werde ihr aber zuviel, die Sache so allein zu tragen, sie müsse ihre Last etwas ablegen bei einem teilnehmenden Menschen.

»Das Kind ist ja meine einzige Stütze und Hilfe,« schloß sie, halb im Jammer, halb in Zorn, »und er hat sie unglücklich gemacht, er hat uns zugrunde gerichtet.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Nina trat herein. Als sie Olga gewahr wurde, flog über ihr blasses Gesicht eine brennende Röte. Olga grüßte. Sie erwiderte den Gruß und wandte sich weg. Sie mußte die letzten Worte der Mutter gehört haben. Plötzlich wandte sie sich wieder um und sagte in höchster Entrüstung:

»Das war ein Unrecht von dir, Mutter.«

»Da sehen Sie's, Fräulein, da hören Sie's selbst,« rief die Frau aus und faßte in ihrer Aufregung Olgas Hand und Arm, um sie festzuhalten, denn Olga hatte das Zimmer verlassen wollen. »Das soll man alles nur hinnehmen. Erst gewöhnt er sie an sich, bis sie nur noch von ihm lebt wie eine Primel von der Sonne; dann läßt er sie im Schatten sitzen, bis sie verkommen ist, und es soll noch ein Unrecht sein, wenn ich es sage, wenn ich nur sage, was wahr ist.«

»Mutter,« sagte Nina jetzt mit verhaltener Aufregung, die durch die Stimme zitterte, »und wenn auch alles ganz so wäre, wie du sagst, so wollte ich es lieber so, als daß ich ihn nie gekannt hätte.«

Olga hatte sich losgemacht, sie eilte fort. Draußen schien die blasse Novembersonne über die alte Stadt hin. Sie konnte nicht in ihr Haus eintreten, sie fürchtete sich, allein mit ihren Gedanken in die Stille zu kommen. Sie eilte der Brücke zu, gegen den Hradschin hinauf, sie wollte den weiten Ausblick aufsuchen, der von oben her die ganze Umgebung beherrscht, damit ihre Gedanken sich ausweiten möchten, daß sie von ihrer eigenen Persönlichkeit abgezogen würde, daß sie befreit werden könnte von dem stechenden Weh, das ihr ganzes Wesen durchdrang. Nun stand sie oben auf der Terrasse und schaute über Fluß und Brücken, über die baumreichen Gründe und auf die alte Stadt nieder – es war, wie wenn alles anders geworden wäre. So trüb und reizlos lief die Moldau dahin, so kahl, so schaurig standen die blätterlosen Baumgänge, so düster schaute die alte Stadt herüber, als wäre lauter Jammer in diesen Mauern. Olga wandte sich weg, da konnte sie nicht bleiben. Sie lief die hohen Schloßtreppen hinab. Auf den Stufen saßen wie immer die alten Bettler und murmelten ihre Bitten. Olga war zu hastig heute, um sie zu bedenken wie sonst. Nur dem gekrümmten Mütterchen, das auch heute still in seiner Ecke gekauert saß, drückte sie schnell etwas in die Hand und lief weiter. Aber das Mütterchen rief ihr nach und noch einmal, und winkte sie dringlich zurück. Olga stieg wieder hinauf zu ihr, was konnte sie wollen? Die Alte ergriff ihre Hand und sagte in böhmischer Sprache ihr unverständliche Worte, immer dieselben, die Hand nicht loslassend. Olga betrachtete das runzelige Gesicht der schneeweißen Alten. Wie lange mochte sie schon auf diesen Stufen gesessen haben, in Sonnenglut und Winterfrost? Ihre Augen sahen ganz erloschen aus, sie mußte blind sein.

Olga wollte ihre Hand zurückziehen, aber die Alte gab nicht nach, sie wollte sich verständlich machen. Jetzt hörte sie Fußtritte nahen, ein eigentümlich aussehendes Männchen kam die Treppen herauf, die Alte mußte den Schritt wohl kennen.

»Nick,« rief sie und winkte den Kommenden zu sich heran.

Sie hielt noch immer Olgas Hand, küßte sie jetzt wieder und sagte eifrig ihre Worte und einiges noch, zu dem Manne gewandt. Dieser kehrte sich nun zu Olga, indem er mit seltsamer Würde seine Mütze tief vom Kopfe zog und sagte: »Die alte Blinde will, daß ich Gnaden danke in ihrem Namen, und ich soll Gnaden wissen lassen, daß die Alte alle Tage zu Gott beten will, daß er Gnaden ein sanftes Sterbestündlein geben wolle.«

Etwas weniger gravitätisch setzte er dann hinzu: »Gnaden haben die Alte auch gut beschenkt, sie kann es brauchen; ein sanftes Sterbestündlein kann man auch brauchen.« Dann ging der kleine Mann seines Weges.

Erst jetzt sah Olga, daß sie sich vergriffen, daß sie der Alten Gold, nicht Silber in die Hand gelegt hatte; diese mußte es gleich gefühlt haben. Die Freude der Alten und ihr gutes Versprechen taten Olga einen Augenblick wohl; sie drückte die magere, runzelige Hand und eilte fort.

Nun stand Olga auf der Brücke. Sie lehnte sich an den Sockel einer Bildsäule, sie konnte nicht weiter, eine lähmende Müdigkeit war über sie gekommen. Einen Augenblick wollte sie ausruhen; aber rastlos, wie unter ihr die eilenden Wellen der Moldau, so verfolgten sich in ihrem Kopf und Herzen die quälenden Gedanken immer unruhiger, immer peinlicher. Sie stand wieder auf und fuhr zusammen; war ihr doch, als schaute ein lebendiges Auge auf sie nieder, da sie in das stille, ernste Antlitz des Märtyrers blickte, an den sie sich gelehnt hatte, ohne es zu wissen. Sie hatte das ruhige Angesicht nie so gesehen, wie konnte ihr dieser Ausdruck entgangen sein! Eine Weile lang konnte sie ihr Auge nicht abwenden von dem Manne mit dem heiligen Buch in der Hand und dem Angesicht voller Frieden. Wußte dieser denn nichts von Leid und verzehrenden Qualen? fragte sie sich. Sie lehnte sich von neuem an das Standbild und fiel in ihre grübelnden Gedanken zurück. Jetzt trat ihr jemand nahe, sie schaute auf, es war der seltsame Mensch, der ihr auf der Treppe den Wunsch der Alten übersetzt hatte. Wieder nahm er seine Mütze tief herunter und stellte sich vor Olga hin.

.

»Gnaden sind wohl fremd in Prag. Könnte man Gnaden einen Dienst erweisen? Die Kirchen zeigen? Die alten Säle im Hradschin? Vergegenwärtigen, was da vorzeiten geschehen ist?«

Halb untertänig, halb überlegen hatte der kleine Mann zu Olga gesprochen. Sie schaute ihn an, wer konnte er sein? War er ein vollkommener Gelehrter? War er nur ein untertäniger Lakai? Seine stechenden, schwarzen Augen waren auf sie gerichtet, etwas leidenschaftlich Unruhiges lag in dem Blick.

