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Noch mehr Musik

Auf der Weide wurde jetzt jeden Morgen eine große Gesangsübung gehalten. Vinzi hatte einen Chor aus denjenigen von den Hirtenbuben gebildet, die sich dazu eigneten. Einzelne konnten nicht singen, andre wollten nicht. Das war nun ganz gut; denn so blieb immer ein Teil der Hirten bei der Herde, während die anderen der Musik oblagen. Diese nahm viel Zeit in Anspruch; denn wenn Vinzi auch zunächst nur ein kleines Stück mit seinem Chor einüben wollte, so forderte er doch, daß es ganz richtig gesungen werde; falsche Töne konnte er nicht ertragen. Ertönten solche im Gesang, so schrie er auf, als hätte ihn eine Wespe gestochen, und alles mußte von vorn angefangen werden. Vinzi hatte längst gewußt, daß Jos und Vereli die besten Stimmen hatten und auch am richtigsten sangen. Er hatte sie zu Vorsingern gewählt, den Jos für die erste Stimme, den Vereli für die zweite. Die beiden erfüllten nun ihr Amt vorzüglich. Auch waren sie Vinzi im Aufrechthalten der Ordnung sehr behilflich. Denn sobald die Buben ihr Stücklein eingelernt hatten, wollten sie es nun auch erklingen lassen, und sowie die Probestunde begann und Vinzi den ersten Ton auf seiner Schalmei hören ließ, sangen sie los und wollten sich nicht mehr halten lassen. Das war aber gar nicht nach Vinzis Plan, den Jos und Vereli gleich erfaßt hatten und nun kräftig eingriffen und die stürmischen Sänger in Ruhe hielten, bis ihre Zeit da war.

So war die Woche zu Ende gegangen, und der Sonntag war da. Vinzi hatte absichtlich diesen Tag zur Ausführung seines Vorhabens gewählt. Hätten seine Sänger noch nicht gut genug gesungen, so hätte er noch eine Woche gewartet; denn es mußte ein Sonntag sein, da ihr Gesang ertönen sollte.

Wie nun der Sonntagnachmittag da war, da die meisten der Buben ihre Freiheit hatten, zogen Jos und Vinzi mit dem Sängertrüppchen den Berg hinan. Im Hinaufsteigen wuchs der Zug immer noch an, von da und dort aus den zerstreuten Hütten kamen immer noch Buben herzugelaufen. Gehörten sie auch nicht zu den Sängern, so wollten sie doch mit und zusehen, was geschehen würde.

So war es denn eine ziemlich große Schar geworden, die sich jetzt dem Turme näherte.

Der Großvater saß auf seiner Bank und ließ sich von der warmen Sonne bescheinen, während ein kühles Berglüftchen über seine geröteten Wangen blies. Er schaute fragend auf die herankommende Schar. Vinzi, Jos und Vereli, die dem Zug vorangingen, traten bis auf wenige Schritte an den Großvater heran, dann standen sie still, alle andern stellten sich um sie herum. Nun begann Vinzi zu spielen.

Erst war es, als wollte eine frohe Weise beginnen; aber die Töne wurden bald anders und klangen ernst und traurig, und nun wurden sie zu rechten Klagetönen, daß es war, als flehe einer um Barmherzigkeit.

Nun fiel der Chor ein und sang leise wie Hoffnung weckend die Worte:

»Doch das sel'ge Lied der Gnade«,

und zwischendurch klangen wieder die flehenden Töne der Schalmei. Dann sang der Chor zum zweiten Male lauter und in volleren Tönen:

»Doch das sel'ge Lied der Gnade.«

Noch einmal erhob die Schalmei ihre Klagelaute; aber jetzt brach der Chor mit aller Macht los, und wie ein Jubel ertönte der Gesang:

»Doch das sel'ge Lied der Gnade
Tönet fort in Ewigkeit.«

Und auch die Schalmei stimmte nun in die Jubeltöne ein, und so zusammenklingend endeten Stimmen und Schalmei in einem hohen Freudengesang.

Jetzt war alles still.

Der Großvater saß schweigend da, die Hände über den Knien gefaltet. Er regte sich nicht. Nun rannte einer der Buben weg, dann rannten mehrere, dann lief die ganze Schar hintereinander davon nach der grünen Weide hinüber, wo die große Herde aus dem Tal graste, die auch heute gehütet werden mußte; dort waren Kameraden zu finden.

Vereli war allein noch neben Jos und Vinzi stehengeblieben. Aber plötzlich war auch er verschwunden; wo es so still zuging, hielt es Vereli nicht lange aus.

Jetzt schaute der Großvater auf. Es war so, als wäre er weit weg gewesen und kehre nun wieder zurück.

»Ihr habt mir etwas Schönes gesungen«, sagte er jetzt freundlich. »Woher hast du das alles genommen? Du wirst es ja die anderen gelehrt haben, Vinzi?«

»Ich hatte es von Euch«, entgegnete Vinzi.

»Hm, hm«, machte der Großvater, »du verstehst, was man zu dir sagt. Aber die Musik, wo hast du sie gefunden?«

»Die ist mir so gekommen, weil ich Euch gern das Lied gesungen hätte, das Ihr nicht mehr gefunden habt«, sagte Vinzi.

»Das ist brav von dir, daß du einem alten Mann Freude machen willst; aber wart, fast hätte ich's vergessen«, sagte jetzt der Großvater, in seinen Taschen herumsuchend, »ich habe auch an dich gedacht und habe dem Pater Silvanus gesagt, daß du gern ein Lied hättest und was für eins. Er hat es mir schon gebracht, da siehst du, wie gut er ist. Aber er macht eine Bedingung: Wenn du die Töne dazu gefunden hast, so mußt du zu ihm hinaufgehen und ihm das Lied vorsingen. Da kommt es endlich!«

Der Großvater zog ein langes Papier heraus, auf dem mit großen, festen Buchstaben ein Lied geschrieben stand.

Vinzi nahm es in Empfang.

»Jetzt muß ich noch etwas sagen«, fuhr der Großvater fort, »Jos, du kennst den Keller, hol mir den angeschnittenen Käse, der unten liegt, und nimm einen Laib Brot mit herauf, einen von den großen. Das ist aber zu schwer für dich allein, der Vinzi muß mit dir gehen. Dann tragt ihr's hinaus; die Buben, die mir gesungen haben, werden wohl draußen auf der Weide sein. Da müßt ihr alle zusammen ein kleines Festmahl halten; ihr habt mir auch einen Festtag gemacht. Ein Schüsselchen aus der Küche nehmt auch mit, daß ihr auch trinken könnt, einer nach dem anderen. Der Xaver soll melken, er weiß, wo's gut ist.«

Der Großvater nannte Vereli immer bei seinem ganzen Namen, wie er schon dessen Vater genannt und auch den Großvater, seinen erstgeborenen Sohn.

