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In der Verbannung

Vinzi hatte den ersten Teil seiner Reise mit dem Begleiter fast wortlos zurückgelegt. Der Gedanke, daß er nun eine lange Zeit fern von der Heimat unter ganz fremden Leuten zubringen sollte, lag so schwer auf ihm, daß er nicht sprechen, auch nichts in sich aufnehmen konnte, was um ihn her vorging. In Berisal angekommen, brachte ihn der Begleiter zu dem Bekannten des Vaters, der ein Gasthaus besaß. Nachdem dieser ihn genugsam über seine Reise ausgefragt hatte, fand er, das beste sei, Vinzi nehme nun sein Nachtessen ein und suche nachher gleich sein Lager auf, er werde wohl von seinem Tagesmarsch müde sein. So war es, und Vinzi schlief sogleich fest ein und ungestört weiter, bis er von einem festen Arm geschüttelt wurde. Es war der Begleiter, der ihn holen wollte; denn es war heller Morgen. Nun mußte es rasch gehen; aber darauf verstand sich Vinzi. Wenn es am Morgen auf die Weide ging und Stefeli schon fix und fertig vor seinem Bette stand, da hatte er's auch eilig, fertig zu werden. Ja, wenn jetzt Stefeli dastünde und ihn zur Weide holte und nun käme noch die Mutter herein, wie sie manchmal tat und redete freundliche Worte zu ihm! Vinzi mußte hinunterwürgen, was ihm den Hals hinaufsteigen wollte. Jetzt durfte er nicht nachgeben. Er drückte seine Tränen mit allen Kräften nieder. Bald stand er reisefertig in der Gaststube vor seinem Begleiter. Seine Tasse Kaffee hatte er schnell bewältigt, nun ging es wieder rüstig den Berg hinan. Schweigend gingen die zwei wieder manche Stunde lang nebeneinander. Dem Vinzi wurde es immer banger zumute, nun kam er immer näher.

»Siehst du dort, Bub«, sagte plötzlich der Begleiter, in seinem Pfeifen innehaltend, »siehst du das graue steinerne Haus dort oben?«

Vinzi sah es wohl. Vor Schrecken konnte er fast kein Wort hervorbringen. Er dachte, das finstere graue Haus, das ganz einsam am öden steinbesäten Abhang stand, sei des Vetters Haus.

»Ja, ich seh's«, sagte er endlich halblaut.

»Dort halten wir an und nehmen etwas zu uns«, sagte der Bursche, »dann kommt die letzte Steigung, und nachher geht's bergab, dann gehst du nicht mehr weit; aber ich muß noch weit ins Tal hinab, darum können wir nicht lange sitzen bleiben, nur daß du's weißt.«

Es war dem Vinzi ganz einerlei, ob kurz oder lang gerastet werden sollte. Auch zum Essen verspürte er wenig Lust und dachte nur noch an seine Ankunft in dem fremden Hause, das vielleicht so düster aussah wie dieses graue Steinhaus, und an die fremden Menschen darin, und seine innere Aufregung nahm immer mehr zu. Der kurze Aufenthalt über Mittag wurde ausgeführt und dann die Reise schweigend wieder fortgesetzt. Nun war die Höhe erreicht. Schon fing die Straße an, sich abwärts zu neigen.

»Was kommt dort?« fragte Vinzi, scheu nach dem großen Gebäude blickend, das sich jetzt zur Linken der Straße zeigte und aussah, als müßte es eine Menge von Menschen beherbergen, und doch herrschte lautlose Stille ringsum, kein lebender Mensch war zu sehen.

»Das ist nichts Böses, du brauchst nicht so scheu hinzusehen«, sagte der Bursche, »im Gegenteil, es ist etwas Gutes. Dort wohnen die Mönche, die nehmen einen auf, wenn man im Winter über den Berg kommt und halb erfroren ist. Dann gibt's drinnen ein warmes Feuer und einen warmen Schluck, daß man wieder zu Kräften kommt.«

»Was ist denn hier?« fragte Vinzi nach kurzer Zeit wieder, indem er auf die Bergmulde zur Rechten der Straße zeigte, aus der ein uralter Turm aus tiefster Einsamkeit emporragte.

»Du meinst gewiß, du müßtest dort hinein, daß du solche Augen machst«, sagte der Bursche lachend, »ich möchte auch nicht in das alte Gemäuer hinein, und ringsherum ist's auch so still wie am Ende der Welt. Aber alt werden sie hier. Vor zehn Jahren hab ich dort beim Turm einen sitzen gesehen mit Haar und Bart so weiß wie der Schnee dort am Fletschhorn, und vor einem Jahre saß er noch dort. Wahrhaftig, dort seh ich ihn wieder! Jetzt frisch drauf los, Bub, du hast nicht mehr weit.«

So ganz nah war das Ende doch nicht. Wohl eine halbe Stunde war wieder in gutem Schritt zurückgelegt, da zeigte der Bursche die Straße hinab und sagte: »Jetzt kannst du etwas Weißes sehen dort unten, das ist ein Kirchlein und ein paar Häuser daneben, dort heißt's ›bei der Kapelle‹, das Dorf kommt erst weiter unten, aber dein Vetter wohnt bei der Kapelle, das Haus zeig ich dir noch und geh dann weiter; deinen Weg kannst du nicht verfehlen, denk ich.«

Vinzi schaute einen Augenblick hin, dann lief er darauf zu, ohne sich noch einmal umzusehen. Nun waren sie bei der Kapelle angekommen; sie stand unweit der Straße auf einer kleinen Anhöhe. Der Begleiter stand still.

»So, da sind wir«, sagte er. »Nun geh da rechts und dann an der Kapelle vorbei bis zum letzten Haus; es sind nur wenige, der Heuschober steht daneben. Dort wohnt der Lorenz Lesa. Leb wohl, mit Glück!«

Vinzi gab ihm die Hand und sagte mit gesenktem Kopf: »Lebt wohl, und ich danke.«

Jetzt wandte sich der Bursche ab und zog pfeifend seine Straße weiter. Vinzi schaute ihm nach, als verschwinde mit dem Burschen noch das letzte, was mit der Heimat zusammenhing, und nun lag lauter Unbekanntes vor ihm. Jetzt mußte es aber sein. Er ging an der Kapelle vorüber dem Hause zu, das nicht weit dahinter in der Matte stand. Das kleine steinerne Gebäude unweit davon mußte der Stall sein. Auf der anderen Seite des Hauses stand die braune Holzhütte mit Schindeln und Steinen bedeckt, die der Heuschober hieß; denn da drinnen wurde der Heuvorrat aufbewahrt. Die kleine Tür an der Hütte stand weit offen und, da ums Haus herum alles still und die Türe geschlossen war, ging Vinzi auf den Heuschober zu. Daß man an die kleine offene Tür weder zu ebener Erde noch über ein Treppchen gelangte, hatte für Vinzi nichts Erstaunliches, er kannte diese Einrichtung. Das Hüttchen stand nicht auf dem Erdboden, sondern auf vier festen Pflöcken, damit der Heuboden immer schön trocken und luftig bleibe. Nun gab es einige Kniffe, die Vinzi wohl kannte, um auf den ersten Balken und dann auf den zweiten zu klettern, auf denen das Häuschen stand, dann war man unter der offenen Türe angelangt, die so niedrig war, daß ein Erwachsener sich recht bücken mußte, um hineinzukommen. Vinzi stieg ganz behende hinauf und sah, daß ein fester hochgewachsener Mann drinnen das Heu ordnete.

