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Noch einmal das alte Lied

Der Herbst war gekommen. Im Hause Lesa war er für alle zu früh da. Die Kinder wollten nicht glauben, daß die Tage des Weidelebens schon zu Ende gehen sollten und die einen von ihnen weit weg, mitten in die große Stadt hineinreisen mußten, der andere auf den Berg verschwinden und Stefeli ganz einsam zurückbleiben und lauter Betrübnis erleben sollte.

»Nein, immer mutterseelenallein auf der Welt sein will ich auch nicht«, sagte Stefeli entschlossen, als an einem der letzten Weidetage die schweren Aussichten zur Verhandlung kamen, »dann schreibe ich noch lieber einen Brief. Den schicke ich an Vetter Lorenz, er hat mir etwas versprochen.«

»Jetzt wird auch Vinzi endlich kommen«, meinte Alida; »dann hast du ja so gute Gesellschaft. Es wäre noch viel lustiger gewesen, wenn er hier alles mit uns durchlebt hätte. Ich hätte auch so vieles mit ihm zu besprechen gehabt; mit euch konnte ich über diese Sachen nicht sprechen, ihr hättet nichts davon verstanden.«

Am gleichen Tage sagte Vinzenz Lesa zu seiner Frau: »Ich hoffe nur, Lorenz holt mir seinen Buben noch nicht weg. Es ist ein gutes Jahr, aber darum ist auch soviel zu tun und auf allen Seiten aufzupassen, was an der Zeit ist; ohne den Buben kann ich's nicht machen. Er hat Gedanken und Gedächtnis und ein Aufpassen für drei, und dazu eine Liebe und einen Eifer zu aller Arbeit, als wäre alles seine eigene Sache und er hätte den Gewinn davon. Und alles nur aus Freude am schönen Gut und daß es so bleibe. Ja, wenn der mein wäre! Ich sage nicht zuviel, ich gäbe mein halbes Gut dafür!«

»Wir wollen uns doch freuen, daß er jetzt noch unser ist«, erwiderte seine Frau, »ich hoffe auch noch für eine rechte Strecke Zeit, der gute Vetter Lorenz hat uns ja noch nicht gemahnt.«

Herr Delrik hatte immer wieder Bericht erstattet. Es war noch kürzlich ein Brief gekommen, der die gewöhnlichen guten Nachrichten enthielt. Vinzi befinde sich wohl, alles gehe gut. Auch Herr Delrik schien keine Eile zu haben, an Vinzis Heimkehr zu denken, obschon das Jahr seiner Abwesenheit nun auch gleich zu Ende war. Wenige Tage darauf, als die Kinder am Abend in die Stube eintraten, lag ein großer Brief auf dem Tisch.

»Das hat mein Papa geschrieben«, rief Alida aus, nachdem sie die Aufschrift an den Herrn Vinzenz Lesa gelesen hatte.

»Jetzt ist alles aus«, sagte Hugo, der mit eingetreten war, »nun müssen wir fort, du wirst sehen, Alida.«

Die Kinder waren alle erschrocken. Wenn man auch etwa von der Abreise sprach, es glaubte keines von ihnen, daß sie wirklich so nahe sei. Sogar Jos, der jetzt auch hereintrat und dem die Nachricht sofort mitgeteilt wurde, machte ganz große, erschrockene Augen. Auch er hatte sich das Ende der Freude nie so recht vorgestellt, und gerade in der letzten Zeit hatten Hugo und er immer nähere Freundschaft geschlossen. Nun sollte das alles aus sein und für immer, die beiden gingen ja so weit fort.

Nun kam der Vater herein, nahm den Brief in die Hand und legte ihn auf die Seite. Briefe las er erst, wenn nichts anderes mehr zu tun war; jetzt folgte erst das Abendessen. Als Frau Stefane dies hereingebracht und für alle gesorgt hatte, sagte sie, wenn es ihrem Manne recht sei, so wolle sie den Brief aufmachen. Die Kinder verlangten ja gewiß danach, zu wissen, was der Vater schrieb, sie hätten gewiß seine Handschrift erkannt. Ihr Mann war einverstanden. Sie las den Brief für sich; dann sagte sie, sie wolle das einzelne morgen mitteilen, es stehe da noch allerlei; aber die Hauptsache sei, daß Herr Thornau in einigen Tagen anlangen und seine Kinder heimholen werde. Es folgte eine große Stille. Dann ging leise eins der Kinder nach dem anderen vom Tisch weg, und alle vier trafen sich wie verabredet unter dem großen Nußbaum vor dem Hause. Sie verlangten alle nach dem Trost einer frohen Hoffnung für kommende Sommertage, und hier unter dem festen Zeugen, dem alten Nußbaum, gaben sie sich das Versprechen, daß jedes tun wolle, was nur in seinen Kräften stand, daß sie den folgenden Sommer geradeso zusammen zubringen könnten, wie sie den herrlich verflossenen zugebracht hatten. Als die Kinder in ihren Betten lagen und Vinzenz Lesa sich sein Abendpfeifchen angezündet hatte, setzte sich seine Frau zu ihm und nahm den Brief von Herrn Thornau wieder vor. Nun wolle sie ihrem Manne den Brief vorlesen, was da noch drin stehe, sagte sie und tat so. Herr Thornau schrieb aus Dresden, wo er sich einige Tage aufgehalten und auch Herrn Delrik besucht hatte. Dieser wollte sich ihm für die Reise nach der Schweiz anschließen. Er denke, mündliche Nachrichten über ihren Sohn würden den Eltern Lesa doch auch einmal willkommen sein, die möchte er ihnen bringen. Er selbst, Herr Thornau, habe aber nur so kurze Zeit für die Reise, daß er kaum vor dem allerletzten Zug am Sonntagabend in Leuk eintreffen könnte; am Montag früh müßte er aber gleich wieder die Rückreise antreten. Nun wäre es doch viel freundlicher, wenn sie alle einen schönen Sonntag zusammen zubringen könnten, wenn die Pflegeeltern ihm die Kinder entgegenbringen würden, natürlich samt dem eigenen Töchterchen, die ganze Familie müßte beisammen sein. Er schlage zu dieser Zusammenkunft Freiburg vor, das sei ja doch die alte Heimat, dahin werde Herr Lesa am ehesten zu bringen sein. Am Sonntag, früh am Nachmittag, könnten sie in Freiburg anlangen, Herr Delrik und er selbst würden die Familie empfangen, sie wären dann schon angekommen.

