Carl Spitteler
Das Bombardement von Åbo
Carl Spitteler

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Gouverneur erhielt übrigens ebenfalls der Arbeit genug, denn vom Schlosse her eilten die Truppen herbei, dem Befehl zuwider, von dem Knall der Kanonen unwiderstehlich angezogen. Es dauerte eine geraume Weile, bis alles wieder in Ordnung zusammengeschimpft war, und mancher Offiziersfluch erscholl noch vereinzelt zur Vorsorge, um einer Wiederholung der Auflösung vorzubeugen.

Eine Breitseite nach der andern knallte das Schiff in rascher Folge ab, so daß binnen kurzem die Lohe aus allen Fugen und Fenstern züngelte, über den Dächern zu einer Flammensäule sich vereinigend und eine riesige Wolke von Qualm bald hierhin, bald dorthin wälzend, je nachdem der Wind eben blies. Der Rappe der Generalin drehte sich um seine eigene Achse, bäumte sich und schlug aus, so oft die Granaten pfiffen oder das Gewölk seine Nüstern erreichte. Balvan Balvanowitsch, die Zügel festhaltend und immer bemüht, sich angenehm zu machen, wagte einen Spaß, da er bemerkte, wie die Gouverneurin gierig den Qualm und Pulverdampf einsog.

«Die Bumbardirovka», schmunzelte er, «schenkt Ihnen eine Accompagnirowanje von Parfümirowanje.»

Pelageja Iwanowna geruhte den Spaß nach ihrem Geschmack zu finden.

«Was ist Ihnen nur heute passiert, Balvan Balvanowitsch? Sind Sie krank? Sie machen mir Sorgen. Wenn das so weitergeht, so steht zu befürchten, daß Sie schließlich noch geistreich werden. Sie müssen das pflegen, Balvan Balvanowitsch; das darf man nicht einreißen lassen.»

«Ich bitte um die Gefälligkeit, Pelageja Iwanowna, bitte dringend! Seien Sie mein Arzt! Einen weicheren und saubereren könnte ich in ganz Rußland unmöglich finden.»

«Lassen Sie die Galanterie! Tun Sie mir den Gefallen! Sie sind so täppisch wie ein Marineoffizier. Halten Sie mich denn wirklich für so dumm, daß ich einen andern von Geist heilen könnte?»

Balvan Balvanowitsch ließ den Mund hangen. Die Generalin aber, von jähem Übermut der Gefahr erfaßt, wie er den Russen eigen ist, schrie plötzlich befehlend: «Lassen Sie die Zügel los!»

Und als der Major gehorchte, sprengte sie gestreckten Galopps den Hügel hinan mitten in die Feuerlinie vor das brennende Gebäude. Ein donnernder Jubelruf der Soldaten belohnte ihre Tapferkeit, und vergeblich bemühte sich der eifrig ihr nachhumpelnde Major, sie wieder herunter zu beschwören.

«Lassen Sie sie nur laufen, die Närrin!» mahnte der Gouverneur gleichgültig. «Wenn sie durchaus getroffen werden will, das ist ihre Sache.»

So behielt Pelageja Iwanowna ihren Willen. Freilich, auf dem Hügel standzuhalten, erlaubte ihr der Rappe nicht. Von Sinnen vor Todesangst, bäumte er sich hoch auf, trug sie, auf den Hinterbeinen stelzend, rückwärts bis nahe an die Flammen, so daß die Glut ihre Locken ansengte, bis daß die Funken auf das Hinterteil des Gauls regneten, worauf dieser dann einige Male im Kreise herumwirbelte und in rasendem Lauf den Hügel hinabsauste, unaufhaltsam flüchtend bis tief in die Stadt und über die Brücke, während die Gouverneurin umsonst mit blitzschnellem Zügeldruck bald links, bald rechts zu wenden versuchte.

«Wie herrlich! wie köstlich! was für ein prächtiges Pferd!» rief sie im Vorüberrasen ihrem Mann mit erstickter Stimme zu.

Nach einigen Minuten kehrte sie aus der Stadt zurück, seitwärts traversierend, das angstvolle, an allen Gliedern zitternde, dampfende und mit weißem Schaum bedeckte Tier Schritt für Schritt im Zickzack den Rain hinanzwingend. Oben begann das Kreiselspiel von neuem, und wenige Augenblicke später kam sie wieder den Berg heruntergerast.

«Aber wir», fragte der Artilleriekapitän, «wir, Balvan Balvanowitsch, werden wir nicht auch schießen?»

