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Überraschungen, nicht nur für Rußli

Im September und Oktober, den arbeitsreichen Monaten, war Vinzenz Lesa sonst unausgesetzt tätig von früh bis spät und dazu immer in der fröhlichsten Stimmung über seinen reichen Erntesegen. Jetzt ging er stillschweigend umher und konnte oft nachdenklich eine Zeitlang stillstehen und starr vor sich hinsehen, als habe er es mit Gedanken zu tun, die schwer ins klare zu bringen waren. Die Sache mit seinem Buben lag ihm Tag und Nacht im Sinn und ließ ihm keine Ruhe. Er hatte seinen Buben, der allen Leuten so wohlgefiel, lieb und war so stolz auf ihn, wie nur ein Vater auf seinen Sohn sein konnte. Aber zur Vernunft mußte er kommen, zur Erkenntnis seines Glücks, seines geebneten, sorgenlosen Lebens, um das ihn Tausende beneiden konnten. Zurechtkommen mußte er um jeden Preis.

Vinzenz Lesa hatte jetzt beschlossen, was er mehrere Tage lang in seinen Gedanken hin- und herbewegt und reiflich erwogen hatte; denn es waren Gründe dafür und Gründe dagegen, die dafür hatten überwogen.

Er trat in die Stube, wo seine Frau an seinem Kittel herumstickte und ihre Gedanken ebenso unruhig und ganz in derselben Richtung hin- und herwandte, wie er soeben auch getan hatte.

»Ich will am Sonntag den Buben fortbringen«, sagte der Mann gleich bei seinem Eintreten, »ich bringe ihn zu meinem Bruder im Freiburgischen, dem ist es recht, und Arbeit ist viel da, bis zum Winter. Vinzi hat dort zu tun und wird darüber froh sein; denn da ist nichts anderes zu unnützer Unterhaltung zu finden.«

Frau Stefane hatte ihre Arbeit in den Schoß fallen lassen; weiß vor Schrecken blickte sie ihren Mann an.

»Hast du auch bedacht, in welchem Zustand der Bruder ist, Vinzenz, erinnerst du dich denn auch noch, welchen Namen sie ihm geben?« fragte sie voller Angst; denn sie sah ihren Vinzi vor sich, wie er vor sich hinstarren konnte, und den Vetter in seiner traurigen Gestalt neben ihm.

»Das macht nichts«, entgegnete ihr Mann; »er ist nicht bösartig, er will nur nichts angreifen und nichts regieren; aber er hat schon den hellen Sinn zu wissen, daß ein Meister da sein muß, nicht nur ein Knecht. Darum läßt er ja immer sagen, ich solle wieder heimkommen, oder meinen Buben schicken. Vinzi ist nicht dumm; wenn er merkt, daß er alles regieren kann, kommt ihm schon die Lust dazu, und dann folgt die Kenntnis bald. Das ist die rechte Art für ihn, du kannst es glauben, ich habe alles überdacht, am Sonntag gehen wir.«

Frau Stefane wollte noch einiges einwenden; aber es war gerade, als ob alles, was sie vorbrachte, ihren Mann darin bestätigte, daß er den rechten Ort gefunden habe. So schwieg sie, und nun ihr Mann ging und sie mit ihren Gedanken allein war, stieg ihr die Erinnerung an ihren großen Kummer auf, als Vinzi auf den Berg reisen mußte, und wie anders es ihm dort ergangen war, als sie befürchtet hatte. Es war doch recht undankbar von ihr gegen den lieben Gott, der ihren Jungen zu so freundlichen Menschen geführt hatte, daß sie nun wieder so zu fürchten und zu zweifeln anfing, als ob sie's besser wüßte als er, was für Vinzi gut sei. Sie wollte alles in seine Hand geben, und im Vertrauen, daß der Vater im Himmel es mit seinen Kindern allen gut meine und auch das ihrige so führen werde, wie es zu seinem Besten sei, konnte sie still werden. Jetzt wollte sie eingehend mit Vinzi reden; denn er wußte noch nichts von seiner nahen Verschickung. Die Mutter fand aber besser, ihn vorzubereiten und noch ein wenig über alles mit ihm zu sprechen, was jetzt auf dem Hof seiner Vorväter vorging. Vinzi könnte dadurch auch eher verstehen, daß der Vater ihn dorthin schickte, wo ja wirklich noch jemand nötig war.