Olga dankte für das Anerbieten, sie hatte keinen Wunsch, irgendetwas anzusehen. Der seltsame Nick stand noch immer vor ihr. »Gnaden lehnen sich da an einen Guten an,« sagte er wieder, indem er mit Ehrfurcht zu der Statue emporschaute. »Gnaden kennen wohl unsern Vater Nepomuk? Der hat viel Elend gesehen, schon zu seiner Zeit und seit er hier auf der Brücke steht. Wer kann wissen, wie er die Sanftmut auf dem Gesicht behalten hat, als gäbe es doch eine Gerechtigkeit und käme jeder noch zu seinem Recht. Gnaden kennen die Geschichte von Prag?«

»So ziemlich,« erwiderte Olga, zu keinem weiteren Gespräch geneigt.

»O, erlauben Gnaden, das ist der Ort der Geschichte, die sollten die Fremden auf diesem Platze hören. Da steht der Hradschin da droben, das alte Kaiserschloß, und schaut auf die Brücke herunter. Da hat auch der wilde Wenzel drin gehaust, der zornmütige König; von dem haben Gnaden wohl auch gehört, und wie die Königin, seine Gemahlin, schön und fromm war und von allen Böhmen geliebt?

Und wenn nun der König wild und rachesüchtig war, so war sie still und sagte kein Wort der Widerrede und ging fleißig in die Kirche. Wie sie's aber vermochte und die Sanftmut dabei behielt, das wußte keiner als nur einer und konnte es wissen, das war ihr Beichtvater, dieser hier, mit dem friedlichen Angesicht. Und einstmals war der König mit seiner Gemahlin wild umgegangen, daß alles floh und keiner mehr dabei sein wollte. Und wie er tags darauf die Königin von der Beichte kommen sieht, schickt er hin nach dem Beichtvater, daß er vor ihn komme; und er kommt. Da befiehlt ihm der König, daß er die Beichte seiner Gemahlin hersage. ›Nimmermehr!‹ erwiderte der heilige Vater. Den zweiten Tag läßt ihn der König wieder rufen und gebietet ihm dasselbe. ›Niemals!‹ sagt der heilige Vater, ›und keine Macht soll mich dazu bringen!‹

›Das wollen wir sehen‹, ruft der wilde Wenzel höhnisch und läßt den heiligen Vater auf die Folter werfen. Am dritten Tag heißt er ihn nochmals kommen und redet die gebrochene Gestalt mit Spott an und fragt, ob der Vater mürbe sei und endlich gehorchen wolle. ›Nimmermehr, so wahr Gott lebt, will ich diese Sünde tun!‹ entgegnete der ehrwürdige Vater. Da ruft der König seine Henkersknechte zusammen und läßt seiner Gemahlin sagen, sie solle an ihr Fenster treten, so könne sie sehen, was ihr gefallen müsse. Und wie die Königin da oben an ihr Fenster tritt, so sieht sie, wie die Henkersknechte den ehrwürdigen Vater mit rohen Händen greifen und ihn hier über die Brücke in das tiefe Wasser der Moldau hinunterstürzen, da wo wir stehen.«

Der seltsame Erzähler hatte mit solch innigem Gefühl gesprochen, so als wäre alles soeben geschehen und sein eigenstes Interesse damit verknüpft, daß er Olga aus sich herausgerissen und seinen Worten zu folgen gezwungen hatte. Ihr krankhaft erregtes Gemüt wurde von der Erzählung mit Gewalt ergriffen. Sie schaute nach dem Fenster des Hradschin hinauf, wo die Königin gestanden und zugeschaut hatte, wie sie den zum Tode brachten, der um sie litt. Da unten floß die grüne Moldau dahin, wie damals, als die Königin auf die Greueltat herniedersah.

»Ach, wieviel Elend!« rief Olga aus und verbarg ihr Gesicht in ihre Hände.

»Ja, ja, und für die Königin war's noch nicht zu Ende,« fing Nick aufs neue an. »Einstmals in einer Nacht war sie aufgestanden und ans Fenster getreten und schaute hinab auf die dunkle Moldau. Wer kann wissen, was für Pein und marternde Gedanken den Schlaf von ihren Augen scheuchten! So stand sie da inmitten der Nacht. Nun liebte der König Wenzel die wilden Hunde und hatte immer eine Koppel um sich, so auch in seinem Schlafgemach. Und eine der Bestien sprang auf die Königin und packte sie scharf, und sie schrie wohl auf und bat um Hilfe. Aber der Wenzel wollte seine Dogge nicht verletzen und wer weiß, was in seinem rachgrimmigen Herzen war: dort an ihrem Fenster hat er die zitternde Frau von der Dogge zerreißen lassen. Da lag sie am Morgen erwürgt in ihrem Blute.

Und seither hat der heilige Vater noch mehr gesehen und gehört. Was er nur darüber denkt, wie's hier unten zugeht! Aber Gnaden sollten sich zurückziehen, sehen ermüdet aus, empfehle mich Gnaden!«

Damit zog der seltsame Nick seines Weges.

Olga hatte sich am Sockel der Statue niedergesetzt; sie war zum Erliegen ermattet und wie von schweren Lasten niedergedrückt. Ihr war, als ob »der Menschheit ganzer Jammer« sie erfaßte. Das eigene bittere Leid, der anderen Not und Angst, das Weh so vieler, alles lag auf ihr als ein großes, erdrückendes Elend.

Sie saß da, kraft- und mutlos. Sie suchte nach einem festen Halt, daß sie sich daran klammere und aufschwinge aus diesem Zustand hilflosen Daniederliegens. Sie sah aus nach einem sicheren Gute, damit sie daraus Mut und Freudigkeit schöpfe. Sie hatte solchen Halt und solches Gut gekannt. War sie nicht immer über alles irdische Enge und Hemmende hinweggehoben worden durch ihre idealen Güter, von denen sie lebte, durch das hohe Ziel, das sie vor Augen hatte, die großen Menschen, denen sie nachstrebte in Liebe und Bewunderung? Warum konnte sie ihre Ideale nicht als festen Trost erfassen wie vorher? War sie eine andere geworden? War alles um sie her verändert mit einemmal? Wo sie hinsah, traten ihr Trug und Täuschung entgegen, Selbstsucht und Ungerechtigkeit, Elend und Jammer. Fort, aus diesen Umgebungen weg, vor allem aus der Nähe des Menschen weg, an dem ihre Lebenskraft und Freudigkeit zerschellt, durch den ihr der Glaube an jedes Ideal erschüttert worden war! Nur fort von hier, um wieder zu genesen! Dies war ihr erster klarer Gedanke, der zum Wollen wurde. Sie stand auf, ihr fester Wille siegte über die ermatteten Kräfte. Sie warf keinen Blick mehr zu den Fenstern des Hradschin hinauf, auch keinen mehr auf die fortrauschende Moldau; wie verfolgt von gefürchteten Mächten, eilte sie über die Brücke. Sie wollte in die Stadt einbiegen – da stand Herr v. D. vor ihr. Er hatte, unter den Platanen wandernd, sie von fern schon sehen können und war ihr wohl entgegengegangen. Sie müßten noch einmal sich zusammen freuen am scheidenden November-Sonnenstrahl, sagte er, für lange wohl zum letztenmal, denn nach dem düstern Rot am Himmel zu schließen, sei ein Schneesturm im Anzug. Olga sollte ihn für einen Augenblick nach ihrer Bank begleiten, sie schaute ja so gern nach der Moldau, wenn Sonnenschimmer auf dem grünen Wasser lag. Es war der gewohnte, einnehmende Ton, dem Olga so oft, so gern gefolgt war.