»Guten Abend«, rief er in den Raum hinein, »gehört der Heuschober dem Lorenz Lesa?«

»Dem gehört er, was willst du von ihm?« rief der Mann zurück.

»Er ist unser Vetter, ich gehöre dem Vinzenz Lesa in Leuk, und der Vater hat mir einen Gruß aufgetragen an den Vetter, der wisse dann schon, wie es sei, daß ich hier heraufkomme«, teilte Vinzi vertrauungsvoll mit; denn er hoffte, der Mann sei der Vetter selbst, und der sah so vertrauenerweckend aus.

Der Mann hatte seine große hölzerne Heugabel ins Heu gesteckt und war herangetreten, um den Buben recht zu verstehen.

Nun bot er ihm die Hand und schaute ihm fest in die Augen, dann sagte er freundlich: »So, so, du wärst also der Vinzi. Das ist recht, daß du zu deinen Verwandten heraufkommst; bist du ganz allein hergewandert?«

Dem Vinzi war bei der freundlichen Stimme und den guten Augen, die auf ihm ruhten, das Herz aufgegangen. Er schaute nicht mehr in den Boden hinein, er hob den Kopf wieder in die Höhe und erzählte, wie er gereist sei und wie er nun froh sei, daß er den Vetter gleich gefunden habe; er habe sich ein wenig gefürchtet, weil er keinen Menschen hier gekannt habe.

»Da ist nichts zu fürchten«, sagte der Vetter gutmütig, »die Buben sind nicht die zahmsten; aber mit denen wirst du schon fertig werden. Durst und Hunger wirst du nun wohl haben«, fuhr er dann fort, »wir wollen jetzt miteinander zur Base Mit der Base ist hier die Frau des Vetters gemeint. Die Verwandtschaftsbezeichnungen beziehen sich immer auf den Vater Vinzis. hinübergehen, die wird für etwas sorgen.«

Vinzi war mit einem Sprung wieder auf dem Boden, der Vetter kam nach. Drüben öffnete sich eben die Haustür, und eine Frau trat auf die Schwelle und schaute geruhlich um sich, sie sah ganz behäbig aus.

»Man muß den Rauch ein wenig durch die Türe hinauslassen«, bemerkte sie zu ihrem Mann, der mit Vinzi herankam. Den Buben betrachtete sie ruhig.

»Da bring ich dir den jungen Vetter von Leuk«, sagte der Mann; »er fürchtet sich aber vor uns, so mußt du schon versuchen, daß das nicht noch ärger kommt.« Der Mann kicherte ein wenig bei dieser Bemerkung.

»Ich erschrecke keine Kinder«, sagte die Frau gelassen; dann gab sie Vinzi die Hand. »Sei willkommen bei uns, junger Vetter«, und nun betrachtete sie ihn so eingehend von oben bis unten, daß der Mann endlich sagte: »Ich meine, wenn du das Weitere drinnen in der Stube besichtigen wolltest, so wäre es ebensogut; der Bub hat noch immer das Ränzlein auf dem Rücken, und wenn er bald etwas zu essen bekommen könnte, so wäre er gewiß auch nicht bös darüber; er hat einen guten Marsch hinter sich.«

»Das kann er«, sagte die Frau, »das Abendessen ist gleich fertig, der Rauch hat mich nur vom Herd weggetrieben. Nun stell ich alles auf den Tisch; auf die Buben braucht man nicht zu warten, die kommen schon noch.«

Jetzt wandte sie sich und machte Platz, daß ihr Mann mit Vinzi eintreten und drinnen in der Stube nun auch das Ränzlein abgelegt werden konnte. Bald nachher saß Vinzi ganz behaglich mit dem Vetter und der Base am Tisch, und nun alle Furcht vor den unbekannten Verwandten von ihm gewichen war, stieg ein ungeheurer Hunger in ihm auf. Er hatte ja auch heute trotz der langen Reise noch fast nichts gegessen. Der Vetter mußte eine Ahnung davon haben; denn lange, eh der Teller leer war, hatte er ihn schon wieder hoch aufgefüllt, und die dampfenden Kartoffeln und der schöne gelbe Käse schmeckten so vortrefflich zusammen, daß Vinzi meinte, etwas so Gutes habe er noch gar nie gegessen.

Dann und wann mahnte die Base: »Schenk dem Buben auch Milch ein; man muß bedenken, wie ausgetrocknet er sein muß von dem Wind und dem Staub auf dem langen Weg.«

Mit Vergnügen trank Vinzi dann auch eine Tasse nach der anderen von der frischen Milch. Plötzlich ertönte ein Rufen und Lärmen, ein Jauchzen und Peitschenknallen, daß Vinzi ganz verwundert durchs Fenster schaute; es war aber nichts zu sehen.

»Es sind die Buben«, sagte der Vetter, »sie sind heimgekommen mit dem Vieh. Ich muß schnell hinaus und ihnen helfen; die Kühe können sie noch nicht allein besorgen, das wirst du wohl auch nicht getan haben. Aber vielleicht willst du gern mit hinaus und das Vieh und den Stall ansehen.«

»Laß ihm doch jetzt seine Ruhe«, sagte die Base, »warum sollte er auch jetzt schon herumstürmen? Morgen kann er mit den Buben den Tag anfangen.«

»Ich frage ihn nur, weil Buben immer gern dabei sind, wo etwas los ist«, meinte der Vetter, »er soll aber seine Freiheit haben. Sag du's ohne Zwang: willst du lieber zu den lärmenden Buben hinaus, oder willst du hier sitzen bleiben?«

»Ich will gern hier bleiben«, antwortete Vinzi.

»Gut so«, sagte der Vetter und ging hinaus.

Der Base gefiel es, daß Vinzi ruhig sitzen bleiben konnte und nicht gleich herumstürmen wollte. Erst mußte er noch eine Tasse Milch trinken; denn sie meinte, der Staub habe sich immer noch nicht recht gelegt; dann legte sie die Arme übereinander und setzte sich so recht fest auf ihrem Stuhl zurecht.

»So, jetzt erzähl mir etwas von deinen Leuten und wie es daheim zugeht, ich höre gern so etwas erzählen.«

Diese Aufforderung war dem Vinzi sehr lieb. Er dachte doch im stillen immer daran, was jetzt wohl die Mutter tue und ob Stefeli ganz allein auf der Weide gewesen sei, und wie nun daheim alles weitergehe. So erzählte er der Base ganz beredt vom ganzen Haushalt und von allem, wie es bei ihm daheim zugehe, und besonders von der Mutter und vom Stefeli, wie sie ihre Tage zubrächten.

