Carl Spitteler
Das Bombardement von Åbo
Carl Spitteler

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Während des Nachmittags hörte der Regen auf, und ein warmer Sonnenschein zerstreute die Wolken. Jetzt gedachte Agafia von ihrem Urlaub Gebrauch zu machen, um mit ihrem Bräutigam das Bombardement anzusehen. Davon, daß dasselbe erst abends beginnen und daß es dem Hause ihres Liebsten gelten sollte, wußte sie natürlich nichts, so wenig wie die übrigen Einwohner der Stadt; denn das blieb Staatsgeheimnis, das gehörte zur höhern Politik. Zwei Kleider hingen in ihrem Schrank, jedes ihre Augen verlockend. Das eine war ihr rotes kleinrussisches Kostüm, es stand ihr schön, darüber konnte kein Zweifel walten, man hatte es ihr oft genug gesagt; das andere aber, das Geschenk von der Gouverneurin, mit seiner blaßblauen Farbe, sah vornehmer aus; die Gouverneurin hatte es ja selbst am Ball getragen, was brauchte es eines bessern Beweises? Und eine Schleppe hatte es! eine Schleppe! Wenn sie mit dieser Schleppe spazieren ginge, so würde der Major Balvan Balvanowitsch ihr den Arm reichen und sie «Madame» heißen. Die Schleppe entschied, und mit kindlichem Selbstbewußtsein rauschte sie in die Küche, um die Huldigung ihres Geliebten zu empfangen. Tullela nahm vor Verlegenheit die Mütze ab und zog sich einen Schritt zurück.

«Fürchte dich nicht vor mir», flüsterte Agafia gnädig, indem sie ihn küßte, «für dich bleibe ich dennoch deine kleine Agafia.»

Dann zogen sie auf die Straße, Arm in Arm, und Agafia, die den Sonnenschirm beständig hin- und herbewegte wie einen Fächer, genoß die Befriedigung, daß sie Aufsehen erregte. Die Finnen wichen scheu und ehrerbietig zurück, die Soldaten legten die Hand an ihre Stirn, und selbst die Offiziere und Beamten, nachdem sie den Begleiter spöttisch betrachtet, bequemten sich zu einem mehr oder weniger freiwilligen Gruße. Die Schleppe tat ihren Dienst. Nur eines fehlte ihr noch zur Vornehmheit: die Zigarette. Doch sie besaß ja einen Rubel, und eine Schenke war nicht weit. Hurtig wie ein Eichhörnchen huschte sie die ihr wohlbekannten drei Stufen zum Wirtshaus hinan, ihren Liebsten stehenlassend, und kaufte sich ein Päckchen «La Ferme». Dann erschien sie wieder, in eine Rauchwolke gehüllt, laut hustend und die Zigarette zwischen zwei Fingern weit von sich streckend. Jede halbe Minute hatte sie ein Stück zu Ende geraucht, worauf sie den nächsten besten Vorübergehenden, am liebsten einen Beamten, um Feuer bat. Der verbeugte sich höflich und galant, legte die Hand an die Mütze und gewährte ihr das Verlangte.

Unwillkürlich nahm sie den Weg nach dem Hafen. Dort war alles in wildester Bewegung, weil das englische Kriegsschiff eben zwischen den Schären angekommen war und in nicht allzugroßer Entfernung sichtbar und bedrohlich ankerte. Man konnte sogar die zwei Kanonenreihen unterscheiden, und die bauschenden Segel überragten die Tannen der Inseln.

«Wie hübsch! Was für ein Festtag!» rief Agafia aus, lustig in die Hände klatschend.

Allein diese ästhetische Billigung mißfiel dem Volke, welches wilde Drohrufe ausstieß.

«Tut mir doch den Gefallen, Freunde, und fürchtet euch nicht!» begütigte Agafia lachend. «Kanonen haben sie freilich, die Engländer, ob aber auch Pulver und Kugeln dazu, das ist die große Frage! Glaubt mir, seht, ich denke, es wird wohl bei ihnen gehen wie bei den andern auch. Anfangs, wenn sie von zu Hause fortfahren, da besitzen sie alles; aber England ist weit, und das Leben auf dem Schiff ist langweilig. Heute verkauft der Admiral ein Kügelchen und morgen der Kapitän eins für einen Damenhut oder ein Korsett oder ein Paar Schnürstiefelchen; und die Matrosen tauschen das Pulver gegen Schnupftabak und Zigaretten – natürlich, was wollten sie auch mit dem Pulver anfangen? Und Branntwein haben sie ja auch nötig, die Armen! wenn sie schon Engländer sind und keine Rechtgläubigen! Seht, sie verkaufen nur immer eine Handvoll jeden Tag; aber wenn dann das Jahr um ist – begreift ihr? – und es einmal zum Totschießen kommt, was bleibt dann den Armen an Pulver und Kugeln übrig? Nichts! einfach nichts, sage ich euch! Patz!»

