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Siebentes Kapitel.
Freiburgs Drei Tage. III.

Der Ostermontag. – Erstürmung von Freiburg.


In der stillen Nacht hatte der Doktor Faust auch seine Träume gehabt. Und nicht hatte ihm geträumt von Unken und Spinnen, auch nicht von Leichen und wackelnden Zähnen, sondern anmuthige Gestalten, wie sie der Phantasie des Schläfers zusagten, hatten sein Bett umgaukelt. Zuvörderst waren heidnische Figuren in seine Nähe getreten. Eine rothwangige Flora, die ihm das Gemach voll geschüttet mit bunten Hochzeitskronen und Jasminzweigen; eine wohlbeleibte Pomona, die einen Regen von Hesperidenäpfeln gespendet; eine Polyhymnia endlich, die eine Menge von Schäfer- und Hochzeitsgedichten an allen Wänden verstreut. Vor des Bräutigams Fenstern hatte sich nebstbei die ganze Fauna des Breisgau's versammelt, mit vergoldeten Ohren, mit bändergeschmücktem Gehörn, mit diamantenbesetzten Klauen und Fühlhörnern, durcheinander brüllend und wiehernd und brummend und zirpend den freudigen Hochzeitsgruß dem wohlbekannten Freund und Gönner. Dann hatte [187] sich der Schauplatz in eine christliche Kapelle verwandelt, die mit herrlichen Bildern geziert, und mit seidenen Tapeten umhängt; und der Erzbischof selber hatte am Altar gestanden und herangewinkt den glücklichen Hochzeiter und die verschämt erröthende Braut, um die Hände des Paars ineinander zu legen, und die Ringe zu wechseln nach frommem Gebrauch. Ueber all' dem war indessen in der Außenwelt nach langer viel tausendjähriger Gewohnheit der Tag erschienen, und die Helle, die von ihm ausging, hatte den seligen Träumer zu einer unseligen Wirklichkeit geweckt. Es fiel ihm unverzüglich ein, daß heute nicht Trauung, nicht Schmaus, nicht Hochzeitfahrt; doch mit einer gewissen heldenmüthigen Freudigkeit entsprang der Doktor dem Bette, und rief sich selber in's Gewissen hinein: Wenn ich denn heute doch unglücklich seyn soll, so will ich den Becher leeren bis auf die Neige, und mir ohne Furcht und Zagen besehen, was dieser Tag bringen mag, der, wie Viele meinen, schrecklich und blutig und jammervoll werden soll!

Diesem Vorsatz zufolge, knöpfte sich der Doktor in den bewußten grauen Wanderrock ein, nahm den Stock zur Hand, stülpte trotzig den breitgeränderten Hut auf den Kopf, und machte sich zum Ausgehen fertig, ohne indessen, ausnahmsweise, das unvermeidliche Portfolio unter den Arm zu nehmen. – Seiner alten, widerborstigen Margareth und seinem pfiffigen Meffi-Stoffel band er das Haus auf die Seele, wie auch den alten Hirschfänger, die verrostete Jagdflinte, die uralterthümlichen Reiterpistolen, die alle wohl zu verschließen und zu bewahren, vermuthlich, daß sie nicht losgingen zur unrechten Zeit.

Sodann trat er auf die Straße und wanderte für [188]baß. Der Morgenstunde ungeachtet, war in der Stadt schon alles voll Leben und Bewegung. Der graubewölkte Himmel drohte mit Regen; wer aber hätte an jenem Tage der Witterung viel Aufmerksamkeit geschenkt? Allerlei Gruppen von Bürgern standen, erzählend, horchend, wartend der Dinge, die sich begeben würden, längs der Gasse. Bewaffnete schlenderten einzeln, oder in kleineren Rotten ohne Ziel und Zweck einher. Frauen und alte Männer wanderten zur Kirche. Der Ausscheller ließ sich hie und da hören; Niemand achtete auf das, was er vorbrachte. Der Doktor näherte sich dem Hinterbein'schen Hause, wohin natürlich sein erster Gang. Die Fensterläden waren offen, die Hausthüre deßgleichen, und eben trat der Papa unter den Bogen der letztern, und grüßte den Doktor und berichtete ihm, daß die Tante und Genossinnen noch in Schlaf und Ruhe, und daß überhaupt der gefürchtete Morgen gar nicht so böse ablaufen werde. »In einer Stunde« – setzte er hinzu – »ich weiß das ganz gewiß, wird die Stadt übergeben, und unsere Angst zu Ende seyn. Bürgermeister und was dazu gehört, sind schon hinaus in's Hauptquartier der Truppen, und es ist eine reine Narrheit, zu glauben, daß man sich noch einmal um die Stadt, und etwa gar noch in der Stadt schlagen werde. Kommen Sie später einmal vorbei, lieber Doktor, und sprechen Sie dann bei uns ein.«

Weil man denn gewöhnlich gar so gerne glaubt, was man von Herzen wünscht, so ging auch der Doktor mit erleichterter Brust von dem ihm so sehr befreundeten Hause weg, nachdem er zu Laura's Gemach empor einen Blick geworfen, und für sich die Verse gestammelt:

[189]

Willkommen, süßer Dämmerschein!
Der du dies Heiligthum durchwebst.
Ergreif mein Herz, du süße Liebespein!
Die du vom Thau der Hoffnung schmachtend lebst.

Langsam fortgehend und weit prosaischer fügte der Doktor bei: »Mich dünkt, als komme mir die Lust an, gegen alle meine Gewohnheiten zu dieser Stunde ein Schöppchen Wein zu genießen; denn mir will erinnerlich werden, daß ich heute meinen Kaffee nicht bekommen, und folglich kein Frühstück zu mir genommen. Wohin aber geh' ich nur, ich Fremdling im Gebiet der Weinkneipen? Ach sieh', dort kommen Leute aus der Kirche, vorne d'ran ein Bekannter, der mich weisen wird.«

Kaum war jedoch der Doktor dem Bekannten nahe, als dieser ihm das Wort vor'm Munde wegfing, und mit gespannten Zügen sagte: Da haben wir's, Doktor. Zu dieser frühen Stunde schließen sie schon die Kirche, und jeder fernere Gottesdienst ist untersagt. Der hohe Festtag soll in Blut und Feuer ersäuft werden. Auf dem Münsterthurm hockt der Generalissimus, um die Schlacht zu dirigiren vermittelst Fern- und Sprachrohr. Ich geh' in meinen Keller; wollen Sie mithalten, Doktor?