Am Schlusse hieß es, Herr Lesa und seine Frau müßten mit dieser großen Gefälligkeit allen ihren Guttaten an den Kindern Thornau durchaus die Krone aufsetzen. Eine Absage wäre für seine Erwartungen ganz dasselbe, was ein Hagelwetter für Herrn Lesas Fluren.

Eine Weile schwieg Vinzenz Lesa nachdenklich, dann fragte er: »Steht nichts da von unserem Buben?«

Frau Stefane antwortete, nur, was sie gelesen habe, daß Herr Delrik ihnen mündlich Bericht geben wolle.

»Weißt du, warum er ihn nicht mitbringen will?« fragte der Mann weiter.

»Das können wir ja nicht wissen«, erwiderte die Frau.

»Aber erraten; ich will dir's sagen: Weil Herr Delrik doch eingesehen hat, daß er mir den Buben nicht zu einem fahrenden Musikanten machen darf, weil er nichts aus ihm zu machen weiß, weil er ihn vom Bauernstand jetzt noch ein wenig weiter abgebracht hat, weil es ihm nicht eilt, mir das alles so herauszusagen, darum bringt er den Buben nicht mit. Er ist ja ein guter Herr, aber er hat sich verrechnet, und jeder wartet gern, solange er kann, bis er das eingesteht.«

Jetzt blies Vinzenz Lesa so dicke Wolken von sich, daß seine Frau für gut fand, diese ein wenig verrauchen zu lassen. Dann sagte sie behutsam: »Wir wollen doch auch erst hören, was Herr Delrik uns zu sagen hat. Es ist ja eine Wohltat, daß wir mit ihm reden können. Was sagst du zu der Begleitung nach Freiburg?«

»Kommt mir nicht in den Sinn«, sagte der Mann kurz, »du wirst wohl nicht denken, daß ich solche Sprünge mache und mir nichts, dir nichts nach Freiburg hinausfahre, wie einer, der nicht weiß, was er mit seiner Zeit anfangen soll.«

»Daß du das nicht weißt, wird wohl keiner denken, der dich kennt«, sagte die Frau, »und Herr Thornau wird es auch nicht umsonst auf einen Sonntag eingerichtet haben, daß wir kommen sollen. Er weiß wohl, daß du in der Woche nicht kämest. Es ist doch auch artig, wie er schreibt: er könnte ja irgendeine Person auffordern, die ihm die Kinder brächte; aber es habe einen ganz anderen Wert für ihn und die Kinder, daß wir beide mitkommen. Und ich muß auch sagen, Vinzenz, die Kinder sind mir so lieb geworden, und sie gehen so ungern von uns fort, das haben sie mir so herzlich gesagt und gezeigt, daß ich gern mit ihnen gehen möchte, bis ich sie wieder in den Händen eines guten Vaters weiß.«

»Du kannst ja mit ihnen gehen, warum nicht?« sagte der Mann, den Worten nach ganz einverstanden; aber dem Ton der Stimme nach ziemlich widerhaarig. »Geh du mit ihnen nach Freiburg, du bist Begleitung genug.«

»Nein, Vinzenz, das tu ich nicht«, gab die Frau so bestimmt zurück, daß er gleich wußte, das gilt, »du kannst aus dem Brief hören, daß Herr Thornau dich dabei haben will. Und allein mit Herrn Delrik über Vinzi sprechen und mit ihm ausmachen, was weiter mit dem Buben geschehen soll, das kann ich auch nicht, das weißt du wohl. Wir gehen beide miteinander, oder wir gehen gar nicht, keines von uns. Du kannst ja nur sagen, wie du's haben willst.«