Nun liefen die beiden, ihren Auftrag auszuführen. Sie hatten aber unter ihren Lasten schwer zu keuchen, als sie die steile Kellertreppe heraufkamen, doch keuchten sie mit den fröhlichsten Gesichtern; denn mit ihren Lasten auf der Weide anzukommen, war ihnen eine sehr erfreuliche Aussicht.

»Kommt bald wieder, ihr Buben«, sagte der Großvater, als sie ihm nun dankend die Hände reichten, »macht mir bald wieder einen schönen Sonntag, ich höre euer Singen so gern.«

Die beiden trafen auch richtig auf dem großen Weideplatz die Sänger noch alle bei den Türmlern versammelt. Ein ungeheurer Freudenlärm empfing die belasteten Boten.

Augenblicklich saß die ganze Schar auf dem Boden, und das Festmahl begann mit dem allererfreulichsten Appetit; denn viele von den Buben aus den kleinen Berghütten bekamen an den meisten Tagen nur Kartoffeln unter die Zähne.

Vinzi hatte sich hinter die dichten Reihen zurückgesetzt und wollte gern ein wenig für sich sein. Es drängte ihn, sein Lied zu lesen; er hatte ja die Töne dazu schon so deutlich vernommen. Ob wohl die Worte und die Töne zusammenstimmen könnten? Jetzt zog er sein Papier heraus. Die feste, klare Schrift war so gut zu lesen. Er las sein Lied wieder und wieder. Plötzlich packte es den Vinzi mit solcher Macht, daß er nicht mehr dableiben konnte. Er mußte hinauf, dort mitten ins Rosenfeld hinein, wo er gesessen und alles geschaut hatte, da mußte er hin und die Töne hören und sie inwendig singen. Er stand auf, schlüpfte hinter den mit Essen und Trinken eifrig Beschäftigten weg und rannte, ohne anzuhalten, den Berg hinan, bis er mitten im sonnigen Blumenfeld sich auf sein Plätzchen hinsetzen konnte, ringsum von den dichten Sträuchern der Alpenrosen eingeschlossen. Jetzt zog er sein Blatt heraus und las:

»Im Sonnenschein, im goldnen Licht
erglühen dunkle Rosen.
Kein Dörnchen dran, das blutig sticht,
sie kennen Dorn und Stachel nicht,
die dunkelroten Rosen.

Im Sonnenschein, in Fröhlichkeit
schäumt hoch der Bach vom Felsen,
so fleckenlos wie Schnee sein Kleid,
so ohne Fehl, so ohne Leid
schäumt hoch der Bach vom Felsen.

Im Sonnenschein, in Majestät
stehn noch die alten Berge.
Und wenn der Mensch heut irregeht,
und morgen wie das Gras verweht,
Stehn fest die alten Berge.

Im Sonnenschein, im goldnen Strahl
ist manch ein Leid erloschen.
Ihr dort im tiefen Schattental,
kommt himmelwärts, kommt allzumal.
Hier ist manch Leid erloschen!«

Am Abend kam Vinzi im gestreckten Galopp, aber so spät den Berg herabgerannt, daß die ganze Familie schon seit einer guten Weile vor dem Hause versammelt gestanden und nach allen Seiten ausgeschaut hatte, ob er noch nirgends zu sehen sei. Jos war schon vor mehreren Stunden heimgekehrt und hatte berichtet, wie sich der Großvater am Gesang erfreut und dann die Sänger bewirtet hatte, und wie Vinzi auf einmal von der Weide verschwunden sei. Keiner habe gewußt wohin. Dann hatte man hin- und hergeraten, wo er sein könnte, und immer wieder war einer hinausgegangen, um auszuschauen, ob er wohl komme, und zuletzt war die ganze Familie draußen auf der Umschau. Jetzt endlich kam er dahergerannt.

»Vinzi, Vinzi«, rief ihm der Vetter entgegen, »nun haben wir fast glauben müssen, du seist uns fortgelaufen.«

»Das tu ich gewiß nie«, versicherte Vinzi keuchend; »ich saß nur oben in den Alpenrosen und habe die Zeit vergessen.«

»Da würde es mir gerade umgekehrt gehen«, warf Faz ein, »wenn ich dort oben sitzen müßte und kein Mensch wär bei mir, nicht einmal eine Kuh, zu der man doch ein Wort sagen könnte, so müßte ich vor lauter Langeweile immer denken: ›wie spät ist es jetzt‹?«

»Hast du etwa Pfeifen geschnitzt?« fragte Rußli forschend.

»Morgen, Rußli, morgen wieder«, sagte Vinzi verständnisvoll.

Aber jetzt drängte der Vater die Familie ins Haus hinein. Er wolle auch noch ein wenig Sonntagsmusik haben, sagte er, und dann habe ja die Mutter um keinen Preis etwas zu essen hergeben wollen, bis Vinzi da sei; so seien sie doch halb ausgehungert.

In den nächsten Tagen brachte Vinzi noch manche schöne Stunde in seinem Rosenfelde zu, und er konnte dies mit gutem Gewissen tun. Jos wußte, was vorbereitet werden sollte, und er war es, der jeden Tag in der Frühe, wenn man zur Weide auszog, den Vinzi gleich wieder hinaufschickte, damit er die schönen Morgenstunden ganz für sich habe und bald ein neuer Gesang eingeübt werden könne, was der Jos fast nicht erwarten konnte. Schon nach wenig Tagen rief auch Vinzi seine Sänger zusammen. Diesmal ging alles so rasch vorwärts, daß er sich ganz verwundern mußte. Nun hatten die Sänger eben nur der Schalmei nachzusingen, die ganzen Verse durch. Das war eine Melodie, die ihnen sofort ins Ohr fiel und auch so wohlgefiel, daß sie mit der größten Lust darauflos sangen und gar nicht mehr aufhören wollten. Die Worte waren ihnen auch so verständlich und erfreulich, daß sie ihnen gleich im Gedächtnis blieben.