Als sie am Abend allein in der Stube saß und Vinzi, der mit dem Vater im Wald gewesen, heimkehren hörte, rief sie ihn zu sich. Sie wußte, nun hatte der Vater noch nach Stall und Scheune zu sehen und würde den Buben nicht vermissen. Stefeli, das augenblicklich herbeirannte, als es den Vinzi hörte, schickte die Mutter mit einem Auftrag zur Scheune hinüber, in der Voraussicht, daß es, wie gewöhnlich, dort bei den alten Bekannten im Stall eine gute Zeitlang stecken bleiben werde.

Aber Stefeli hatte schon gemerkt, daß die Mutter etwas Besonderes mit Vinzi vorhatte, da mußte es durchaus dabei sein. Da stand es auch schon wieder; denn es war völlig geflogen, um ja nicht zu spät zu kommen. Aber die Mutter fand seine Anwesenheit gar nicht so notwendig wie es selbst.

»Geh jetzt noch in den Hühnerstall hinüber«, sagte sie, »und suche alle Winkel aus, hörst du, in allen Ecken herum, du weißt, die Hühner legen manchmal Eier hin, wo man es gar nicht vermutet; dann bring die Eier; aber hörst du, erst such überall herum.«

Stefeli lief so eilig, als es nur vermochte. Aber kaum war es aus dem Hause, so kam es zurückgestürzt, riß die Tür auf und schrie aus vollem Halse hinein: »Er kommt wieder! Er kommt wieder!«

Nun war es wieder weg. Die Mutter und Vinzi schauten einander an, sie hatten denselben Gedanken; aber das war ja unmöglich, keines sprach ihn aus.

Nun ging die Türe wieder auf, und was sie für unmöglich hielten, geschah wirklich: Stefeli trat mit triumphierenden Blicken an der Hand von Herrn Delrik in die Stube. Die Überraschung war so groß, daß weder Frau Stefane noch Vinzi ein Wort sagen konnten; aber die Freude leuchtete beiden hell aus den Augen.

»Ich habe meinen Reiseplan geändert«, sagte Herr Delrik nach der ersten Begrüßung; »meine Freunde kehren auf einem anderen Wege nach Deutschland zurück, ich mußte noch einmal hierher kommen, das konnte nicht anders sein. Man hat mich da droben auch mit solchen Haufen von Grüßen an Vinzi beladen, daß ich froh bin, diese nun ablegen zu können; denn wäre ich auch auf anderen Wegen nach Deutschland hinausgereist, ich hätte sie doch mitnehmen müssen. Die guten Leute meinten alle, ich müsse sie dem Vinzi irgendwie übergeben können. Alle haben mich als einen alten guten Freund behandelt, weil ich von Vinzi kam und seine Grüße brachte.«

Vinzis Augen funkelten vor Freude und Wonne der Erinnerung.

»Haben Sie alle gesehen? Auch den Großvater und den Pater Silvanus?« fragte er erwartungsvoll.

»Alle, alle, und alle haben dich im herzlichsten Andenken behalten, Vinzi«, entgegnete Herr Delrik. »Der gute Vetter Lorenz und seine Frau konnten mir nicht genug erzählen, wie schön euer Zusammenleben war.«

Noch mußte Herr Delrik den Dank der drei Jungen für die Geschenke ausrichten und die Freude, die diese hervorgerufen hatten. Rußli ließ vor Entzücken sein Geschenk gar nicht aus den Händen. Wo er stand und ging, hielt er sein rotseidenes Säckchen fest, das mit prächtigen, in allen Farben schimmernden Marmor- und Achatkugeln gefüllt war. Von ihm hatte Herr Delrik noch einen besonderen Auftrag erhalten, den er, wie er sagte, zwar nicht recht verstand, Vinzi würde aber wohl den Sinn desselben herausfinden. Rußli ließ Vinzi sagen, er wolle sie in seinem Leben nie mehr fitzen, und er habe nie gedacht, daß eine Überraschung etwas so Schönes sei.

Jetzt trat der Vater in die Stube ein. Vor Verwunderung über den Gast stand er einen Augenblick unbeweglich an der Tür. Herr Delrik war aufgestanden und ging ihm entgegen.

»So ist's wirklich wahr«, sagte Lesa mit freudeglänzenden Augen, indem er die dargereichte Hand mit aller Kraft schüttelte. »Ich habe doch immer gedacht, es müßte so kommen; es war gar so leer hier, seit Sie fort waren. Nun willkommen bei uns!« bekräftigte er mit neuem Händeschütteln, »und nun setzen wir uns zu Tisch; für diesen Gast wird die Frau wohl etwas Besonderes haben, die hat sicher keine kleinere Freude als ich, daß er wieder da ist.«

Schon war Frau Stefane verschwunden, um ihr Abendessen zu rüsten, das nun in großer Vergnüglichkeit verlief; denn die Freude des Wiedersehens hatte auf einmal alle trüben Gedanken verscheucht.