Das Stillschweigen, das jetzt folgte, dauerte der Frau Stefane zu lange, sie fing wieder an: »Und wenn man uns doch so freundlich ruft, weiß ich nicht, warum wir nicht einmal wieder nach Freiburg fahren sollten. Weißt du nicht mehr, wie das unsere allergrößte Freude war, als wir Kinder waren, wenn wir einmal am Sonntag mit Vater und Mutter hineinfahren durften, und wie wir dachten, wir seien die glücklichsten Menschen, wenn wir oben auf dem hohen Wägelchen zwischen ihnen saßen und nun allem Merkwürdigen entgegenfuhren? Schon um der schönen Erinnerungen willen sollten wir einmal wieder hinfahren. Zuerst gingen wir immer in die Kirche und hörten die schöne Orgel; deine Mutter wollte das vor allem, weißt du's noch? Wie war es auch so schön! Würdest du dich denn nicht auch freuen, wieder einmal dahinzukommen? Und dann habe ich gedacht, es wäre dir recht, bei dem Anlaß auch das Gut zu besuchen. Du hättest doch schon lange einmal wieder nachsehen sollen, wie es dort steht, und gewiß fändest du dort allerhand zu ordnen, und jetzt, da der Jos noch bei uns ist, könntest du ja viel besser gehen als nachher. Es wäre ja sicher nötig, daß du dort allem nachsehen würdest, und wenn dich nicht etwas Besonderes herausbringt, so entschließest du dich nicht zu der Reise, bis etwas krumm geht und es dich reut, nicht früher zugesehen zu haben.«

In Vinzenz Lesa hatte der Gedanke angefangen zu arbeiten, die Fahrt könne eine gute Seite haben. Sehr bedächtlich, eigentlich noch immer abwehrend, fragte er: »Wie hast du dir denn das alles ausgedacht? Wie könnte man so lange fort sein? Es brauchte ja drei Tage.«

»Nicht für alle«, antwortete Frau Stefane schnell, sie hatte wirklich schon alles ausgedacht. »Am Sonntag in der Frühe können wir hier alles noch bestellen. Dann fahren wir ab und sind früh am Nachmittag in Freiburg. Am Abend fahre ich mit den Kindern noch so weit ich kommen kann, daß wir am Montagmorgen beizeiten daheim sein können.«

»Wieviel Kinder willst du denn schon wieder heimbringen, wenn die fremden fort sind und du doch nur ein eigenes hast?«

Diesmal hatte ihr Mann die Worte schneller gefunden.

»Nur unsere zwei, Jos und Stefeli, gar nichts Fremdes will ich heimbringen«, beruhigte die Frau.

»Was, den Jos willst du auch mithaben?« rief ihr Mann sehr wenig beruhigt aus; »dann ist gar keine Rede davon, daß ich fortgehe. Wenn Jos nicht daheim ist und mir alles in Ordnung hält, so tu ich keinen Schritt vom Haus weg, zähl darauf!«

Frau Stefane machte ihm unermüdlich von allen Seiten klar, daß an dem einzigen Tag, dem Sonntag, der Knecht nur die einfachsten Dinge im Stall zu besorgen hätte, am Montagmorgen wäre Jos wieder da und könnte nach allem sehen. Es wäre alles so gut zu machen, ohne daß auch nur ein Tag vernachlässigt oder gefährdet würde. »Und dann denk auch daran, Vinzenz«, schloß seine Frau, »was Jos für uns getan hat, seit er in unserem Hause ist, und wir haben ihm nie eine Freude gemacht. Aber diese Reise mit uns würde ihm sicher Freude machen. Ihm haben wir es auch zu danken, wenn du einmal wieder Zeit hast, nach dem Gut drüben zu sehen und in Ordnung zu bringen, was nötig ist. Du kannst gut acht Tage fortbleiben; wenn ich den Jos habe, will ich sicher mit allem fertig werden, so daß du zufrieden sein kannst.«

Vinzenz Lesa war ein gerechter Mann. Sobald ihm klar vor die Augen trat, was die Gerechtigkeit erforderte, war er durchaus dafür. Der Gedanke, daß Jos eine so wohlverdiente Freude zuteil werden sollte, und daß ihm selbst gleichzeitig die Ausführung eines so notwendigen Unternehmens ermöglicht würde, brachte nach einigem Hin- und Herwenden der Sache eine rechte Befriedigung in ihm hervor.

»So wollen wir's denn ausführen«, sagte er jetzt entschlossen; »aber sage es auch Jos bald; er denkt am besten aus, was vorher noch getan werden kann, daß alles über die zwei Tage im Geleise bleibt.«

»Morgen schon«, versprach Frau Stefane mit großer Freude im Herzen über die Nachricht, die sie ihren Kindern zu geben hatte, ihnen allen, auch dem jederzeit für sie alle so dienstbereiten Jos.

Es entstand auch ein großer Jubel, als die Mutter den Kindern am anderen Morgen die Mitteilung über die bevorstehende Reisebegleitung machte.

Alida und Stefeli hüpften hoch auf vor Freuden, und Hugo sagte: »Nun ist doch noch nicht alles aus, nun kann man's auch eher aushalten fortzugehen, weil sie alle mitkommen.«

Jos konnte es fast nicht fassen, daß ihm ein solches Glück bevorstehen sollte. Bis nach Freiburg sollte er mitfahren dürfen, dort die ganze Stadt ansehen und vorher noch so viel schönes Land, wo man durchkam; er konnte vor Überraschung und Freude kein Wort sagen. Es war seine erste Reise, noch nie war er von seinem Berg heruntergekommen, als dieses Jahr bis nach Leuk.