Jetzt näherte sich ein lautes Getrappel der Türe. Diese wurde aufgerissen, und herein kam ein Junge gerannt, der gerade in Vinzis Alter sein mochte. Eilig folgte ein kleiner Kerl hinter ihm und nachher wieder ein größerer, der offenbar nicht der letzte sein wollte. Schnell tat er einen hohen Sprung und wollte sich, auf die Achseln des Kleinen gestützt, über dessen Kopf wegschwingen. Blitzschnell bückte der schlaue Kleine sich tief nieder, und kopfüber stürzte der große mit fürchterlichem Gepolter auf den Boden hin.

»Mußt auch nicht so unmanierlich hereinkommen, Faz«, sagte die Mutter gelassen.

»Guten Abend, Vetter«, rief der Älteste und streckte Vinzi die Hand entgegen.

»Guten Abend, Vetter«, rief schon der zweite, und »Guten Abend, Vetter«, rief nun laut auch der Kleine, sich an Vinzi herandrängend.

Vinzi schüttelte wacker alle die ausgestreckten Hände und erwiderte freundlich die Begrüßungen. Der Vater war unterdessen hereingekommen.

»So, nun müßt ihr auch wissen, wie ihr euch zu benennen habt«, sagte er zu den Buben herantretend. »Euer Vetter hier heißt Vinzi, das wäre eigentlich Vinzenz. Meine drei heißen: Joseph, Bonifaz und Maurus; aber auch nur im Kalender heißen sie so, hier bei uns heißen sie: Jos, Faz und Rußli. Jetzt, meine ich, könntet ihr euch an den Tisch setzen, die Kartoffeln werden euch heut nicht mehr zu heiß sein.«

»Das ist gerade recht«, sagte die Mutter befriedigt, »so verbrennen sie sich nicht die Hälse, wie sonst jeden Tag, weil's immer so mit der Sache eilt.«

Nun setzten sich die drei zu ihrer Tätigkeit nieder und widmeten sich dieser nun so eifrig, daß sie kein Wort mehr sprechen konnten. Nur ihre Blicke, die fast ununterbrochen auf den Vetter gerichtet waren, zeigten, daß sie sich fortwährend mit ihm beschäftigten. Wie es nun wieder so ruhig geworden war, daß man sein Wort ohne besondere Kraftanstrengung vernehmlich machen konnte, sagte die Mutter bedächtig: »Ich habe etwas ausgedacht; weil die Verwandten nicht berichtet haben, daß sie den Buben auf heut hierher schicken wollten, war ja nichts für ihn hergerichtet. Im Haus müßte man die Bodenkammer räumen, und da liegt noch ziemlich viel Korn und Mais und allerhand Zeug; es gibt auch soviel Mäuse droben, die kratzen und pfeifen, daß er sich fürchten könnte. Ich habe gedacht, wenn ich ihm ein schönes Bettlein im Heuschober zurecht machen würde, so hätte er's viel besser.«

»Das muß er nun selber sagen, was er lieber will«, setzte der Vetter ein, »will er in die Kammer, so gehen wir alle hinauf und packen weg, was drin ist. Sag nun, Vinzi, willst du in die Kammer hinauf, oder willst du in den Heuschober hinüber?«

»Ich will gern im Heuschober schlafen«, antwortete Vinzi.

»Das hab ich wohl gedacht«, sagte die Base befriedigt; denn so kam die Sache doch schneller in Ordnung, und alles blieb dort oben, wo es lag. »Ein Tischlein und ein Bänklein und einen kleinen Kasten mußt du auch noch haben, daß du's bequem hast«, setzte sie hinzu, »und wenn ihr dort fertig seid mit dem Essen, so könnt ihr alles hinübertragen.«

Nun ging sie, die nötigen Dinge hervorzuholen, unterdessen waren die drei wirklich mit ihrem Geschäft fertig geworden und stürzten nun der Mutter nach. Vinzi stand nun auch auf; er meinte, er könne vielleicht auch etwas hinübertragen. Aber der Vetter sagte, er habe heute an seinem Ränzlein genug getragen, das sei gar nicht so leicht. Der Vetter hatte es eben an seinen Arm gehängt und bedeutete dem Vinzi, daß er mitkommen solle. Kaum standen sie am Heuschober, als auch alle die anderen schon herbeigerannt kamen. Jos mit dem Kasten auf dem Rücken, Faz mit dem Tischchen und der großen Bettdecke darauf, Rußli mit dem Bänklein und hinterher die Mutter mit dem Kissen und den Bettüchern. Mit einer Behendigkeit, die deutlich zeigte, daß die Besteigung des Heuschobers eine wohlbekannte Sache für sie war, hatte die Base schon das offene Türchen erreicht und war jetzt drinnen auf dem Heuboden. Der Vetter hob nun einen Gegenstand nach dem anderen hoch empor, und die Frau zog ihn durchs Türchen zu sich herein.

Wie nun der letzte drinnen war, sagte der Vetter: »Nun sagen wir dir gute Nacht. Inwendig am Türchen ist ein hölzerner Riegel, wie auswendig, den drehst du zu. Bist du drinnen, dann bist du der alleinige Herr auf deiner Burg, und kein Mensch kann zu dir eindringen, dem du nicht aufmachst.«

Jetzt kam die Base wieder herunter.

»So, nun ist alles gerüstet«, sagte sie, »und siehst du, junger Vetter, dort nahe am Hüttchen fließt der Bach hinab, da kannst du deine Waschstube einrichten, es stört dich kein Mensch. Das Tuch zum Trocknen liegt drinnen auf der Bank, und nun schlaf wohl!«

Auch die Vettern hatten sich schon gute Nacht gewünscht. Da kehrte Jos noch einmal um.

»Kommst du morgen früh mit uns, wenn wir die Kühe hinaustreiben, Vinzi, und bleibst du den ganzen Tag mit uns beim Hüten?«

»Ja, natürlich«, antwortete Vinzi, »ich will dir gewiß recht helfen, du mußt es mir dann nur sagen, wenn ich besonders aufpassen muß. Und würdest du mich auch herausrufen am Morgen, daß ich nicht zu spät komme?«

»Ja, ja, recht laut will ich rufen«, versprach Jos, »durch das große, runde Luftloch hörst du mich schon.« Nun lief er.

Nun war Vinzi allein. Er stieg zu seinem Türchen hinauf und schaute nach dem Heuboden. Dort in der Ecke, auf dichter, weicher Heuunterlage war sein Bett errichtet. Nebenan war das Heu zur Seite geschoben, da stand das Tischchen und die kleine Bank, und an der Wand stand der kleine Kasten. Es sah so behaglich im Heuschober aus, ganz wie ein eigenes Stübchen. Aber schlafen konnte er noch nicht. Er hatte heute so viel Unerwartetes erlebt, daß er ganz davon erregt war. Er setzte sich auf den Balken, der auch die Schwelle seines Türchens ausmachte, und schaute hinaus. Die Sterne standen jetzt am Himmel und strahlten über ihm. Eben jetzt stieg der Mond hinter den Bergen empor und leuchtete auf die dunklen Bäume und weithin über die Matten. Das Kirchlein drüben schimmerte weiß herüber, und immer heller und lichter wurde der hohe Schneeberg, der über die dunkeln Felsen hinausragte. Vinzi machte seine Augen immer weiter auf; er hatte ja vorher noch gar nicht gesehen, was ihn umgab. In seiner großen Angst, wohin er kommen werde, hatte er wohl noch das graue Steinhaus in der steinigen Bergwildnis gesehen, dann aber nichts mehr deutlich. Er hatte nur immerfort gedacht, nun komme es immer schrecklicher. Aber was er hier sah, wie war das alles so anders, als er gemeint hatte!

