Carl Spitteler
Imago
Carl Spitteler

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Der Bekehrte

Mit dem Augenblicke, da sich ihm Pseuda in Imago verwandelte, mußte sie ihm in göttlichem Lichte erscheinen. Denn Imago war ja ein übersinnlich Wesen symbolischer Abkunft: die erlauchte Tochter seiner Strengen Frau, die heilige Sängerin der weihevollsten Stunde seines Lebens. Viktors Liebe wurde als Religion geboren. Und, o Wunder! seine Gottheit wohnte in seiner Nähe, sichtbar und erreichbar.

Freilich schmähte bübisches Gelächter seinen Glauben. «Wahnwitz! Albernheit! Schande! Die gewöhnliche Frau Direktor Wyß, die Ehrenpräsidentin der Idealia, urplötzlich in göttlicher Beleuchtung! Lauf zum Arzte, Viktor! Bestell dir rechtzeitig ein Bett in der Irrenanstalt!» Und tausend Erfahrungen erhoben wider ihn ein ohrbetäubendes Geschrei: «Halt! Obacht! warte! wir bringen unumstößliche Beweise!» Allein hat sich jemals ein Gläubiger durch das Geschrei der Beweise irremachen lassen? «Geben Sie acht, vor der Haustür kommen noch drei Stufen», jauchzte sein Herz, und eine Springflut inbrünstiger Liebesandacht schwemmte all den Pöbel aus dem Bewußtsein: Erfahrungen, Zweifel, Bedenken und Beweise, die ganze hämische Rotte. Jeder Einspruch mit Hallo von dannen gejagt wie ein Hund aus der Kirche.

Ihre Nähe! Berge und Wälder, der ganze Horizont rundum verklärt durch ihren Blick; alle Straßen und Wege dieser Stadt geheiligt durch ihren Wandel, die Umgebung durch die Möglichkeit ihres Wandels. Sein Daseinsgefühl schwebte auf Wolken; jeder Atemzug schlürfte Offenbarungsodem; es keimte und blühte um ihn, sein Auge vernahm farbige Arabesken, sein Ohr Orgelrauschen; das kleinste äußere Vorkommnis, der Hammer eines Schmiedes, der Ruf eines Kindes, eine Krähe auf dem Zaun wirkte wie ein kosmisches Gedicht. So reich bevölkerte ihn die Andacht ihrer Nähe, die Vorstellung ihres sichtbaren Vorhandenseins, daß er gar nicht einmal das Bedürfnis verspürte, sie zu sehen; im Gegenteil: er zog vor, sie aus dem Hinterhalt anzubeten, nahe, aber um die Ecke.

Doch ein unleidlicher Gedanke durchquerte seine Andacht: ihr Urteil verdammte ihn nach wie vor, indem sie ja von seiner Bekehrung nichts ahnen konnte. Diesen Gedanken ertrug er länger nicht. Zwar der körperlichen Frau Direktor Wyß seine Bekehrung mündlich oder brieflich mitzuteilen – niemals! sonst hätte er ihr ja zugleich seine Liebe gestehen müssen; dazu aber war er viel zu stolz; auch zu klug; denn da sie ihn doch nicht liebte – oh, nichts weniger als liebte! –, hätte ihn ein Liebesgeständnis in die klägliche Rolle eines schmachtenden Liebhabers hinuntergedrückt; er aber wollte zwar ihr andächtiger Gottesdiener, nicht jedoch ihr bemitleideten Liebhaber sein. Glücklicherweise hatte er den Umweg der gemeinen Mitteilung auch nicht nötig; er wußte eine bessere, sowohl geradere als würdigere Verbindung zu ihr: den Weg der Vision von Seele zu Seele.

Also befahl er jetzt seiner Seele: «Gehe hin zu Theudas Seele, die da ist Imago, und melde ihr: ‹Der Nichtswürdige, mit Blindheit schmählich Geschlagene, welcher dich befeindete und verfolgte, ist tot; ein Neuer steht vor dir, ein Bekehrter, welcher, demütig deine Hoheit und Güte bekennend, dich Imago grüßt und dein Schönheitsantlitz als Symbol der Gottheit andächtig verehrt.› Melde ihr das, und bring mir ihren Bescheid.»