*

Der Sonntag war da. Im strahlenden Sonnenschein fuhr die frohe Gesellschaft durch das grüne Land. Noch viel herrlicher war die Fahrt, als man sich's vorgestellt hatte.

In ununterbrochener Unterhaltung fuhren Alida und Stefeli dahin. Hugo war fortwährend in der lebhaftesten Tätigkeit, teils an dem Gespräch teilnehmend, teils die beiden auf alle die erstaunenswerten Dinge aufmerksam machend, an denen sie vorübergefahren wären, ohne vor lauter Unterhaltung eine Ahnung davon zu haben. Jos dagegen war so erfüllt von all dem Neuen, Schönen, Niegesehenen, das auf allen Seiten seine Blicke fesselte, daß er im tiefsten Schweigen und der gespanntesten Aufmerksamkeit verharrte.

So flogen die Stunden unvermerkt dahin, und mit dem größten Erstaunen fuhren die Kinder alle von ihren Plätzen auf, als der Vater sagte: »Jetzt paßt auf, gleich sind wir in Freiburg.«

Wirklich, schon ertönte ein Ruf, nun hielt der Zug. Frau Stefane schaute in großer Spannung schon durch das Fenster, ob sie die Herren entdecken könne, die sich hier zum Empfang einfinden wollten. Wirtlich, dort standen die beiden. Jetzt konnte sie einen leisen Seufzer nicht unterdrücken. Bis zu diesem Augenblick hatte sie im stillen immer noch gehofft, Herr Delrik könnte doch ihren Vinzi mitbringen, vielleicht wollte er ihnen eine Überraschung bereiten; aber Vinzi war nicht da.

Jetzt ertönte ein lautes Freudengeschrei. Die Kinder hatten sich auf ihren Vater gestürzt, und Herr Thornau, der sie beide in seinen Armen hielt, erwiderte ihre stürmischen Begrüßungen mit Ausrufen der freudigsten Überraschung. Jetzt hielt er seinen Sohn weit weg von sich, um ihn auch recht betrachten zu können.

»Und das sollte mein Hugo sein, das Männchen ohne Fleisch und Blut! Rotbraun wie ein Urwäldler! Volle Wangen! Muntere Augen wie ein Reh! Frau Lesa«, rief er zu dieser hinüber, »was haben Sie mit diesem Burschen gemacht? Er ist ein anderer Mensch! Und dieses kugelrunde Zigeunermädel! Wahrhaftig, es ist Alida, das rote Blut flackert ihr völlig durch die braunen Wangen, so was von Gesundheit! Frau Lesa! Wie haben Sie das zustande gebracht?«

»Oh, das wissen wir schon, das wissen wir recht gut«, riefen die Kinder miteinander und fingen gleich an, dem Vater zu erzählen, wie sie ihre Tage vom Morgen bis zum Abend zugebracht hatten, den ganzen herrlichen Sommer durch.

Frau Lesa hätte auch jetzt nicht Bescheid geben können.

Nachdem Herr Delrik erst ihren Mann eingehend begrüßt, hatte er nun ihre Hand ergriffen und schüttelte diese immer noch, und als ob er durch ihre Augen in ihrem Herzen gelesen hätte, was da vorging, sagte er jetzt: »Nur keine Bekümmernis, Frau Lesa, Ihrem Vinzi geht es ganz gut, er ist meine Freude. Daß er nicht da ist, hat keinen schlimmen Grund, das müssen Sie mir nun schon glauben. Da ist ja auch meine Freundin Stefeli und noch ein alter Bekannter«, fuhr er, sich zu den Kindern wendend, fort, »das ist schön, daß wir den Jos auch hier haben, der gehört doch jetzt ganz zu Ihrem Haus.«

»Wie ein Eigener«, sagte Frau Stefane, ihre Arme um die Schultern des Knaben legend, »gottlob, daß wir den haben.«

»Nun möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen, und Herr Lesa soll vor allem seine Meinung dazu sagen«, begann Herr Delrik wieder, zu diesem gewandt, »Unser Freund, Herr Thornau, hat uns heute alle zur Tafel geladen. Da wir dann in der Nähe der schönen, alten St. Nikolauskirche sind, meinten wir, daß wir diese zuerst besuchten, was wir ja einmal doch tun würden, und nachher bleiben wir so recht in Ruhe zusammen.«

Frau Stefane blickte ihren Mann an; sie wollte, daß er bestimme, ihr war es schon am liebsten, erst nach der Kirche zu gehen.

In Vinzenz Lesa waren, seit er Freiburg betreten hatte, alle alten Erinnerungen aufgestiegen. Wie sein Nachbarskind Stefane, die später seine Frau wurde, hatte er auch nichts Höheres und Herrlicheres gekannt, als am Sonntag nach Freiburg hineinzufahren und dort an der Hand der Mutter in die stille, hohe Kirche zu treten und die wunderbare Orgel spielen zu hören. Es war dann wie eine ganz andere Welt als die der Wochentage.