Da war keine Steinwildnis um ihn her. So lieblich lag das Mondlicht auf dem grünen Boden und schimmerte auf den Wipfeln der Lärchenbäume drüben. Durch die große Stille tönte nur fort und fort das leise Rauschen des nahen Baches. Vinzi lauschte dem lieblichen Gesang, und immer schöner und voller wurden die Töne, er hörte ganze Melodien. Er hatte wohl lange so dagesessen und gelauscht, als plötzlich ein starker Windstoß das Türchen gegen seine Knie warf und ihn aus seinen Träumereien aufschreckte. Die Sterne glänzten jetzt noch heller über ihm als zuvor, so hatte er sie noch nie gesehen. Die Worte der Mutter kamen ihm in den Sinn, daß der liebe Gott überall über ihm sei und auf ihn sehe und ihn höre. Er hatte ja die Worte auch vorher schon oft von der Mutter gehört; aber so wie jetzt hatte er sie noch nie in seinem Herzen vernommen. Gewiß war er auch jetzt dem Himmel so nah wie nie vorher. Sein Herz war voller Dank gegen den lieben Gott, der ihn soviel Gutes hatte finden lassen, wo er so Erschreckendes erwartet hatte. Wie war doch seine Angst vor dem Vetter und der Base so groß gewesen, und wie freundlich hatten sie ihn empfangen und behandelt, daß er schon wie daheim bei ihnen war. Am liebsten hätte er ein lautes Loblied in die sternenhelle Nacht hinausgesungen; aber das durfte er doch nun nicht mehr tun, es war ringsum kein Lichtlein mehr zu sehen, gewiß schlief schon alles in allen Hütten nah und fern.

Nun machte er sein Türchen zu, befestigte es am Pfosten und suchte sein schönes Bett auf. Das war so weich und prächtig, kein Hälmchen konnte ihn durch die dicken Leintücher hindurch stechen. Immer noch einmal schaute er nach dem schönen Stern, der so hell durch das offene Luftloch, seinem Bette gegenüber, zu ihm hereinglänzte. Als seine Augenlider zufallen wollten, riß er sie doch noch einmal auf, um hinzusehen; ja, noch leuchtete der Stern zu ihm herein, und im Einschlafen ertönte ein wundervoller Gesang um den Vinzi her. Es war der Stern, der auf ihn niedersang, das vernahm Vinzi tief in seinen Traum hinein.

Am Morgen darauf erwachte Vinzi von einem ganz entsetzlichen Lärm; sein Name wurde so laut und wie von vielen Stimmen auf einmal gerufen. So hatte Stefeli doch noch nie gelärmt, wenn es kam, ihn zu wecken, dachte Vinzi im Erwachen. Aber jetzt sah er plötzlich, wo er war, und wußte nun, wem die Stimmen gehörten, die immer lauter schrien, wahrscheinlich hatte er sie in seinem tiefen Schlaf schon lange vergeblich rufen lassen. Rasch zog er das Nötigste an, riß sein Türchen auf und sprang mitten unter die lärmenden Vettern hinunter.

»Komm schnell, komm schnell«, riefen sie alle miteinander, und Jos setzte hinzu: »Nimm deine Jacke mit, wir nehmen nur noch unser Morgenessen ein, dann gehen wir gleich.«

Aber Vinzi erwiderte, er sei ja noch gar nicht gewaschen, sie sollten nur erst gehen, er würde gleich nachkommen.

Die beiden älteren liefen weg, aber Rußli ging Vinzi nach zum Bach hinüber und sagte vertraulich: »Du brauchst dich nicht zu waschen, man sieht dir nichts an, komm du nur gleich mit mir, du bist sauber genug.«

»Nein, nein, Rußli«, wehrte Vinzi, »man muß sich jeden Morgen waschen, und es macht einen ganz frisch. Oh, das schöne, frische Wasser!« und Vinzi nahm am Bache kniend beide Hände voll, noch einmal und noch einmal, und goß das helle Wasser über sein ganzes Gesicht, und zuletzt schlürfte er noch eine Handvoll nach der anderen ein.

Jetzt sah er so frisch und erfreut davon aus, daß Rußli einen tiefen Eindruck von diesem Zustande bekam, und voller Nachahmungslust sagte er: »So will ich mich morgen auch hier bei dir waschen und dann auch trinken, und alle Tage will ich's tun.«

Vinzi war nun fertig mit seinem Geschäft, holte schnell seine Jacke und ging nun mit Rußli zum Haus hinunter.

Noch saßen der Vetter und die Base bei ihrem Morgenessen. Beide begrüßten den Vinzi freundlich, und die Base setzte ihm gleich eine volle Kaffeetasse vor und ermunterte ihn, recht viele Brocken hineinzuschneiden, die Bergluft werde ihm bald genug alles verweht haben.

»Du hättest eigentlich noch ein wenig schlafen können nach der Reise«, sagte der Vetter; »aber die drei waren wie wild darauf, daß du mit ihnen kommst; es freut sie eben, daß nun der Vetter zu ihnen gehört.«

»Mach du nur mit Ruhe deine Sache fertig«, sagte die Base, als sie sah, wie Vinzi darauflosschluckte, um zum Ende zu kommen. »Der Vetter geht mit dir hinaus, er ist ja auch noch am Tische.«

Jetzt stand der Vetter auf, und Vinzi folgte ihm sogleich.

Drüben beim Stall knallten Jos und Faz schon lange mit den Peitschen, zum Zeichen, daß sie bereit seien. Nun machte der Vater die Kühe los, eine um die andere verließ den Stall, und nun ging der Zug nach der Straße hinüber. Eine gute Strecke mußte erst auf dieser zurückgelegt werden; denn ziemlich oberhalb der Kapelle war der Weideplatz für diese Zeit. Rußli hatte sich gleich an den Vinzi herangemacht und diesen fest an der Hand gefaßt; jetzt hielt er ihn zurück, soviel er vermochte. Jos und Faz hatten beide genug zu tun, die Kühe auf der Straße zu halten und vorwärts zu bringen; denn sie wollten immer auf beide Seiten nach den grünen Weideplätzen abschwenken.

»Laß mich jetzt, Rußli«, sagte Vinzi fortstrebend, »siehst du, ich muß den Brüdern helfen, die Kühe in Ordnung zu halten.«

Das hörte Faz, der bei einem Busch an der Straße mit einer der Kühe zu kämpfen hatte, da sie diesen durchaus abweiden wollte.

