Carl Spitteler
Das Bombardement von Åbo
Carl Spitteler

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Tullela hatte bei alledem vergessen und verstoßen abseits gestanden, trübselig zu Boden blickend. Jetzt hüpfte Agafia flink wie ein Reh an ihn heran.

«Werde nur nicht böse, mein Täuberich! sei doch nicht traurig, meine Seele! Ein bißchen sich lustig machen, darüber braucht man doch nicht traurig zu sein. Ein bißchen tanzen, weiter nichts. Lieben tue ich dich ja dennoch. Und dann werden wir uns heiraten. Willst du? Aber komm in die vorderste Reihe, damit du mich bewundern kannst, wie ich tanze. Mach die Augen auf, denn du bekommst etwas zu sehen.»

Nachdem sie ihm hurtig und verstohlen einige Küsse appliziert, zerrte sie ihn unter die Soldaten.

Die Harmonika quiekte einen Moll-Akkord, die Kosaken hefteten die Blicke stier und ausdruckslos auf ihre Stiefel, wie es der Festtag erheischte, und begannen mit plärrendem Geschrei eine der unsäglichen und unendlichen Klageweisen im Presto furioso, welche dort unten am Dnjepr der Menschheit zum Symbol des Jubels dienen. Der Hetman, den schwarzen Butterkübel kühn über das linke Ohr gestülpt, den Riemen kokett mit den Zähnen zernagend, nahm Agafia unter dem Arm, auf französisch, stolzierte mit ihr in die Mitte des Kreises, entließ sie mit einer Verbeugung aus dem Zeitalter Ludwigs XIV., dann gab er ihr seine Künste zum besten, wie besessen um sie herumtobend, bald auf dem Boden kauernd und die gestiefelten Beine nach allen Richtungen herumschleudernd, bald hoch aufschnellend wie ein Teufel aus einer Schachtel, bald in Cancanschritten, den Säbel in der Rechten, gegen sie anstürmend, als gälte es Mauern zu überspringen und Schanzen zu erobern; während dieser Arbeit lief ihm der Schweiß in Strömen über die Stirn, und die langen Haare blieben ihm im Gesicht kleben. Agafia ihrerseits wand und drehte sich wie eine Schlange, mit dem Taschentuch in den Lüften fuchtelnd, um die Grazie einer vornehmen Dame zu erreichen, alles würdig und feierlich, die Blicke selbstgefällig vorn und seitwärts und rückwärts an ihrer Gestalt herumschickend, bis schließlich der wahnsinnige Takt des unaufhörlich fortplärrenden Liedes über ihre Ziererei siegte, worauf sie wie ein Kobold mit Riesenschritten auf ihren Küchenstiefeln cancanierte, daß das Wehen des Gazekleides den Sängern den Atem zu rauben drohte. Und so oft sie an Tullela vorübersauste, jagte sie ihm einen durchbohrenden Liebesblick zu.

Tullela aber, obschon im Grunde nicht wenig stolz auf die Künste und Triumphe seiner Braut, schielte mißtrauisch von einem Kosaken zum andern und murmelte von Zeit zu Zeit halblaut vor sich hin: «Das ist meine.»

 

Abends gegen zehn Uhr, also noch bei hellem Tage, fuhr das Kriegsschiff mit vollen Segeln zwischen den Schären hindurch und legte sich auf Schußweite vor Anker. Eine ungeheure Aufregung bemächtigte sich bei diesem Anblick der Bürger, die von der Abmachung zwischen dem Gouverneur und den Engländern nichts wußten. In den Straßen wimmelte es wie in einem Ameisenhaufen; die wehrfähigen Männer, mit Messern, Sensen, Angelhaken und Dreschflegeln bewaffnet, eilten kampfesmutig entweder zum Hafen oder nord- und südwärts der Stadt nach dem Strand, wilde Verwünschungen ausstoßend; der furchtsamere Teil der Bevölkerung versteckte sich in die Keller oder in die Kirchen; einige beherzte Frauen sammelten Wasser in Kesseln, Kübeln und Eimern, um für den Brandschaden gerüstet zu sein, denn eine Feuerwehr hatte Åbo damals noch nicht. Abordnungen der Finnen und Schweden lösten einander ab, um dem Gouverneur bald diese, bald jene Maßregel zu empfehlen; die beiden lutherischen Pfarrer aber samt dem Bürgermeister stellten ihm den unersetzlichen Wert von dreißigtausend Menschenleben vor Augen, von welchen er dereinst am Jüngsten Gericht Rechnung werde ablegen müssen, und heischten die Übergabe der Stadt, mit eifriger Beteuerung ihrer unverbrüchlichen Anhänglichkeit an den Kaiser. Der Gouverneur hielt für alle diese Zumutungen stets dieselbe Antwort bereit. «Gut, Freunde! Ausgezeichnet! Das Vaterland dankt Ihnen. Übrigens: das geht mich an. Bemühen Sie sich daher nicht weiter.» Als jedoch die Pfarrer und der Bürgermeister Miene machten, die saugenden Mütter und die unmündigen Kinder herbeizuholen, entwich ihm jählings die Geduld.