Als Herr Delrik jetzt vom Tische ausstand, sagte er: »Nun, Herr Lesa, möchte ich Sie nach alter Gewohnheit zu einem Gespräch auf unserer Bank erwarten, vergessen Sie Ihr Pfeifchen nicht.«

»Niemals«, entgegnete dieser und folgte bereitwillig.

Frau Stefane hatte augenblicklich verstanden, daß Herr Delrik mit ihrem Manne allein zu sein wünschte; sie hielt die Kinder zurück und blieb bei ihnen.

Sobald die beiden Männer sich auf der Bank niedergelassen hatten, begann Herr Delrik sein Gespräch.

»Herr Lesa, Sie werden wohl denken, daß ich einen Grund hatte, meinen Reiseplan zu ändern und wieder hierher zu kommen.«

»Sie tun nichts ohne Grund, Herr«, erwiderte der Angeredete bedächtig.

»Ich habe Ihnen eine Mitteilung zu machen, die mir so wichtig ist, daß ich keine Zeit verlieren wollte«, fuhr Herr Delrik fort. »Ich hatte mir vorgenommen, einen Tag auf dem Berge zuzubringen, Vinzis Grüße daselbst abzugeben und mir selbst die Leute dort ein wenig anzusehen. Erst suchte ich Ihren Vetter auf, den ehrenwerten Herrn Lorenz Lesa, und seine Frau. Diese guten Leute konnten mir nicht genug sagen, wie Vinzi ihnen mit seiner Musik und seinen Liedern die Tage verschönt habe, wie sie ihn alle schwer entbehren, die Alten wie die Jungen, das müßte doch den Vater freuen, nicht?«

Dieser nickte bejahend.

»Dann besuchte ich den alten Großvater im Turm. Der hatte eine rührende Freude, als ich ihm Vinzis Grüße übergab. Er sagte mir, die schönsten Stunden, die er seit Jahren verlebt, habe ihm Vinzi mit seinem Spiel und Gesang bereitet, und sein höchster Wunsch sei, daß ihn einmal der Junge eine Strecke mit seinem Liede begleite, wenn er seinen letzten Gang antreten müsse. Das muß wohl etwas Rechtes gewesen sein, kein leichtfertiges Musikantenlied, das dem Alten einen solchen Eindruck gemacht hatte, das meinen Sie doch auch?«

Vinzenz Lesa nickte wieder schweigend.

»Ich fragte nach dem Pater Silvanus, ob der wohl etwas von der Musik verstehe. Da wurde der Alte ganz lebhaft. Pater Silvanus sei sogar ein großer Musiker gewesen, erzählte er mir, habe viele Jahre lang in einem Kollegium in Rom zugebracht, sei dann, von seinem eigenen Wunsch getrieben, hier auf den Berg in die Einsamkeit gekommen, und nun auch schon seit Jahren da, wo er nun bleibe und viel Gutes stifte. Nun hatte ich gefunden, was ich suchte, den Mann, der über Vinzis Talent ein Urteil abgeben konnte. Ich ging zu Pater Silvanus. Sowie er hörte, daß ich von Vinzi käme, zeigte er mir große Teilnahme. Gleich fragte er, ob der Junge Unterricht nähme und ob auch sein Talent beachtet werde. Ich sagte ihm, daß ich gerade darum zu ihm käme, um zu hören, was er davon halte. Jetzt wurde der gute Pater ganz warm. ›Ob der Talent hat!‹ rief er aus, ›ganz voller Musik ist der Junge! In der Anleitung, die ich ihm gab, hatte ich nie das Gefühl, ihm etwas beizubringen, sondern alles nur aus ihm herauszulocken.‹ Er wolle mich nur auf zwei Dinge aufmerksam machen, sagte er weiter, dann könnte ich selbst urteilen. Eine erste Melodie, die Vinzi gefunden, wenigstens die erste, die er ausgeführt und mitgeteilt hatte, habe etwas so Eignes, Ursprüngliches, daß er, der Pater, sie immer wieder sich selbst zum Vergnügen auf seinem Instrumente vorspiele. Nachher habe Vinzi zu Worten, wie er sie sich gewünscht hatte, eine Melodie gesetzt, die so schnell alle Stimmen und Herzen gewonnen habe, daß sie jetzt von den Hirtenbuben auf allen Weiden, von den Mädchen an allen Spinnrädern gesungen, von den Burschen in Stall und Scheune gepfiffen, auf allen Wegen von allem Volke gesummt werde. ›Unser Lied‹ werde der Gesang genannt, wie und woher er gekommen sei, wisse kein Mensch mehr, es sei das beliebte Eigentum des ganzen Berges. Ob mir das nicht genug sage? meinte der Pater. Jetzt, Herr Lesa, zweifle ich an dem Talent unseres Jungen nicht mehr, auch Sie müssen überzeugt sein, daß es der Mühe wert ist, einem solchen Talent den Weg zu öffnen, daß es sich entwickeln kann. Das werden Sie ja nun auch tun.«