»Jetzt nicht,« antwortete sie hastig; »ich kann nicht, ich bin auch müde, ich muß nach Hause.«

Es war nicht Olgas gewohnter Ton, in dem sie eben gesprochen hatte. Einen Moment schaute Herr v. D. sie durchdringend an, dann sagte er, sie bei der Hand nehmend:

»Ja, Sie müssen müde sein, Sie sehen völlig erschöpft aus, ein Grund mehr, daß Sie sich einen Augenblick hier ausruhen.«

Damit führte er Olga zu der Bank hin. Sie folgte ihm ohne Widerstand, sie war mehr von diesem Willen beherrscht, als sie je selbst gewußt hatte.

Der Sonnenschein lag blaß auf den gelben Blättern am Boden vor der Bank. Olga setzte sich hin an die Stelle, wo sie so oft neben dem Freunde gesessen in immer lebendiger fließendem Austausch der Gedanken. Sie konnte nicht mehr zu ihm reden. Herr v. D. schaute sie fragend an. Nach einer Weile sagte er:

»Sie denken nicht, daß die Schatten auf Ihrem Angesicht einem nahen Freunde entgehen könnten. Sollte ich Ihr Vertrauen nicht so weit besitzen, daß ich die Ursache Ihres veränderten Wesens kennen dürfte?«

Noch schwieg Olga. Wie sollte sie reden? Was wollte sie sagen? Endlich brachte sie in abgestoßenen Worten die Frage heraus:

.

»Herr v. D., haben Sie mich getäuscht? Suchen Sie sich selbst zu betrügen? Haben Sie Fräulein Nina hintergangen? Täuschen Sie uns alle?«

Herr v. D. schaute Olga verwundert an.

»Ich verstehe Sie nicht,« sagte er in einfacher Weise.

Mit Mühe begann Olga wieder:

»Herr v. D., ich habe Fräulein Nina gesehen; sie ist gänzlich unglücklich. Sie haben sie an einen nahen Verkehr mit Ihnen gewöhnt, dann plötzlich verlassen und vergessen. Sie haben wohl mehr ähnliche Beziehungen und – und –«; mit einemmal hielt Olga inne. Viel leidenschaftlicher, als sie es gewollt, war ihr Ton geworden, plötzlich hatte sie ihn selbst gehört und war erschrocken. Jetzt trat ihr die Frage entgegen: Welches Recht hast du denn an dem Menschen? Die Auszeichnung, die er ihr bewiesen, seine warme Teilnahme für alles, was sie betraf, seine ausschließliche Aufmerksamkeit für sie, gaben ihr diese, gab ihr irgendetwas das Recht, zu ihm zu sprechen, wie sie tat, wie sie eben noch tun wollte? Sie sagte kein Wort mehr.

»Ich will Sie zu Ende hören,« bemerkte Herr v. D. ruhig.

»Ich bin zu Ende,« war die kurze Entgegnung.

»Was Sie mir sagen, setzt mich in Erstaunen,« sagte Herr v. D. so einfach und natürlich, daß es wahr sein mußte. »Ich habe zu einer Zeit viel mit dem liebenswürdigen Mädchen verkehrt; ich hatte großes Interesse für Fräulein Nina, sie hat viel Talent und ist eine einnehmende Erscheinung. Ich sah, daß ich ihr auch einigen Rat erteilen konnte, der ihr nötig war. Sie hat wenig studiert, nimmt aber leicht und mit Verständnis auf, sie ist außerordentlich feinfühlend. Daß mir das kleine Veilchen in den Hintergrund getreten, seit auf meinem Wege die blätterreiche, farbenwarme Rose aufgeblüht ist, das dürfen Sie mir nicht so sehr zum Vorwurf machen; wem würde nicht dasselbe begegnen? Daß das gute Mädchen sich härmt darüber, davon wußte ich nichts. Armes Kind! Aber so etwas heilt. Sie wird schon Genesung finden.«

»Ich wollte, ich hätte diese Worte nie von Ihnen gehört, Herr v. D.«

Olgas Ton mochte noch mehr als ihre Worte aussprechen, was in ihr vorging.

Ob Herr v. D. dagegen die Sache leichter behandeln wollte, als sie selbst empfand? Fast wegwerfend entgegnete er:

»Wie kann dieser unbedeutende Vorfall Sie nur so tief beschäftigen! Es wird ja bei dem Mädchen bald vorübergehen, da ist ein Trost möglich:

›Noch treffen sich verwandte Herzen an
und teilen den Genuß der schönen Welt.‹

Denken Sie nicht mehr an die Sache!«

Olga stand auf.

»Ich muß gehen,« sagte sie, die Stimme zitterte ihr vor verhaltener Aufregung. »Und, Herr v. D., ich muß fort von Prag, gleich, hier kann ich nicht mehr bleiben.«

Noch einmal zog Herr v. D. sie auf die Bank zurück.

»Dies kann Ihr Ernst nicht sein,« sagte er mit erzwungener Ruhe. »Was kann Sie zu so unsinnigen, ganz unausführbaren Gedanken bringen! Sie stehen im Anfang einer glänzenden Laufbahn, Sie haben vertraglich ein Engagement angenommen. Wollen Sie Ihr Wort brechen? Wollen Sie Ihren Namen, Ihren ganzen Weg ruinieren? Nur im Moment einer vorübergehenden Aufregung können Sie einen so unbegreiflich verkehrten Vorsatz fassen; einmal ausgeführt, müßten Sie ihn Ihr Leben lang bereuen. Und, Fräulein Olga,« fuhr er mit weicherem Tone fort, »denken Sie denn gar nicht an mich? Hatten wir nicht reiche, köstliche, unvergeßliche Tage zusammen? Ist Ihnen ein solches Verständnis von keinem Wert? Wollen Sie den Sonnenschein von meinem Lebenswege nehmen? Das können Sie nicht! Das tun Sie nicht! Geben Sie mir Ihre Hand darauf, Sie tun es nicht.«

Herr v. D. war aufgestanden, er hatte sich vor Olga hingestellt und ihre Hände erfaßt.

»Führen Sie mich nach Hause,« sagte Olga, »heute kein Wort mehr, ich kann nicht mehr.«

»Versprechen Sie, keinen Schritt zu tun, der Ihr Verderben wäre.«

Herr v. D. hielt ihre Hände fest; sie fühlte, wie die seinigen zitterten vor Aufregung.

»Ich muß fort,« wiederholte Olga.

Sie machte sich los und stand entschlossen auf.

»Fräulein Olga,« sagte Herr v. D. mit einer vor Aufregung tonlosen Stimme, »ich werde einen Weg finden, Sie abzuhalten, Ihre Laufbahn zu verderben, Ihr Glück mit Füßen zu treten.«

Er bot ihr seinen Arm und führte sie nach ihrer Wohnung. Sie sprachen kein Wort mehr.

Olga war in ihr Zimmer eingetreten, von Pauline gefolgt, die sich nicht erholen konnte von ihrem Erstaunen.

»So spät, und nirgends Mittag gehalten. Und wie Sie aussehen!« rief sie erschrocken, nun sie ihre Herrin recht im Licht sah. Sie wollte irgendwelche Erfrischung herbeiholen. Olga sagte ihr kurz, sie habe nichts nötig, sie möchte allein bleiben. Später trat Pauline nochmals ein, sie meinte, es müsse Zeit sein, daß das Fräulein etwas genieße. Heute nicht mehr, sie sei müde, sagte Olga, Pauline möchte sie ungestört lassen.