So hatte Vinzi kaum ein paarmal das Lied mit seiner Schalmei begleitet und Jos und Vereli ihre Stimmen angeführt, als schon auf allen Weideplätzen alle Hirtenbuben darauflos schmetterten:

»Im Sonnenschein, im goldnen Licht
erglühen dunkle Rosen«,

und sobald sie nur wieder zusammenkamen am Morgen, rief einer dem anderen zu: »Wir wollen unser Lied singen!« Denn daß es durchaus ihr eigenes Lied sei, das war das allgemeine Gefühl der Hirtenbubenschar.

Am Sonntag zogen die Sänger zum Großvater hinauf. Er hatte etwas von dem neuen Sängerbesuch vernommen und sah jetzt mit Freuden den Zug herannahen. Er war noch viel größer als das erstemal, und so voller Eifer, ihr Lied herzusingen, waren die Sänger, daß sie, kaum in der Nähe der Turmbank angelangt, auch schon losschmetterten und mit steigender Kraft das Lied zu Ende sangen.

»Bravo, bravo!« rief erfreut der Großvater aus. »Noch einmal! Noch einmal!«

Unverzüglich stimmten die belobten Sänger von neuem an, und mit ungeschwächter Kraft wurde fortgesungen.

Als Vinzi bemerkte, daß der Gesang ganz sicher und aufrecht blieb, zupfte er leise Jos am Ärmel, und dieser zupfte hierauf Vereli, der neben ihm stand, und geschmeidig wie Eidechsen schlüpften die drei beiseite und stoben davon.

Es war so verabredet; denn Vinzi wollte ausführen, was der Großvater ihm anempfohlen hatte; aber er dachte, einen so großen Lärm dürfe man bei dem stillen Hospiz droben nicht machen, und doch würde gewiß die ganze Schar mitlaufen, wenn es bekannt würde, was er und seine zwei Gefährten zu tun im Sinne hatten.

Einmal auf der Straße angelangt, wanderten die drei nun in ruhigem Schritt der Höhe zu. Dort stand schon das große steinerne Gebäude, an das sich Vinzi nun wohl erinnerte, und auch, welchen erschreckenden Eindruck die große Stille ringsum ihm damals gemacht, als er sich vorgestellt hatte, es könne des Vetters Haus sein.

Wie anders sah es jetzt aus, so friedlich im Sonnenschein dastehend und wie freundlich zu sich heraufwinkend.

Nun wußte ja Vinzi, daß droben die guten Mönche wohnten, die den halberfrorenen Wanderern halfen, wenn sie im Unwetter über den Berg kamen.

Jetzt waren sie an der Tür angekommen. Vereli zog den Glockenstrang so mächtig, daß man es drinnen weithin hallen hörte.

Ein uraltes Männlein öffnete ein wenig die feste Tür.

»Das ist der Pförtner«, sagte Vereli.

»Was ist's?« fragte der Alte.

»Wir wollen zum Pater Silvanus«, antwortete Vereli rasch.

Der Alte schaute die drei ein wenig mißtrauisch an, dann sagte er bedächtig: »Ihr Buben, ihr Buben, zum Spaß holt man den Pater Silvanus nicht herbei; er hat auch noch andere Kunden als ihr seid. Was wollt ihr von ihm?«

»Wir wollen wieder gehen, der Pater Silvanus hat gewiß keine Zeit für uns«, sagte Vinzi leise.

Aber Vereli war nicht so leicht zu verscheuchen. »Wir haben ihm etwas vom Großvater zu berichten«, sagte er unerschrocken, »und wir müssen es dem Pater Silvanus selbst ausrichten, das hat der Großvater befohlen.«

Jetzt öffnete der Alte die Tür etwas weiter und ließ die drei eintreten. »Ihr könnt hier warten«, sagte er kurz und ging weithin den halbdunkeln Gang entlang; denn man hörte immer noch seinen schleppenden Schritt, als er lange verschwunden war.

Nach einer Weile ertönte ein anderer Tritt, fest und rasch kam er daher.

»Das ist er«, sagte Vereli, als auch schon der Pater im langen Gewand vor den dreien stand und sie mit durchdringenden Blicken anschaute.

»Du bist einer von denen aus dem Turm, man sieht dir's an«, sagte er dann zu Vereli gewandt, »und wer sind deine Begleiter?«

»Der gehört dem Lorenz Lesa bei der Kapelle, und der ist sein Vetter, der Vinzi Lesa von Leuk«, zeigte Vereli an.

Ein eigentümliches Lächeln ging beim Anhören des letzten Namens über das Gesicht des Paters; er schaute noch einmal besonders auf den Vinzi, dann sagte er freundlich: »Kommt mit mir.«

Nun ging er voran, den langen, hallenden Gang zurück, öffnete weit hinten eine Tür und hieß die drei eintreten. Es war ein sehr großes Zimmer mit dunkeln Holzwänden, an denen uralte Lederstühle mit hohen Rücklehnen aufgestellt waren. In der Mitte des Zimmers stand ein ungeheurer viereckiger Tisch. Aber etwas war dem Vinzi gleich beim Eintritt in die Augen gefallen, das mußte er immer wieder abschauen. In der Ecke stand ein Kasten, ganz anzusehen wie das Klavier Alidas, nur ein wenig höher. Der Pater hatte sich vor die drei Jungen hingestellt, er fragte nach dem Begehren des Großvaters.

Vinzi fühlte, daß es nun an ihm sei, zu berichten. Er sagte, wenn es dem Pater recht sei, so wollten sie ihm gern das Lied singen, das er dem Großvater gegeben habe; er sei es, der sie geheißen habe, anzufragen.

»Gut, ich will gern zuhören«, sagte der Pater, und als er sah, daß Vinzi noch zögerte, setzte er hinzu: »Was fehlt denn noch, Junge?«

»Soll ich mitsingen oder soll ich spielen?« fragte Vinzi.

»Spielen, spielen, die Schalmei muß ich auch hören«, sagte Pater Silvanus mit freundlichem Lächeln.

Sogleich begann nun die Musik; denn Vinzi, der seiner zwei Sänger sicher war und dem auch die Freundlichkeit des Paters Mut gemacht hatte, spielte nicht die Melodie des Liedes, sondern eine kleine Begleitung zu dem Gesang, die er schon öfter für sich gespielt hatte.

Als das Lied zu Ende gesungen war, blickte der Pater Silvanus den Vinzi ganz liebevoll an, dann legte er ihm die Hand auf die Schulter, schaute ihm recht in die Augen und sagte: »Hör, mein Junge, ich möchte nun etwas wissen; aber sag mir recht, wie es ist. Hast du die Melodie, die ihr mir da gesungen habt, oder eine, die ihr ähnlich ist, schon singen gehört, vielleicht zu anderen Worten?«

»Nein, die gehört ganz allein zu diesem Lied. Ich habe sie erst gefunden, als ich das Lied vom Großvater bekommen hatte«, antwortete Vinzi harmlos, indem er mit seinen offenen, ehrlichen Augen zu dem Fragenden emporblickte.