«Schießen? Ich bitte Sie, womit schießen? Kugeln gibt es keine.»

«Genau wie in der Krim!» murmelte der Kapitän finster vor sich hin. «Gott gewähre Rußland Galgen!»

Dann verkündete er seinen Leuten: «Geduld, Brüder! Gott hat Kugeln verboten.»

Diese ließen die Arme hangen und schauten traurig vor sich hin.

Indessen, irgend etwas mußte man doch tun, um die Bumbardirovka zu begrüßen. Als daher einmal eine Granate, das Ziel verfehlend, in der Nähe der Batterie mit zischendem Zünder zu Boden fiel, rief einer der Gunteroffiziere, ein flotter junger Kerl aus der Gegend von Kiew, der Lustigmacher der Garnison: «was willst du denn hier, Täuberich? Was zischest du so begehrlich? So jemand wie dich kann ich gerade brauchen. Zigaretten hab' ich, aber leider keine Streichhölzchen! Brüder! Heute ist Festtag! der Feind schenkt uns Streichhölzchen!»

Hiemit lief er eilends der Granate zu; umsonst schrien ihm die Offiziere von weitem entgegen, das ganze reichhaltige russische Schimpfwörterbuch erschöpfend, um ihn zu retten.

«Macht nichts! Macht durchaus nichts! Brüder! Gott ist gnädig!» begütigte er höflich, hielt gemütlich die Zigarette an das fauchende Ungetüm und kehrte befriedigt zurück mit Gebärden, als ob er schmauchte und paffte. Ein schwacher, puffender Knall, eine kleine rot und blaue Lichtgarbe, nach drei Seiten blitzend – der Gunteroffizier warf seinen Kopf zurück, griff mit beiden Händen an seinen Rücken, stieß ein jämmerliches Geschrei aus und stürzte rücklings zu Boden, sich wälzend und sich windend wie eine Weinrebe.

Fluchend eilten die Offiziere herbei. Einige Kameraden aber faßten ihn an Armen und Beinen, wie es eben kam, ohne seiner Schmerzen zu achten. Dabei trösteten sie ihn auf ihre Weise.

«Schrei doch nicht so, du Hund!» rief der eine. «Man könnte meinen, was geschehen wäre! Ein Soldat mehr oder weniger auf der Welt, darauf kommt es doch nicht an. Der Kaiser hat ihrer noch genug.»

Und ein anderer sagte: «Nun, was? Bruder? Was? Ein bißchen sterben, weiter nichts. Was ist da Großes dabei? Dafür sind wir Soldaten.»

So schleppten sie ihn nach der Stadt.

Das Gebäude war beinahe auf den Grund verbrannt, die Kugeln schwiegen, da stürzte ein junger Bauer im grauen finnischen Kittel aus der Nikolajstraße daher, beide Arme mit Steinen beladen, mit verzerrtem Angesicht, wutschnaubend und von Zeit zu Zeit ein grimmiges «Satanaperrkele» zwischen den Zähnen hervorstoßend. Ihm nach, an seinem Rock sich festhaltend und mühsam mitgaloppierend, halb von dem Wütenden geschleift, ein Dämchen in blauseidenem Ballkleid, die Schleppe beschmutzt und zerrissen, das Haar in wilden Strähnen aufgelöst über die Schultern fliegend, Strümpfe und Busentuch in loser Unordnung.

«So warte doch, mein Täuberich! Was läufst du so wie ein Rentier!» keuchte Agafia weinend und scheltend. «Gott im Himmel! halt doch ein wenig!»

Doch Tullela, beim Anblick seines zerstörten Eigentums, rannte nur noch schneller, ab und zu im Laufe noch einen Stein aufhebend.

«Was ist das für ein Kerl? Was will er?» herrschte der Gouverneur, und einige Bajonette versperrten dem Eilenden den Weg.

«Ach, mein Herr! Euer Exzellenz! Baraban Barabanowitsch!» flennte Agafia, ihren Bräutigam festhaltend und ihm Stein für Stein mit sanfter Gewalt zu Boden werfend, «Sie wissen nicht! Der Arme! Der Unglückliche! Das ist sein Haus, das der Feind verbrannt hat. Sein Haus! und wir wollten nächste Woche heiraten. Was jetzt machen? was anfangen?»

Ein Murmeln des Bedauerns durchlief die Reihen der Soldaten, und tiefgefühlte Verwünschungen wurden gegen die Deutschen, Türken und Engländer wegen ihrer unmenschlichen Grausamkeit laut.