Das Mädchen ging.

Da saß nun Olga allein in der Stille. Konnte sie endlich ihre verworrenen Gedanken sammeln, daß sie einen Ausweg finden möchte aus der Verwirrung? Sie legte den müden Kopf in beide Hände und schloß die Augen. Da stand der beunruhigende Nick vor ihr mit seinem leidenschaftlichen Erzählen. Dann war es das verweinte Angesicht der braunäugigen Nina, das sie vorwurfsvoll anschaute. Dann erblickte sie oben auf dem Hradschin eine zitternde Frauengestalt am Fenster, die schaute auf die dunkle Moldau nieder. Dann stand ihr Freund vor ihr mit durchdringendem Blick und wollte sie festhalten. Was sollte aber dann aus ihr werden? Heute war ihr klar ins Bewußtsein gekommen, was nun vor allem sich in ihren unruhigen Gedanken bewegte. Ihr Freund hatte eine Gewalt über sie gewonnen, gegen die sie mit Macht ankämpfen mußte, wollte sie sich nicht verlieren. Und dieser Freund, den sie bis jetzt so nah zu kennen glaubte, war heute ein anderer für sie geworden. Wie sollte es weiter zwischen ihnen werden? Sie hatte nie ein köstlicheres Gut gekannt als dieses nahe Freundesverhältnis, sie hatte für alle Zeit keinen höheren Wunsch, als es zu bewahren. Aber wie? Wenn nun auf des Freundes Weg eine neue Blume aufblühen sollte? Der bloße Gedanke trieb ihr das Blut heiß in die Wangen. Fort! Für immer weg und gleich! Das war die einzige Rettung für sie. Sie wollte sich's ausdenken, wie, wann, wohin? Dann verlor sie den Faden, und alle die brennenden Bilder des Tages stiegen wieder auf vor ihr und zogen an ihren ruhelosen Augen vorüber. Sie ward zuerst in die nächste Wirklichkeit zurückgerufen durch ein leises Klopfen an ihrer Tür. Pauline trat ein. Als Olga aufschaute, erblickte sie vor sich die erlöschende Lampe: es war Tag.

Jetzt fühlte sie eine schaurige Kälte ihren ganzen Körper schütteln. Pauline sah das Fenster offenstehen, die rauchende Lampe auf dem Tisch, Olgas Anzug, alles wie am Abend vorher, da sie das Zimmer verlassen hatte. Da stand auch das unberührte Bett. Sie tat einen lauten Schreckensruf, das Fräulein habe die ganze Nacht durch da gesessen und bei offenem Fenster! So war es gewesen. Erst jetzt empfand Olga die Wirkung dieser Nacht, nach einem Tage, wie der vorhergehende für sie gewesen war. Sie legte sich nieder, ihre Gedanken waren ermattet, nur Ruhe begehrte sie.

Auf diesen Morgen folgten für Olga Tage und Wochen, von denen sie keine andere Erinnerung hatte als die eines erstickend beängstigenden Gefühls, das ihr lange nachher noch quälend nachging. Sie hörte an ihrem Bette sagen: »Typhus«. Dann sah sie, wie man sie bereitmachte, um sie zu begraben. Sie wollte aufschreien, sie sei noch am Leben, aber ihre Stimme hatte keinen Ton, die Kraft zu schreien gebrach ihr. Dieser qualvolle Zustand mußte öfter wiedergekehrt sein.

Ihre erste klare Erinnerung war, daß sie eines Tages die Augen aufschlug und Pauline weinend an ihrem Bette sitzen sah.

»Warum weinst du, Pauline?« fragte sie, aber es ging ihr mühsam, die Worte zusammenzubringen. Pauline ging sofort aus ihren Tränen in Frohlocken über. Nun sei das Fräulein gerettet, rief sie aus; diesen Morgen habe der Arzt gesagt, wenn heute nicht eine große Veränderung eintrete, so müsse die Kranke sterben. Nun sei die Veränderung ja da, seit Wochen habe das Fräulein nie gesprochen wie eben jetzt. Und was Pauline für Angst um sie ausgestanden, sollte die Kranke wissen, sie habe auch oft solchen Schrecken gehabt. Da in der Ecke habe die Kranke immer einen stehen gesehen, den habe sie Nick genannt und ihn oft so flehentlich gebeten, er solle doch nicht mehr erzählen. Und dort am Fenster, habe die Kranke wiederholt gerufen, da stehe die zitternde Frau, und nun packe die Dogge sie an und sie schreie auf, und dann habe das Fräulein schrecklich aufgeschrien.

»Erzähl' mir dies nicht, Pauline,« konnte Olga noch leise sagen; dann schwand ihr das Bewußtsein wieder.

Endlich kam der Tag, da Olga zum erstenmal wieder in ihrem Sessel am Fenster saß und um sich schaute. Draußen lag Schnee auf den Dächern. Alles um sie her sah sie fremd an, ihr war, als sähe sie alles zum erstenmal in der Wirklichkeit. Sie kannte die Dinge, aber so, als hätte sie alle einmal im Traum gesehen. Am alten Clam-Gallas-Palaste drüben standen die Steinfiguren finster blickend, wie sie sie einmal gesehen haben mußte vor langer Zeit. Sie suchte die Gedanken zu sammeln, die ihr damit zusammenhingen. Die Monate November, Dezember und bis in den Januar hinein hatte Olga am Typhus daniedergelegen, immer zwischen Tod und Leben schwebend. Jetzt, in den letzten Tagen des Januar, hatte sie endlich ihr Lager verlassen können, um die ersten, halbwarmen Sonnenstrahlen an ihrem Fenster zu genießen.

Der Arzt hatte jede leiseste Aufregung streng verboten. Pauline erzählte kein Wort mehr von den Tagen der Krankheit. Nach Vorschrift hielt sie alle Nachfragenden fern, sprach auch ihrer Herrin nie davon.

Als der Februar zu Ende ging und die Sonne anfing mit Kraft die Erde zu erwärmen, setzte sich der väterlich besorgte Arzt eines Tages neben Olga hin und erklärte ihr, seine Tätigkeit sei nun zu Ende bei ihr, jetzt müsse die Natur sich weiterhelfen und ein guter, kräftiger Sonnenschein sie unterstützen. Er riet Olga, Prag sobald wie möglich zu verlassen und für einige Monate nach Südfrankreich zu gehen, im Sommer eine erfrischende Badekur zu machen, um dann im Herbst neubelebt wiederzukehren und alle Herzen zu erfreuen.

So schloß der freundliche Berater seine letzte Verordnung.

Ja, fort von Prag! Längst hatte Olga ihren Plan gemacht während der langen, müßigen Stunden der Genesung. Jetzt stand ihr nichts mehr im Wege, die Krankheit hatte ihre Bande am Theater gelöst, sie war längst ersetzt worden. Von einer Erholungsreise und einem Monate dauernden Aufenthalt in Südfrankreich konnte für sie keine Rede sein. Ihr kleines Besitztum war durch den Aufenthalt in Dresden und die lange Krankheit so weit aufgebraucht, daß ihr eben noch ein Rest zu der Reise und dem Anfang eines erst neu zu gestaltenden Daseins blieb. Nach Frankreich wollte sie gehen, dahin, wo niemand sie kannte, und wo sie sich einen neuen Weg zu bahnen hoffte. Sie ließ Pauline in der Stille alles zur Abreise ordnen, sie wünschte unbeachtet fortzukommen. Von ihrer heimlichen Furcht, noch einmal mit dem zusammenzukommen, der Gewalt über sie hatte, wußte nur sie allein.