Eine Weile blies der Mann noch schweigend seine Rauchwölkchen in die Luft, dann sagte er bedächtig: »Und was dann? Entwickeln wird heißen, den Buben lehren lassen, Musik machen, bis er nichts mehr anderes will. Vinzenz Lesa will aber aus seinem einzigen Sohn nicht einen Musikanten machen, das ist fahrendes Volk, er hat eine gute Heimat. Hat er das herumziehende Leben einmal angefangen, so kann er nicht mehr anders und verdirbt dabei. Und ich selber, der es weiß, daß es so kommen muß, soll die Sache anfangen? Nein, Herr, das können Sie nicht von mir verlangen.«

Das hatte Herr Delrik nicht erwartet, nun blieb er auch stumm. Eine gute Weile verging so. Erst nach längerem Nachdenken sagte Herr Delrik nicht ohne Erregung: »Die Vorstellung von herumfahrenden Musikanten sitzt nun einmal fest bei Ihnen, da ist nicht zu helfen. Aber lassen Sie sich einen Vorschlag machen. Sie haben doch noch Vertrauen zu mir, Herr Lesa?«

»Das hab ich«, erwiderte dieser fest.

»Gut, dann schlage ich Ihnen vor. Sie übergeben mir Ihren Sohn für ein Jahr oder etwas länger. Ich werde mit ihm so tun, wie ich mit meinem eigenen Sohn handeln würde. Kommt er zurück, und Sie müssen durchaus noch so denken wie heute, so wird das Jahr in der Fremde nicht zu Vinzis Schaden sein; auch wenn er nachher sein Leben als Landmann zubringen soll, kann es nicht schlimm für ihn sein, noch etwas anderes kennen gelernt zu haben; das tut jedem gut, wo er auch stehe.«

Lesa schien sich zu besinnen; aber plötzlich mußte ein Gedanke ihn bestimmt haben, er sagte fest: »Das kann nicht sein, Herr.«

Herr Delrik wünschte zu wissen, warum das unmöglich sein sollte.

»Ich werde ja meinen Sohn nicht ein Jahr lang zu Besuch in Ihr Haus schicken, nachdem Sie für einige Wochen, die Sie in dem meinen zugebracht, mehr auf den Tisch gelegt haben, als nötig war«, erklärte der alles erwägende Vinzenz Lesa.

Herr Delrik lächelte: »Ich wohne allein in meinem geräumigen, alten Hause, wo es sehr still und oft recht leer aussieht; so begreifen Sie, daß die Anwesenheit Ihres Sohnes für mich eine wohltuende, mein ganzes Haus belebende Veränderung sein wird, mir also nur Freude bringt. Sollte Ihnen trotzdem die Sache nicht recht liegen, so verspreche ich Ihnen, in Ihr Haus, wo ich so gerne verweilte, so oft zurückzukehren und Ihr Gast zu sein, bis der letzte Rest von Ungleichheit getilgt sein wird. Nun schlagen Sie mutig ein, Herr Lesa, ich hoffe fest, es soll Sie nie gereuen.«

Diesem waren unterdessen noch allerlei Gedanken aufgestiegen. Ein solches Jahr der Fremde könnte einem Jungen, wie Vinzi war, wirklich nicht übel tun. Er hatte noch wenig von anderen Leuten und ihrem Tun gesehen. Es könnte ihm heilsame Gedanken erwecken, wenn er sehen würde, wie es draußen zugeht, wie mancher Junge von seinem Alter schon kämpfen und ringen mußte, um seinen Weg zu finden. Da würde ihm das gute Leben in der Heimat wohl vor Augen kommen! Nur schon aus seinem freien Landleben mitten in die Steinstraßen der Stadt versetzt zu werden, könnte ein wohltätiges Heimweh über ihn bringen, so daß er, lange bevor das Jahr um wäre, heimzukommen und nichts anderes mehr begehrte.