Den Finnen leuchtete das dunkel ein, so daß sie besänftigt knurrten. Aber einige Zornköpfe vermochten doch den Anblick des hölzernen Ungetüms, welches die Stadt Åbo zu bombardieren kam, schlechterdings nicht zu ertragen. Sie bestiegen einen kleinen Küstendampfer und fuhren unter dem wilden Jubelgrölen ihrer Landsleute zum Angriff in die See. Auf dem Engländer geschahen Zeichen mit Flaggen und Wimpeln; plötzlich leuchtete ein prächtiges Rot von der Breitseite des Schiffes, umhüllt von graublauen Wolken; dann erscholl ein weicher, doch kräftiger Donner.

«Pummi», schrien am Ufer die Finnen und purzelten mit Wutgeheul durcheinander.

Allmählich, als weiter nichts geschah, erholten sie sich und erkundigten sich nach den Toten. Niemand war nur verwundet, auch wurde eine Kugel weder gehört noch gesehen.

«Was habe ich euch gesagt?» rief Agafia triumphierend. «Seht ihr jetzt, daß ich recht hatte! sie haben keine Kugeln.»

Eine Stafette, die wie ein Wirbelwind durch die Stadt daher galoppierte, machte fernern Angriffsgelüsten mit strengem Verbot ein Ende.

«Komm, mein Täuberich», schmeichelte Agafia, «hier gibt es nichts mehr. Wir wollen der Küste nach zu den Kosaken. Dort geht es lustig her. Bei den Kosaken ist immer Festtag.»

Unterwegs, in der Henriksgasse, die unmerklich, dorfähnlich nach der Landschaft verläuft, machte sich Agafia auf Schritt und Tritt unnütz, indem sie bald wie ein Wiesel ihr Näschen durch die offenen Fenster steckte, die Alten neckend und die Kinder zärtlich herzend, bald hoch aufgerichtet wie ein Pfau das zartblaue Ballkleid mitten durch die Straße schleppte, den vorübergehenden Männern einen jener Flammenblicke seitwärts zuschleudernd, welche sie den französischen Sängerinnen aus dem Societätshüß abgelauscht hatte, in der Meinung, hiemit der feinsten hauptstädtischen Lebensart teilhaftig zu werden. Tullela aber, der nicht wußte, wie ihm geschah, schritt ehrerbietig an ihrer Seite und ließ sich alles gefallen.

Draußen vor der Stadt, auf einer Wiese, sahen sie den Major Balvan Balvanowitsch, wie er die Infanterie musterte. Der gute Mann, jählings aus seinem Kartenspiel aufgeschreckt und durch ein Schreiben des Gouverneurs niedergedonnert, das ihm mit dem Kriegsgericht wegen der Waffenunterschleife drohte, hatte vollkommen den Kopf verloren; um denselben wiederzufinden, galoppierte er unaufhörlich um die kleine Truppe, die Soldaten beschimpfend, die Offiziere in höflichem Jammerton verblümt anklagend und dabei kreuz und quer die fürchterlichsten Flüche ausstoßend, daß selbst ein Samojede sich darob würde entsetzt haben. Während dieses ungestümen Zorngewitters rauchten die Offiziere gleichgültig ihre Zigaretten, die Soldaten hingegen standen in untadelhafter, steifer Stellung ruhig da, und wer von ihnen kein Gewehr besaß, führte mit einer imaginären Flinte trotz seinem bewaffneten Nebenmanne alle Exerzitien vorschriftsmäßig aus. Von Zeit zu Zeit verging Balvan Balvanowitsch der Atem; dann ritt er gegen einen kleinen Erdhügel, auf welchem Mademoiselle Titi und Mademoiselle Fifi, die Sterne des Societätshüß, thronten, die Musterung mit ihrer Gegenwart beehrend. Vor diesen pustete er tief aufatmend, rieb sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und beklagte bitter sein Schicksal, welches ihn verdammt, eine solche «barbarische, brutale russische Bande» zu befehligen, statt ihn, wie es doch seinen Talenten angemessen gewesen wäre, zum Feldherrn Napoleons III. gebären zu lassen, für welchen er eine schwärmerische Begeisterung an den Tag legte. Nachdem er den Damen noch galanterweise eine Flasche echten Wiborger Kognak hatte vorsetzen lassen, entblößte er sein Haupt, verbeugte sich anmutig, setzte dem Rappen beide Sporen in die Weichen und begann das Donnerwetter von neuem.

