Carl Spitteler
Imago
Carl Spitteler

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Und wieder schickte Viktor seine Seele zu Theudas Seele: «Dein Gebot ist erfüllt; ich habe mich mit deinem Bruder ausgesöhnt, ich habe mit deinem Vater einen Bund geschlossen. Glaubst du nun an meine Bekehrung?»

Ihm kam der Bescheid: «Ich traf ihre Seele auf der Zinne ihres Hauses stehend, die Türme und Schanzen der Stadt zählend. Herniederschauend erteilte sie mir die strenge Antwort: ‹Ich bin eine brave Bürgerin, meinem Volke und meinem Vaterlande leidenschaftlich ergeben. Hinweg, Ruchloser, der du die Sitten und Gebräuche deines Vaterlandes verspottest; eh' daß ich an deine Bekehrung glaube, tue Buße und lerne Eintracht mit deinem Volke.›»

Ob diesem Bescheid überschäumte sein Zorn in wilder Woge. «Weib», schrie er, «zwar heilig bist du, aber arm an Geiste. Zur Göttin taugst du, nicht zum Gott. Spann's nicht zu scharf! Mein Herz ist dein; nimm meine Andacht, läutre meine Seele; doch meine Überzeugung, Weibsbild, pfusch nicht an! – Geh hin, o meine Seele, und sag ihr das.»

Ihm kam der Bescheid: «So wahr ich Theuda bin, die da heißt Imago: ehe du nicht Fried und Freundschaft mit deinem Volke schließest, gebe ich nichts auf deine Bekehrung.»

Da begann Viktor zu toben und zu rasen und lästerte seine Göttin und verwünschte sie und beschimpfte sie mit gefiederten und gehörnten Namen, wie der Bandit die Madonna, wenn ihm der Postraub mißlang.

«Wenn du dann des Unfugs müde bist», bemerkte die Vernunft, «so will ich auch etwas reden. Nämlich, unter uns gesagt, ihr Verlangen ist durchaus gerecht; denn du bist ein politisches Ungeheuer.»

«Meinst du?»

«Ich meine es nicht bloß, sondern das steht zweifellos fest. Von Kindesbeinen ein Waldmensch und nachträglich durch deinen Auslandssitz vollends verwildert. Pendelst durch die Straßen deiner Vaterstadt wie ein Indianer auf der Oktoberwiese, der einen freien Nachmittag bekommen hat. Ist das natürlich? ist das erträglich? Her mit dir! Setz dich auf den Schulschemel; etwas Patriotismus kann dir, weiß Gott, nicht schaden. – Nur keine Angst; bloß das Allernotdürftigste; es verlangt ja kein Mensch von dir, ein Schützenfestredner zu werden.» Sprach's, nötigte den Viktor auf die Schulbank und erzählte ihm vom «Volke», wie es fühlt, wie es arbeitet, wie es sich sorgt und kümmert, beschrieb ihm das Räderwerk der freien Verfassung, bewies ihm deren ursächlichen Zusammenhang mit der Entwicklung der persönlichen Eigenart und des mannhaften Charakters und lehrte ihn schließlich die Politik als eine Unterart Idealismus begreifen; «ein rebsteckendürrer Idealismus, zugegeben, immerhin ein Idealismus».

Fromm lauschte Viktor der Unterweisung, erst ächzend, hernach bereitwilliger. Plötzlich sprang er auf, mit leuchtenden Augen. «Ich will das Obligationenrecht studieren.»

«Da haben wir's: jetzt springst du natürlich gleich wieder in den gegenüberliegenden Stadtgraben? Es kann ja einer auch ohne das Obligationsrecht ein braver Bürger sein.» Viktor aber versteifte sich halsstarr: «So wahr ich ein braver Bürger bin, ich will das Obligationenrecht studieren.» Ließ die Vernunft im Stich, ging hin und schaffte sich das Obligationenrecht an, entlieh von links und rechts Verfassungsurkunden und Stadtgeschichten, je trockener, desto lieber; bestellte das Amtsblatt, verfolgte in der Zeitung die Reden der Stadträte («etwas schwülstig, meine Herren! um so besser, ich nehm's für Kasteiung»); schob seine Füße durch Altertumssammlungen, pflanzte sich vor baufällige Mauern und Dachstühle auf, um den Geist der Väter auf sich wirken zu lassen, und jedes Bäuerlein, das mit einem Kalbelein zu Markte zog, nachdenklich bekümmert, wen es übervorteile, betrachtete er mit Rührung als seinen Mitbruder im Staate.

Wie er aber dann selbstzufrieden zu ihr sandte, um ihr von dem demokratischen Adam Bericht zu erstatten, erhielt er ungnädigen Abschied. «Aktiv betätigen», habe sie barsch befohlen. «Aktiv betätigen!» wiederholte seine Entrüstung, «wie grob, wie ruppig sie das gesagt hatte, beinahe wie ein Ellbogenstoß. Überhaupt, sie vergißt, daß meine Bekehrung ganz auf meinem freien Willen beruht; ein Schulterlupf, und sie fliegt auf den Boden. Es scheint, sie möchte mich mit der Peitsche dressieren!»

Doch die Hyäne, die durch drei Reifen gesprungen ist, springt auch durch den vierten, wenn schon zähnefletschend. Also behändigte er bei der nächsten Wahlgelegenheit einen Zettel.

«Du, Förster, gib mir einen guten Rat. Ich möchte meiner Bürgerpflicht genügen – oder sagt man nicht so? –, kenne jedoch leider auf der ganzen Welt keine politische Seele. Wen rätst du mir, daß ich wählen soll?»

«Ja, da mußt du mir vor allem erst sagen, ob du konservativ oder liberal bist.»

«Was ist der Unterschied?»