Der Bescheid kam: «Ich traf ihre Seele ans Fenster gelehnt, in die Klarheit des gestirnten Himmels emporbetend. Zurückschauend erteilte sie mir die strenge Antwort: ‹Ich bin ein Weib, Zucht ist mein Stolz, Reinheit meine Ehre. Hinweg, Ruchloser, der du alle Zeit das Weib mit frechem Spott verunglimpfst; eh' daß ich an deine Bekehrung glaube, tue Buße und bekenne den Wert des züchtigen Weibes.›»

Auf diesen Bescheid schickte er abermals seine Seele zu ihr: «Die Buße, die du von mir forderst, ist volltan; denn ich sah in deine Augen: sie straften mich; ich schaute die Hoheit deiner Stirn: sie verdammte mich. Vernimm mein Bekenntnis: Ein Tempel tat sich auf, eine königliche Priesterin trat hervor, hinter ihr die Frauen der Erde, so die gegenwärtigen wie die dahingegangenen, so die wirklichen wie die vom Wunsch gezeugten. Ich aber schaute, glaubte und bekannte: ‹Ich glaube an ein reines, keusches Weib; ihr Gedanke ist Gesang, ihre Werke heißen Hingebung und Aufopferung; auf ihrem Antlitz spielt der Abglanz der Gottheit; auf der Spur ihrer Füße sprießen Hoheit und Adel; sie erhebt die Hand: und das Gemeine entflieht in die Finsternis; sie bewegt sich: und die Sonne jubelt: o Weib, wie bist du schön! Da beugte sie sich tröstend über einen Kranken, der am Wege lag, und ich rief: Weisheit, verhülle dein Haupt; kniet nieder, ihr Tugenden alle, denn Königin ist das Erbarmen.› Gehe hin und überbringe ihr dies Bekenntnis.»

Ihm kam der Bescheid: «Ich traf ihre Seele über die Wiege ihres Kindes gebückt. Aufschauend erteilte sie mir die strenge Antwort: ‹Ich bin eine getreue Tochter, in Lieb und Ehrfurcht den Meinigen ergeben. Hinweg, Ruchloser, der du meinen Vater verachtest und meinen Bruder beleidigst! Eh' daß ich an deine Bekehrung glaube, lerne Ehrfurcht vor meinem Vater und versöhne dich mit meinem Bruder.›»

Ob diesem Bescheid begann Viktor zu seufzen und zu grollen: «Ich will ihren Vater nicht ehren, ich will mich mit ihrem Bruder nicht aussöhnen; denn sie sind Feinde des Geistes, Widersacher der Wahrheit. Ich aber throne auf meinem Rechte, ihnen hoch überlegen.» Und murrte und knurrte in seinem Groll. Da sprach zu ihm die Vernunft: «Darf ich auch etwas reden?»

«Rede.»

«Man ist einem Menschen erst dann hoch überlegen, wenn man ihn nach seinem Wert einschätzt, und wie windig schon der Kurt sein mag, solange er dir etwas verzeihen darf, setzest du ihn über dich. Frisch! hier ist Feder, Tinte und Papier; schreib dem Kurt ein Wort des Bedauerns, so sinkt er in die Versenkung, und du bist einer häßlichen Last ledig.»

Und das Herz schmeichelte: «Er bleibt trotz allem ihr Bruder.» Und der stolze Ritter mahnte: «Dem königlichen Hauptmann der Strengen Frau tut es keinen Abbruch, wenn er freiwillig einen Fehler eingesteht und ihn wieder gutmacht.»

«Ich kann nicht; ich will nicht», knirschte sein Grimm. Siehe, da erschien im Zimmer ein himmelblauer Fleck, der Fleck vergrößerte sich, Harfenrauschen ertönte, und durch die Harfen rief eine Stimme, ihre Stimme: «Geben Sie acht, vor der Haustür kommen noch drei Stufen.»

«Imago», schrie seine Liebe, «du Hohe, du Gute, du Edle! ich glaube.» Und schrieb in fieberhafter Hast dem Kurt eine Entschuldigung; kurz und stolz, aber auch redlich und aufrichtig, wie man soll; ohne sich um das gebührende Wort zu drücken.

Tags darauf erhielt er eine mit Bleistift geschriebene Postkarte ohne Unterschrift:

«Geräuschvoller Hühnerflug der Begeisterung!
Philosophen die Clowns der Universitäten!!
In die Oberste die Taube gefahren! Famos!!!»

