Carl Spitteler
Imago
Carl Spitteler

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In dieser Not flüchtete ich zu ihr selber, der Herrin meines Lebens, der Strengen Frau: «Siehe, mein Herz versucht mich schwaches Menschenkind; mit Reue mich bedrohend, deinen heiligen Ursprung leugnend, dich eine gemeine Muse schmähend. Darum höre: Ich, der dir ohne Murren alle Hündlein meines Herzens dahingegeben, damit du sie erwürgest, ich heische heute, ehe ich dir das letzte, schwerste Opfer bringe, von dir ein Zeichen, daß du kein täuschend Trugbild bist, ein Pfand, daß du Gewalt und Macht hast, tauglich, mich ans Ziel zu geleiten. Gib mir das Pfand, gewähre mir das Zeichen, und ich gehorche. Wo nicht, verlange nicht von einem schwachen Menschenkinde, daß es sein süßes, seliges Glück für ein Geflüster ohne Unterschrift dahintausche.»

Die strenge Antwort kam: «Ich gewähre weder Pfand noch Zeichen. Willst du mir dienen, so diene mir blindgläubig bis ans Ende!»

«So vergönne mir wenigstens deutlichen Befehl. Befiehl ‹entsage!›, so entsage ich. Nur befiehl deutlich und erlöse mich vom Zweifel.»

Die strenge Antwort kam: «Ich weigere den Befehl. Dein ist der Zweifel, dein ist die Wahl! denn am Scheideweg des Schicksals richtig wählen, ist die Beglaubigung der Größe; doch wäg es wohl, denn wählst du falsch, lohnt dir mein Fluch!»

Zur Linken die Reue, zur Rechten der Fluch! Bekümmert starrte mein Zweifel auf das Zünglein der schlimmen Waage. Da keimte es in den Tiefen meiner bangen Seele, und in die Not der Gegenwart herüber wuchs die Erinnerung an die weihevolle Stunde, da ich zum ersten Male der Strengen Herrin Flüsterhauch vernahm und die inhaltschweren Bilder ihrer überirdischen Sage schaute: die Forderung der kranken Kreatur, als Löwe durch die Felsenkluft dem Erdental entsteigend, das Himmelsvolk erschreckend und den Schöpfer aus den stolzen Hallen seines herrlichen Palastes scheuchend – und was sich alles sonst im Himmelreiche mit dem Löwen außerdem begeben. Diese Stunde schaute ich wieder, und Sehnsucht stärkte meinen Glauben. «Wohlan, es sei! So nimm denn auch dies letzte, größte Opfer. Ein Bettler, steh' ich dann auf Erden; ist nichts mein eigen als du und deines Odems flüsternde Verheißung.» Ich rief's und lud mit gramerfülltem Mut den Willen zum entsagenden Entschluß.

Da tat mein Herz einen letzten verzweifelten Ansprung: «Und sie selber, die auf dich hofft und wartet? Willst du sie gleichfalls opfern? Darf, kann das deine Menschlichkeit? Erlaubt das dein Gewissen?» Kleinmütig spannte ich den Willen wieder ab. Das Herz aber fuhr eifrig fort: «Was wird sie fühlen? was muß sie von dir denken? welch ein Urteil über dich fällen, wenn du sie verschmähst? Sie wird dich für einen zaudernden Schwächling halten, zugleich für einen albernen Toren, unfähig, ihren Wert zu erkennen. Das muß sie von dir denken; und also denkend, wird sie dich verachten.»

Unerträgliche Vorstellung! Das Opfer konnt' ich leisten, nicht aber die schimpfliche Mißdeutung des Opfers ertragen, nicht ihre Verachtung auf mich laden. Nun wußte ich nicht mehr aus und ein, denn erschöpft versagte mein müder Geist den schlichtenden Gedanken.

Da geschah mir die Erscheinung. Sie selbst erschien mir, Theuda, ihre Seele. Ähnlich wie sie mir einst leiblich in der Parusie erschienen war, nur reifer, ernster, mit tiefsinnigen Augen, so wie sie aus dem neuen Bilde blickte. Aus der Finsternis des Speisezimmers trat sie, von dorther, wo die Turteltauben gurrten, blieb auf der Schwelle stehen und sah mich mit traurigen Augen vorwurfsvoll an: «Warum unterschätzest du mich?» sprach sie.

«Ich! dich unterschätzen», schrie ich, «oh, wenn du wüßtest!»

