Carl Spitteler
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Carl Spitteler

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Herzeleid

Eines Tages jedoch wußte er's, ob es ihm wohl oder weh tat.

Er hatte sie eines Vormittags, als er Frau Doktor Richard besuchte, dort vorgetroffen, munter gestimmt und zu harmlosen Scherzen aufgelegt wie er selber; kurz, sie «verstanden sich» heute. So war man denn in traulichem Geplauder sitzen geblieben, länger verweilend, als beabsichtigt gewesen, wie an die Stelle gebannt durch den freundlichen Geist der Stunde.

Vom Nachhall der Übereinstimmung betört, entschlüpfte ihm unten auf der Straße, wie sie ihm zum Abschied mit gutem Blick die Hand reichte, eine kindische Frage: «Und Sie kommen also jetzt nicht mit mir?»

«Natürlich nicht», antwortete sie belustigt, «hoffentlich nicht.»

«Wohin denn sonst?»

«Diese Frage! Heim zu meinem Mann und meinem Buben, die hungrig aufs Mittagessen warten.»

«Und ich? ich bin also ausgeschlossen?»

«Ei, durchaus nicht. Kommen Sie nur mit; mein Mann wird sich freuen.»

Sie war nicht sein! Und wie eine Katze, die einen Schuß bekommen hat, floh er nach Hause. Sie war nicht sein! Und er, der gemeint hatte, seine Liebe wäre wunschlos! Als ob es menschenmöglich wäre, jemand zu lieben, ohne allermindestens seine bleibende Gegenwart zu begehren. Sie war nicht sein! Schlimmer noch: sie gehörte einem anderen, einem Fremden! Gewußt hatte er ja das freilich längst; allein heute zum ersten Male spürte er es auch, da sie ihn verließ, um zu einem andern zu ziehen. Und das nannte sie «heimgehen»!

Die Katze, wenn sie den Schuß hat, verkriecht sich; doch das Schrot nimmt sie mit, und die Wunde, die anfänglich mehr schreckte als schmerzte, beginnt im stillen Winkel und arbeitet. Welch ein unerhörtes Vorrecht! was für eine empörende Ungleichheit! Tag für Tag, Jahr um Jahr bis ans Ende der Ende soll der andere mit ihr wohnen dürfen, er nie. Nicht einen Sommer, nicht einen Monat, nicht einmal ausnahmsweise einen Tag. Jenem alles, ihm nichts. Und nicht bloß mit ihr wohnen, sondern – hinweg, Gedanken! Denn weil der dort ohnehin zuviel hat, schenkt sie ihm zu ihrer Gegenwart noch Liebe und Freundschaft obendrein. Ist jener traurig, so tröstet sie ihn; ist er krank, sie härmt sich um ihn; stirbt er, ihre Sehnsucht folgt ihm übers Grab; gibt es eine Auferstehung, ihr erwachender Blick sucht jenen. Was hat denn der Anmaßliche für einen einzigartigen Wert voraus, daß ihm solch ein schwindelhafter Preis zuteil wird? Ist er etwa nicht auch ein Mensch? oder besitzt er für sich allein mehr Vorzüge und Verdienste als die übrige Menschheit zusammen?

Und keine Hoffnung! Nichts zu ändern! weder zu erklügeln noch zu ertrotzen; rundum nirgends eine Möglichkeit. Im Gegenteil: jede vorüberziehende Stunde, so bei Tag als Nacht, so bei Regen wie Sonnenschein, welches auch sonst ihr Inhalt sei, eines tut ihrer jede sicherlich, die eine wie die andere: sie gräbt die Kluft zwischen ihm und ihr tiefer, schürzt das Band mit jenem enger. Die Angewöhnung, das Verständnis, die gemeinschaftlichen Erinnerungen, die gegenseitigem Dankverpflichtungen, das nimmt ja doch nicht ab; im Gegenteil, das mehrt sich, das häuft sich. Das Kind, das beide vereint, wird je länger, desto mehr ihre Sorge und Teilnahme beanspruchen, mithin die Eltern noch inniger befreunden; es ist ja auch nicht gesagt, daß es das einzige bleibe, es kann möglicherweise ein Brüderchen oder ein Schwesterchen erhalten; warum nicht? wer will's ihnen wehren?