«Mein Palast ist keine Hebammenanstalt. Meinetwegen können Sie, wenn Sie Kindervorstellungen geben wollen, die Komödie im Sozietätshaus aufführen oder in der Kirche oder wo Sie sonst wollen. Genug. Steigen Sie mir gefälligst den Buckel hinauf. Ich habe die Ehre, meine Herren.»

Er hatte die Truppen verteilen lassen, Kompanie von Kompanie weit getrennt, meistens im Süden der Stadt, landeinwärts, in der Gegend des Schlosses, möglichst von der Ziegelhütte entfernt, damit sie nicht störten. Nur eine Batterie von vier Kanonen hatte er in der Nähe der Ziegelei aufgepflanzt, ansehenshalber. Er selbst mit seiner Frau, begleitet von Balvan Balvanowitsch, dem Generalstabe und einer halben Kompanie finnischer Garden, begab sich ans Ziel der Bumbardirovka, einen kleinen Hügel nordwärts der Stadt, auf welchem Tullelas Haus und Schuppen stand, hart über der See, genau dort, wo gegenwärtig das «Hôtel de l'Océan» mit seinen gemalten Marmorpfeilern aus Lärchenholz in falschem Glanze prunkt. Am Fuße des Hügels, in einer Versenkung des Bodens, wurde Stellung genommen; man war dort einigermaßen entfernt und geschützt, während man zu gleicher Zeit sowohl das Schiff als die Fahne beobachten konnte, die der Gouverneur auf das Dach der Ziegelei hatte stecken lassen, damit der Feind das Ziel ja nicht verfehle. Balvan Balvanowitsch, beständig von Visionen des Kriegsgerichts geplagt, kauerte mit gedankenlosem Blicke auf seinem hohen Rappen; der Helm schien seine niedere Stirn noch tiefer herunterzudrücken, und alle seine Bemühungen, mit dem Gouverneur ein kameradschaftliches Gespräch anzuknüpfen, trugen ihm bloß verächtliche Mienen und wegwerfende Bemerkungen ein. Jetzt versuchte er es mit der Gouverneurin, vor welcher er seine ungeschlachte Galanterie, die er bisher einzig an Cafésängerinnen und Badedienerinnen geübt, hervorkramte und mit größter Anstrengung sammelte.

«Ich bitte», hub er an, «Pelageja Iwanowna, hier sind Sie den Kugeln ausgesetzt. Ist Ihnen nicht vielleicht gefällig, daß ich Sie weiter gegen die Stadt hin begleite? Ich werde Ihnen eine Kompanie für Ihre Sicherheit zur Verfügung stellen.»

«Nein, ich danke», lautete die ungnädige Antwort, «ich liebe die Kugeln.»

«In diesem Falle stehe ich Ihnen zu Diensten, Darf ich Sie den Hügel hinaufführen?»

«Nein, auf dem Hügel zieht es.»

«Zieht es? Sie sind doch hoffentlich nicht unwohl, Pelageja Iwanowna?»

«Gott im Himmel! Was für ein zudringlicher Mensch! – Ich fühle Schmerzen auf der Brust.»

«Auf welcher, wenn es zu fragen erlaubt ist, auf der linken oder auf der rechten?»

«Durak!» zischte die Gouverneurin wütend.

Allein er ließ nicht ab.

«Ihre zarten, samtnen Beine, Pelageja Iwanowna, werden müde werden, ewig so dazustehen. Darf ich Ihnen vielleicht mein Pferd anbieten?»

Die Generalin betrachtete das schöne, feurige Tier unwillkürlich mit Wohlgefallen. Schon war Balvan Balvanowitsch diensteifrig auf die Füße gesprungen und nötigte sie zum Aufsitzen.

«Ich bitte», sprach er artig, den Steigbügel hinhaltend.

Pelageja Iwanowna warf einen Blick auf ihr Kleid – es war kein Reitkleid –, einen zweiten auf die Truppe und zauderte.

Balvan Balvanowitsch erriet ihre Bedenken.

«Die Offiziere hinter die Front!» kommandierte er angelegentlich.