«Doch, du unterschätzest mich», sagte sie. «Indem du mir eine so kleinliche Gesinnung zutraust, ich wäre fähig, als Hindernis zwischen dich und deinen erhabenen Beruf treten zu wollen. Ja, meinst du denn, nur du allein könnest groß fühlen? Nur du wärest edel genug, um deines Herzens Opfer zu bringen? Glaubst du, ich spüre nicht ebensogut wie du den Odem deiner Strengen Frau? ich vermöchte nicht die stolze Auszeichnung zu würdigen, von ihrem auserwählten Hauptmann zum Sinnbild erhöht zu werden? ich begriffe und fehlte nicht, daß es unendlich ehrenvoller und beglückender ist, deine gläubige Begleiterin auf der kühnen Bergstraße des Ruhmes zu sein, als deine geschäftige Gattin und Kinderfrau? Komm, laß uns gemeinsam unsere Herzenswünsche zu den Füßen der ‹Strengen Frau› niederlegen, einen edleren Bund vor ihrem Antlitz schließend als den gemeinen Geschlechterbund vor dem Altar der Menschen, den Bund der Schönheit mit der Größe! Ich will dein Glaube, deine Liebe und dein Trost sein, und du sollst mein Stolz und mein Ruhm sein, der mich erbärmliches vergängliches Geschöpf zum Symbol verklärt, in die Unsterblichkeit hinüberrettet.» – So sprach sie, und voll jubelnden Dankes grüßte ich den Adel ihrer Größe.

Darauf taten wir wie beschlossen. Wir legten unsere Herzenswünsche zu unsern Füßen nieder, dann nahm ich den Brautkranz von ihrem Haupt, hernach streifte sie den Ring von meinem Finger, und wir legten es zu dem übrigen. Und als wir nun leer und kahl dastanden, wie zwei Bäume, die sich selbst entblättert hatten, ohne einen anderen Schmuck als die Hoheit der Seele, da rief ich: «Herrin meines Lebens, du meine Strenge Frau; es ist geschehen! Schau her, das Opfer, das du heischest, ist vollzogen.»

Ihr Odem erschien, und vor dem Schauer ihres Schattens sank meine Geliebte auf die Knie und vergrub zagend ihr Gesicht in meinen Händen.

«Wohl dir», begann die Strenge Frau, «o mein getreuer Hauptmann, daß du recht entschieden; nimm drum zum Lohne meinen Segen. Dies ist mein Segen: Mit Pathos bist du nun geprägt und mit Größe gestempelt; ausgezeichnet vor allen, die ohne das schwarze Siegel meiner Berufung ihre Tage dahinstümpern. Ich befehle dir ein Selbstgefühl, das dich in Irrtum und Narrheit, in Schimpf und Mißachtung nicht verläßt, und ich verbiete dir, jemals in deinem Leben unglücklich zu sein. Denn nicht du bist es, den du fortan in dir fühlst, sondern mich fühlst du in dir; also daß, wenn du nicht hochmütig fühlst, du mich beleidigst. – Doch wer ist jene, die an deiner Seite kniet?»

Ich antwortete: «Dies ist meine edle Freundin, deine gläubige Magd, die gleich mir die Wünsche ihres Herzens zum Opfer dir gebracht. Nimm sie an, wie du mich selber angenommen.»

«Steh auf», befahl meiner Freundin die Strenge Frau, «und zeige mir dein Angesicht! Dein Angesicht ist schön und wahr; wohlan, ich nehme dich an, nicht als meine Magd, sondern als meine Tochter. Neige dein Haupt, o meine Tochter, damit ich dich taufe!»

Da neigte meine Freundin ihr Haupt, und meine Herrin taufte sie mit dem Namen Imago.

«Und nun», schloß die Strenge Frau, «reicht euch die Hände, damit ich euern Bund segne.» Nachdem wir uns die Hände gereicht, sprach sie den Segen: «Im Namen des Geistes, der da höher ist als die Ordnung der Natur, im Namen der Ewigkeit, die heiliger ist als das vergängliche Gesetz der Menschen, erkläre ich euch hiermit als Braut und Bräutigam verbunden, lebenslänglich, untrennbar, durch Glück und Unglück, mit der Seele in steter Hochzeit beieinander wohnend. Du sollst ihr Ruhm und ihre Herrlichkeit sein, und sie soll deine Wonne und deine Süßigkeit sein.» – Nach diesen Worten verschwand die Strenge Frau, und wir waren wieder zu zweien allein.