»Halte du lieber den Rußli in Ordnung«, rief er dem Vinzi zu, »dann hilfst du uns am allerbesten. Der kleine Kerl kommt immer hinterrücks an die Kühe heran und fitzt sie mit seinen Ruten, dann rennen sie nach allen Seiten, und wir werden ihrer kaum mehr Meister. Er ist ein rechter boshafter Zwerg, der Rußli, halt ihn nur fest.«

Jetzt hatte Faz seine widerspenstige Kuh zum Gehorsam gebracht und lief mit ihr den anderen nach.

»Vinzi«, sagte jetzt Rußli ganz erfreut, daß er den Vetter nun für sich behalten konnte, »hast du auch ein Messer?«

»Ja, freilich, natürlich, das muß man ja haben«, antwortete Vinzi.

»Dann will ich dir einen großen Busch zeigen«, sagte Rußli, »da wachsen so schöne Ruten, unten ganz dick und oben ganz dünn; aber weißt du, doch ganz fest, nicht lumpig, die fitzen so gut, und dann schneidest du mir ein paar schöne, gelt? Ich habe nur noch eine zerbrochene, und ich kann keine schneiden, ich darf kein Messer haben.«

»Wozu willst du die Ruten?« fragte Vinzi, »du wirst doch die Kühe nicht damit hauen wollen, wie der Faz eben von dir gesagt hat.«

»Nein, ich haue sie gar nicht, nur ein wenig fitzen tu ich sie«, sagte Rußli erklärend, »dann springen sie hoch auf und werden furchtbar lustig.«

»Nein, nein, Rußli, das ist nicht so lustig für sie, wie du meinst«, sagte Vinzi, »sie springen vor Schrecken so hoch auf, so dünne Rütchen tun ihnen schärfer weh als dicke Peitschenschnüre, dazu schneide ich dir keine Ruten. Aber ich will dir etwas anderes aus dem Holz schneiden, wenn es gut ist, zeig mir nur den Busch.«

Rußli wollte durchaus wissen, was er ihm schneiden werde; aber Vinzi sagte, erst wenn er die Ruten sähe und den Jos noch etwas gefragt habe, werde er es sagen. Nun lief Rußli in seiner Erwartung, soviel er konnte, und bald ging es von der Straße ab ein Stück über das Weideland den Gebüschen zu. Hier suchte er nun einen großen Busch aus, von dem die festen Ruten kerzengerade in die Höhe strebten.

»Hier«, sagte er, Vinzi herbeiziehend.

Mit Wohlgefallen betrachtete Vinzi die festen Stäbe, und nun begann er zu schneiden, da und dort, was ihm am besten gefiel.

»Nun komm«, sagte er, als er ein schönes Büschel beisammen hatte, »wir gehen nun dorthin, wo die Brüder sind, du weißt doch wo? Man sieht sie ja gar nicht mehr. Dort schneid ich dir, was du haben sollst.«

Eilig lief der Rußli voran, Vinzi folgte ihm.

»Oh, wie ist es hier so schön«, rief Vinzi auf einmal aus und stand still; »aber wann kommt endlich die Weide?«

»Wir sind schon darauf«, sagte Rußli.

Vinzi schaute um sich. Da und dort standen zerstreut die hohen, dunkeln Lärchenbäume mit den feinen Nadelzweigen, durch die der blaue Himmel schimmerte. Darunter lag lieblich grün die Bergweide, da und dort stand einsam ein Büschelchen farbenglühender Alpenblümchen zwischen moosbedeckten Steinen. Fröhlich rauschte der volle Bergbach daher, den schneeweißen Schaum hoch aufwerfend, wo die Felsenstücke seinen Lauf hemmen wollten. Und wirklich, hier war die Weide. In geringer Entfernung sah Vinzi dort die Kühe unter den Bäumen ruhig hin- und herweiden. Er stand unbeweglich da, eine solche Weide hatte er noch nie gesehen. Jetzt fiel der Sonnenschein zwischen den Bäumen durch auf die leuchtenden Blumen und funkelte in den silbernen Bachwellen. Auf dem sonnigen Boden spielten die Schatten der Lärchenzweige, die der Bergwind hin- und herwehte, der durch alle die Bäume mit einem leisen Singen zog.

Immer tiefer tönte das singende Rauschen, je weiter es zog, bis es ganz leise in der Ferne verhallte. Vinzi schaute und lauschte und stand immer noch unbeweglich an derselben Stelle.

»Wann willst du endlich schneiden, was du versprochen hast?« rief Rußli in zornigem Ton; denn er hatte gewartet, bis seine Geduld gänzlich erschöpft war.

»Ja, ich komme«, sagte Vinzi, wie aus einem tiefen Traum erwachend, »ich komme schon. Oh, hier ist es schön! Nun halt einen Augenblick die Ruten fest, Rußli, gleich komme ich wieder, und dann tu ich, was ich versprochen habe.«

Jetzt lief Vinzi hinauf bis zur Stelle, wo die Kühe weideten. Er schaute nach den Vettern aus. Über der Straße drüben lag eine andere sehr große Weide ohne Bäume, und viel Vieh graste dort umher. Es tönte tüchtiger Lärm von dort herüber. Vinzi sah, wie ein Trüppchen Hirtenbuben sich über eine rauchende Stelle beugte; die wollten ein Feuer machen, und es wollte nicht brennen. Sie riefen alle durcheinander. Jos und Faz waren dabei, das konnte Vinzi sehen. Er rief mit aller Macht nach Jos, erst vergeblich; als er aber gehört wurde, kam Jos herüber.

»Komm zu uns, Vinzi«, rief er im Heranrennen, »wir machen ein Feuer, oder eigentlich nur einen Rauch. Es hat einer ein Loch gefunden, da ist ein Tier drin, vielleicht ein Murmeltier, und wir denken, es kommt heraus, wenn es Rauch im Loch hat, und wir können es dann fangen. Komm, es ist lustig.«

»Nein, ich will lieber nicht«, sagtt Vinzi, der gar keine Lust hatte, ein geängstetes Tierlein aus dem Loch hervorspringen zu sehen, dem dann alle Buben nachlaufen würden, um es noch mehr zu ängstigen. »Und dann habe ich dem Rußli versprochen, gleich wiederzukommen. Aber ich muß dich noch etwas fragen. Glaubst du, dein Vater habe es ungern, wenn ich dem Rußli eine Pfeife schneide?«

»Ungern? Was kommt dir in den Sinn? Jetzt wüßt ich doch auf der Welt nicht, warum«, rief Jos aus, »da kannst du sicher sein, daß er das nicht ungern hat, und wir sind so froh, wenn du den kleinen Kerl zurückhältst; er macht die Kühe so wild, daß wir nur immer nach allen Seiten zu rennen haben; wenn sie ihn nur merken, so fangen sie an zu laufen.«

»Aber sollte ich euch denn nicht auch hüten helfen?« fragte Vinzi noch ein wenig besorgt, »darf ich nur sitzen bleiben und Pfeifen schneiden?«

»Du hilfst uns am allerbesten so«, sagte Jos, »glaub's nur! Sieh, wie sie alle ruhig sind und friedlich grasen! Wäre der Rußli da mit seinem heimtückischen Zwicken, sie hätten schon lange ihre Sprünge gemacht.«

Vinzi war über diese Arbeitsteilung sehr erfreut. Jetzt wandte er sich, um zu Rußli zurückzukehren.