Da wäre wohl das fragliche Schöpplein zu finden gewesen; doch ärgerte den Doktor die spießbürgerliche Furchtsamkeit des Mannes allzusehr, als daß er auch nur scherzweise auf das Anerbieten hätte eingehen mögen. »Fahr hin, du alter Kelleresel!« sagte er kurz, und nahm seinen Weg durch einen Seitenschlupf in die Schustergasse. Kaum dort angelangt, stieß ihm wieder ein Bekannter auf, dem ein junger, im Gesicht brandroth flammender Mann sehr lebhaft gestikulirend zur [190] Seite ging. Dem eifrigen Gespräch für einen Augenblick ein Ziel setzend, rief der Bekannte den Doktor an: Wissen Sie schon, lieber Freund? jetzt geht's los: von Horben herab kommen, noch einmal so stark als gestern, die Heckerschaaren in das Thal, und genade Gott den Truppen, wenn sie noch einmal wagen sollten, dem Volksheer die Stadt streitig zu machen!

Die Kunde klang nun freilich anders, als der Bericht des Papa Hinterbein, und des Doktors Hoffnung wollte schon geringer werden, als der brandrothe Jüngling mit vor Eifer zitternder Stimme sich in's Gespräch mischte, und d'reinschrie: »Sollen nur ihr Testament machen, die bunten Schergen! Diesmal kommen sie zwischen zwei Feuer und sind rein verloren, denn mit siebzigtausend Mann, Franzosen und Deutsche, rückt der Herwegh durch's Rheinthal heran mit Kanonen und Haubitzen und allem, was man braucht, um von dem Gesindel den Tisch rein zu machen!«

Die Zahlen klangen gar zu fabelhaft, als daß der Doktor nicht hätte neue Zuversicht daraus schöpfen sollen. Wieder beruhigt auflächelnd ging er weiter, kam an's Schwabenthor, wo eine Menge von Menschen, bewaffnet und unbewaffnet, die Barrikaden theils hüteten, theils neugierig anstarrten. Ein Brauhaus just daneben, voll von Musketenträgern, die sich bei'm Frühtrunk gütlich thaten, und von der Schlacht redeten, als wäre sie schon in vollem Gange, und von dem Siege prahlten und sangen, als hätten sie ihn schon erfochten. – Da rutschte dem Doktor das Herz schon ein wenig tiefer. Auch war die Kanone, die so ernst und schweigend über die Barrikade hinausschaute, ein gar zu gefährlich Ding, das dem Selbstvertrauen des Doktors nicht auf die Beine [191] half. – Der Mann des Friedens und der Wissenschaft floh mit Grauen und mit Widerwillen von dem Platze.

In das Innere der Stadt zurückeilend, umschwärmten ihn die Waffenbanden schon häufiger; sie zogen nun gleich Patrouillen mit ihren Führern umher, und die Zuschauer im Volke flüsterten einander zu, daß es jetzt über die Aristokraten, die Adeligen und die Pfaffen hergehen würde.

Wirklich auch machte sich eine jener bewaffneten Streifschaaren an das Haus einer angesehenen Familie, neben dem sich der Doktor aufstellte, und klopften und schellten da nach Herzenslust an. Die Herren machten furchtbare Gesichter, und schreckten dadurch den Doktor noch einige Schritte weiter weg bis an eine Straßenecke, hinter welcher er als wie aus einem Versteck die Mord- und Gräuelscenen, auf die er sich gefaßt machte, mit ansehen wollte. »Halte dich, mein Herz!« ermahnte er sich selbst: »bist menschlich gesinnt; scheuest dich vor Menschenblut ... aber auch den Graus, der sich jetzt hier begeben will, mußt du mit durchmachen, denn auch das, wie Alles, will erlebt seyn!« –

Die Bewaffneten klopften und schellten immer noch, als ein Jemand dem Doktor in den Rücken fiel, und ihn nöthigte, die Augen von dem Schauplatz des Schreckens abzukehren. Herr Doktor wollten zürnen, aber es war ihm nicht möglich, seinem einzigen Schüler und Studenten gegenüber, der ihn angeredet und festhielt. »Können Sie mir nicht sagen, bester Herr Doktor…« hieß die plötzliche Anrede Alfreds. – Worauf Doktor Sebastian mit Unruhe: Kann nichts sagen, kann nicht Rede stehen, liebster Herr Studente mein ... – Worauf Alfred, noch dringender und seinen Mann an allen Knöpfen [192] festnehmend: »Der Freundschaft Besorgniß bringt mich freilich etwas aus dem Geleise anständiger Gebahrung… aber ich kann nicht anders. Mein lieber, guter Fritze, der Sekretär ... Sie wissen wohl ...?«

Den Doktor überlief es; doch hielt er an sich und sprach: Was soll's denn mit dem Sekretär? Ich wüßte wahrlich nicht ...?