Die ersten Märztage waren mild und sonnig. Olga saß im Wagen mit Pauline und fuhr nach dem abgelegenen Bahnhof. Noch einmal sah sie die grünen Wellen der Moldau langsam dahinrollen, noch einmal schaute sie nach dem Hradschin hinauf. Er blickte finster, und wie zum Himmel klagend ragten alle die dunkeln Türme empor. Wie hatte sich alles so verändert! Da ging der Weg unter der Baumallee hin, und dort stand die Bank. O, fort, nur fort, für immer!

Jetzt lag die Stadt hinter ihr.

Das Stationsgebäude war erreicht. In diesem Augenblick entdeckte Olga, daß sie ihre sämtlichen Papiere, wohl verwahrt, in ihrer Wohnung zurückgelassen hatte. Pauline meinte, wenn das Fräulein im Wagen schnell zurückkehrte, könnte sie derweilen alles in Ordnung bringen, und die Zeit möchte noch zu dem bestimmten Zuge reichen. Olga erklärte, um keinen Preis kehre sie nach Prag zurück; Pauline möchte es tun, für die Besorgung der Sachen würde wohl jemand zu finden sein. Pauline lief, sich danach umzusehen, kehrte auch bald mit der gesuchten Hilfe zurück. Ein Schrecken durchfuhr Olga, sie wollte abwehren, zu spät, schon stand der Gerufene am Wagen, es war Nick.

»Gnaden noch in Prag?« sagte er mit sichtlicher Befriedigung über das Wiedersehen, seine Mütze tief herunterhaltend.

Pauline fuhr weg, ihre Besorgung zu machen.

Olga begab sich in einen Wartesaal; Nick erledigte seine Aufträge. Lange bevor Pauline zurückgekehrt sein konnte, war der Zug abgefahren. Jetzt trat Nick an die Tür des Saales und zeigte dem Fräulein ehrerbietig an, daß alles besorgt sei, der folgende Zug aber erst nach einigen Stunden abfahren werde. Trotz der Scheu, die Olga vor dem seltsamen Menschen hatte, dessen Worte und Erscheinung so schaurig in ihre Fiebernächte hineingespielt hatten, empfand sie doch zu gleicher Zeit ein ihr selbst unerklärliches Mitgefühl für ihn. Jetzt schaute er mit seinen schwarz blitzenden, melancholischen Augen so teilnehmend zu ihr herüber, daß es sie bewegte, als müßte sie zu ihm reden, als hätte auch er Teilnahme nötig. Wohl mochte die Empfänglichkeit für alle Eindrücke noch krankhaft bei ihr gesteigert sein.

»Gnaden müssen leidend sein,« sagte jetzt Nick mit gedämpfter Stimme, als verstände er, wie empfindlich Olga jeder laute Ton berührte. »Sollten Gnaden zwischen den Zügen nicht nach der Stadt zurückzukehren wünschen, so möchten Gnaden wohl ein wenig ins Freie gehen. Draußen steht die Sonne schön am Himmel, aber hier drinnen sieht man nichts davon. Da steht ein Pavillon auf der Höhe, nicht weit von hier, sollte ich nicht Gnaden den Weg dahin zeigen?«

Der Gedanke war gut. Olga ergriff ihn sogleich, Nick sollte sie dahin führen. Noch lag die Flur kahl und blumenlos da, aber warme Sonnenstrahlen drangen in die Erde ein und weckten die schlummernde Saat. Olga trank die sonnigen Lüfte dürstend ein. Sollte auch sie noch einmal keimen und zu neuem Leben erstehen können?

Nick ging schweigend einige Schritte hinter Olga her, er erklärte nichts, er machte auf nichts aufmerksam. Es war eine schonende Zartheit in seinem Benehmen, die Olga ganz gewann. Was konnte das Leben dieses sonderbaren Menschen sein, der seinem Wesen wie seiner Stellung nach ihr gleich rätselhaft vorkam? Nachdem sie schweigend ihren Gang eine Zeitlang fortgesetzt hatten, kehrte Olga sich um und stand einen Augenblick still.

»Sind wir bald oben?« fragte sie.

»Noch ein paar hundert Schritte und Gnaden können den Fluß sehen und einmal noch die Karlsbrücke.«

»Nun sagen Sie mir doch eins,« sagte Olga, indem sie ihren Gang fortsetzte, »hat die Geschichte, die Sie mir auf jener Brücke erzählt haben, ein besonderes Interesse für Sie, oder sollte alles, was sich in Ihrer Vaterstadt begeben haben soll, den starken Eindruck auf Sie ausüben?«

»Gnaden müssen wissen,« entgegnete Nick mit komischer Würde, »Geschichte ist mein Fach. Alle Geschichte hat für mich ein großes Interesse, ich lebe von Geschichte. Aber es geschieht ja, daß eins oder das andere tiefer eindringt und kommt dann um so wärmer wieder heraus. Erlauben Gnaden, so erzähl' ich einiges, das in mir aufsteigt, wenn ich über jene Brücke gehe. Denn Gnaden haben ein fühlendes Herz, die Alte auf der Treppe hat's auch nicht vergessen.«

Noch einmal Nick erzählen hören! Olga erschrak, aber sie hatte es selbst herbeigeführt.

Nick hatte auch schon begonnen:

»Meine Mutter war ein hübsches Prager Mädchen und flink bei der Nadel und hatte gute Bestellungen bei den hohen Herrschaften oben auf dem Hradschin, wohnte auch nicht weit weg davon, da wo's steil hinaufgeht, Spornergasse, und hatte da ihr Stübchen, wo sie allein saß und arbeitete, denn sie war eine Waise. Aber wenn die herrschaftlichen Kavaliere wollten freundlich mit ihr sein, so gab sie keinen Bescheid, denn sie war sittsam und fromm und hatte lange schon den Niklaus Nikotsch gekannt und ihm die Treue versprochen; der war ein gewandter Bursch und war angestellt am Theater bei der Beleuchtung. Und so wurden sie einig und kamen zusammen und wollten einen Haushalt gründen. Aber über kurze Zeit sagte der Niklaus, so könne es nicht gehen, erst wolle er einmal sein Glück in Amerika versuchen, sie wollten beide gut haushalten und zusammenlegen, was sie ersparten, und über Jahr und Tag komme er wieder, und dann blieben sie beieinander und hätten gute Tage für immer. Und wie sie an dem Abend über die Brücke kamen miteinander, standen sie still vor dem heiligen Vater und versprachen sich's vor ihm, daß jedes wollte das Seine tun, daß sie bald wieder zusammenkämen, und gaben sich die Hand darauf. So ging der Niklaus fort. So weit zurück ich mich besinnen kann, sah ich immer die Mutter dasitzen mit den großen, traurigen Augen und fort und fort arbeiten. Und sie gönnte sich nichts und darbte. Mir gab sie's noch besser als sich selbst, aber schmal, und wenn ich's besser begehrte, so sagte sie: ›Sei nur zufrieden, Nick, jetzt kommt der Vater bald, dann haben wir's alle gut.‹

Die Mutter war immer gut mit mir und liebevoll, aber ich kam früh zu dem Begriff, daß sie ein bitteres Leben führte, und wenn ich sie so traurig sah, sagte ich: ›Sei nur fröhlich, Mutter! ich will dir helfen.‹

So dachte ich mir's frühe aus, wie ich einen Beruf erwählen wollte und tüchtig darin sein, daß es die Mutter noch gut haben sollte. Derweilen erwarteten wir täglich den Vater, und daraufhin war die Mutter gerichtet bei allem, was sie tat. Am Abend sagte sie: ›Nick, sag' dein Gebet und vergiß den Vater nicht. Wer weiß, ob er nicht schon da ist, wenn du morgen erwachst!‹ Und wenn sie am Morgen die Arbeit zur Hand nahm, sagte sie: ›Sieh, Nick, wenn das Stück fertig ist, dann wird der Vater schon da sein, dann gibt's aber einen Festtag!‹

.