»Ich möchte gern das Lied noch einmal hören«, sagte der Pater, »wollt ihr mir noch einmal alle Verse singen? Und auch die Schalmei soll mit ihrer Begleitung dabei sein.«

Sehr erfreut stimmten die drei gleich wieder an; denn daß sie nochmals singen sollten, war doch ein Zeichen, daß ihr Lied gefallen hatte.

»So«, sagte Pater Silvanus, als sie wieder zu Ende gekommen waren, »nun sollt ihr auch hören, wie mein Harmonium singt, ob es euch auch gefällt.«

Damit ging er dem Kasten in der Ecke zu, öffnete ihn und fing an zu spielen.

Vinzi lauschte mit angehaltenem Atem. Was waren das für wunderbar ergreifende Töne, sein ganzes Herz erzitterte in ihm!

Und nun, war es möglich? Es tönte ja so wundervoll, aber so bekannt; ja, es war seine eigene Melodie, und die Begleitung der Schalmei war auch dabei; aber wie klang das alles so groß und voll und wunderbar!

Vinzi stand mit funkelnden Augen in stummem Entzücken da, auch jetzt noch, als die Töne verklungen waren.

Der Pater Silvanus schaute ihn lächelnd an. »Nun, mein Junge, muß es so klingen? War's recht so?« fragte er freundlich.

»Oh, das war so schön, viel schöner als das unsrige!« sagte Vinzi, noch ganz erfüllt von den herrlichen Klängen.

»Es war dein Lied, mein Junge, ich habe wenig hinzugesetzt«, sagte der Pater mit Freundlichkeit. »Komm hierher, näher, hast du nie ein solches Instrument gehört?«

»Nein«, antwortete Vinzi, nachdem er herangekommen und nun dem Harmonium ganz nahe stand; »aber ein Klavier habe ich gehört.«

Der Pater fragte weiter, was er denn auf dem Klavier spielen gehört habe. Nun erzählte ihm Vinzi sein Erlebnis mit Alida und von dem kurzen Klavierunterricht, den er genossen hatte.

Der Pater lächelte teilnehmend, und nachdem er dem Vinzi einigemal über das schwarze Lockenhaar gestrichen hatte, fragte er wieder: »Nun, mein Junge, würde es dir Freude machen, auf meinem Instrument ein wenig musizieren zu lernen?«

Vor großer Freude wußte Vinzi gar nicht, ob er auch recht gehört hatte. Er blieb stumm und schaute nur mit brennenden Augen zu dem Pater empor.

»Nun, du meinst doch ja?« sagte dieser.

»Tausendmal ja«, stieß Vinzi endlich hervor.

»Gut! Frag den Vetter Lorenz, was er dazu sagt, und bring mir morgen früh Bescheid. Hat der Vetter nichts dagegen, so spielen wir gleich ein wenig und so jeden Morgen.«

Nun reichte Pater Silvanus den Buben seine Hand, einem nach dem andern, und sagte jedem noch ein freundliches Wort; dann öffnete er ihnen die Tür, und die drei traten hinaus und zogen fröhlich den Berg hinunter. Aber Vinzi lief wie im Traume neben seinen Kameraden her, die sich fortwährend lebhaft unterhielten. Er hörte nur immer die Worte des Paters Silvanus: »Würde es dir Freude machen, auf meinem Instrument ein wenig musizieren zu lernen?« Freude machen? Das war ein Glück, das er sich gar nicht denken konnte.

Vereli hatte sich verabschiedet und war nach dem Turm zurückgelaufen, Vinzi hatte es kaum bemerkt. Nun waren sie daheim. Jos erzählte seinen Eltern beim Abendessen alles, was sich ereignet hatte: wie freundlich der Pater Silvanus gewesen sei und was er mit dem Vinzi vorhatte, wenn der Vetter es erlaube.

»Natürlich«, sagte dieser sogleich, »das freut mich, wenn Vinzi etwas Schönes erlernen kann.«

So kam Vinzi am folgenden Morgen in der Frühe zum Pater Silvanus hinauf und teilte ihm mit freudestrahlendem Gesicht des Vetters Ausspruch mit.

»So wollen wir auch gleich beginnen«, sagte der Pater und ging mit Vinzi nach dem großen Zimmer zum Harmonium.

Das war nun eine andere Art von Unterricht, als derjenige der Alida gewesen war; aber dem Lehrer mußte die Zeit dabei so wenig lang werden wie dem Schüler; denn längst war eine Stunde und eine zweite vergangen, als der Schlag einer Glocke den Pater an die Zeit erinnerte. Schnell schloß er sein Instrument, gab Vinzi die Hand und sagte: »Morgen fahren wir fort, komm nur früh wie heute.«

Vinzi ging. Er war so erfüllt von seinem Glück, daß er gleich zum Großvater hinrennen mußte, um ihm alles zu erzählen, was so unerwartet gekommen war, daß er es noch kaum fassen konnte. Niemand hätte auch seine Freude so voll mit ihm teilen können, wie der Großvater tat; es war gerade so, als wäre sie ihm selbst widerfahren.

Vinzi mußte ihm auch noch genau berichten, was der Pater ihm nun schon erklärt und gezeigt hatte, und dann noch versprechen, ihm nach dem Unterricht öfters Bericht zu bringen, wie es damit weitergehe, und ihm dann auch wieder einmal ein Schalmeiliedchen blasen zu wollen. Jetzt wurde für Vinzi immer ein Tag schöner und herrlicher als der andere. Je weiter Pater Silvanus ihn in seine Kunst einführte, je glühender wurde Vinzis Verlangen, noch weiter zu kommen, immer weiter. Auch Pater Silvanus mußte Freude an der Tätigkeit haben. Er ließ seinen Schüler jeden Morgen kommen, und die Unterrichtszeit dehnte sich oft bis zu drei Stunden aus. Mußte der Pater dann Vinzi verlassen, so erlaubte er diesem, dazubleiben und nun für sich einzuüben, was der Lehrer mit ihm vorbereitet hatte. Da saß er dann noch manche Stunde. In dem stillen Hause wurde er durch keinen Ton aufgeschreckt oder an die Zeit erinnert, und daß diese verging, merkte er nicht. Aber wenn ein gewisser Sonnenstrahl schräg über das Harmonium schimmerte, dann erinnerte er sich, nun ging es gegen Abend, schloß schnell das Instrument und schlüpfte leise durch den langen Gang hinaus auf die Straße. Dann hatte er gerade noch Zeit zu einem Besuch beim Großvater, und nachher konnte er mit einem guten Lauf noch die Vettern mit ihren Kameraden erreichen, was immer mit Jubel gefeiert wurde. Diesem folgte dann gleich ein Chor ohrenzerreihender Töne aller Arten und Weisen; denn jeder Pfeifenbesitzer wollte noch schnell vor der Heimkehr Vinzi hören lassen, was er nun wieder erlernt hatte.