»Zeig mir aber die Pfeife auch, wenn sie fertig ist!« rief ihm Jos noch nach.

»So, Rußli«, sagte Vinzi, als er wieder da war, »nun sollst du sehen, was ich dir schneide.«

Dann setzte er sich auf den bemoosten Stein hin, neben dem die rotvioletten Alpenveilchen standen und so süß zu ihm empordufteten, daß er vor allem ein paar lange Züge von dem Dufte einziehen mußte. Dann wählte er eine der Ruten aus, schnitt sie da durch, wo sie anfing, dünner zu werden, legte den langen, dünnen Teil weg, am kurzen, festen begann er zu schnitzen.

»Was ist es, wenn es fertig ist?« fragte Rußli, der sich auf denselben Stein ganz nah an den Vinzi herangesetzt hatte und mit Spannung der Arbeit zuschaute.

»Dann ist es eine Pfeife«, antwortete Vinzi.

Mit freudigem Erstaunen drängte sich Rußli immer noch näher an den Schnitzer heran, um nichts von der Entstehung dieses Wunderwerkes zu verlieren; denn eine so dicke, lange Pfeife, und dazu von Holz, hatte Rußli noch nie gesehen. Er kannte nur die Pfeifen, aus Röhrchen gemacht, die gleich zerbrachen. Vinzi hatte viel gelernt und erfunden, seit er seine ersten Pfeifen, die nur einen einzigen Ton von sich gaben, geschnitten hatte. Jetzt schnitt er der Pfeife mehrere kleine Löcher ein; denn er wußte nun, daß er durch diese die verschiedenen Töne hervorbringen konnte. Es nahm aber viel Zeit in Anspruch; denn die kleinen, runden Löcher zu bohren, war nicht leicht. Dazu war Vinzi recht genau in seiner Arbeit. So ging manche Stunde dahin; denn zwischendurch mußte Vinzi immer einmal lauschen, wie der Wind durch die Bäume sang, dann wieder, wie es in den Wellen des Bergbaches klang, jetzt wie lauter Jubel und jetzt wie leises Klagen; dann wieder mußte Vinzi sich auf die Veilchen niederbeugen, um den lieblichen Duft recht voll einzuatmen. Aber jetzt endlich klappte er das Messer zu.

»Da, Rußli, nimm sie, deine Pfeife ist fertig.«

Mit strahlenden Augen ergriff der Glückliche seine Pfeife, setzte sie an den Mund und blies einen hohen, durchdringenden Jammerton heraus. Rußli war ein wenig erschrocken über den lauten Mißton; denn er hatte mit aller Macht in die Pfeife geblasen.

»Jetzt blas du einmal«, sagte er, das Instrument dem Vinzi überreichend.

In diesem Augenblick ertönte ein schriller Pfiff und noch einer, es war, als sollte es ein Ruf sein.

»Es ist das Zeichen zum Essen«, sagte Rußli, »sie pfeifen immer so, wenn man sich zum Essen versammeln muß. Komm schnell!«

Rußli lief schon.

»Eine Pfeife! Eine Pfeife!« schrie er den Brüdern zu, als er der Stelle nahe kam, wo der eine da, der andere dort still beschäftigt am Boden saß; sie hatten schon ihr Mittagessen in Angriff genommen. Als Rußli dies entdeckte, schaute er suchend um sich, dann rannte er nach dem Sack, der wie verloren dort am Boden lag, riß heraus, was ihm gehörte, und reichte ihn dann dem herankommenden Vinzi hin. »Da nimm«, sagte er, »das gehört dir, die anderen haben schon ihre Stücke genommen.«

Vinzi folgte der Aufforderung; aber er dachte bei sich: denen würde Stefeli etwas sagen, wenn sie auf unserer Weide so aus dem Sack essen und jeder für sich sorgen wollte, wie wenn man sich tüchtig gezankt hätte. Er setzte sich nun zu Rußli hin.

Unterdessen war Jos fertig geworden und rief von seinem Sitz aus dem Rußli zu: »So gib nun die Pfeife, ich will sie versuchen.«

»Kannst sie holen«, sagte Rußli trocken.

Aber Vinzi war schon aufgestanden und wollte sie dem Jos bringen. Nun hatte dieser aber doch das Gefühl, es sei an ihm, zu holen, was er begehrte; er kam schnell heran. Nun kam auch Faz herbeigerannt.

»Zeig sie! Zeig siel« rief er, und wollte die Pfeife auch haben. Aber Jos hielt sie schon zum Blasen an den Mund und wehrte dem Faz. Nun begann die Musik. Jos wußte etwas davon, daß man die Finger auf die verschiedenen Löcher setzen mußte, um verschiedene Töne hervorzubringen. Das gelang ihm auch; aber die Töne wurden nur so einzeln ohne allen Zusammenhang herausgestoßen.

»Du kannst's nicht, gib her«, rief Faz und riß die Pfeife an sich. Es ging noch schlimmer, die Pfeife kreischte überlaut und schrecklich.

»Sie sieht so schön aus, wir haben nie eine so schöne Pfeife machen können; aber sie klingt doch nicht schön«, sagte Jos mit Bedauern.

Vinzi war, neben den beiden stehend, nun auch mit seinem Mittagessen zu Ende gekommen und nahm jetzt Faz die Pfeife ab.

»Ich will sie auch einmal versuchen«, sagte er und fing an, ein Stücklein zu blasen, so klar und schön alle Töne aneinandergereiht, daß die drei in stummem Erstaunen vor ihm standen und ganz gespannt zuhörten.

»Oh, du kannst's aber gut, lehr mich's auch«, sagte Jos begierig, sobald Vinzi innehielt.

»Mich auch«, rief Faz.

»Und mich auch«, schrie Rußli nach.

»Gib mir die Pfeife«, bat Jos eindringlich.

»Nein, mir«, rief Faz; aber Rußli hatte sie schon an sich gerissen und lief mit seinem Eigentum davon, damit es ihm kein Stärkerer rauben könne.

»Laßt sie ihm nur«, sagte Vinzi, »ich mache euch jedem auch eine, ich habe noch viele Ruten, und man kann immer noch welche haben.«

Das beruhigte die Brüder, und Rußli wurde zurückgerufen; denn nun sollte Vinzi noch mehr Musik machen, Jos war ganz begeistert davon. Rußli war aber durch kein Rufen zurückzubringen. Vinzi mußte ihm nachrennen, um ihn zu überzeugen, daß er nicht um sein kostbares Besitztum gebracht werden sollte. Nun setzten sich die Buben alle zusammen; denn jeder wollte dem Vinzi nahe sein und sehen, wie er es mache. Er mußte fort und fort spielen, was er nur konnte und wußte, und wenn er keine Weisen mehr in seinem Gedächtnis fand, so machte er solche vorweg aus allen Glockentönen und Vogelgesängen, die ihm in der Erinnerung vorschwebten.