«Ward dir das Opfer schwer?» lächelte Imago.

Ich jauchzte: «O Krönung meines Lebens, o Verschwendung der Gnade!»

Darauf grüßte Imago den Abschied: «Du bist nun müde, und ich habe einen weiten Weg; doch morgen kehre ich zurück, denn wir weilen ja nun in ewiger Hochzeit täglich beisammen.»

Nach diesen Worten schieden wir in Hoheit und Seligkeit. Aber noch lange blieb ich, dem schweren Nachhall des Ereignisses lauschend, am dunklen Schreibtisch gebannt; denn wie ein Ozean rauschte es durch meinen Geist, und ein feierlicher Gesang umtönte mich wie nach einem Gottesdienste.

Und am folgenden Morgen begann in Wahrheit, wie uns verkündet worden, unser stetes Beisammensein. Eine fliegende Hochzeit, ein jauchzendes Duett, mit vereintem Siegesmunde gesungen. Doch ihre Stimme klang höher als die meinige, so daß ich öfter innehielt, um ihrem Gesang zu lauschen. Wenn ich an ihrer Seite über die Hügel der Erde in das Reich meiner Strengen Frau sprengte, welches reiner ist als das Reich der Wirklichkeit, aber wesenhafter als das Reich der Träume, also daß die Wirklichkeit sich zu ihm verhält wie das Getier zum Menschen, aber der Traum zu ihm sich verhält wie der Geruch zur Blume, und welches sich bis zu den Gefilden der Erinnerungen und Ahnungen erstreckt, da jubelte Imago: «O mein Geliebter, in was für neue, weite Welten führst du mich die Straße? Mein überraschtes Auge nennt sie fremd, doch mein beglücktes Herz begrüßt sie ‹Heimat›.» – Und gute Völker, freundlicher als der Menschen Völker, hießen an den Pforten der Täler uns brüderlich willkommen.

Wenn ich unter sorgenschwerer Arbeit, während welcher sie bescheiden ihre Gegenwart verhehlte, hin und wieder rastete und seufzend aufschaute, traf mich Imagos andächtiger Blick: «Wie beglückt mich der Stolz», erwiderte ihr Blick, «Mich von einem solchen geliebt zu wissen.» Wenn ich nach redlich erworbenem Ruherecht mit ihr in das Außenleben hinunterstieg, mit ihr scherzend wie mit einer menschlichen Ehefrau, sie mit törichten Kosenamen nennend, ihr beim Essen einen Teller und ein Besteck hinstellend, als säße sie körperlich neben mir, lachte Imago vergnügt: «Was sind wir Kinder! Wie aber vollbringst du Tiefer das Wunder, daß du mich so fröhlich lachen lässest, wie ich nie zuvor so fröhlich lachen konnte?»

Darüber wurde ich reich und freundlich, so daß die Menschen verwundert zu mir sprachen: «Angenehm; wie hast du dich lieblich verwandelt.» Wie ein Baum auf freier, sonniger Wiese, der den Wipfel nach allen Seiten entfalten darf und dem die Früchte sämtlich reifen.

Und das währte so weiter, eine unendliche Seligkeit, jenseits von Zeit und Raum, bis zu dem Tage, da die Schnauze des Verrates in die goldige Wonne hereinfuhr wie ein Wildschwein durch eine Tapete. Eine gedruckte Verlobungsanzeige mit einem Fremden; ohne ein Wort der Freundschaft, ohne ein Zeichen der Erinnerung; nichts als die rohe Tatsache. Das Ganze eine stumme Frechheit!

Verächtlich warf ich den Wisch in den Winkel. Nicht der mindeste Schmerz, bloß Empörung über den Verrat, gemischt mit Trauer über die Offenbarung ungeahnter Kleinheit. Etwa so, wie wenn man berauschenden Herzens ein herrliches Klavierstück spielt und plötzlich läge vor einem an Stelle der Noten eine Kröte. Es ist also menschenmöglich, daß ein weibliches Geschöpf, dem das Schicksal die Gunst anbot, als Liebesgenossin eines Berufenen Ewigkeitsluft zu atmen, vorzieht, mit dem ersten besten Bärtling in den Sumpf der Familie zu waten. Verblüfft staunte ich dem wunderlichen Phänomen der Kleinheit nach, wie einst in der Kinderzeit, als ich einen Krebs betrachtete. «Wie kann man ein Krebs sein!» hatte ich damals gerufen. Heute rief ich: «Wie kann jemand nicht groß sein!»


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