Vinzi mußte sich nur wundern, wie sehr die Zahl der Pfeifer während der Zeit zugenommen hatte, da er nicht auf der Weide erschienen war. »Vielleicht hatten die Buben herausgefunden, wie die Pfeifen geschnitzt werden mußten, um gut zu tönen, und verfertigten diese nun selbst«, dachte er, oder kamen sie noch anderswoher?

Sein Vertrag mit Rußli hatte immer fortbestanden. Jetzt war der Kleine wieder täglich am Morgen zum Auszug und am Abend bei der Rückkehr unzertrennlich an Vinzis Seite.

»Rußli, nun hast du genug Pfeifen«, sagte Vinzi, als er in diesen Tagen wieder mit dem kleinen Kameraden hinter den Kühen her nach Hause wanderte, nachdem er ihm eben wieder die täglich erwartete Pfeife abgeliefert hatte, »und du solltest nun auch in der langen Zeit, da du die Kühe nicht fitzen durftest, dich gewöhnt haben, es gar nicht mehr zu tun, auch ohne die Aussicht auf eine Pfeife.«

»Ja, das hab ich«, sagte Rußli ganz übereinstimmend, »und dann hab ich jetzt auch viel zu tun.«

Vinzi war sehr verwundert über Rußlis schnelle Zustimmung und auch über seinen Ausspruch; denn gerade, weil er nie etwas zu tun hatte, waren ihm ja seine Übeltaten eingefallen.

»Was hast du denn zu tun?« fragte Vinzi.

»Ich will dir's zeigen; aber sonst darf es niemand wissen«, antwortete Rußli geheimnisvoll.

Jetzt führte er Vinzi von der Straße ab, den alten Lärchenbäumen zu, wo er mit Vinzi in den ersten Tagen zusammengesessen und dieser die ersten Pfeifen geschnitten hatte.

»Rußli, sag mir jetzt noch etwas«, fing Vinzi wieder an, »hast du die vielen Pfeifen alle auf einen Haufen gelegt, oder hast du sie etwa den Hirtenbuben geschenkt, die keine hatten? Jetzt haben ja so viele von ihnen ganz gute Pfeifen, nicht wie sie sind, wenn sie selbst solche schneiden.«

»Ich habe keine von den schönen Pfeifen verschenkt«, antwertete Rußli mit dem Ton der Abwehr gegen solches Mißtrauen in seine vernünftige Handlungsweise. »Du kannst es dann sehen.«

Sie standen jetzt gerade an der Stelle, wo Vinzi auf dem erhöhten Moosboden neben den duftenden Alpenveilchen gesessen hatte. Hier bückte sich Rußli und hob mehrere Stücke moosbedeckter Erde, die ganz geschickt aneinandergeschlossen gelegen hatten, als wäre der Boden ganz unversehrt, in die Höhe und legte sie sorgfältig auf die Seite. Dann scharrte er mit beiden Händen die lockere Erde weg, die darunterlag, bis er ein ganz geräumiges Loch freigelegt hatte. Dem entnahm er ein mehrfach gefaltetes Papier, das war die Schutzdecke; nun konnte Vinzi hineinschauen, Rußli lud ihn dazu ein und machte ihm Platz. Zu seiner Verwunderung erblickte Vinzi eine Sammlung der mannigfaltigsten Gegenstände in dem Loch. Da lag ein Haufen von Nüssen und getrockneten Pflaumen, Zündholzbüchsen, farbige Lehmkügelchen, alte Messer und Tabaksdosen, eine kleine Spritze, ein lederner Geldbeutel und eine messingene Uhrkette.

»Rußli, was ist das, wem gehören alle diese Sachen?« fragte Vinzi im höchsten Erstaunen.

»Alles mir, jedes Stück von den Buben gegen eine Pfeife eingetauscht, siehst du jetzt?« fragte Rußli, ganz stolz auf sein Warenlager blickend.

»Aber was willst du denn mit all dem machen?« fragte Vinzi immer noch in Verwunderung.

»Alles behalten und dann einmal wieder austauschen und dann etwas Besseres gewinnen wie diesmal. Weißt du, die Pfeifen sind nur Rutenholz«, sagte Rußli vertraulich.

Vinzi lachte.

»Du mußt Handelsmann werden, Rußli, das verstehst du. Aber jetzt hast du ja nichts mehr zu tun, da der Pfeifenhandel zu Ende ist.«

»Ja, freilich, alle Tage habe ich noch gleichviel zu tun«, sagte Rußli wichtig. »Alle Morgen muß ich die Sohle aufdecken und die Erde wegscharren und alles zählen, ob man mir nichts gestohlen hat in der Nacht, und dann wieder zusammenpacken und zudecken und das Moos wieder festmachen, daß man nichts sehen kann. Und am Nachmittag muß ich hier in der Nähe sitzen und achtgeben, daß keiner die Höhle entdeckt und anfängt, sie aufzuscharren, und alles findet.«

Vinzi begriff die ausdauernden Bemühungen des Schatzhüters nicht, denn Rußlis Handelsgeist ging ihm ab; aber er war sehr befriedigt, daß die neue Tätigkeit den kleinen Kerl nun ganz in Anspruch nahm. So ließ er doch nun die Kühe in Ruhe, auch ohne Aussicht auf Pfeifen.