»Wenn ich etwas dazu sagen soll«, begann er jetzt, »so ist es mir recht, zuerst in die Kirche zu gehen. Es ist ja auch Sonntag, es schickt sich, daß wir dahin gehen.«

Nun wanderte die Gesellschaft zur Stadt hinein. In der großen, alten Kirche war es ganz still und so feierlich in dem Halbdunkel, daß die Kinder nur ganz leise auftraten und sich dann neben die Eltern hinsetzten, wo diese sich niedergelassen hatten. Plötzlich ertönte die Orgel, und durch die stille Kirche rauschte jetzt ein Strom von Tönen so voll und wunderbar, als wären es die himmlischen Heerscharen, die ein Jubellied erschallen ließen, das alle Welt zur Freude rufen wollte. Ein leiser Freudenschrei ertönte neben Frau Stefane, und heftig zupfte sie Stefeli am Ärmel: »Mutter, es ist Vinzi«, sagte es in großer Aufregung. Die Mutter hatte ihren Vinzi schon erkannt, mit dem ersten Blick, den sie nach der Orgel gerichtet hatte, und der auf den schwarzen Lockenkopf gefallen war. Es hatte sie so überrascht und bewegt, daß sie sich jetzt alle Gewalt antun mußte, um nicht laut aufzuschluchzen vor Rührung und Freude.

Aber der Vater mußte es doch auch wissen. Sie stieß ihn jetzt leise an: »Vinzenz, es ist der Vinzi«, flüsterte sie ihm zu. Er gab keine Antwort, schaute auch nicht auf; es war so, als wollte er nicht sehen lassen, daß die Orgeltöne auch ihn bewegten. Die Klänge der Orgel waren jetzt ganz anders geworden. Wie leise Klage zog es durch die langgezogenen Töne und wurde zum lauten Jammer. Es war, als ertönte ein großer Chor freudloser Menschen, verzagend in Reue und Leid. Und wie das Leid am höchsten war und der bitterste Schmerz durch die Töne schluchzte, da wandelten sich diese zum Flehen, zu einem inbrünstigen, demütigen Flehen um Hilfe und Gnade. Dann plötzlich war es, als ob der Himmel sich geöffnet habe und die Engel sängen von oben herunter so lieblich und herrlich, als sängen sie von erbarmender Liebe und nimmer vergehender Freude. Und jetzt, wie mitten aus dem Engelchor heraus, erhob sich hell und klangvoll eine Stimme, und durch die ganze Kirche hin jubelten die Worte:

»Doch das sel'ge Lied der Gnade
tönet fort in Ewigkeit.«

Das war Jos: den hatten die bekannten Klänge, die doch so neu und mächtig und wunderbar ertönten, völlig hingerissen, und wie der Schluß kam, da er's gewohnt war, einzusetzen, da konnte er nicht anders, und in heller Begeisterung sang er seine Worte zum Chor der Engel.

Jetzt war der letzte Ton verhallt. Eine Weile lang herrschte große Stille in der Kirche. Nun erhoben sich die beiden Herren. Vinzenz Lesa mußte sich noch ein paarmal die Augen wischen, nun stand auch er auf, seine Frau folgte ihm.

»Wirst doch das nicht glauben«, sagte er jetzt mit heiserer Stimme zu ihr, als Antwort auf die Worte, die sie vor längerer Zeit ihm zugeflüstert hatte. »Kein Mensch auf der Welt wird sagen wollen, daß das unser Vinzi war.«

Herr Delrik stand eben hinter ihm. »Herr Lesa«, sagte er, ihm auf die Schulter klopfend, »wir wollen uns nichts angeben lassen, wir steigen nach dem Orgelboden hinauf, da wollen wir selbst sehen, wer so gespielt hat.«

.

»Der kann etwas«, sagte Herr Thornau befriedigt, »wie hat's dir gefallen, Alida?«

»Oh, wundervoll! Wenn's nur noch nicht aus wäre!« sagte sie bedauernd.

»So komm, wir gehen mit, wir wollen auch wissen, wer gespielt hat«, und Herr Thornau nahm seine Tochter an der Hand, alle stiegen zum Orgelboden hinauf. Herr Delrik war schnell vorangegangen, und ehe noch die anderen den Boden betreten hatten, tönte ihnen aufs neue der eben verklungene Freudengesang entgegen. Vinzenz Lesa war eingetreten, dann blieb er regungslos auf derselben Stelle stehen. Dort an der Orgel saß sein Sohn, dieser schwarze Lockenkopf war Vinzi, kein anderer, und er spielte die Orgel vor des Vaters eigenen Augen; er war es, der diese ergreifenden Töne hervorbrachte. Nun half alles nichts, Lesa mußte vor allen anderen einmal ums andere die Augen trocknen.

Jetzt war Vinzi zu Ende. Die Mutter hatte endlich Stefelis Hand losgelassen; es schoß auf den Bruder los und umklammerte ihn; die Mutter kam heran, Vinzi umschlang sie. Nun hatte auch der Vater sich mit Herrn Delrik genaht.