»Ich suche ihn bereits durch die ganze Stadt;« machte Alfred: »Wenn Sie etwa wüßten, wo er hingekommen ...? Wenn er Ihnen begegnet wäre ...?«

Nicht doch; doch nicht ... das weniger; stotterte der Doktor, und wehrte sich vergebens gegen Alfreds starke Hände, die ihn festhielten. Alfred wurde sogar noch zudringlicher, stellte Frage auf Frage nach dem entkommenen Freunde, und ließ nicht eher ab, als bis Doktor Faust all' sein Seelenheil zum Pfande gegeben, daß er nichts und gar nichts von dem »schönen Fritze« gesehen, vernommen, gehört und verspürt. – Endlich nahm Alfred Abschied und ging mit Klafterschritten seine Straße weiter. Aber indessen waren Herr Doktor um das Schauspiel gekommen, dem er furchtsam und sehnsüchtig zugleich entgegen geharrt. Zu seiner Verwunderung war der Platz vor jenem adeligen Hause leer, die Thüre geschlossen wie zuvor. Ein Maulaffe, der in der Gasse stationirte und den Faust befragte, wie denn die Geschichte da abgelaufen, antwortete ganz einfach: Ha, die Freischärler haben dort innen Waffen holen wollen; man hat ihnen aber nicht aufgemacht, und da sind sie weiter marschirt.

Das gefiel dem Doktor, das lachte ihm. Befriedigt weiter gehend sagte er zu sich selber: Sieh', sieh'! Hätt' ich doch in meinem Leben nicht gedacht, daß eine Revo [193]lution so gemüthlich vor sich gehen könne. Nein, nein, wie schon Hinterbein gesagt: es wird, Gott sei Dank, noch Alles in Ruh' und Frieden ablaufen!

Indessen war der Wanderer am Breisacher Thore angelangt und fand dort gleich wieder Gelegenheit, der gemüthlichen Anarchie des Tages sich zu freuen. Zwei mit Flinten bewaffnete Bursche versperrten ihm dort so ziemlich die Straße, aus dem einfachen Grunde, weil ihnen selbst die Straße nicht breit genug. Dennoch war von ihnen der Eine nur mild benebelt, der Andre hingegen war schwer, sehr schwer, auf's allerschwerste betrunken.

Bis über die Ohren im »trunknen Elend« befangen, weinte er bitterliche Thränen, warf sich ein über das andre Mal an den Hals seines Gefährten und rief mit schmelzender Stimme: Ich wäre betrunken? O glaube das nicht, Franz Sepp'! Ich bin katzennüchtern, und wenn's losgeht, will ich meinen Mann stellen und nicht durchbrennen ... gewiß nicht durchbrennen, Franz Sepp'!

Bei diesen Worten riß der Gott, der in ihm lebte, den bezechten Gesellen plötzlich wieder über die ganze Gassenbreite, und an die Brust des Doktors flog er, ihn für seinen Kameraden ansehend und mit heißen Zähren seine Wangen benetzend; dabei stammelnd: Lueg, Franz Sepp', wenn du mich durchbrennen siehst, so schieß mir nur gleich deine Kugel durch den Kopf ... ich verdien's nicht besser ...!

Der Kamerad des Betrunkenen machte ihn mit vieler Mühe von dem Doktor los und schleppte ihn, so gut es ging, wieder nach dem Thore zurück.

Und in seinen Bart brummte Sebastian Faust: Na, [194] mit solchen Rebellen könnten wir auch noch fertig werden. Keine Frage: es wird noch Alles gut gehen!

Am Breisacher Thor waren Barrikaden, waren Bewaffnete, war wiederum eine Kanone mit Zubehör und Munition. Der Anblick dieses Geschützes war dem Doktor bereits gleichgültig geworden. Und da einige Leute bei dem Führer des Postens, einem kleinen, sehr galant aussehenden Mann, der über seinen Kleidern ein Wachstuchmäntelchen trug, um die Erlaubniß anhielten, in die Vorstadt hinausklettern zu dürfen, und ihnen auch dieselbe ertheilt wurde mit dem Bemerken: sie möchten nur schleunig dazu thun, ehe Ernst gemacht würde – so fühlte sich der Doktor heldenmüthig genug, um im Gefolge jener Leute denselben Weg zu nehmen.

So stand er also vor dem Thore draußen, hatte gehandelt gleichwie ein unbesonnener junger Mann und fragte sich, als er den Weg nach dem Alleegarten einschlug, selber mit Erstaunen: Wie aber, wenn sie mich nicht mehr in die Stadt hinein ließen? – Leichtsinnig förderte er indessen seine Schritte, bemerkte, daß auch draußen die Zuzüger in Waffen schwärmten, die Häuser von oben bis unten betrachteten, sich in mehrere derselben Einlaß verschafften, – und auf des Doktors Frage, was denn endlich wohl geschehen würde, antwortete ihm ein Bäckergesell: Machen Sie sich nur davon; die Truppen stehen schon da draußen, und der Sigel mit dem Struve wird gleich da sein!

Um einige Prozent geschwinder lief vor diesem Bericht der Doktor davon und athmete erst dann wieder unbeklommen, da er am Alleegarten heraus durch einen schmalen Weg Uniformen und blinkende Bajonette anmarschiren sah. So seufzte er lächelnd: Ach, wie hat [195] doch Hinterbein so wahr geredet! Da kommen sie ganz ungenirt, die Stadt zu besetzen, und all unsre Furcht ist Narrethei!

Soldaten waren es freilich, die des Weges kamen, aber nur eine kleine Abtheilung, die zur Verstärkung der Wache am Zuchthause auf wohlbekannten Nebensträßchen in die Vorstadt einzog. Wahrlich nicht der uninteressanteste Vorfall, der sich an jenem wunderlichen Schreckenstag begab, daß eine Handvoll Militär mit Waffen und Gepäck mitten durch die zum Kampf gerüsteten Freischaaren in die von Aufständischen besetzte Stadt eindringen konnte, ohne aufgehalten, ja nur belästigt zu werden!

Als nun der Doktor freilich merken mußte, daß es nicht eine Armee war, welche da von der Stadt Besitz nahm, so beeilte er sich, über den Rempart weiter zu gehen und das Innere der Stadt wieder zu gewinnen. Der Weg bis zur Bahnhofstraße ist nicht lang, war von dem Gelehrten bald gemessen und siehe: schon wiederum stand er innerhalb einer Barrikade, welche die Straße bis zum Eisenbahnhof hinaus bestrich. Auch hier lauerte eine Kanone, auch hier standen Sensenmänner in Menge, alle mit so ruhigen und gleichgültigen Gesichtern, als wären sie nur zum Scherz aufgeboten.