Agafia, stolz in dem Bewußtsein ihres seidenen Prachtkleides, spazierte vor den Truppen langsam der Front entlang, ihren Bräutigam nach sich ziehend. Sie hielt ihre Privatparade. Nachdem sie dieselbe beendet und alles nach Wunsch befunden hatte, pflanzte sie sich neben Fifi und Titi auf und machte sich nunmehr ein Geschäft daraus, die Pariserinnen aus Brabant zu überstrahlen und gelb zu ärgern. Keine Stellung ist so theatralisch und keine Verrenkung so graziös, daß sie dieselbe nicht versucht hätte, und da es einem bildhübschen weiblichen Geschöpf auch bei den redlichsten Bemühungen schlechterdings unmöglich wird, unvorteilhaft auszusehen, so erreichte sie ihre Absicht gegenüber ausgedienten Gartensängerinnen ohne Vorzug. Das gab nun ein wechselseitiges Sichbrüsten und ein Achselzucken, wie wenn drei Truthennen sich um einen Hahn streiten. Daß beide Parteien die Reden der andern nicht verstanden, diente nicht zum Frieden, da nun jedes seine ganze Meinung auskrähte, der Gegner aber dieselbe an der Mienensprache erriet.

«Seht», lachte Agafia vergnügt, indem sie mit beiden Händen lebhaft gestikulierte, «was euch ärgert, das ist bloß der Neid. Weil ich jetzt eine feine Dame bin, weil ich ‹La Ferme› rauche, weil ich einen Bräutigam habe, einen jungen, einen hübschen, einen reichen, einen, der mir gehorcht, der mir meinen Schafpelz nachträgt, der mir am Sonntag Rosinen schenkt, einen ganzen Sack voll, und mir alle Tage das Holz in die Küche hinaufschleppt. Gelt, den möchtet ihr haben? Aber da bemüht ihr euch umsonst, denn er ist mir treu und liebt mich; liebt mich, sage ich euch, wie ein Baron; liebt mich, als wenn wir schon fünfzig Jahre verheiratet wären und Großkinder hätten; liebt mich wie Elias der Donnerer, wenn er gleich nur ein Ungläubiger ist.»

In diesem Augenblick sprengte Balvan Balvanowitsch heran, in unbestimmter Ehrfurcht, angezogen von dem weithin leuchtenden Volantkleid Pariser Schnittes. Agafia verübte eine tiefe, anspruchsvolle Verbeugung, dann blinzelte sie schelmisch und schwatzte mit kameradschaftlicher Vertraulichkeit: «Kennen Sie mich, Balvan Balvanowitsch? Wie gefalle ich Ihnen? – Aber warum denn so zornig? Heute ist doch Festtag! Sie müssen sich's nicht zu Herzen nehmen, wenn Ihnen etwa Baraban Barabanowitsch etwas Unfreundliches gesagt hat. Er meint es nicht böse; ich kenne ihn genau; er ist im Grunde ein seelenguter Herr, ob er schon zuweilen ein bißchen barsch spricht. Er kommt alle Tage zu mir in die Küche und plaudert und spielt oft stundenlang mit mir wie ein Kind, nicht im mindesten hochmütig; faßt mich um den Hals und küßt mich, ganz wie ein einfacher Soldat; sitzt auf den Herd wie ein Schwabenkäfer und nimmt es nicht übel, wenn ich ihm Wasser angieße. Und singen kann er, sage ich Ihnen, singen, Sie glauben es nicht, wie ein Kosak. Nur den einzigen Fehler hat er, daß er ein bißchen eifersüchtig ist. Aber das sollten Sie ihm doch nicht übel nehmen. Er ist ja der Herr im Lande.»