»Ich schlage ein«, sagte Vinzenz Lesa jetzt fest und drückte die dargebotene Hand zur Bekräftigung; »nur das will ich noch sagen, Herr: sollte der Vinzi begehren, heimzukehren, auch noch soviel früher, als Sie die Heimkehr festgesetzt hatten, so lassen Sie ihn ziehen.«

Diesen Wunsch versprach Herr Delrik unbedingt zu erfüllen. Nun erhob er sich, um der harrenden Mutter den Entschluß ihres Mannes mitzuteilen, während dieser seinen gewohnten Abendgang durch Scheune und Stall ausführte. Vor Freude und Dank über diese Wendung der Dinge fand Frau Stefane fast keine Worte. Wieviel herrlicher war diese Rettung vor dem gefürchteten Aufenthalt, als sie je hätte denken können. Wenn sie auch nicht wußte, was Herr Delrik mit Vinzi im Sinne hatte, so war sie schon überglücklich bei der Aussicht, daß ihr Junge ein ganzes Jahr im Hause eines solchen Mannes bleiben durfte.

Vinzi wußte nicht mehr als seine Mutter; aber er erwartete in stiller Freude, was kommen würde.

Herr Delrik hatte ihm gesagt, nun gehe es mit ihm nach dem Wunsche des Pater Silvanus. So wußte er, nun würde es gut mit ihm gehen.

Nach drei Tagen folgte im Hause Lesa wieder ein Abschiedstag; aber jetzt war niemand traurig, jeder hatte seinen besonderen Trost dabei. Nur Stefeli begehrte ein wenig auf und meinte, kein Mensch auf der Welt müsse so allein leben wie es.

Wirklich mußte Stefeli in dem Winter, der nun folgte, viele einsame Wanderungen machen; denn zu dem Schulweg, der täglich zweimal hin und zurück gemacht werden mußte, fanden sich keine Genossen ein; das war für das gesellschaftlich angelegte Stefeli ein schweres Geschick, das ihm viele Seufzer auspreßte.

Von Herrn Delrik kam dann und wann ein Brief, der Nachrichten von Vinzi brachte. Frau Stefane mußte ihn jedesmal ihrem Manne vorlesen. Diese Nachrichten lauteten fortwährend sehr gut. Der Junge befinde sich wohl und sei fleißig bei seinen Arbeiten. Dann folgten die herzlichsten Grüße an alle die Seinigen und zum Schluß noch einige freundliche Worte von Herrn Delrik über seine Freude, den Jungen bei sich zu haben und dessen erfreuliche Entwicklung zu verfolgen.

Der Vater hörte jedesmal gespannt die Berichte über das gute Befinden seines Sohnes an; aber es war oftmals so, als bereiteten sie ihm eine Enttäuschung. Noch horchte er erwartend hin, wenn der Brief zu Ende gelesen war. Mehrmals fragte er: »Kommt nichts mehr?«

Und Frau Stefane mußte versichern, sie habe alles gelesen. Dann ging er schweigend weg. Daß etwas in ihm arbeitete und daß er etwas erwartete, das nicht kam, merkte seine Frau wohl. Sie erriet auch, daß er lieber wollte, dem Vinzi wäre es nicht so wohl, er würde fortstreben, heim wollen.

Dann stiegen auch bei ihr die Sorgen wieder auf. Wie sollte es nun werden, wenn Vinzi wieder daheim sein würde? Wollte er tun, was der Vater wünschte, so würde er nie recht glücklich sein, und würde der Vater ihn den Weg machen lassen, den er am liebsten ging, so würde ja doch ein Zwiespalt zwischen den beiden bleiben; denn der Vater würde sich nie mit dem Gedanken versöhnen, daß sein Sohn als ein Spielmann herumfahre. Wie sie dann daran dachte, welche unerhörte Freude dieser Mann gehabt, als ihm ein Sohn zur Welt kam, wie er unermüdlich gearbeitet, wie ihm nichts zuviel war, wenn er den Kleinen vor sich sah und sagen konnte: »Der soll es einmal guthaben!« – überkam sie ein solches Mitgefühl mit dem Mann, daß sie meinte, sie müsse auf der Stelle den Vinzi nach Hause rufen, und gleich nachher mußte sie sagen: »Ach, der arme Vinzi, er wird ja sein Leben lang nie fröhlich und glücklich sein!«

In dieser Unruhe war sie nur froh, daß sie nichts in der Sache zu tun, noch zu entscheiden hatte, und noch froher darüber, daß sie den Trost hatte, zuletzt entscheide doch einer, der weiter sehe als sie alle und allein wisse, was für den einen wie für den anderen das Rechte sei.

 


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