So eben kletterte ein Postbote über die Barrikade hinaus, um nach dem vom Militär besetzten Bahnhof zu gehen.

Wieder in neue Verwunderung versinkend fragte der Doktor den nächstbesten Sensenträger: Ei, wie ist mir denn? Wenn alle Leute so mir nichts dir nichts hin und her passiren dürfen, warum verrammelt Ihr denn [196] eigentlich die Straße? – Und ihm antwortete der Sensenmann so kühl wie Alfred: Hm, sie thun's auf ihre Gefahr, die da hinüber steigen, und Ihnen, Herr, will ich rathen, nach Haus zu gehen. Es wird, bei Gott, nicht lange dauern und die eisernen Dampfnudeln werden hier auf- und abfahren, daß es eine Art hat!

Der Doktor ließ sich den Rath eben nicht zweimal geben, bedankte sich bei dem Krakusen des Breisgau's und machte sich wieder Stadteinwärts. Hm! hm! grübelte er dabei in seinem Kopf herum – wie soll denn das nur werden? Die Leute reden alle vom blutigen Ernst und schauen doch so zahm und gelassen drein, als spielten sie Komödie?

In der Jesuitengasse rannte abermals ein Bekannter an den Doktor und that sehr wild und aufgebracht. – »Es ist doch zu arg«, rief er aus, »da laufen sie jetzt in alle Häuser und suchen nach den Waffen, und Gott weiß, nach was sonst noch! Wie bald, und sie gehen auch an unser Geld! Ich will geschwind nach Hause und mein bischen Silber in den Brunnen werfen, bis die ganze wüste Geschichte ein Ende genommen!« – Worauf der Doktor beruhigend: Pah! es ist nicht halb so arg. Des Bürgers Haus ist unverletzlich, und wenn die Kerle anklopfen, so macht man ihnen eben nicht auf, und damit Punktum!

Da lachte ihn der Andere grimmig aus, entgegnend: »Ha, sie wissen schon, wie man die Häuser aufbricht. So eben laufen sie dem Hundert nach auf der großen Gasse umher, schlagen Thüren und Fenster ein, schleppen ganze Wägen voll von Flinten und Pistolen mit sich fort ...!«

Das traf den Doktor mitten in die Seele; sein [197] Haus stand in jener Gegend, und urplötzlich fing er an; für dasselbe, und für seine Flinte von Anno 700, für seine Pistolen aus dem dreißigjährigen Kriege und für sein Secirmesser besorgt zu werden. Er sputete und hastete sich immer mehr und flog wie ein Sturmwind um die Ecke, die ihm sein Haus verbarg, und fiel geradezu in die Arme Raphaels, der da, ausschauend wie ein Feuerbrand, ihn anschnaubte: Um Gotteswillen, Herr Doktor, Sie kommen mir gerade recht! – hielt ihn dabei fest, wie vor einer halben Stunde Alfred.

Doktor Faust zappelte aus Leibeskräften und rief dabei mit Ungestüm: »Sie, Herr, kommen mir eben ganz unrecht

Raphael hielt ihn wie mit tausend Fäusten und schnaubte wieder: Gleichviel, Doktorchen, gleichviel; wenn Sie mir nur sagen, wo mein Fritze, wo unser Sekretär hingekommen?

»Schon wieder der Sekretär! Was soll mir der Sekretär? Was hab' ich mit dem Sekretär zu thun? Lassen Sie mich los, Herr! In's ... in Gottes Namen, wollt' ich sagen, lassen Sie mich los!«

Alsogleich, Doktorchen, auf der Stelle, sobald Sie mir von meinem Fritz, von unserm Sekretär, nur ein Wörtchen gesagt haben! ...

»Der vermaledeite Sekretär! Bin ich nur für diesen Sekretär auf der Welt? Alles fragt nur nach diesem Sekretär! Gestern plagten mich die Weiber um ihn; heute martern mich um seinetwillen die Mannsbilder. Lassen Sie mich los, sag' ich Ihnen!«

Ach, wenn Sie wüßten ...! fuhr der Schauspieler fort, den Doktor heftiger umstrickend – er legte sich gestern so krank zu Bette ... ich und Alfred wachten [198] an seinem Lager ... gegen Morgen schlief er ein und wir mit ihm ... und da wir erwachen – denken Sie sich unsre Angst, unsern Schrecken – ist er fort, fort, und nirgends fand ich eine Spur von ihm!

»Und so wollen Sie ihn vielleicht in meiner Tasche suchen, Herr Hanswurst?« donnerte der Doktor nach Vermögen: »Lassen Sie mich aus mit Ihrem Sekretär; respektiren Sie mich als einen honetten Mann und lassen Sie mich frei, da wir denn doch einmal bis zum Halse in der Freiheit stecken!«

Raphael hatte nicht Lust, nachzugeben, aber ein Gott hatte Erbarmen. Ein starkes Menschengetümmel sauste und brauste daher, mit dem Geschrei: Der Bahnzug kommt! Der Hecker kommt von den Bergen! Läden zu, Fenster zu, Thüren zu! Gleich wird's knallen! Viktoria! –

Da nun alle diese Renner und Sprenger dahin liefen, die Augen empor gerichtet zum Münsterthurm, von welchem allerlei Signalfahnen wallten, so sahen sie begreiflicher Weise nichts von dem, was auf Erden vorging, rannten im gestreckten Trab sowohl den Doktor als Raphael zu Boden und stürmten über sie hinweg in's Weite.

Der Doktor war schon von der Volksversammlung des sechsundzwanzigsten März dieser volksthümlichen Behandlung einigermaßen gewohnt; daher wußte er sich auch schnell genug aufzuraffen, während sich Raphael noch auf dem Pflaster wälzte, und entsprang auf diese Weise dem Verfolger.