»Herr Lesa«, sagte dieser, »Ihr Sohn hat Ihnen das Lied von der Gnade gespielt, nun werden ja auch Sie gnädig sein und völlig verzeihen können, daß Ihr Sohn kein rechter Bauer werden konnte.«

Lesa hatte die Hand seines Sohnes ergriffen. »Mehr als das, mehr als das, Vinzi«, sagte der Vater endlich; denn er hatte Mühe gehabt, sich recht zu fassen, »du machst deinen Eltern Ehre, nicht Schande, wie ich meinte. Ich habe nicht gewußt, daß so etwas sein könnte, das habe ich nicht gekannt. Wenn ich so als Knabe hier nach Freiburg kam und diese Orgel spielen hörte, da dachte ich, das müssen ganz außergewöhnliche Menschen sein, die so etwas tun können, nicht Leute, wie wir sind. Du mußt Herrn Delrik danken, dem sind wir alles schuldig. Er hat deinen Weg gefunden und dir ihn aufgetan.«

»Nicht ich, Herr Lesa, nicht ich«, sagte Herr Delrik abwehrend, »das ist Pater Silvanus, der wußte, was in Vinzi lebt und was mit ihm geschehen sollte, dem wollen wir danken. Und daß unser Vinzi keine brotlose und keine herumfahrende Kunst treibt, sollen Sie auch gleich erfahren. Schon jetzt ist ihm in einer Kirche in Dresden eine Stelle angeboten; da hat er jeden Sonntag zu spielen, das wird Ihnen ja gefallen, Herr Lesa? Dabei kann Vinzi weiter studieren; denn das muß er, je länger, je besser. Für einige Jahre lassen Sie ihn nun wieder mit mir ziehen, das wird Ihnen doch recht sein?«

»Alles, was Sie für gut finden, Herr«, erwiderte Lesa unverzüglich. Jetzt war er überzeugt, daß Herr Delrik bei allem, was er tat, genau im Sinne hatte, was er wollte, auch bei seinem langen Schweigen über Vinzi. An diesem hatte er festgehalten, bis er beweisen konnte, und das gefiel Vinzenz Lesa.

Unterdessen hatte Vinzi eine Überraschung nach der anderen gehabt. Da war Jos hervorgetreten, und mit welcher Freude begrüßte Vinzi den alten Freund!

»So warst du's doch!« rief er aus, »ich habe dich ja wohl singen hören unten in der Kirche, und es hat mich fast aus dem Geleise geworfen; denn ich mußte immer denken: ›wer kennt unser Lied und hat noch eine Stimme dazu wie Jos?‹ Aber du konntest ja nicht da sein. Nun warst du's doch!«

Jetzt stand plötzlich Alida vor ihm, und Hugo und Herr Thornau waren da, und es gab eine lebhafte Begrüßung nach der anderen. Alida hatte auch gleich soviel mit Vinzi zu besprechen von allem Vergangenen und dem, was jetzt war, und dem, was kommen sollte, daß Herr Thornau für gut fand, anzuzeigen, nun sei der Augenblick gekommen, da man endlich zur Tafel schreiten müsse, dort könnte alle abgebrochene Unterhaltung erst recht fortgesetzt werden.

So geschah es auch, und wie auch Vinzenz Lesa sich sträubte, es half ihm nichts, er mußte mit zur Tafel nach dem Zubringerhof, den er in seinem Leben nie betreten hatte. Für alle war dann die Stunde des Abschieds unerwartet schnell da.

»Herr Lesa, was ich Ihnen zu danken habe, das wissen Sie noch gar nicht«, sagte Herr Thornau beim Abschiednehmen. »Da hat mir mein Sohn, der nie die leiseste Neigung noch einen Wunsch für irgendeinen Beruf geäußert hat, soeben angezeigt, daß er entschlossen ist, Landwirt zu werden. Den Verwalter auf sein Gut hat er auch schon gewählt. Kühe will er durchaus nur durch Herrn Lesa beziehen, der hat die schönsten, die man überhaupt finden kann. Die Rasse kennt der Junge auch schon. Meine Tochter, die sich seit mehr als einem Jahr feindselig gegen alle Musik verhalten und ihr schönes Klavier trotz meiner Vorstellungen nie mehr geöffnet hat, erklärt mir, ihr höchster Wunsch sei, sobald wir Hamburg betreten, ihren Klavierunterricht wieder aufzunehmen; denn ihr ehemaliger Schüler spiele so schön, daß es ihr Lust mache, auch so zu spielen und ihm nachzueifern. Alles Ernstes, Herr Lesa, mein Dank für alles, was meinen Kindern in Ihrem Hause zuteil geworden, ist viel größer, als ich sagen kann. Aber ich möchte Ihnen meinen Dank auch beweisen. Sie kommen einmal nach Hamburg, Herr Lesa.«

»Nein, das glaub ich nicht«, sagte dieser der Wahrheit gemäß; »aber wenn Ihre Kinder etwas bei uns gewonnen haben, so freut es uns; wir haben diese Kinder gern bei uns gehabt, sie sollen wiederkommen.«

Der Frau Stefane drückte Herr Thornau ganz bewegt die Hand. Seine Kinder hatten ihm schon soviel von ihr erzählt, daß er wußte, sie war ihnen eine Mutter gewesen. »Die Kinder dürfen doch wieder zu Ihnen kommen?« fragte er in herzlicher Weise.