Unterdessen war das Häufchen seiner Zuhörer immer mehr angewachsen. Die Hirtenbuben der anderen Weiden, die umsonst auf Jos und Faz gewartet hatten, um wie gewöhnlich etwas zusammen anzustellen – denn Jos und Faz waren immer die Anführer – waren einer um den anderen herangekommen, um zu sehen, wo die beiden blieben. Dann waren sie hintereinander auch dageblieben; denn allen gefiel diese Musik außerordentlich gut. So war unvermerkt der ganze Nachmittag vergangen.

Plötzlich rief einer aus dem Kaufen: »Es ist sechs Uhr, ich höre das Horn.«

Augenblicklich stoben alle auseinander; aber einer nach dem andern rief Vinzi noch zurück: »Bring sie morgen wieder mit! Bring sie morgen wieder mit!«

Nun hatten es Jos und Faz auch eilig, ihre Kühe zusammenzutreiben und auf den Heimweg zu kommen, es war hohe Zeit.

»Vinzi«, rief Jos zurück, als er schon im Lauf nach seinem Vieh war, »halt uns den kleinen Kerl ab, so kommen wir rasch vorwärts, du willst uns ja helfen.«

Gern wollte Vinzi diese Hut wieder übernehmen. Er hatte den besten Willen mitzuhelfen. Wenn nun die Vettern fanden, das sei die beste Hilfe, was freilich keine schwere Arbeit für ihn war, so hatte er doch ein gutes Gewissen bei seinem Tun. Auch Rußli war mit dieser Einrichtung ganz zufrieden. Sogleich erfaßte er Vinzis Hand und wanderte nun so ruhig und harmlos an seiner Seite dahin, als hätte er nie die leiseste Tücke mit seinem scharfen Rütchen im Sinne gehabt. Aber Unterhaltung wollte der Rußli haben, und Vinzi wurde gleich zum Gespräch zurückgerufen, wenn ihn einmal das Rauschen des Baches, einmal ein pfeifender Vogel davon abziehen wollte. Als sie dem Hause nahten, sahen sie den Vater schon unter der Tür stehen, sie zu empfangen.

»So, wie ist's zum ersten Male gegangen, junger Vetter?« rief er den Herankommenden entgegen, »wie hat es dir gefallen auf unserer Weide?«

»Eine Pfeife! Eine Pfeifel« rief Rußli aus allen Kräften dazwischen, »da, da, nimm sie, Vater, die klingt schön.«

»Siehst du, da kommen sie mit dem Vieh«, sagte der Vater, dem der Rußli seine Pfeife vor die Augen hielt, so nah er konnte; »geh hinein und zeig sie der Mutter, ich komme dann auch.«

»Mir hat's auf der Weide gewiß gut gefallen«, konnte Vinzi endlich sagen, »es ist so schön unter den Bäumen droben, der Tag war so schnell um, daß wir's gar nicht merkten.«

»Ja, und Vinzi hat uns so gut geholfen«, setzte Jos hinzu, der eben herangekommen war; »wir sind zehnmal schneller mit den Kühen auf dem Platz gewesen als sonst, und den ganzen Tag sind sie so ruhig gewesen und haben fortgegrast, wie lange nicht mehr. Ich wollte nur, der Vinzi bliebe immer bei uns.«

»Das höre ich gern«, sagte der Vater, »das ist ein guter Anfang; jetzt wollen wir hoffen, daß ihr so miteinander fortfahrt.«

Nun ging er mit seinen Buben zum Stall hinüber, und Vinzi folgte nach; denn er dachte, der Vetter sehe es lieber, wenn er da auch mithelfen wolle.

»Was kann ich tun?« rief er von der Stalltür aus diesem zu, der schon eifrig am Melken war.

»Es währt nicht lange, so sind wir mit allem fertig«, entgegnete der Vetter; »aber wenn du dich gern ein wenig im Stall und in der Scheune umsiehst, so tu das nur.«

Vinzi trat wieder hinaus. Das Abendrot glühte drüben auf den Felsenbergen, die dunklen Tannen hatten golden leuchtende Wipfel, und jetzt tönte die Glocke so friedlich und lieblich von der Kapelle her durch die Abendstille, daß Vinzi ganz ergriffen dastand und schaute und lauschte. So stand er noch, als die Glocke längst verklungen und alles Rot an den Felsen erblaßt war.

»Holla«, rief jetzt eine Stimme hinter ihm, während ein tüchtiger Klaps auf seinen Rücken fiel; dann wurde er mit Gewalt fortgerissen bis zum Brunnen, wo allabendlich, bevor man ins Haus trat, die große Reinigung stattfand, die nie unnötig war.

»Erwachst du nun wieder?« fragte Faz, der den Vinzi in der festen Überzeugung hierhergerissen hatte, er sei mitten im Weg stehend eingeschlafen.

»Ja, deine Fäuste haben ihn noch vor dem Wasser geweckt, nicht wahr, Vinzi?« sagte Jos, der eben herangekommen war.

»Ja, sicher«, antwortete Vinzi; »aber ich will noch lieber, daß er mich packt, als daß er eurem Vater sagt, ich sei mitten auf dem Weg eingeschlafen; ich habe gar nicht geschlafen.«

»Er verklagt nicht, er haut nur«, sagte Jos tröstlich.

Jetzt ging's dem Hause zu, Faz voran. Drinnen saß die Mutter harrend am Tisch und hörte geduldig zu, wie Rußli seiner Pfeife nie gehörte Jammertöne entrang.

»Du pfeifst wie eine Katze, die am Ersticken ist!« rief Faz eintretend aus.

»Mußt ihn nicht gleich so aushänseln«, sagte die Mutter, »für einen so kleinen Buben spielt er recht artig. Und er hat dich gerade noch gerühmt; er hat gesagt: ›Den ganzen Tag hat mir der Faz keinen Puff gegeben, und ich habe nie geheult‹.«

»Er bekommt nur Püffe, wenn er's verdient«, sagte Faz, »heut hat er recht getan, weil ihn der Vinzi im Zügel hielt. Wenn der bei uns bleibt, so geht's immer gut, heut ist alles gelaufen, wie geschmiert.«

Nun waren auch die drei andem eingetreten, und Rußli war gleich mit dem Ruf auf den Vater losgestürzt: »Jetzt die Pfeife.«

»Nein, nein, Rußli, erst essen und dann die Pfeife«, sagte der Vater sich setzend, »siehst du, als ich einer war, wie die drei da, da habe ich auch Pfeifen geschnitten und mit der größten Freude drauflos geblasen. So muß ich denn deine Pfeife recht ansehen und auch versuchen, ob ich's noch kann.«

Rußli ließ sich auch gleich begütigen; denn die Pfeifenbewunderung war ihm nicht zuwider. Der Maiskuchen, den die Mutter eben aufgestellt hatte, dampfte ihm ganz angenehm entgegen. Er nahm auch gleich ohne Widerrede seinen vollen Teller in Angriff.