Was half jedoch dem Armen die augenblickliche Befreiung, da er gleichwohl alsobald und kopfüber in alle Qualen der Angst und des Entsetzens wieder hinein [199]stürzen sollte? Seinem Hause gegenüber mußte er sich, wie vom Schwindel ergriffen, an eine Mauer lehnen; denn just vor seiner Thüre bewegte sich ein Trupp von Bewaffneten, die gefährlichsten Gesichter, die er je gesehen, hin und her. Sie schellten, sie pochten donnernd mit ihren Gewehrkolben an, sie riefen ein tyrannisches »Aufgemacht!« nach dem andern zu den Fenstern hinan; der Verwünschungen nicht zu gedenken, die sie ausgeiferten, als oben ein altes Weib den Kopf herausstreckte und ihnen grell erwiederte: »Wird nicht aufgemacht! Niemals nicht!«

Der Anführer der Bande schrie hinan: Es sind Waffen in diesem Hause; wir wissen das, und wir müssen sie haben!

»Sind keine Waffen da; ist Niemand zu Hause; wird also nicht aufgemacht!«

Vermaledammte Vettel! gib Acht, daß wir die Thüre einrennen, wenn du nicht gutwillig aufthust!

»Hab' keinen Schlüssel; wird nicht und ewig nicht aufgemacht!«

Je ärger nun die Bursche randalirten, drohten und fluchten, je unaufhaltsamer schalt und schmähte die Alte von ihrem Fenster hernieder. Ungeachtet die Straßen nachgerade leer zu werden im Begriff standen, versammelte sich doch noch ein Häufchen Stadtjungen und Müßiggänger vor dem Hause, lachten die Freischärler aus und klatschten der Alten spottweise Beifall zu. Das machte die Landstürmer toll und ermuthigte das alte Weib. Die ersteren schrieen erbost: Wir stecken das Haus in Brand und drehen dir den Hals um!

»Meinetwegen, meinetwegen, Ihr Spitzbuben! wird [200] doch nicht aufgemacht, und damit Juck und Amen!« zeterte die Wächterin entgegen.

Die Aufständischen, theils beschämt, theils selber lachend, und etwa auch, weil ihnen der Boden unter den Füßen brannte, hoben plötzlich die Belagerung auf und trollten eiligst weiter, in die nächste Seitengasse einbiegend und verfolgt von dem spottenden Janhagel.

Da hob der Doktor dankbar die Hände gen Himmel und sagte: Nichts lob' ich mir mehr, als eine deutsche Revolution, in der Alles so gutmüthig, so lustig und vergnügt ausgeht, und ich kann nicht begreifen, wie sich Hinterbein so gewaltig davor fürchten mag! Indessen hat die Margareth ihre Sachen brav gemacht ... Ich kannte sie gar nicht mehr von Gesicht und Stimme in ihrem ausgiebigen Zorn ... Jedennoch will ich sie gleich loben, gleich auf der Stelle!

Die Alte sah von oben, wie der Doktor auf das Haus lossteuerte, und eilte, ihm zu öffnen. Da mußte aber erst der gelehrte Herr staunen und sich verwundern, denn wirklich war's nicht Margarethens Angesicht, das unter Margarethens Haube hervorglotzte; es war nicht Margarethens Stimme, die ihn begrüßte. Etwas zurückfahrend fragte der Doktor: »Ei Meffi, Meffi-Stoffel, wie kommst denn du in dieses Altweibergewand?«

Worauf der Meffi-Stoffel seelenvergnügt: Ha, drum ist die Margareth vor Aengsten aus dem Haus entlaufen, und ich hab' mich in ihr Sonntagszeug gesteckt. Warum? weil der Teufel selbst durchbrennt, wenn ein altes Weib ihm die Leviten verliest! Es ist probat, Sie haben es selbst gesehen, Herr Doktor!

»Ein Teufelskerl!« sprach der Doktor in seinen Gedanken; dann aber lobte er den treuen Knecht und [201] fügte hinzu: »Das wäre dir geglückt; wie aber, wenn sie wieder kommen? Oder wie, wenn Andere klopfen, die sich nicht so leicht abschrecken lassen?«

Da schüttelte lachend der Stoffel sein Haupt, und erwiederte klug und weise: Werden nicht mehr wiederkommen; werden gleich draußen alle Hände voll zu thun kriegen, oder ihre Beine spielen lassen, daß es eine Art ist. Bin just droben auf der Bühne gewesen und hab' hinausgeluegt gegen den Bahnhof: Dort steht alles schwarz voll von Soldaten, und die Kanonen sind auch schon aufgefahren!

»So soll's denn wirklich im Ernste losgehen?« schrie der Doktor erblassend auf: »Ei, da muß ich mich beeilen, noch einmal nach meiner Braut zu sehen! Ich könnte nicht ruhig seyn, wenn ich in diesem wilden Narrentanze nicht wüßte, wie es meiner Laura geht! Doch komme ich gleich zurück, Meffi-Stoffel; hüte einstweilen das Haus, so gut wie bisher!« – Ja, ja, Herr. Aber machen Sie geschwinde, geschwind, sonst wird's bygott zu spät!