Frau Keller, welcher er den Wisch vorzeigte, löste ihm das Rätsel: das war die Handschrift des Kurt; die sonderbaren Sätze waren Zitate aus Viktors Kraftsprüchen, die offenbar dem Kurt unbändiges Vergnügen gemacht hatten; das Ganze bedeutete eine Art Versöhnungsurkunde.

«Nicht wahr, originell? genial?» meinte sie begeistert.

«Siehst du jetzt, Viktor?» belobte die Vernunft. «Ist dir nun nicht leichter und freier zumute? Ich bitte um Antwort.» Viktor antwortete: «Mir ist nicht bloß freier und leichter zumute, sondern auch höher und vornehmer.»

«Drum also fahre fort. Die erste Hälfte ist getan, vollbringe auch die zweite; lerne Ehrfurcht vor ihrem Vater.»

Da sprach Viktor zu sich selber: «Er war ihr Vater; die Sprache seines Angesichtes ist demnach verwandt mit der Sprache aus Theudas Angesicht. Gut; vor seinem Angesicht mag ich die Ehrfurcht lernen.» Ging hin und kaufte sich in der Buchhandlung das Kopfbild des Staatsmannes Neukomm, um es als Vorbild an die Wand zu heften. Allein, wie er nun den zuversichtlichen, überzeugungsbuchenen Charakterkopf mit dem inhaltlosen Feuerblick darin näher betrachtete, übermannte ihn plötzlich der alte Hohn, so daß er hurtig das Bild unter eine Lage Papier versteckte, mit einem wuchtigen Briefbeschwerer darauf, damit der Charakterkopf nicht etwa heimtückisch hervorkrieche.

«Immerhin, er bleibt halt trotz allem ihr Vater», bettelte das Herz. «Er wird schwerlich ohne Verdienste sein, daß sein Denkmal in Marmor vor dem Rathaus steht», überredete die Vernunft. Da hob er den Briefbeschwerer ab und holte den Staatsmann in Gnaden wieder hervor, den er jetzt wirklich an die Wand heftete, allein verkehrt, die Bildseite nach innen, gegen die Tapete, die leere Rückseite nach außen; denn sooft er versuchte, das Blatt umzudrehen, jubelte ihm der Hohn die Ehrfurcht von dannen.

«Ich möchte aber doch», schalt sich Viktor bekümmert, «dem Gebote Theudas gehorchen; denn Theuda ist Imago. Siehe, ihr Vater liegt im Grabe; das Grab ist ernst; wohlan, an seinem Grabe will ich mir den Hohn abgewöhnen.» Und ließ sich auf dem Friedhof das Grab des Staatsmannes Neukomm zeigen. Wie er vor dem Grabe angekommen war, grüßte ihn eine Stimme aus dem Boden: «Wen suchst du?»

«Den Geist des Staatsmannes Neukomm.»

«Es gibt hier keine Staatsmänner», erwiderte die Stimme, «und keine Geister mit Namen. Ich war, als ich noch über dem Boden wandelte, ein hilfloser Mensch wie alle Menschen, ein machtlos Geschöpf, das da geboren ward, seufzte, sorgte und starb wie die übrigen Geschöpfe. Verzeihung jenen, die mir wehe taten, Heil denen, die mich liebten. Zwei treue Menschen, meine Ebenbilder, meine beiden Kinder, schritten weinend hinter meinem Sarge, mein Andenken mit ihrer Trauer heiligend; Segen über den, der ihnen wohl will. Bist du ein Mensch, in Lebenskraft auf Erden wandelnd, so schenk mir Nachricht von meinen Kindern.»

Da sprach Viktor: «Deinen Kindern ergeht es wohl; sie sind geliebt und geachtet bei den Menschen; und der vor deinem Grabe steht, will ihnen beiden gut Freund sein.» Bei diesem Wort verwandelte sich plötzlich das Denkbild des Kurt und wurde fein und anmutig.

Da seufzte die Stimme: «Dafür, daß du mir von meinen Kindern Nachricht gebracht, schließe ich mit dir den Bund des Dankes; und dafür, daß du meinen Kindern gut Freund sein willst, den Bund des Segens.»

Nachdem Viktor wieder zu Hause angelangt war, konnte er das Bild umdrehen. –


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