»Es wäre mir ein rechtes Herzeleid, wenn sie den nächsten Sommer nicht kämen«, sagte sie, von Freude und Leid bewegt, »und jeden neuen Sommer werde ich danach ausschauen, ob sie mir auch wiederkehren.«

Als Herr Delrik sich von Vinzenz Lesa verabschiedete, sagte er, sie würden sich ja bald wiedersehen, da er im Sinn habe, Vinzis Ferienzeit mit ihm im Vaterhause zuzubringen; doch gedenke er, zwischendurch einen Besuch auf dem Simplon zu machen, Pater Silvanus müsse wissen, wie es seinem Zögling ergehe. Er werde Vinzi mit hinaufnehmen, wenn der Vater nichts dagegen habe.

Lesa erwiderte, Herr Delrik solle nur tun, was er für gut halte.

Vinzi, der daneben stand, lauschte gespannt. Was hatte der Vater jetzt gesagt? Er durfte ja nie mehr auf den Berg gehen; wie konnte das zusammenpassen?

Das mußte er nun recht wissen. »Vater«, sagte er ein wenig schüchtern, »wenn Herr Delrik jetzt bald, in ein paar Tagen, auf den Berg geht, darf ich dann wirklich mit ihm gehen?«

»Alles, was Herr Delrik mit dir tun will, wird gut und recht sein; du tust, was er anordnet.«

Vinzis Augen funkelten vor Freude.

Also in wenigen Tagen durfte er nach dem Berge ziehen und alle wiedersehen, die ihm so lieb waren, und konnte Pater Silvanus danken. Nun wußte er, wieviel er ihm zu danken hatte.

Um dieselbe Stunde reisten alle, nur nach ganz verschiedenen Richtungen hin, von Freiburg ab. Der Abschied der Kinder brauchte eine gute Zeit; denn sie fingen immer noch einmal an, aber in herzlichster Fröhlichkeit, es galt ja auf Wiedersehen für alle. Im nächsten Sommer würde ja sogar auch Vinzi dabei sein. Herr Delrik hatte ja versprochen, dann in den ersten Ferientagen mit ihm zu erscheinen. Jetzt reiste Herr Thornau mit seinen Kindern Basel zu. Vinzenz Lesa wanderte gegen Bulle hin nach seinem väterlichen Hof. Herr Delrik und Frau Stefane fuhren mit ihren Kindern dem Genfersee entgegen. In Lausanne sollte die Nacht zugebracht und am anderen Morgen, wie man dem Vater versprochen hatte, die Heimat so bald als möglich erreicht werden.

Als Vinzi am Abend dieses Tages nach seiner langen Abwesenheit zum ersten Male wieder nach seinem Kämmerlein ging und die Mutter ihn begleitete, sagte er: »Oh, Mutter, es ist doch schön daheim; komm doch noch zu mir, um mir gute Nacht zu sagen, wie du immer getan hast.«

Bevor Stefeli seine Ruhestatt aufsuchte, hatte es auch noch etwas im Sinn. Es rannte schnell zum Haus hinaus und schaute nach der Bank. Richtig, da saß Herr Delrik noch, wie es seine Gewohnheit war. Es stand schon vor ihm.

»Wenn Sie doch auf den Berg gehen, Herr Delrik, wollen Sie mir auch etwas ausrichten?« fragte es angelegentlich.

Nach der erfolgten Antwort, das wolle er gern tun, fuhr Stefeli fort:

»Wollen Sie Vetter Lorenz sagen, Jos müsse gewiß bei uns bleiben? Der Vetter hat gesagt, er müsse nicht heim, bis mein Vater ihn schicke, und das tut er gewiß gar nie, das kann man gut merken.«

Herr Delrik versprach, den Auftrag richtig zu besorgen. Bei sich lächelte er vergnügt über die große Übereinstimmung in den Aufträgen, die er nacheinander erhalten hatte. Beim Abschied hatte Vater Lesa ihn noch gebeten, seinen Vetter Lorenz in seinem Namen zu bitten, ihm den Sohn Jos doch noch für eine Zeit zu überlassen, er könne fast nicht mehr ohne den Buben sein. Wenige Augenblicke erst waren vergangen, seit Jos Herrn Delrik aufgesucht hatte, um ihm aufzutragen, er möchte dem Vater den Bericht bringen, noch könne er gewiß eine gute Zeitlang nicht heimkommen, da sei für den Winter noch soviel zu tun, und dann fange der Frühling hier wieder so früh an, daß man kaum mit der alten Arbeit fertig werde, so sei schon die neue da, und den Vetter Vinzenz könne man doch auch nicht so allein lassen; denn daß Vinzi fortbleibe, sei ja nun bestimmt. Gegen den dreifachen Wunsch und noch ein ernstes Versprechen dazu, wird der Vetter Lorenz ja nicht ankämpfen können, sagte sich Herr Delrik lächelnd.

Frau Stefane war in Vinzis Kammer getreten und hatte sich auf sein Bett gesetzt. Sie mußte daran denken, wie sie an jenem Abend dagesessen hatte, als er nach dem Berg abreisen mußte.