Die Thür flog zu, der Doktor machte sich auf den Weg; doch kam er nur ein paar Häuser weit ... da krachte der erste Kanonenschuß vom nächsten Thore her, und gleichwie betäubt taumelten Herr Doktor an die Brust des Sattlermeisters, der in vollem Sprung auf seine Wohnung zukam, und den ihm wohlbekannten Herrn, ohne viel zu fragen, unter sein schützendes Dach brachte. – –

Jener erste Schuß, dem alsogleich mehrere Flintensalven nachfolgten, die aus den Reben des Glacis oder gegen dieselben abgefeuert wurden, fegte die Straßen so ziemlich rein. Unter den Wenigen, die athemlos [202] und erschreckt nach einem sichern Versteck eilten, ging indessen auch Einer einher, der sich wenig um das Schießen zu bekümmern schien, wiewohl er blaß und verstört aussah. Dieser Eine – der »schöne Fritz« – schien in Geschäften fürbaß zu wandeln, und es war, als ob sein Auge einen gewissen Zielpunkt erschaut hätte, dem er sich zu nähern trachtete. Er förderte seine Schritte dem Thor entgegen, welches die Gasse schließt, und ging auf dem Trottoir vor dem Hinterbein'schen Hause, und ohne dieses Haus etwa auf's Korn zu fassen, hin. Da schallte ihm entgegen – aus einem Fenster des Erdgeschosses, dessen Läden just geschlossen werden sollten – eine wohlbekannte, sehr ängstliche und bewegte Stimme: »Ach, Herr Sekretär, kommen Sie doch geschwind herein!« – Durch den halbgeöffneten Laden schaute Cymbeline den »schönen Fritz« an. – Dieser grüßte zwar verbindlich, deutete indessen gegen das noch passabel entfernte Thor hin und sprach: Bedaure sehr; ich habe Eile. Dort seh' ich meinen Arzt, mit dem ich zu reden habe, und ... leben Sie wohl!

Indessen hatte er nicht völlig seine Rede noch zu Ende gebracht, als Cymbeline, in ihrer Furcht und Sorge um den Geliebten, alles um sich her vergessend, aus der Pforte hervorstürzte, die Hand des Sekretärs ergriff, und ihn heftig nach dem Hause zog. »Um Gotteswillen, Herr Sekretär! geschwinde da herein!« – Fräulein! Was fällt Ihnen ein? –»Geschwinde, sag' ich, geschwinde!«

Als wie von übernatürlicher Kraft hingerissen, und sich vergeblich sträubend, hatte der »schöne Fritz« kaum den Fuß auf die Schwelle gesetzt, als zum Thorbogen [203] herein ein Kartätschenschuß in die Stadt fiel! ... noch ein rascher Blick gegen jene Seite des Angriffs ... der Arzt, der wenige Schritte von dem Hause entfernt gegangen, war vom Schuß getroffen worden, und brach mitten in der Straße zusammen ...! Gleich nach diesem schrecklichen Anblick stand der »schöne Fritz« im Dunkel des Hausflurs, und stammelte wie niedergedonnert: Jener Schuß war auch für mich, wenn ... wenn nicht ein Engel mich gerufen, mich gerettet hätte! – Und neben ihm, auf ihren Knieen, lag Cymbeline begeistert, schweigend in Thränen der Freude, und zur Höhe des Gewölbes hinanjubelnd: »Dank, Preis und Dank dir, himmlische Gnadenmutter! Jetzt mag geschehen, was da will, weil Er geborgen, weil Er in Sicherheit«

Dem Mädchen wurde alsogleich, als würde sie zum Himmel emporgetragen, denn wirklich hob sie Fritz in seinen Armen auf und rief ihr, warm von Dank und Lust des Daseyns zu: Wenn ich Ihnen, wenn ich dir, du herrliches Mädchen, jemals vergesse, was du heute und jetzo für mich gethan, so mag ich selbst vergessen werden in der Todesstunde! –

Die überglückliche Cymbeline machte sich hastig und erröthend von dem allzugeliebten Manne los und bat freudig und schmelzend: »O Lieber, Lieber ... nichts vom Tode, nichts vom Verlassen- und Vergessenseyn. Bin ich nicht selig, bin ich nicht schon im Paradiese? O kommen Sie, kommen Sie geschwinde mit mir zu Leuten, die nicht glücklich, die nicht selig sind, wie wir!«

Unter'm Gebrüll der Geschütze und dem Geknatter der Pelotonfeuer, die Schlag auf Schlag sich erneuten, [204] gleitete Friedrich an Cymbelinens Hand eine enge dunkle Treppe hinab, und befand sich – im Keller des Hauses, worinnen einige Lampen brannten, und in der Dämmerung ein paar Gestalten sich bewegten, von welchen eine mit fast weinerlicher Stimme fragte: O Cymbelchen, wo bleibst du doch so lang? Wen bringst du denn da, Cymbele? – Das Fräulein stellte ihren Schützling vor, und der »schöne Fritz« sah sich gar wohl aufgenommen von dem Papa Hinterbein, der, selbander mit dem Leuenwirth, in dem Keller, als wie in einem Vehmgerichtsgewölbe seinen Sitz aufgeschlagen hatte. – Da war freilich nicht viel von Freude, Glück und Seligkeit zu holen. Die beiden Väter steckten tief in Kummer und in Sorgen; ahnten nicht einmal etwas von der wonnigrothen Verklärung, die auf Cymbelchens Wangen strahlte ... nichts von dem Entzücken, welches der »schöne Fritz« empfand, weil er dem Leben erhalten, und in plötzlichen Liebeszauber versenkt worden.

Dennoch suchte Friedrich mit Späheraugen in allen Winkeln des Kellers umher nach den übrigen Damen des Hauses; ... aber vergebens und umsonst. Auf seine Fragen berichtete ihm Hinterbein, daß die Tante, nachdem sich alles so drohend gestaltet, um nichts in der Welt im Hause hatte bleiben wollen, und daß sie im Begleit ihrer Nichten und des Annele vom Hirzenbach in das nahe liegende Frauenkloster ausgewandert, wo sie mit ihren Genossinnen viel sichrer zu seyn vermeinte, als im Innern der Stadt, als in des Schwagers Hause. »Nur mein Cymbele ist bei mir zurück geblieben;« fügte Hinterbein seiner Meldung gerührt hinzu, und küßte das Mädchen auf beide Backen: »Nur Cymbele hat ihren Vater nicht verlassen wollen! Die [205] Magd hat sich verlaufen, der Bartelmä sitzt oben in der Speicherkammer, um in's Weite auszuschauen, und zu rapportiren, was etwa vorgehen möchte. Mir ist nicht unlieb, daß die andern Mädchen uns verlassen haben; wer weiß, was noch in diesen bangen Stunden geschieht? Wie's im Kriege zugeht mit Sturm und Brand und Plünderung, davon wissen wir aus den jungen Jahren her uns zu erinnern; haben wenigstens viel davon gelesen und gehört. Nicht wahr, Leuenwirth?«