Nun lernte ich auch lesen, oben beim Vater Vincent im Kloster, und jetzt ging mir eine Freude auf. Die Mutter besaß zwei Bücher; eines hieß: ›Chronik der Stadt Prag‹, und das andere: ›Geschichte der Heiligen und Märtyrer‹. Das erste Buch las ich lieber; aber ich las auch das zweite wieder, wenn ich mit dem ersten dreimal durch war. So wurde ich gegen zwölf Jahre alt und kam einstmals in eines der Herrenhäuser mit der Mutter Arbeit. Und die Dame war gut mit mir, sie kannte mich schon und tat allerlei Fragen. Und wie sie hörte, daß mir nichts Freude machte als nur lesen, mußte ich ihr gleich erzählen, was in dem Buche stand, das ich gern las. Derweilen war der Herr hereingekommen und hörte zu. Dann lachte er und nahm mich beim Kopf und sagte: ›Du bist ein ganzer Kerl. Weißt du, was du tun sollst? Damit wirst du dir ein gut Stück Geld machen. Geh nach dem »Schwarzen Roß« in der Kolowratstraße, sag', ich empfehle dich zum Fremdenführer; wenn du auch ein Kleiner seist, so wissest du mehr als mancher Große, so habe ich gesagt. Und Geschichte sollst du auch noch mehr zu lesen bekommen, weil dir's so gut anschlägt.‹

Und so ging er hinaus und kam wieder und hatte Bücher im Arm, zehnmal im Umfang wie das meinige war, und sagte: ›Da, alle sollst du sie lesen, alle alten Chroniken von Prag, und hast du sie alle durch, so bist du ein fertiger Mann.‹

Jetzt war mir nicht anders, als wäre ich König geworden. Eines der großen Bücher im Arm – kaum konnt' ich's schleppen – lief ich heim und auf die Mutter los. Einen Beruf habe ich, Mutter, rief ich, jetzt kommt's gut. Dann lief ich gleich nach der Kolowratstraße, über die Karlsbrücke, da stand ich still vor dem heiligen Vater, denn das hatte mir die Mutter früh eingeschärft, wenn ich da vorbeikomme, müsse ich stillestehen und ein ›Vaterunser‹ beten, es gälte dem Vater in der Fremde. An dem Tag betete ich's auch von Herzen, wie noch nie, denn ich war voller Dank und dachte: Vielleicht hat dir der heilige Vater zu dem Glück verholfen. Im Hotel sagte ich, wer mich schicke, und alles, wie ich den Auftrag hatte, und sie sagten, es sei gut, ich solle jeden Morgen früh da sein, zu sehen, ob's Arbeit gebe.

Jetzt wurde mir das Darben und aller Mangel leicht, denn über dem Lesen vergaß ich alles. Nur daß die Mutter nie froh war und es so schlecht haben sollte, das konnte ich nicht recht vergessen und es drückte mir die Freude nieder, aber ich dachte, sie solle schon noch gute Tage haben, die bringe ich mit meinem Beruf zustande, und deshalb war ich eifrig darin. Und wie so ein Jahr und etwas mehr vergangen war, da gehe ich eines Morgens auf den Beruf und trete ins Hotel ein, da kommt einer unten aus der Schenkstube heraus, und wie er mich sieht, sagt er: ›So gehörst du dem Nick? Sag' deiner Mutter, dein Vater lasse sich's drüben nicht so sauer werden wie sie hier. Der kommt auch nicht wieder, das kann ich ihr sagen.‹

Mit einem Schlag verstand ich alles, als hätte mir einer die Geschichte von vorn erzählt. Jetzt stürzte ich zur Mutter und sagte ihr, wie's sei, und ballte die Fäuste und sagte, in meinem Leben wolle ich kein ›Vaterunser‹ mehr beten. Aber die Mutter fing so zu jammern und zu weinen an, daß ich wieder schwieg, und sie sagte, es sei lauter Bosheit, was der Mensch geredet habe und ein gottvergessenes Unrecht an meinem Vater; ich dürfe kein Wort glauben und ich werde schon sehen, daß der Vater komme, jede Stunde könne er jetzt kommen. Aber der Vater kam nicht. Und von da an hörte ich die Mutter manchmal schluchzen, wenn ich des Nachts erwachte, und am Tag war sie so still und arbeitete immer fort bis spät; wenn ich lange daheim war vom Beruf und mich auf mein Lager gelegt hatte, dann sah ich noch im Einschlafen, wie sie dort saß bei dem Lämpchen, über die Arbeit gebeugt. Und einmal schaute sie dann immer noch herüber und sagte: ›Nick, vergiß dein Vaterunser nicht.‹

Und eines Morgens saß sie auf ihrem Bette, wie ich auf den Beruf gehen wollte, und sagte: ›Wart' noch ein wenig, Nick, man kann nicht wissen, wer kommen könnte, und ich bin so müde, ich könnte kaum die Tür aufmachen.‹

Und auf einmal wurden ihre Augen ganz groß in dem blassen Gesicht und leuchteten wie Feuer, und ganz hastig rief sie: ›Jetzt, Nick, ich höre seinen Tritt auf der Treppe, lauf, mach' die äußere Tür auf!‹

Ich laufe heraus, mache auf, springe die Treppe hinunter, schaue überall um – da ist niemand. Ich komme wieder ins Zimmer herauf – da liegt meine Mutter zurückgelehnt ans Kissen, sie war tot. O, wer weiß, was das heißt! Nachher kamen Männer vom Amt und machten alles auf, und im Schrank lag eine kleine Schachtel, und wie sie die aufmachten, da lag ein ganzes Häufchen Gold drin, ein Stück auf dem andern, und ein Papierchen lag dabei. Einer zog es heraus und las, was drauf stand; da hieß es: ›Für den Niklaus Nikotsch.‹ Der Mann sagte: ›Das ist gut, da können viel Schulden bezahlt werden, die der Schuft hinter sich gelassen hat.‹ Aber so meint' ich's nicht. Ich rief: ›Was der Mutter gehört hat, das ist mein!‹

Der Mann schob mich auf die Seite. So etwas versteh' ich nicht, behauptete er; da steh' es geschrieben, und dabei bleibe er.