Ach, hatte er sie unterschätzt, die Macht der Ehe, als er sie für eine Art Statthalterei betrachtete, meinend, es ließe sich billig teilen: jenem, dem Statthalter, der Leib und ihm die Seele! So scharf er auch sah, eines hatte er bei seiner Unerfahrenheit doch übersehen, die Hauptsache: das Mysterium des Fleisches, die tierische Gewalt des Naturtriebes, der die Mutter nötigt, Himmel und Erde um eine Kraftbrühe für ihr Kind herzugeben, der die Frau zwingt, das Herz dem Leibe nachzuwerfen, mit allen Fibern dem Manne angehörend, der sie körperlich geprägt, der sie aus der Jungfrau zur Frau und Mutter umgewandelt hat, verurteilt, diesen einen zu lieben, auch wenn sie ihn verachtete. Puppe, Bebé und Papa, diese drei Worte erschöpfen den Lebensinhalt des Weibes. O ihr Toren, die ihr euch darum kümmert, ob euch jene liebt, die ihr zur Frau begehrt! Herzhaft! lache ihres Abscheus, schleppe sie zum Altar; denn die Ehe ist stärker als der Haß, dauerhafter als die Liebe.

Eine Jungfrau wankt mit dem Verhaßten zur Kirche wie zum Schlachthof, leichenfahl, den Tod im Herzen, das einem andern gehört; frag nach zwanzig Jahren nach: «Kinder, freut euch, der Papa kommt morgen heim.» – «Wenn nur dem Papa kein Unglück zustößt!» Der andere dagegen, der einst Heißgeliebte, wenn der stirbt, so erhält er bei der Todesnachricht ein kleines Wehmütchen, wenn's hoch kommt ein mühsam erquetschtes Tränelein; nachher heißt es wieder Papa. Das ist die Macht der Ehe.

Nein, keine Hoffnung. Einen Naturtrieb bekämpfen? Narrheit. Gegen die Weltgesetze streiten? Wahnsinn. Die Wahrheit sprach zu ihm: «Verdammt auf ewig», und sein Gram gestand: «So ist es.»

Da ward er inne, daß, wer einen Menschen zu seinem Gott macht, sich einen Fluch pflanzt. Sind sie zu beneiden, die einen überweltlichen Gott haben, einerlei, was für einen; wäre er ein Zornbold wie Jehova, ein Ungeheuer wie Moloch; denn kein Gott keiner Religion ist unerbittlich, keiner verstößt in die Hölle, wer ihm liebend naht, keiner spricht zum Verzweifelnden: «Ich kenne dich nicht.» Und wäre selbst einer der Himmlischen fühllos wie Stein, eines ist er jedenfalls nicht: er ist nicht kleinlich. Man stößt auf keinen Direktor Wyß zwischen sich und ihm, man hängt nicht von der Gewogenheit eines Kurt ab, die Madonna der Christen gebärt kein Rudel von Buben, um deretwillen sie Himmel und Erde vergäße. Einen Menschen anbeten: nicht viel gescheiter als einen Wurm anbeten. Mit hellem Geiste sah er das ein; allein Einsicht heilt keine Entzündung. Sieh ein, daß das Gift, das dein Blut zu Eiter zersetzt, nur ein verächtliches Körnlein Schmutz ist, der Brand frißt trotzdem weiter.

Eben darum aber, weil seine Liebe Religion war, weil ihm in Theuda-Imagos symbolischem Antlitz alles Leben der Welt mitklang wie im Mutterangesicht die Heimat, verspürte er sein Leiden am schmerzlichsten in den edelsten Teilen der Seele. All die Andeutungen und Bedeutungen, all die Lichter, Gesichter und Gedichter, die da über die Brücke gewandelt kommen, welche die Wirklichkeit mit der Geisteswelt verbindet, langten wund an, mit einem blutigen Stich; sein gesamtes Lebensgefühl erkrankte zu einem sehnsüchtigen Heimweh; Heimweh nach ihr, Heimweh nach der gemeinsamen Heimat aller Geschöpfe, Heimweh nach sich selber. Denn er war ja sie; aber – o Höllenwunder der Unmöglichkeit! – sie war nicht er.

Und da er ein Mensch von Geist war, gezwungen, wenn er gebissen wurde, wissen zu wollen, was für eine Schlange ihn biß, mochte er sich mit seiner Vernunft über das Wunder der Lieblosigkeit unterhalten; zwecklos, wohl wissend, daß ihm die Erkenntnis nichts nützen würde, nur weil er als Denker nicht anders konnte als denken. Herzeleid aber stellt nicht das Denken still, im Gegenteil, es nötigt die Gedanken zu nagen. «Bist du wach? hast du Zeit? kannst du mir das Rätsel lösen, wie es seelenmöglich ist, daß ein Mensch, dem man das höchste Gut, den einzigen Trost auf Erden, also die Liebe schenkt, einem nicht mit Gegenliebe vergilt?»