Worauf der Leuenwirth verdrossen und zugleich schwermüthig: Ich wollte doch, ich hätt' mein Annele nicht fortgelassen. Meint Ihr denn, daß wenn die Stadt mit Sturm eingenommen würde, der Soldat und der Freischärler Respekt hätten vor dem Kloster? Wär' ich nur wenigstens selber mit meinem lieben Annele in's Kloster gelaufen! Denk wohl, ich will mich kurz und gut von dasele fort machen, und mein lieb's Maitele aufsuchen ... könnt' auch daneben nach dem Bräunel sehen, und mich, wenn's Aergste kommen sollte, todt schlagen lassen, noch ehe so ein Hund seine Klauen nach dem Annele ausstreckt! – Aufgeregt von solchen Gedanken und Worten blitzte der Leuenwirth empor, und nur dem hastigen Zureden, Bitten und Betteln des Hinterbein verdankte er, daß er nicht unverständig hinauslief, wo die Kartätschenkugeln, heulend wie junge Katzen, sausten, an die Häuser schmetterten und eben zur selben Frist die Giebelspitze eines benachbarten Hauses zur Erde schleuderten. – Indessen drückte Friedrich Cymbelinens beide Hände in den seinigen, und sagte ihr laut und unverzagt: Fern von Ihnen jedes Unglück; jede Schmach! Aber ich schwöre Ihnen zu, daß ich zuerst [206] todt zu Ihren Füßen liegen muß, ehe grausame Gewalt über Sie und Ihren Vater hereinbrechen darf! – Und Cymbeline antwortete bittend, wie schon vor kaum einer halben Viertelstunde: »O Lieber, Lieber ... o nichts vom Tode, nichts vom Sterben und Verlassenseyn!«

Friedrich entgegnete hierauf mit schwermüthigem Eifer: Wie soll ich nicht reden vom Sterben, zu einer Stunde, da in dieser einst so friedlichen Stadt der grausige Tod seine Ernte hält? Zu einer Stunde, da das Schwert über unsern Häuptern hängt, da ich selbst nur vor wenigen Minuten ein Opfer des Todes geworden wäre, ohne Ihren Beistand? Sahen Sie ihn fallen, den menschenfreundlichen Arzt, den ich gerade aufzusuchen im Begriff war? Stellen Sie sich vor, wie es mir ergangen. Gestern Abend, durch die Hülfe meiner Freunde dem Aufruhr und der größten Gefahr entrissen, war ich fast ohnmächtig auf mein Lager hingesunken, fühlte ich all' meine Kraft gebrochen. Meine Freunde, die mich im Geiste schon eine Beute des Nervenfiebers sahen, schickten nach allen Seiten aus nach ärztlicher Hülfe. Da war jedoch keine Bedienung zur Hand, da war kein Doktor und Chirurg zu finden. Meine guten Freunde wachten zwar an meinem Bette, und wehrten mir fast jede Bewegung, da sie mich für ungleich kränker hielten, als ich wirklich war. Es erging ihnen jedoch am Morgen, wie andern Krankenwärtern: sie schläfelten ein, und ich, des wohlgemeinten aber lästigen Zwanges müde, entfloh aus dem Hause, theils um Luft zu schöpfen, theils um zu sehen, was in der Stadt vorging, und endlich auch, um meinen Doktor aufzusuchen, und über meinen körperlichen Zustand [207] in's Reine zu kommen. Ich habe den fraglichen Arzt in allen Winkeln gesucht, ihn nirgends angetroffen; durch das Umherwandern in freier Luft war ich in ein gewisses Gleichgewicht gekommen, und dachte schon daran, nach Hause umzukehren, und meine ohne Zweifel sehr ängstlichen Freunde zu beruhigen, als ich meinen wackern Aeskulap in der Ferne gewahrte und auf ihn losstürmte, als ... das Uebrige wissen Sie am Besten. Mein freundlicher Arzt ist nun freilich dahin, aber ich habe das Leben wieder, und wie ich Ihnen schon sagte ...

Wieder ein furchtbar naher Karthaunenschuß, von dessen Knall die Grundfesten des Hinterbein'schen Hauses wackelten. Den Kellerbewohnern rieselte es kalt durch die Adern. Friedrich schloß Cymbeline in seine Arme, ohne diese Fürsorge vor den Zeugen zu verbergen. Hinterbein merkte auch nicht darauf; denn er rief mit Entsetzen den Leuenwirth an: Hört Ihr, lieber Freund, wie's Euch ergehen würde, wenn Ihr jetzo auf die Straße liefet? Wir haben in solcher Wirrniß und Wüstenei wahrlich keinen andern Ausweg, Leuenwirth, als unsere Töchter dem Herrn des Himmels und der Erde anzuempfehlen. Er wird es wohl machen, hoffe ich immerdar, und je gräßlicher dieses Tagesunglück den armen Kindern vorkommen mag, um so schneller, hoffe ich, wird es enden! – Worauf der Leuenwirth, auf einem Fäßchen sitzend, und in sich selber zusammengesunken mit Schluchzen und Seufzen nur das erwiederte: Ich sollte aber dabei seyn, meinem lieben Annele zur Seite seyn! Ich hab' ja nichts in der Welt, nichts dasele auf Erden, das mir so lieb wäre, als mein Kind, mein herzgutes Kind!«