Und da lag die Mutter, tot und ich hörte die Frau sagen, die unter uns wohnte und jetzt dabei stand: ›So mußte es kommen, nichts als Arbeit und Kummer und keinen Unterhalt.‹

Bis sie die Mutter wegholten, ging ich nicht vom Platz. Dann lief ich nach der Kolowratstraße, und beim heiligen Vater auf der Brücke stand ich still und rief hinauf: ›Siehst du denn nicht, wie's zugeht? Beten will ich nie mehr, und eine Gerechtigkeit gibt es nicht auf Erden und im Himmel nicht.‹«

Hier schwieg Nick. Längst waren sie an dem offenen Gartenhaus angekommen. Olga hatte sich auf die Bank gesetzt, der milde Sonnenschein fiel durch die unbekleideten Efeugitter auf sie herein. Nick hatte, vor ihr stehend, seine Erzählung beendet. Jetzt schauten beide schweigend vor sich hin.

»Eins möchte ich Gnaden noch vorlegen,« begann Nick wieder, »das kann ich nicht ausfinden und bleibt mir eine Frage. Wenn ich nachher an die Mutter dachte, und es war niemand da, der etwas von ihr wußte, dann trieb es mich auf die Brücke, und oft stand ich lange dort vor dem heiligen Vater, denn sie hatte viel dort gestanden und hatte mir oft gesagt, der heilige Vater stehe ihr zum Trost dort. Das hatte ich nicht verstanden. Aber jetzt mußte ich oft zu ihm aufschauen und denken: ›Sieht er nicht aus, als sagte er: Endlich wird doch alles Leid ausgesöhnt werden, und das Letzte ist der Friede! Und der ist doch gemartert und getötet worden von den Schlechten.‹ Glauben Gnaden, daß es eine Gerechtigkeit gibt, die einmal noch alles Leid aussöhnt?«

Olga war überrascht.

Die Frage lag brennend in Nicks Augen, die auf sie gerichtet waren. Wie gern hätte sie eine Antwort für ihn gehabt, aber in dieser Weise war die Frage bis jetzt noch nie an sie herangetreten! Sie suchte nach einem wohltuenden Worte für ihn; sollte sie denn gar keines finden können? Es mußte doch eine Antwort auf die Frage geben.

»Guter Freund,« sagte sie endlich, »wir dürfen ja glauben, daß den innersten Bedürfnissen unserer Natur entsprochen werden muß, und das Bedürfnis nach Gerechtigkeit wurzelt tief in uns allen.«

Nick schaute traurig weg. Es war, als sagte er: Das ist keine Antwort für mich. Olga fühlte es. Der Mensch hatte sich mit dem vollen Vertrauen an sie gewandt, sie müsse eine Antwort für ihn haben; er hatte sich getäuscht in ihr. Es tat ihr weh.

Die Zeit war unversehens vorgerückt. Olga machte sich wieder auf den Weg, Nick folgte schweigend. Am Bahnhof stand die geängstigte Pauline und schaute nach ihrer Herrin aus.

Olga reichte Nick die Hand zum Abschied. Ihr war, als ließe sie an ihm einen alten, nahen Bekannten zurück.

Im Wagen schaute sie einmal noch hinter sich. Einmal noch sah sie die Türme des Hradschin sich in den blauen Himmel heben, jetzt verschwanden sie – Prag lag für immer hinter ihr.

In Dresden hatte Olga noch von ihrer Pauline sich zu trennen. Weinend klagte diese, sie wäre doch dem Fräulein zu der Erholungsreise in Frankreich noch so nötig gewesen. Olga verneinte es mit freundlichen Worten, mußte aber versprechen, sie zu sich zu rufen, sobald sie ihrer bedürfe.

Nun saß Olga allein. Ein leises Zagen beschlich sie, nun sie auch dieses letzte sichtbare Band, das sie an die vergangenen Tage knüpfte, gelöst hatte. Es mußte sein, sie mußte weiter. Sie fuhr geradeswegs Paris zu, einem Dasein entgegen, das noch gar keine bestimmte Form für sie hatte und sie mit der »Angst des Unbekannten« erfüllte, wohl um so peinlicher, da sie zu neuen Unternehmungen noch keine rechte Kraft in sich empfand. Wenn sie einmal wieder die alten Kräfte gewinnen sollte, würde sie auf die Bühne zurückkehren? Nein, das war für sie vorüber. So viel Jammer des wirklichen Lebens, das tiefe Leid des eigenen Herzens, das Vorkosten des bitteren Todes waren zu tief und mächtig auf sie eingedrungen, als daß das Scheinleben auf der Bühne noch Zug und Reiz wie ehemals für sie haben konnte. Und alle Erinnerungen, die ihr damit zusammenhingen!

Sie wandte sich ab davon mit stechendem Schmerz. Aber was tun? Ergreifen mußte sie eine Tätigkeit, sie mußte arbeiten, um zu leben. Sie kam immer zu ihrem ersten Gedanken zurück, Unterricht zu geben in ihrer Sprache, dessen war sie fähig, dazu hatte sie auch die Kraft.

Sie langte in Paris an. Noch am Bahnhof erkundigte sie sich nach einem einfachen deutschen Kosthause. Ein Angestellter wußte Bescheid, er wies sie nach St. Antoine, zu der Württembergerin.

Als Olga nach einigen Tagen ihre Wirtin darüber befragte, wie sie sich wohl am besten als Lehrerin der deutschen Sprache bekannt machen könnte, riet ihr diese, den deutschen Geistlichen aufzusuchen und gab ihr seine Adresse.

»Eh' Sie aber mit Stundengeben beginnen,« setzte die Frau hinzu, »müssen Sie sich ein wenig zurecht essen bei mir, so geht's nicht mit Ihnen.«

Olga ging, den deutschen Geistlichen aufzusuchen, und wurde freundlich von ihm empfangen. Sie brachte ihr Anliegen vor, er ging teilnehmend darauf ein.

»Sie waren wohl Lehrerin vielleicht schon irgendwo in Frankreich, daß ich Sie daraufhin empfehlen könnte,« sagte er, die Sache überlegend.

»Ich war nie Lehrerin,« entgegnete Olga.

»Sie kennen ja doch wohl Ihre Sprache gründlich,« fuhr er fort, »darf ich fragen, womit Sie sich bisher beschäftigt haben?«

»Ich war am Theater.«

Hier wich der Pastor einige Schritte von Olga zurück. Sichtlich erschrocken schaute er sie an, dann sagte er mit Zurückhaltung:

»Ich wußte nicht, wem ich meine Empfehlung versprach. Es tut mir leid, aber Sie müssen begreifen, daß meine Bekannten derart sind, daß ich ihnen nicht eine Schauspielerin als Lehrerin empfehlen darf.«

»Ich bin nicht mehr Schauspielerin,« bemerkte Olga leise.

»Ah so, aber Sie hängen irgendwie wohl noch mit dem Theater zusammen,« meinte der Pastor.

»In keiner Weise, wünsche es auch nicht mehr,« entgegnete Olga.