Der Monat August war zu Ende gegangen. Schon strichen die ersten Herbstnebel um die Berge. Mehrmals war in den letzten Wochen Bericht von Leuk heraufgekommen, es wäre doch nun bald Zeit, daß Vinzi wieder heimkehre; man habe nun die Freundlichkeit der Verwandten lange genug in Anspruch genommen. Der Vetter möchte nur so gut sein und eine gute Gelegenheit benutzen, um den Buben in Gesellschaft heimzuschicken. Jedesmal war die Antwort nach Leuk gekommen, der Sommer sei noch lange nicht zu Ende, den Vinzi wolle niemand fortlassen, und er sei so wohl und munter, daß die Eltern den Aufenthalt auf dem Berge nur weiter andauern lassen sollten. Eben trat der Vetter Lorenz, wie immer um diese Zeit, in die Stube ein, wo seine Frau die Vorbereitungen zum Abendessen in gewohnter Ruhe vollzog. Er setzte sich auf einen Stuhl hin; denn bis die Buben mit dem Vieh heimkehrten, konnte keine besondere Arbeit mehr vorgenommen werden. Nachdenklich saß er eine Weile da, dann sagte er: »Hast du nicht auch gemerkt, Frau, wie sich Vinzi in der letzten Zeit verändert hat?«

»Wieso?« fragte die Frau.

»Er ist mit einem Ruck wie um ein ganzes Jahr älter geworden, oder um zwei«, sagte Lorenz; »das ist gekommen, seit er so jeden Tag die meiste Zeit droben beim Pater Silvanus zubringt. Ich merke es in allem, wie er seine Schalmei spielt, und wie er singt, und wie er redet. Es ist gerade so, als hätte man den Buben von der Schattenseite in die Sonnenseite gepflanzt, daß alles, was in ihm war, auf einmal in Blust (Blüte) aufspringt.«

»Ich weiß nicht so recht, was du sagst«, entgegnete die Frau; »aber das hab ich immer gesagt: der Vinzi sieht gerade so frisch und sauber aus wie ein junges Apfelbäumchen im Blust. Und das sag ich: wenn Vinzi ein Bettelbub wäre, so würde ich ihn an Kindesstatt annehmen und hätte ihn gerade so lieb wie die drei andern, das kann ich dir sagen, und dabei bleib ich.«

»Ja, das kannst du wohl«, sagte der Mann mit Lächeln; »aber weißt du, wenn der Bub ein Hergelaufener wäre und hätte keine solche Mutter gehabt, so wäre er wohl auch nicht derselbe. Der gehört eben in eine geordnete Haushaltung und kommt von Eltern, die sich um ihre Kinder kümmern, darum ist er so, wie er ist.«

Jetzt hörte man schwere Tritte der Türe nahen; aber das war nicht das Getrappel der Buben, das immer von lautem Jodeln begleitet war.

»Wer ist denn da draußen?« sagte Lorenz und ging, die Türe zu öffnen.

Ein kräftiger Mann, den er als Fruchthändler aus Leuk erkannte, stand draußen, der gleich Lorenz seine Hand entgegenstreckte.

»Hab Euch lange nicht gesehen, Lesa, wie steht's bei Euch? Ich komme zu Euch im Auftrag von Eurem Vetter drunten, er läßt Euch grüßen«, berichtete der Mann, dem Lorenz kräftig die Hand schüttelnd.

Dieser war ein wenig erschrocken. Er hatte sich gleich gesagt, der alte Bekannte von Leuk kehre um Vinzis willen bei ihm ein; sonst tat er es nicht, und fuhr doch nicht selten über den Berg. Er lud den Mann ein, hereinzutreten und sich's bequem zu machen, dann könnten sie ja miteinander sprechen.

Das sei ihm ganz unmöglich, entgegnete dieser; drüben auf der Straße stehe sein Fuhrwerk, und die Rosse seien nicht von den zahmsten; er habe seinen Auftrag so schnell als möglich zu erledigen. Der Vetter lasse ihm sagen, einen Brief wolle er ihm dann schon noch schreiben, jetzt sei es mit dem Entschluß zu schnell gegangen; denn daß ein Fuhrwerk nach dem Berg fahre, habe Vinzenz Lesa erst gestern gehört und nur noch Zeit gehabt, zu berichten, er möchte gern die gute Gelegenheit benutzen und seinen Buben damit herunterkommen lassen, die Zeit zur Heimkehr sei nun da. Der Fruchthändler setzte noch hinzu, er werde seine Geschäfte abtun und in zwei Tagen zurückkehren und dann den Buben mitnehmen.

Lorenz konnte gar nichts sagen, so nah ging ihm der Gedanke, daß Vinzi schon in zwei Tagen fort mußte; denn da war nun nichts mehr zu machen, das sah er wohl ein.

»Also, Lesa, am Donnerstag morgens um acht Uhr kann ich da sein«, setzte der Mann hinzu, einen fragenden Blick auf den schweigenden Lorenz richtend, »Ihr habt mich doch verstanden?«

»Ja, ja, nur zu gut«, antwortete dieser jetzt, »der Bub soll bereit sein. Ihr müßt nicht auf ihn warten, zählt darauf.«

Dann begleitete er den Mann nach der Straße hinüber, wo sein Fuhrwerk stand, ein großer Frachtwagen, hoch mit Säcken beladen und mit vier kräftigen Rossen bespannt. Eben als der große Wagen mit lautem Schellengeklingel davonfuhr, kam von oben herab mit Singen und Jauchzen die Bubenschar mit ihrer Herde.

Er ging seinen Buben einige Schritte entgegen, aber mit so schwerem Herzen, wie er selten hatte. Sollte er den fröhlichen Buben die Nachricht mitteilen, die er eben erhalten hatte? Da wäre es aus mit aller Fröhlichkeit, das wußte er.

Der Vetter Lorenz hatte ein weiches Gemüt. Er war nicht imstande dazu. Er begrüßte seine Buben heiter, wie sie ihn begrüßten, und alles ging seinen gewohnten Gang.

Nach dem Essen wurden die fröhlichen Lieder angestimmt eins nach dem anderen, wie es nun seit vielen Wochen im Haus der Brauch war. Alle sangen drauf los wie die Finken im Frühling. Nur allein der Vater konnte nicht mit voller Stimme singen wie sonst immer, ihm saß es im Hals wie ein schwerer Stein.

Immer mußte er denken: du mußt es heut noch sagen, die Zeit ist zu kurz, um zu warten. Als man so weit war, daß die Mutter, wie jeden Abend um diese Zeit, sagte: »Nun werden wir wohl aufhören müssen, es hat neun geschlagen«, da machte der Vater rasch mit wenigen Worten, aber ganz deutlich und verständlich seine Mitteilung. Vor Überraschung und Schrecken saßen alle so still und regungslos da wie die Weidenbüsche vor dem Gewitter. Die Mutter fand zuerst das Wort wieder.