Es war die erste Stunde, da Vinzi seine Mutter allein hatte, seit er heimgekehrt war. Nun ging ihm auch das ganze Herz auf. Er mußte doch endlich seiner Mutter erzählen, wie er gelebt hatte, seit er sie verlassen; denn geschrieben hatte er ja nicht; der Vater hatte ja gesagt, das nütze nichts. Aber erzählen mußte er der Mutter nun schnell ein wenig, wie Herr Delrik ihn von Anfang an wie ein Vater behandelt habe. Gleich nach ihrer Ankunft in Dresden habe er Unterricht in so vielen Dingen erhalten, vor allem in der Musik. Da sei er zu zwei herrlichen Lehrern gekommen. Der eine habe ihn im Orgelspiel, der andere in den Gesetzen der Musik unterrichtet und ihm so wunderbare und herrliche Dinge zum Verständnis gebracht, daß diese Unterrichtsstunde für ihn immer ein Glück gewesen sei, das er fast nicht erwarten konnte.

»Und doch war die Stunde vom Orgelspiel noch das größere Glück«, setzte Vinzi hinzu. »Oh, Mutter, ich hätte nie geahnt, daß man sich so von einem Tag zum anderen auf den folgenden freuen könne, wie auf ein großes Fest.«

Mit unsäglicher Freude schaute die Mutter in die glückstrahlenden Augen ihres Jungen. »Und mit Herrn Delrik zusammenzuleben und soviel um ihn zu sein und zu seinem Hause zu gehören, das ist auch ein Stück von deinem Glück, nicht, Vinzi?« fragte sie jetzt.

»Oh, und kein kleines!« rief er aus, »es ist gut, daß du ihn kennst, ich könnte dir ihn gar nicht beschreiben. Du solltest nur wissen, wie gut und liebevoll und hilfreich er nach allen Seiten ist. Und in seinem Hause sind alle so gut gegen mich um seinetwillen. Die Frau Wyneken, das ist die Haushälterin, die alles regiert, die ist so freundlich mit mir, als wäre sie meine Großmutter, und der Friedrich, der Bediente, und Mine, das Mädchen, tun mir alle Dienste und lassen mich nicht, wenn ich sie selbst tun will. Es ist, weil sie alle das Orgelspiel so gern haben. Frau Wyneken sagt, das Orgelspiel habe Herrn Delrik wieder froh gemacht; denn er war traurig, weil er alle verloren hatte, die ihm lieb waren.

Unten im Hause ist ein Saal, da steht eine kleine Orgel drin, und jeden Abend wünscht Herr Delrik, daß ich ihm vorspiele, und wir können manchmal gar nicht genug bekommen. Nun weißt du, wie mein Leben in Dresden ist. Aber wenn auch alles noch so schön ist, ich freue mich doch mehr als auf alles andere, wieder auf den Berg zu kommen in meine Heuhütte unter dem Sternenhimmel.«

»Vinzi«, sagte die Mutter, »dankst du auch dem lieben Gott für alle Wohltaten, mit denen er dich überschüttet hat? Denkst du auch daran, daß dir alles von ihm geschenkt ist?«

»Ja, Mutter, das tue ich«, erwiderte er, ihr offen in die Augen blickend, »ich habe nicht vergessen, wie angst und bange es mir manchmal war. Wenn wir nun am Abend zur Orgel ein schönes Lied singen, oft eines von denen, die du mich gelehrt hast, so singe ich anders als damals. Da hörte ich nur auf die Melodien; jetzt singe ich die Lob- und Danklieder mit dem ganzen Herzen; ich lobe und danke dabei, ich singe nicht nur.«

»Denk auch daran, Vinzi«, schloß die Mutter, »wenn dir wieder einmal Schweres bevorsteht, wie der liebe Gott das Gute mit uns im Sinne hatte, wo wir meinten, es stehe uns etwas Schreckliches bevor. Als ich damals hier auf deinem Bette saß, hätte ich in meiner Kurzsichtigkeit alles getan, dich von der Reise zurückzuhalten, hätte ich dazu die Macht gehabt, und sie war gerade der Weg zu deinem großen Glück.«

Vinzi hatte nachdenklich zugehört: »Ja, mir ist es geradeso gegangen«, sagte er jetzt, »ich habe gemeint, das sei das Traurigste, das mir nur widerfahren könne, und es ging gerade dem Schönsten entgegen. Daran will ich gewiß denken, Mutter.«

Als die Mutter nach einem herzlichen Nachtgruß Vinzis Kammer verließ, war ihr Herz so voller Dank und Güte, daß sie die Hände falten und ein inniges Dankgebet zum Himmel schicken mußte.

Was hatte auch der liebe Gott an ihr und ihrem Hause getan! Da war Vinzi nun für immer der Weg aufgetan, der seines Herzens einziger Wunsch war, und der Vater war nicht nur zufrieden, er freute sich darüber. Er verachtete seinen Vinzi nicht mehr, er hatte erkannt, daß dieser seinen Eltern Ehre machte, ja, er blickte auch wieder mit rechtem Stolz auf seinen Sohn, das hatte sie wohl bemerkt.

Und Vinzi, der so lange fortgewesen war, der in so ganz anderer Umgebung gelebt und soviel gelernt hatte, war ihr heimgekehrt, so einfach, so kindlich offen und liebevoll, wie er gegangen war. Das war für die Mutter ein besonderes Geschenk, und eine besondere Bitte von ihr war nun auch, daß der liebe Gott ihn auf den neuen Wegen doch in der alten Kindereinfalt und Schlichtheit erhalten wolle.

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