Nachdem sie sich versichert, daß dem Befehl Folge geleistet worden, schwang sie sich behend in den Sattel, rittlings, nach Männerart, und ihre faule Haltung verwandelte sich plötzlich zu amazonenhafter kühner Grazie. Ihre Augen leuchteten, und der Rappe, der leichten Last und der ebenso weichen wie sichern Zügelführung froh, begann zu tänzeln, zu schnauben und mit dem Schweife zu peitschen.

«Gut!» erklärte die Gouverneurin, mit gnädigem Kopfschütteln dem Major dankend.

Dieser atmete tief auf, keuchend und pustend im Gefühl der entschwundenen Angst.

«Da! Gott sei Dank! jetzt kann alles wieder gut werden!» brummte er getröstet; «eine Generalin, jung und glatt und sauber, das ist das beste Mittel gegen ein Kriegsgericht.»

Die Fregatte trieb eine Rakete in die Luft, dann eine zweite und eine dritte.

«Es fängt an», polterte der Major gleichgültig.

Aus der ersten Schiffsluke links in der obersten Reihe kräuselte ein blaues Wölklein, sausend und zischend pfiff etwas in den Birkenbusch unten am Bach hinter der Brennerei, die Äste zerschleißend, und aus der Ferne krachte ein dumpfer Schuß.

«Fehlgetroffen!» markierte ein Artillerist ruhig, und die übrigen wiederholten nachlässig: «Fehlgetroffen!»

Eine zweite Rauchwolke folgte der ersten aus der Nachbarluke. Auf der Meeresfläche tänzelte eine Kugel, lustig auf- und abspringend, Schaum und Gischt um sich spritzend. Die Soldaten wurden mutwillig.

«Aber jetzt paßt auf, Brüder!» sprach überlegen und ernsthaft der Offizier, «jetzt kommt's richtig!»

Allerdings platzte die dritte Granate hart vor dem Hause, auf dem Wege Rasenstücke und Lehm herumschleudernd bis hinunter in die Versenkung, die Dortstehenden mit Staub und Schmutz besprengend. Ein fröhliches Gelächter begrüßte die Bescherung, und der Major benützte die Gelegenheit, um das Kleid der Generalin zu reinigen, eifrig schüttelnd und blasend.

«Schadet nichts! Hat nichts zu sagen!» beteuerte diese freundlich. «Bemühen Sie sich nicht, Balvan Balvanowitsch. Es ist ein ganz altes Kleid. Natürlich, Sie begreifen doch, zu einer Bumbardirovka putzt man sich nicht wie zu einem Ball, obschon nach meiner Meinung ein hübsches, sauberes, gewaschenes Granätchen, das am richtigen Ort platzt, unterhaltender ist als manche lange Masurka mit Knallbonbons.»

Die vierte Kugel schlug die Signalstange auf dem Dach entzwei, daß die Fahne heruntertorkelte.

«Bravo!» riefen die Soldaten. «Ein Held! Ein Jüngling! Ein Offizier! Diese Granate! Die versteht's!»

Und einer aus der finnischen Garde trat schüchtern aus dem Glied, die Hand grüßend an den Helm gelegt.

«Euer Hochwohlgeboren», stotterte er gegen den Major. «Bitte! Erlauben! Die Fahne wieder aufstecken!»

«Durak!» brüllte dieser. «Schweigen und stillestehen!»

Mit tiefem Bedauern schlich der Infanterist wieder in die Reihe zurück, als wäre ihm ein Urlaub verweigert worden.

Jetzt aber hüllte sich das ganze Schiff in dunklen Rauch, so daß allein der Hauptmast aus der Wolke hervorragte. Ein höllisches Knistern, Prasseln und Wettern in der Ziegelhütte, ein dichter Hagel von Steinen, Scherben und Splittern, ein gewaltiger, lang dauernder Knall – und aus dem ganzen Dachgefüge loderten die hellen Flammen empor. Ein grimmiger Zornruf entfuhr den Soldaten, und ehe man sich's versah und es wehren konnte, stürmte die Garde den Hügel hinan, aufgelöst, ohne Befehl und Ordnung. Ihnen nach mit fürchterlichen Verwünschungen der Major, so schnell es ihm seine ansehnliche Beleibtheit gestattete.

«Wollt ihr gleich rückwärts? Ihr Viehstücke! Was habt ihr dort oben zu suchen! Schnaps gibt es dort keinen. Oder meint ihr etwa, die Engländer säßen auf ihren Kugeln wie der Baron von Münchhausen! Da könnt ihr lange umsonst warten. Das sind Feiglinge. Die schießen bloß, wenn sie sich in Sicherheit wissen!»

«Das heißt, wenn sie wissen, daß der Feind die Kugeln verkauft hat», ergänzte der Gouverneur trocken.


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