»Du wirst doch dem gesagt haben, davon sei keine Rede, daß man den Buben nur so von einem Tag auf den anderen hergebe«, sagte sie mit einer Lebhaftigkeit, die ihren gewohnten Reden nicht eigen war, »es nimmt mich wunder, was der meint, nur so zu kommen und einem einen Buben wegreißen zu wollen, wie man ein Stecklein vom Hag reißt, als wär das gar nichts. Dem wirst du's doch gesagt haben?«

»Der Mann ist nicht gerade gekommen, um uns etwas zuleid zu tun«, sagte Lorenz gelassen, »du mußt nur nicht vergessen, daß Vinzis Eltern ihren Buben heimkommen lassen dürfen, wann sie wollen; er geht sie doch auch etwas an. Daß die Gelegenheit eine gute ist, kann man ja nicht leugnen.«

Jetzt hatten auch die Buben den Ausdruck ihrer Empfindungen wiedergefunden. Sie erhoben einen so ungeheuerlichen Lärm von Klagen und Jammer und Einwendungen, daß der Vater fand, das beste sei, man gehe jetzt zu Bett, über Nacht kommen einem manchmal die guten Gedanken. Dies Wort wirkte. Jeder der Buben dachte gleich, ihm komme gewiß über Nacht etwas Gutes in den Sinn, was diese Abreise verhindern könne, und die Mutter hoffte auf den Vater, daß ihm noch ein Hindernis für die Reise einfallen werde; ihm kamen die besten Gedanken ja immer über Nacht. Er selbst meinte freilich mit seinem Wort, über Nacht sollten die guten Gedanken kommen, daß man einsehe, das beste sei, sich in das zu schicken, was einmal nicht zu ändern sei.

Als Vinzi, der die ganze Zeit völlig still geblieben war, jetzt auf seiner Schwelle saß und zu den Sternen aufschaute, waren widerstreitende Empfindungen in seinem Innern lebendig. Er freute sich wohl, die Mutter wiederzusehen und Stefeli und auch den Vater, vielleicht war dieser nun auch wieder freundlich zu ihm, wie in den alten Zeiten, deren sich Vinzi wohl erinnerte, wenn der Vater ihn auf seinen Knien reiten ließ und dann sagte: »Nur zu, Vinzi, wenn du recht reiten kannst, mußt du auch ein Pferd haben.«

Vinzi wußte gar nicht mehr recht, von welcher Zeit an der Vater nicht mehr so freundlich zu ihm war wie zuvor; er wußte auch nicht recht, warum sich das so geändert hatte. Und auf der anderen Seite war das Bewußtsein, nun ist alles aus, das ganze herrliche Bergleben mit den guten Menschen allen, und die Musik! Ja, die ganze Musik. Mit wem sollte er daheim noch Musik treiben können? Da war niemand. Sollte das nun ganz aus sein für ihn, für immerdar? Es schnürte ihm das Herz zusammen, das zu denken; dann kam ihm wieder die Freude obenauf, daheim anzukommen, wieder bei denen zu sein, die ihm doch die liebsten waren.

Und wenn es daheim aus war mit aller Musik, so blieb doch immer der gute Pater Silvanus, und hier herauf, sagte sich Vinzi zum Trost, durfte er doch gewiß wieder kommen. Das war noch beim Einschlafen sein letzter tröstender Gedanke.

Am Morgen war keine Zeit zu Reden und Erörterungen, da mußte so früh als möglich ausgezogen werden. Schon wanderten Jos und Faz hinter den Kühen her, und Vinzi wollte mit Rußli folgen. Da zog Vetter Lorenz Vinzi auf die Seite und sagte halblaut: »Es muß sein, Vinzi, und für dich ist es ja auch eine Freude, heimzukehren. Ich wollte dir's nur noch sagen, damit du auch Abschied nehmen kannst vom Pater Silvanus und vom Großvater, morgen könntest du nicht mehr hinauf, um acht Uhr kommt er mit dem Wagen.«

Jetzt wußte er ganz bestimmt, daß es sein mußte. Vinzi ging ganz still davon. Das gefiel dem Rußli nicht.

»Du mußt auch etwas reden«, sagte er ein wenig ärgerlich, nachdem sie eine kleine Strecke zurückgelegt hatten.

»Ich kann heute nicht gut reden, siehst du, es würgt mich im Hals«, entgegnete Vinzi; »aber sei jetzt nur zufrieden, wenn ich dann daheim bin, schicke ich dir etwas Schönes in deinen Kramladen, etwas, das dich freut.«

»Du mußt gar nicht heimgehen«, sagte Rußli voller Zuversicht, »der Faz hat etwas gefunden, daß du nicht fortkommst, er hat es am Brunnen dem Jos erzählt. Am Morgen geht er auf die Straße und paßt dem Wagen auf, und sobald er hält, klettert er geschwind hinauf zum Sitz und sagt, er sei der Bub von Leuk, der Mann soll nur zufahren. Und wenn sie dann ein Stück auf der anderen Seite vom Berg sind, dann sagt er, er sei nicht der Rechte und springt geschwind vom Wagen herunter und läuft zurück. Siehst du jetzt! und der andre kann nichts mehr machen, es ist ihm zu weit, wieder umzukehren.«

Vinzi war nicht überzeugt, daß seine Reise nun nicht stattfinden könne; aber er war ganz gerührt, daß sogar der Faz sich soviel Mühe gab, um ihn dazubehalten, mit ihm hatte er ja gerade am allerwenigsten zu tun gehabt.

»Was wirst du mir in den Kramladen schicken?« forschte Rußli nach einer Weile weiter.

»Das will ich dir nicht sagen«, entgegnete Vinzi, »es muß eine Überraschung für dich sein, dann freut es dich mehr.«

»Ist es etwas zu essen?« fragte Rußli doch noch.

»Nein, und auch nicht zum trinken, da kannst du sicher sein«, sagte Vinzi; »aber weiter sag ich dir nichts mehr, sonst gibt es keine Überraschung, und das muß sein.«

Beim Weideplatz trennte sich Vinzi von Rußli und ging, wie jeden Morgen, dem Hospiz zu. Er hatte die Weisung, gleich nach der großen Stube zu gehen und dort auf den Pater Silvanus zu warten, was immer nur kurze Zeit dauerte. Aber nicht wie sonst jeden Morgen stand Vinzi mit leuchtenden Augen voll freudiger Erwartung vor dem Harmonium, als der Pater eintrat. Ganz niedergeschlagen kam ihm sein Schüler entgegen, und als er nun einen fragenden Blick auf diesen richtete, teilte ihm Vinzi mit, daß er heute zum letzten Male komme; denn morgen müsse er heimreisen.