Der Gouverneur, zuerst etwas verlegen, gewann rasch seine Fassung. Mit pathetischer Gebärde erst auf das qualmende Gebäude, dann auf Tullela weisend, brandmarkte er in kurzen, kräftigen Worten die ruchlose, der Menschlichkeit und des Völkerrechts spottende Untat des Feindes; hierauf fing er an, Tullela zu bearbeiten.

«Schaut hin, Brüder!» rief er den Soldaten zu. «Seht ihn an, diesen jungen, unscheinbaren Finnen in seinem armen Kittel, ohne Bildung, ohne Glauben, ohne Amt und Stellung, und doch könnte er manchem, der hochmütig mit seinem Rang und Reichtum prunkt, zum Beispiel dienen. Schaut ihn an, den Helden, wie er ohne Murren, freudig und freiwillig sein Liebstes für Kaiser und Vaterland opfert! Wie er strahlt in dem Bewußtsein, durch den Verlust seines Eigentums die Stadt vom Verderben gerettet zu haben!»

Und mit militärischem Schritt auf das unglückliche Opfer zutretend, klopfte er ihm zärtlich auf die Schulter und fuhr mit sanfter, gerührter Stimme fort: «Wie heißest du, braver Mann? Schäme dich deines Namens nicht, denn du hast ihn zu einem Ehrennamen in Rußland gemacht!»

Tullela ließ die letzten Steine fallen, schwieg eine Weile, mißtrauisch umherblickend, ob man sich nicht über ihn lustig machte; endlich polterte er mit plötzlicher Anstrengung seinen Namen hervor. Der General erhob wieder die Stimme zur pathetischen Rede.

«Tullela!» rief er; «Tullela! empfange aus meinem Munde die Anerkennung deines Kaisers! Tullela! das heilige Rußland spendet dir seinen Dank und Segen! Tullela! fahre fort auf diesem Wege, den du betreten! Beharre auch ferner in deiner löblichen opfermutigen Gesinnung, so wird Finnland stolz darauf sein können, dich erzeugt, geboren, gesäugt und erzogen zu haben. Tullela! Das Haus, das dir der Feind zerstört, in deinem Herzen findest du es wieder, schöner und größer, als wenn es in plumper leiblicher Gestalt roh und greifbar von dir stände. Ein kostbarerer Besitz als Geld und Gut und Reichtum ist Tugend und Rechttun. Eine Ziegelbrennerei hast du verloren – einen Tempel des Bewußtseins hast du gewonnen; und wo ehemals dein Herd stand, da thront jetzt der Altar des Vaterlandes! – Uff! ich ersticke! – Ist das lang, solch eine Rede! Ist das mühselig! ist das dumm! – Genug! Der Halunke wird mich noch umbringen!»

Hierauf löste er feierlich einen seiner vierundzwanzig Orden von der Brust und heftete das Kinkerlitzchen an Tullelas Kittel.

«Urrah!» schrien die Soldaten, und die Trommeln wirbelten.

Aber trübe stierte Tullela bald auf seine Verzierung, bald auf sein zerstörtes Haus.

«Weine nicht! zürne nicht! mein Süßer!» schmeichelte Agafia, kosend seinen Arm ergreifend und seine Faust lösend, welche noch immer einen Stein krampfhaft umklammert hielt. «Du hast ja jetzt einen Mandeli. Da grüßen dich die Gendarmen, wenn du vorübergehst, und du darfst bei der Parade in der vordersten Reihe stehen. Und in der Butterwoche, wenn du betrunken am Boden liegst, sprechen die Gendarmen zueinander: ‹Rühr den nicht an, er ist ein Bruder des Kaisers›, so daß du ruhig bis zum andern Morgen liegenbleiben kannst. Und weißt du, wenn der Kaiser erfährt, daß der Feind dir dein Haus zerstört hat, so läßt er dir ein neues bauen aus Marmor und Gold und Lapislazuli, wie die Isaakskirche; er ist ja so reich, man bekommt ganz Angst davor, daran zu denken, wie reich. Und eine Schaukel wird dir der Kaiser schenken und eine Mütze mit Pfauenfedern ringsum, und ein Badezimmer mit einem hohen Ofen, um darauf zu klettern, und Tee und Zuckerkandel und eine große, gelbe, angorene Katze, und du wirst ein Baron sein und ein hoher Offizier, daß du alle kujonieren kannst und, wenn es dir gefällt, nach Sibirien schicken, geraden Weges über Moskau.»


 << zurück weiter >>