In der Tat glätteten sich die Züge des Majors, und sein Blick erhellte sich, während er den koketten Bewegungen des anmutigen Mädchens folgte. Als er ihr jedoch eine Flasche Kornbranntwein anbot und Miene machte, vom Pferde zu steigen, wehrte sie ihm mit erheuchelter Geschäftigkeit eifrig ab.

«Entschuldigen Sie, Balvan Balvanowitsch, die Zeit fehlt mir; ich muß meinen Bräutigam den Kosaken vorstellen; sie kennen ihn noch nicht. Und dort ist Musik; wohl möglich, daß es zum Tanzen kommt. Und was die Engländer betrifft, so fürchten Sie sich nur nicht im mindesten vor ihnen. Sie haben keine Kugeln, ich weiß es; und auf dem Lande, so sagen alle, Sie können fragen, wen Sie wollen, verstehen sie sich gar nicht zu bewegen. Gott hat ihnen die Beine versagt.»

Hiemit knickste sie und schwänzelte, nachdem sie erst noch dem Bataillon mit dem Taschentuch Abschied zugewinkt, wohlgemut von dannen, froh über den Sieg, den sie über Fifi und Titi davongetragen.

Weil sie aber bemerkte, daß Tullela in Eifersucht dunkelrot geworden war, begann sie ihn sanft, doch nachdrücklich zu ermahnen: «Schau, Tullela, mein Täuberich, du bist dumm wie ein Rentier, nimm mir's nicht übel. Man kann dir's übrigens nicht verargen, da du ja kein Rechtgläubiger bist und deshalb nicht weißt, was sich schickt. Erstens, wenn man mit einer Dame geht, so schleicht man nicht hinter ihr drein, sondern man legt die eine Hand auf ihre Achsel. – So! – Dann geht man im Takt, die Fußspitzen hübsch auswärts. – So! – Und guckt nicht auf den Boden, sondern im Kreise herum, damit man sich versichern kann, ob die andern einen auch sehen. Und dann sagt man mir ‹Mignon›, auf französisch, das ist vornehm. Sag ‹Mignon›. Gut; nicht übel; du bist nicht so ungeschickt, wie du aussiehst, man muß dich nur ein bißchen erziehen. Und weißt du», flüsterte sie zärtlicher, «wenn wir einmal verheiratet sind, dann will ich dir eine gute, liebe Frau sein und nie mit dir zanken. Und den ganzen Tag sitzen wir zusammen auf der Schaukel, Arm in Arm, und rauchen Zigaretten, und abends lassen wir uns Kosaken kommen, daß sie uns Ziehharmonika vorspielen. Und des Sonntags kaufe ich dir Wachskerzen beim Popen, damit er für dich betet und du nicht in die Hölle kommst.»

Allmählich, durch die Abwesenheit von Menschen und den Anblick der trauten Landschaft ermutigt, taute auch Tullela auf und wurde erst einsilbig, hierauf gesprächig, schenkte ihr allerlei Kosenamen, bald «Lachs», bald «Butterballe», und malte ihr vor, wie er sein neues Haus, die Ziegelbrennerei, für sie eingerichtet habe, mit funkelnagelneuen Möbeln, daß ihr nichts fehle, schönen, breiten Betten und einer geräumigen, taghellen Küche. Bei dieser Beschreibung leuchteten seine Augen, und seine Arme, von der Erinnerung an die Arbeit beseelt, führten einige linkische Bewegungen aus. Agafia lächelte hocherfreut und nickte von Zeit zu Zeit. Plötzlich blieb sie stehen.

«Aber Zucker», fragte sie mit jähem Eifer, «Zucker hast du doch hoffentlich nicht vergessen für den Tee? – Wir sind ja reich. Da können wir die ganze Tasse anfüllen bis oben hinaus und brauchen nicht bloß die Stückchen zwischen die Zähne zu klemmen und den Tee hindurchzuschlürfen wie die Bauern und Kaufleute. Und wenn uns Gott Kinder schenkt, so müssen die Knaben Baron studieren wie die Deutschen; die Mädchen aber große, große Damen, damit der Kaiser, wenn er nach Finnland kommt, fragt: ‹Was sind das für Leute?›, und ich antworte: ‹Das sind meine, Eure Majestät, meine!›»


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