»Oh, wie schade, recht schade!« sagte langsam Pater Silvanus; »aber du kannst wohl daheim deine Musik auch ein wenig fortsetzen, nicht?«

Vinzi kämpfte nieder, soviel er konnte, was bei dieser Frage in ihm aufstieg, und wenn er auch den Pater nicht anschauen wollte, sah dieser doch, daß er die Augen voll Tränen hatte, als er antwortete: »Nein, das glaub ich nicht.«

»Nur Mut, mein Junge«, sagte Pater Silvanus, ihm nach seiner Weise mit großer Freundlichkeit auf die Schulter klopfend, »nur Mut! Heimzukehren ist immer eine schöne Sache, und wenn der liebe Gott sieht, daß die Musik für dich gut ist, so ist es ihm ein leichtes, jemand auf deinen Weg zu bringen, der dir weiter hilft. Zu uns herauf wirst du auch wieder kommen, und wir fahren immer wieder fort miteinander.«

Nun faßte Pater Silvanus Vinzi ganz väterlich bei der Hand und geleitete ihn hinaus, unter der Tür gab er dem Jungen seinen Segen, sagte ein herzliches: »Gott behüte dich!« und entließ Vinzi.

Dieser hatte kaum seinen Dank stammeln können, so hatte er mit seinen Tränen zu kämpfen. Er war dem guten Pater so dankbar, daß er den Abschied so kurz gemacht hatte, länger hätte er sich kaum halten können. Pater Silvanus mochte das auch wohl empfunden haben.

Vinzi ging nach der Stelle, wo die dunkeln Rosen geblüht hatten. Die Sträucher waren noch frisch, von den Röschen nur da und dort noch eines zu sehen.

Er schaute noch einmal um und um. Die Sonne hatte die Nebel zerteilt, alles begann zu leuchten, die Schneegipfel, die Bergwasser, die Felsenwände, und über allem der dunkelblaue Himmel. Nun hatte er alles noch einmal gesehen.

Jetzt lief Vinzi dem Turm zu. Der Großvater war mit der Sonne herausgekommen, er saß an seinem Platz.

»Du kommst früh heut, das ist recht«, rief er dem Herankommenden entgegen. »Wo fehlt's? Wo fehlt's?« setzte er hinzu, nun Vinzi vor ihm stand. »Das ist freilich nicht, was uns freut«, sagte er, als Vinzi ihm berichtet hatte, was ihn so früh herbringe. »Aber wir wollen nun doch dankbar sein, daß du so lange bei uns bleiben konntest. Meine Hoffnung war, solange du da warst, daß du kämest und sängest mir mein Lied auf den Weg, wenn ich gehen müßte. Aber vielleicht bleibe ich ja noch hier unten bis zum nächsten Sommer, dann kommst du wieder zu uns. Daraufhin wollen wir scheiden.« Nun drückte der Großvater dem Vinzi ganz herzlich die Hand und sagte, der Vetter werde ihn nun wohl erwarten, da es der letzte Tag sei, darum wolle er ihn nicht zurückhalten.

Jetzt eilte Vinzi stracks nach Hause. Der Großvater konnte ja recht haben, daß der Vetter Lorenz ihn erwartete. Die Base Josepha war unterdessen durch ihren Mann zu der Überzeugung gelangt, daß die Abreise nun sein müsse, und war nun sehr erfreut, Vinzi jetzt schon heimkommen zu sehen. So konnte man nun doch ein Wort in Ruhe mit ihm sprechen, das war für sie durchaus ein Bedürfnis, um ihre gewohnte, ruhige Stimmung wiederzuerlangen; denn durch diese überstürzte Abreise war sie sehr gestört worden.

So saß nun Base Josepha mit Vinzi wieder ganz so zusammen wie am Tage seiner Ankunft, und ihre gelassene Stimmung wurde wieder völlig hergestellt, als ihr Vinzi versicherte, er habe gar keinen höheren Wunsch, als wieder auf den Berg zurückzukommen, in ihrer Haushaltung zu wohnen und wieder seine schöne Schlafstätte zu beziehen.

Als am Abend die Familie zusammensaß, da sagte Vetter Lorenz: »Singen ist das beste Mittel, die schweren Gedanken zu vertreiben.«

Er stimmte gleich an, und es wurde fortgesungen, bis der Abend zu Ende war.

Am anderen Morgen ging es nicht so, wie Faz beschlossen hatte. Eben als die jungen Vettern zum Ausgang fertig waren und Abschied nehmen mußten, erscholl von der Straße her so anhaltendes und bedeutungsvolles Peitschenknallen, daß der Vetter Lorenz gleich ahnte, es möchte der Fruchthändler sein, wenn er auch früher kam, als er angesagt hatte. Der konnte wohl seine Pferde nicht verlassen und wollte sich melden. Ein Blick von der Stelle aus, wo man wenige Schritte vom Haus weg auf die Straße sehen konnte, bestätigte seine Vermutung.

So zog nun die ganze Familie und hinterdrein noch alle Bewohner des Stalles nach der Straße hinüber, so daß der Fuhrmann ganz verwundert die große Begleitung betrachtete.

Jetzt kletterte Vinzi auf seinen hohen Sitz und grüßte noch einmal mit Herzlichkeit Vetter und Base und die jungen Vettern, jeden besonders, dann zogen die Pferde an. Mit rechtem Leid im Herzen schauten alle fünfe dem scheidenden Vinzi nach, nur bei Rußli war es ziemlich gemildert durch den Gedanken an die Überraschung, die er in Aussicht hatte.

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Als der Wagen die Stelle erreichte, wo der Turm aus dem Wiesengrund emporschaute, war plötzlich der ganze Straßenrand von einer Schar lärmender Buben besetzt, und immer noch mehr von ihnen kletterten herauf, und jetzt erscholl ein weithin donnernder Hurraruf und: »Wiederkommen!« noch einmal und noch einmal so schmetternd, daß sich alle vier Pferde bäumten. Das war der Abschiedsgruß der Türmler, von Vereli erfunden und mit seiner Stimme am allereifrigsten durchgeführt.

Unten auf der Bank saß der Großvater und schwenkte seinen Hut hoch in die Luft, und Vinzi antwortete mit seiner Mütze.

Oben beim Hospiz öffnete sich ein Fenster, und eine Hand winkte Vinzi freundlichen Abschied nach. Das war die Hand des Pater Silvanus.

Noch eine Strecke weit über die Berghöhe, an wilden Bergbuchen und alten verwitterten Tannen vorüber, dann ging es in rascher Fahrt hinunter dem Tale zu.

 


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