»Ah so,« bemerkte nochmals der Pastor, und seine Stimme hatte wieder etwas mehr Zutraulichkeit angenommen. Das bleiche Angesicht der Bittenden mochte ihm noch besser als ihre Worte sagen, daß sie der Hilfe bedürfe. Er versprach, sein möglichstes für sie zu tun, indem er ihre Adresse einschrieb. Zur Erinnerung an ihren Besuch bei ihm, sagte der Pastor, möchte er ihr etwas schenken. Er legte ein Buch in ihre Hand. Olga entfernte sich. Zum erstenmal empfand sie ganz, was es heißt, allein und ungekannt im fremden Lande zu sein, dazu in einer Lage, die Deutungen ausgesetzt war, an die sie nie gedacht hatte, die ihr aber mit des Predigers Bemerkung auf einmal klar geworden waren. Ihm konnte sie es nicht verargen, er wußte ja kein Wort von ihr, als daß sie Schauspielerin gewesen sei. Sie fühlte sich gänzlich vereinsamt. Sie schlich nach ihrem Dachzimmer, um es fast nicht mehr zu verlassen. Hier im Verborgenen sitzend, war alles noch am ehesten zu ertragen. Mehrere Schülerinnen wurden ihr von dem Prediger zugeschickt. Einige Monate lang setzten sie den Unterricht fort, dann blieben sie wieder weg, den Sommer und Herbst durch wären sie auf dem Lande. Dann kamen einige junge Angestellte aus Magazinen, die ohne Vorbildung schnell vorwärtskommen wollten. Das war harte Arbeit, und Olga fühlte, wie sehr ihre Kräfte dahin wären, und neue schöpfte sie keine in ihrer sonnenlosen Dachkammer.

So hatte ihr äußeres Leben doch eine Gestalt gewonnen, wie jämmerlich sie auch war, aber das Leben in ihrem Innern? Alles, was sie Großes, Edles, ihren Geist Erhebendes gekannt hatte, lag wie in Trümmern vor ihr. Keines dieser Güter hatte standgehalten in den Tagen der Schmerzen und Krankheit, keines hatte sie weggehoben, noch hob es sie jetzt hinweg über inneres und äußeres Elend. Keines bot ihr einen Trost noch irgendwelche Heilung für das nagende Weh ihres Herzens, für die völlige Mutlosigkeit und Verzagtheit, in die sie gefallen war.

.

So konnte es nicht länger gehen, das fühlte Olga, wenn sie nicht geistig und leiblich völlig zugrunde gehen sollte. Sie nahm alle Willenskraft zusammen, die ihr noch geblieben war; sie suchte ihre Bücher hervor, aus denen sie Kraft und Begeisterung geschöpft hatte; sie wollte ernstlich sich aufraffen und wieder zum Leben tüchtig werden. Aber es ging ihr seltsam: alles, was sie las, war wie für andere Menschen geschrieben, nicht für sie. Die Worte faßten nirgends an in ihr, sie trafen nicht zusammen mit den brennenden Fragen in ihrem Innern, mit dem tiefen Verlangen, dem Schreien ihres Herzens nach Befreiung von sich selbst.

Eines nach dem anderen legte sie wieder aus der Hand. Waren es denn nicht dieselben Worte, aus denen einst ihre Seele Wonne und Begeisterung getrunken hatte? Es waren dieselben Worte, aber sie war dieselbe nicht mehr. Sie fühlte, wie dem Schwerkranken müßte zumute sein, dem der frohe Gesunde Zuriefe: »Fasse mit Vollkraft das reiche Leben an! Pflücke die Blumen, die aus allen Feldern stehen! Zieh dir aus jedem frohen Tage Gewinn!« Sie war diese Kranke.

Wie hatte sie die Worte des freudigen Erwachens zu tatkräftigem Leben geliebt und oft aus tiefer Seele nachgerufen:

»Alles kann der Edle leisten,
der versteht und rasch begreift.«

Wie müßten diese Worte dem Entkräfteten vorkommen, würden sie ihm zugerufen, der kaum sich aufrecht erhalten kann und so gern die alte Kraft wiederfände! Sie war diese Entkräftete. Ihr schöner Glaube an den vollen Adel, die Reinheit der Menschen, an die idealen Gestalten unter ihnen war ihr zerschlagen worden. Wem sollte sie nachstreben, wer zeigte ihr den Weg zu befreiender Reinigung, zu erneuernder Kraft? Lange hatte sie das Wort in froher Überzeugung festgehalten:

»Alle menschlichen Gebrechen
sühnet reine Menschlichkeit.«

Noch glaubte sie an ihr Wort; aber wo war diese reine Menschlichkeit? Sie fragte mit Sehnsucht nach solcher sühnenden Reinheit, denn die Gebrechen ihres eigenen Wesens lagen schwer auf ihr.

Im Durchsuchen ihrer Bücher trafen ihre Blicke auf das kleine Buch, das der deutsche Geistliche ihr geschenkt hatte. Es war ein Neues Testament. Sie kannte das Buch wohl von früher her, da sie noch vom Vaterhause aus des Sonntags nach der alten Kirche hinüberwanderte, und von der Zeit ihres Religionsunterrichts her, der sie zwar unberührt gelassen hatte; aber es hingen mit dem Buche alle Erinnerungen zusammen an frohe Jugendtage. Sie nahm es in die Hand, der Inhalt stand ihr nur in sehr verwischtem Andenken.

Olga las und las und wurde immer erstaunter. Dieses Buch hatte sie nie gekannt. Wie ein Wunder war ihr, was sie da erfuhr. Da trat die Persönlichkeit ihr entgegen, die sie ihr Lebenlang gesucht, der reine, vollkommene, der ideale Mensch stand vor ihr in der Wirklichkeit. Nie hatten Menschenworte sie erfaßt, wie jetzt ihr ganzes Wesen ergriffen wurde von der hohen Einfachheit der Worte, die hier geschrieben standen, deren jedes als eine lebendige Wahrheit in ihrem Herzen zündete. Und derjenige, der die Worte sprach, war es nicht, als richtete er sie gerade an sie, die Elende, in dem Zustande, unter dem sie seufzte? Zu den Elenden war er gekommen, zu den Kranken, denen wollte er helfen. So mußte er auch für sie gekommen sein, so mußte er auch für sie Heilung wissen. Waren seine Worte nicht auch unmittelbare Antworten auf ihre tiefsten Fragen? Gaben sie nicht selbst ihr erst den klaren Ausdruck für so viel unbestimmte Unruhe, die in ihr arbeitete und sie quälte? Als ein helles, alle Falten ihres Wesens durchdringendes Licht drangen diese Worte der Wahrheit in sie ein und arbeiteten mit Macht in ihr. Hier war die reine Menschlichkeit, die sühnen konnte, und er selbst, der keine Täuschung kannte, sprach es aus; ihm war die erlösende Macht gegeben; er war gekommen, aller Menschen Gebrechen zu sühnen und zu heilen und ein neues Leben zu geben allen, die danach verlangten. Mit brennendem Herzen folgte sie den Worten dieses Gottgesandten; ihr ganzes Wesen schloß sich auf zu diesem Retter der Elenden in Sehnsucht und Vertrauen. Sie hob ihr Herz und ihre Hände zu ihm auf und flehte: »So hilf auch mir, ich glaube, daß du helfen kannst!«

Von dem Tage an hatte in Olga ein neues Wesen zu keimen angefangen. Sie erfuhr, daß eine Kraft von dem ausgeht, den sie angerufen hatte. In ihrem verdorrten Innern fing die Hoffnung zu grünen an. Wie zum frohen Erwachen regten sich die gebannten Kräfte ihres ermatteten, zerschlagenen Wesens. So konnte sie wirklich noch einmal zum Leben erstehen, zu einem neuen Dasein? Eine freudige Zuversicht kam über sie, denn ein weckender Lebenshauch hatte sie schon angeweht, von dem ausgehend, der sagen konnte: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.«


 << zurück weiter >>