Aber jetzt, da alle still befriedigt sich an ihre Stuhlrücken lehnten und die Mutter alles weggeräumt und auch noch den Tisch gesäubert hatte, sagte der Vater: »So komm jetzt mit der Pfeife, wir wollen hören, wie sie klingt.«

Rußli hatte einige Mühe, sich aufzuraffen; seine starke Beteiligung an der Vertilgung des Maiskuchens hatte ihn ein wenig schläfrig gemacht. Aber der Ruf und die Furcht, Faz könnte ihm die Pfeife entreißen, um sie dem Vater zu zeigen und sie nachher zu behalten, brachten ihn nun doch auf die Füße. Er kam heran mit seinem Besitz.

»Potztausend, was bringst du mir da!« rief der Vater aus, indem er die lange Pfeife mit ganzer Aufmerksamkeit hin- und herdrehte und nach allen Seiten betrachtete. »Das ist gut gemacht, das ist keine einfache Pfeife, es ist eine richtige Schalmei mit allen nötigen Löchern. Nun muß ich doch sehen, ob ich noch etwas herausbringe.«

Er fing an, und wirklich, er brachte etwas heraus, das fast wie eine Melodie klang.

»Oh, der Vater kann's beim ersten Male besser als wir alle, wenn wir noch so oft versuchten«, sagte Jos erstaunt, »nur Vinzi allein kann es noch besser.«

»Jetzt wollen wir den einmal hören«, sagte der Vater, ihm die Schalmei übergebend, »so spiel uns nun eins vor.«

Vinzi hatte ein Stücklein in besonders guter Erinnerung, und da er es heute den Buben wohl zehnmal vorgespielt hatte, war es den Fingern ganz geläufig geworden. Es war das Stücklein, das er von Alida gehört hatte.

Jetzt spielte er.

Wie er zu Ende war, blieb einen Augenblick alles still, die Melodie war so lieblich und bewegend, sie war allen zu Herzen gegangen.

»Ja, ja, der kann's freilich anders als ich«, sagte der Vetter, »mich nimmt nur wunder, wer dich das gelehrt hat!«

»Das ist etwas Schönes«, sagte die Base, ganz übernommen von dem Eindruck, »und etwas Schönes im eigenen Haus haben, daß man ihm nicht nachzulaufen braucht, ist mehr wert als manche große Festlichkeit. Jetzt wollte ich nur noch, unser Musikant könnte ein schönes geistliches Lied spielen, das wir alle nachsingen könnten. Was er da gespielt hat, das hat mir so recht die Lust zum Singen erweckt.«

»Das will ich ganz gern tun«, sagte Vinzi, »ich kann es schon, die Mutter daheim singt jeden Abend mit uns ein solches Lied. Was soll ich spielen?«

»Vielleicht sind es nicht die gleichen, die ich meine, oder kannst du vielleicht spielen: ›Ich singe dir mit Herz und Mund‹?« fragte die Base.

Ja, das Lied kannte Vinzi wohl. Er suchte ein wenig seine Töne, dann begann er fest und sicher zu spielen. Gleich sang die Base aus allen Kräften mit, der Vetter stimmte mit einem prächtigen Baß ein, und plötzlich ließ auch Jos eine klangvolle Stimme hören. Faz brummte einmal dem Vater nach, dann stieg er plötzlich zu den hohen Tönen der Mutter auf, und Rußli quiekste dazwischen in allen Tönen; aber die anderen Stimmen waren so stark, daß die mannigfaltigen Töne den Gesang nicht aus dem Geleise brachten. Die Base war so erfreut über den schönen Gesang, daß sie gleich noch ein anderes Lied begehrte, als das erste zu Ende war, und noch eins.

Der Vetter sagte ganz befriedigt: »Das ist eine schöne Unterhaltung, morgen wollen wir fortfahren. Gott loben mit Musik ist eine schöne Sache.«

Als Vinzi auf seinem Heuschober angekommen war, hatte er das Herz so voll Lobgesang, daß er auf seiner hohen Schwelle sich gleich noch hinsetzen und zum Himmel aufschauen mußte, der mit tausend Sternen besät war, die alle in heller Freude auf ihn niederschauten. Oh, wie schön war es hier, immer schöner! Gott loben mit Musik sei eine gute Sache, hatte der Vetter gesagt. Morgen würde man fortfahren und wohl alle Tage, sagte sich Vinzi. Und seine Pfeife hatte dem Vetter Freude gemacht, er hörte sie gern. Immer höher stieg die Freude in Vinzis Herzen bei diesem Gedanken. Ihm war, als müsse er noch einmal laut zu singen anfangen, und jetzt kam es ihm auch vor, als könne er nur einstimmen; denn wie ein großer Lobgesang tönte es ihm von allen Seiten entgegen, von den funkelnden Sternen und der schimmernden Kapelle, von dem fröhlich rauschenden Bach und dem goldenen Mond über den aufragenden Felsen, so herrlich und wunderbar, und er sang mit.

Ganze Wellen von würzigem Heugeruch, die der Nachtwind umhertrieb, wehten jetzt dem Vinzi entgegen und erinnerten ihn daran, wo er sei. Es war recht kühl geworden. Vinzi schloß schnell sein Türchen und suchte sein schönes Lager auf.

Von dem Tage an wurde jeden Abend in Lorenz Lesas Haus mit einem Eifer Musik gemacht und gesungen, daß man hätte denken können, es sei hier ein Hauptwerk des Tages. Aber die Arbeit lag dann ja hinter den Sängern, so daß sie sich der Freude ihres Feierabends so recht von Herzen hingeben konnten. Was dem Vinzi dabei noch besonders das Herz erfreute, war zu sehen, daß der Vetter Lorenz und die Base Josepha noch am allermeisten nach der Musik begehrten.

Jeden Tag sagte jetzt die Base am Abendessen: »Ich freue mich schon darauf, daß der Vinzi zu spielen anfängt.«

Und wenn die gewohnte Zeit um war, sagte der Vetter: »Zu einem Liedlein oder zu zweien wird's ja noch nicht zu spät sein.«

Es stiegen in seiner Erinnerung, nun er wieder zu singen angefangen hatte, immer neue Lieder auf, die er in seiner Jugend gesungen hatte, und wenn auch Vinzi diese nicht kannte, so hatte sie der Vetter nur ein paarmal vorzusingen, dann spielte Vinzi sie ganz sicher nach! Die anderen konnten dann der Schalmei nachsingen und so alle die Lieder erlernen. Daran hatte der Vetter eine ungeheure Freude. Wenn dann ein solcher gesangreicher Abend endlich abgeschlossen werden mußte, dann schüttelte der Vetter Vinzis Hand drei-, viermal und sagte: »Du kannst einen wieder ganz jung machen mit deiner Musik. Deine Schalmei singt einem eine rechte Jugendfreude ins Herz.«

 


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