«Das läßt sich nicht so in der Geschwindigkeit erklären.»

«Wer von den beiden hält es denn mit der Kirchenlehre?»

«Eher die Konservativen.»

«Dann bin ich also liberal.» Und wählte demgemäß.

Doch noch immer wollte sich Theudas Seele nicht zufriedengeben. Es komme nicht von innen, habe sie geantwortet.

«Nicht von innen!» tobte er. «Ich will dir zeigen, was von innen kommt.» Und stiftete einen fürchterlichen Aufruhr gegen seine Göttin, daß es in seinem Innern zuging wie in einem Bestienkäfig vor der Fütterung. – «Du willst die Numa Hawa spielen? Wohlan, so ertrage, daß ich ergebenst den Rachen aufsperre.»

Bis ihm eines Tages widerfuhr – er hatte es gar nicht beabsichtigt, es kam ihm von selber, wie der Strahl aus dem kochenden Berge –, daß er zwei fremden Gigerln, die über einen vorüberziehenden Trupp Soldaten spöttelten, mit schnaubender Wut das Maul verbot. Während er noch ganz verblüfft dastand, unschlüssig, ob er sich nun über diesen vorweltlichen Schnarch schämen solle, oder was eigentlich, grüßte ihn ihre Seele hold lächelnd über die Schulter: «Jetzt das, jetzt das hingegen, Viktor, das freut mich.» Und ein See von azurblauem Himmel umschwebte ihn, mit unzähligen Theudaköpfchen darin, die ihm sämtlich huldvoll zunickten.

Hiermit fand seine mühsame Buße endlich Gehör und Genüge.

Also geläutert und entschuldigt, frisch und morgenfreudig im Gefühl der kräftigen Reinigung, tat Viktor seinem Herzen die Tür weit auf. «Heißa, mein Herz! Ich, der da meinte, ich sei weise und du wärst ein albern Kaninchen! Irrtum, verkehrte Welt! Ich war torenwitzig, und du bist der Gescheiteste von uns allen. Denn nicht bloß, daß du einzig von Anfang begriffen hast, sie ist Imago, dir verdanke ich auch meine Buße und Bekehrung. Deswegen sollst du fortan nicht mehr mein verachtetes Hündlein sein, verstoßen und mißhandelt, sondern unser aller Führer und Oberst sollst du sein. Heißa, König Herz, befiehl, so geschieht es; begehre, so wird dir's werden.»

Jauchzend frohlockte das Herz: «O Freiheit! Siehe, man hat mir das Maul verbunden wie einem gestohlenen Stieglitz; darum will ich jetzt zur Entschädigung lieben, lieben, bis ich den letzten Hauch meines Atems erschöpft habe.»

Viktor billigte: «Das sei dir unbenommen; doch wisse, Theuda ist Imago, nämlich hoch und hehr. Ist deine Liebe von einem Wunsch befleckt, so wage nicht, die Reine mit unreiner Liebe anzutasten.»

Ihm erwiderte das Herz: «Hier stehe ich offen vor dir; nimm einen Leuchter und zünde in die verborgensten Gänge, damit du mich prüfest.»

Und Viktor tat demnach und zündete in die verborgensten Gänge seines Herzens; und als er die Prüfung vollendet hatte, rief er: «Deine Liebe ist demütig und wunschlos. Also liebe sie denn, liebe sie, bis du den letzten Hauch deines Atems erschöpft hast.»

Da atmete sein Herz und lechzte: «Ich möchte heimlich zu ihr, ungesehen bei ihr wohnend und beständig mit ihr lebend, was sie irgend selber lebt, jede Stunde, jede Sekunde, vom ‹Grüß Gott› des Morgens, wenn sie die Fensterläden öffnet, bis zum ‹Gut Nacht› am späten Abend.»

«Ja, tue das», erlaubte Viktor. Und das Herz tat, wie es gesagt hatte, und lebte ungesehen mit ihr vom Morgen bis zum Abend, vom «Grüß Gott» des Morgens, wenn sie die Fensterläden öffnete, bis zum «Gut Nacht» am müden Abend. Und wenn sie sich zum Mittagessen setzte, nickte es: «Iß und sei fröhlich», und wenn sie sich zum Ausgehen rüstete, flüsterte es: «Nimm nicht das Alltagskleid, sondern das neue, das helle, das köstliche; denn du bist schön und lieb; das bedeutet: wo du bist, waltet alle Tage Festtag.»

Und weiter atmete das Herz und lechzte: «Ich möchte in ihr eigen Herz tauchen, tief bis in den Quell ihres Gefühles, und aus ihrem Herzen alles liebhaben, was sie selber liebhat, angefangen von ihrem Mann und ihrem Kinde bis zu dem Blumenstöcklein vor ihrem Fenster.»

«Ja», erlaubte Viktor, «tue das.» Und das Herz tat, wie es gesagt hatte, und tauchte in Theudas Herz bis in den Quell ihres Gefühles, und liebte aus ihrem Herzen alles, was sie selber liebte, und sprach zu ihrem Manne: «Bruder, du hast einen Freund, von dem du nicht weißt, und einen Helfer, den du nicht vermutest; getrost, was auch die Zukunft dir schicke, ich bin da, ich werde dir beistehen.» Und sprach zu ihrem Kinde: «Deine Füßlein taumeln ins Ungewisse, und deine Äuglein lächeln in Nebel und Ferne; ich aber weiß Rat; ich will dich vor Fehlgang und Schaden behüten.» Und zu dem Blumenstöcklein vor dem Fenster sprach es: «Du mußt fleißig sein, damit du mit deinen Farben ihr lustig leuchtest und mit deinem Hauch ihren Mut erquickest, denn bedenke, deine Ranken ragen in ein besonderes Stüblein.»


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