Die Vernunft antwortete: «Sammle und vergleiche: Wenn du den lieben Gott liebst, liebt er dich wieder?» – «Ohne Zweifel.» – «Wenn du den Papst liebst, liebt er dich wieder?» – «Mäßig.» – «Wenn du die Herzogin von Aragonien und Kastilien liebst, liebt sie dich wieder?» – «Wird ihr schwerlich einfallen.» – «Wenn du eine Schnecke liebst, liebt sie dich wieder?» – «Könnte sie schon gar nicht.» – «Nun also, da hast du's. Je tiefer hinunter mit der Seele, desto weniger Liebe. Liebe bedingt Seelenfülle, Lieblosigkeit verrät Stumpfheit. Punktum.»

«Und das alles klar zu wissen, haarscharf einzusehen, es ist nur dein eigenes Phantasie-Ei, das dir aus dem Gläslein dieses kleinen Weibleins entgegenguckt, und trotzdem verdammt zu sein, dieses kleine Weiblein, das du weit überschaust, überfühlst und überdenkst, wie den Heiligen Gral zu begehren, nach ihr zu lechzen wie ein Verdurstender nach dem rettenden Quell! Wie erklärst du das?»

«Torheit, Torheit, mein Lieber!» lachte die Vernunft. «Doch üb du nur ruhig deine Torheiten weiter; das verspricht mir, daß dereinst noch etwas Vernünftiges aus dir wird.»

So unterhielt er sich mit der Vernunft über seinen Fall. Deswegen wurde ihm nicht um den geringsten Grad besser; im Gegenteil. Es ging ihm wie mit den Zahnschmerzen: je mehr man daran denkt, desto ärger wird es; und wenn man versucht, nicht daran zu denken, so zwingt einen der Schmerz, an den Schmerz zu denken. Wohin sollte er aber auch seine Gedanken retten, daß sie nicht den Schmerz vorfänden? Ob er jenseits des gestirnten Himmels in die Religion, ob er in den strahlenden Schöpfungsäther der Poesie flüchtete, immer stieß er auf seine Verdammnis, immer begegnete er diesem einen unseligen lieben Menschengesicht, das ihn überall hin verfolgte, um ihn von überall her mit seinem schönen kalten Blick zu vernichten.

O ihr Gedankenlosen, die ihr über das Leid unerwiderter Liebe lächelt! Nehmt, eine Mutter sähe ihr verstorbenes Kind, ihr einziges, aus dem Grabe steigen, lieblich und schön, von Himmelsglanz verklärt; sehnsuchtschreiend stürzte sie ihm entgegen; das Kind jedoch kehrte sich von ihr ab, fremden Blickes, mit verächtlichem Lippenrümpfen: «Was will mir die dort?» Würdet ihr da lächeln? Genauso war ihm zumute; das teuerste Stück seiner selbst aus ihm herausgerissen, gesondert umherwandelnd und ihn verleugnend. Und das tat so grausam, so unleidlich weh, daß er manchmal meinte, es dürfe einfach nicht sein, weil er es nicht ertragen könne.

Allein er war kein Schwächling, vielmehr standhaft und zäh. Darum rief er seinen Verstand zu Hilfe. «Da! so steht's. Leben muß ich; ertragen kann ich's nicht. Also was?»

Ihm antwortete der Verstand: «Komm, ich will dir etwas zeigen.» Und führte ihn vors Schlachthaus. «So, jetzt, denk' ich, kannst du's ertragen.» Hierauf, nachdem sie wieder zu Hause angelangt waren, fuhr er fort: «Siehst du, die ganze Kunst besteht darin, nichts Unheilvolles zu tun; tu lieber gar nichts. Beiß die Zähne zusammen, oder schrei meinetwegen, wenn's nicht anders geht; nur schrei nicht mit den Händen. Die Stunde besiegen ist alles; wer die Stunde besiegt, besiegt den Tag; wer den Tag besiegt, besiegt das Jahr; nur immer gerade jetzt nichts Verderbliches begehen. Die Stunde aber besiegt ein Mann – und du bist ja ein Mann –, vorausgesetzt, daß er gesund ist – und du bist ja gesund –, mit Arbeit. Darum laß die Schmerzen machen, das ist ihre Sache, sie können's allein; du arbeite; du weißt, was.»

Er wußte, was. Und da die Arbeit im Dienste seiner Strengen Herrin geschah, die da eine mächtige Göttin ist, flohen vor ihrem Odem die Quälgeister hinter den Vorhang, von wo sie allerdings dann und wann heimtückisch hervorschossen, um ihm einen raschen Stich zu versetzen, doch sich ebenso schnell wieder versteckten.


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