Während dieser Reden wurde ein starkes Geräusch [208] und Rennen auf der Straße hörbar. Halb unterdrücktes Geschrei, Klirren und Schmettern auf'm Pflaster, als wie von weggeworfenen Säbeln und dergleichen. Trommelschlag in der Ferne; Trompeten oder Hörner abwechselnd mit den Trommeln. – Da kam ein Bursche in den Keller herabgesprungen: Hinterbeins Knecht und Kutscher Bartelmä. Der Kerl, der auf dem Belvedere des Hauses gesessen, und an Sehkraft dem scharfsichtigsten Falken zu vergleichen, meldete in Eile, was folgt: »Jetzt ist der Butzen heraus. Jetzt wird der Soldat Meister. Ich hab' gesehen, wie das Militär bei'm Predigerthor herein ist. In den Reben schießen freilich noch die Freischaaren hin und her, und dort herum haben sie auch brav mit einer Kanone hinausgekracht. Aber die meisten laufen jetzt davon, und schmeißen ihre Flinten und Sensen weg, daß es nur so hagelt. Die Klugen haben sich schon früher davon gemacht: über'n Schloßberg geht's hinaus, Kopf an Kopf, Mann an Mann! Hören Sie schon das ›Rumbidibum‹ und das ›Trara, Trara‹ von den Soldaten? Sie werden gleich da seyn, und wer sich ihnen noch stellt, der ist verlesen!«

Gott gebe ein baldig und glückliches Ende! flehten die Insassen des Gewölbes, und Hinterbein fügte weise hinzu: Da es nun so rennt und lauft durch die Gassen, und man Beispiele hat, daß auf solcher Flucht wohl in die Keller hineingeschossen worden ist, so möchte ich rathen, unser Quartier aus diesem Grabe in die Waschküche zu verlegen; dort ist's hell und heiter, und wir sind näher bei den Dingen, die sich jetzt begeben.

Der Vorschlag wurde mit Freuden angenommen, und nur der Leuenwirth hatte einiges Bedenken, die [209] Nacht mit dem Tage zu vertauschen. »Wie denn aber,« fragte er, »wenn das Haus von den Kanonen in Brand geschossen wird?« – Ob dieser Bemerkung wurde auch Hinterbein stutzig. Aber der dumme Bartelmä war der gescheidteste, indem er sagte: »Ha, von den Kanonen brennt kein Haus. Da müßten sie schon mit Granaten schießen, oder mit Bomben werfen. Das muß ich wissen; bin selber meiner Zeit bei der Artillerie gewest!«

Somit wurden die Lichter gelöscht und der Rückzug in die Waschküche bewerkstelligt. Dort erhob sich hinter einer großen Bütte, wie ein Gespenst, die Magd des Hauses, die Frage stammelnd: Ist's jetzt am Letzten? müssen wir sterben allesammt?

Hätte Papa Hinterbein nicht das Kanonenfieber in ziemlichem Maße gehabt, er würde die ängstliche Person nicht schlecht in's Gebet genommen haben; da ihm jedoch die Worte fehlten, und indessen die Hornsignale, der Trommelschlag und das Hurrahgeschrei der Truppen immer näher rückten, so begnügte er sich, die gewissermaßen fahnenflüchtige Magd an das Schlüsselloch der Hausthüre auf die Lauer zu schicken, eben wie Bartelmä sich in das obere Stockwerk begeben, um dort aufzupassen, und ferner Bericht zu erstatten. – Papa mit seinen Gefährten nahm so gut als möglich Platz in der verödeten Waschküche, und wollte eben daran gehen, dem Sekretär und dem Leuenwirth zu erzählen, was er an demselben Orte, und zwar in der zwölften Stunde in der Nacht des »Franzosenlärms« ausgestanden, als plötzlich ganz nahe, am Eck des Hauses ein Trompetensignal gegeben wurde, dem alsobald ein paar Flintenschüsse folgten.

Neue Bestürzung! »Jetzt geht's mitten in der Stadt los!« stotterte der Leuenwirth, und dem Hausherrn er [210]starrte das Wort auf der Zunge. Indessen erschien Bartelmä auf dem freien Gang des obern Stocks, und schrie herunter: »Jetzt sind sie da! So ein Teufelskerl von Nassauer hat just den alten Tambour todtgeschossen, der uns gestern und vorgestern so viel Aergerniß gemacht hat. 'S ist aber weit und breit von Freischärlern Niemand mehr zu sehen.« –

Eine kurze Weile nach diesen letzten Schüssen wurde ein lautes Durcheinanderrufen in der nächsten Nachbarschaft vernehmlich, ein weit verhallendes Geschrei. »Und jetzt kommt's doch zur Metzelei in der Stadt!« zeterte Hinterbein. »Marsch, marsch, geschwind wieder in den Keller hinein!« – Bereits standen Alle auf dem Sprung, als die Magd gleichsam tanzend in den Hof kam, und mit Jubel verkündete, daß in der That die Gasse voll von Soldaten, und daß die Nachbarn weit und breit die Truppen mit Freudenruf empfangen, ihnen mit weißen Tüchern entgegengewinkt und fröhlich mit den Händen entgegengeklatscht. – Eben auch rief Bartelmä von seinem Posten herunter: 'S ist alles vorbei, kommen Sie getrost herauf; 's ist alles vorbei! –

Mit welcher Wonne nahm Papa wieder Besitz von seiner Bel-Etage! Cymbeline machte sich daran, die Fenster zu öffnen, wobei die Magd ihr treulich half, weil selber wie vom Tode auferstanden. Zum Glück hatten die einmarschirenden Truppen sich überzeugt, daß die Bürger im Innern der Stadt ihnen einen bessern Empfang zugedacht, als die Freischärler, die aus den ersten Häusern auf sie geschossen; sonst hätte es dem guten Cymbelchen und ihrer Helferin schlimm ergehen können. Auf den Trottoirs der Gasse schlichen zu beiden Seiten die Schützen der Nassauer und Hessen vor, [211] mit der Büchse zielend nach jedem Fenster, wo sich etwa ein verdächtig Gesicht hätte sehen lassen wollen. Da jedoch die Gefahr vorüber schien, so lächelten und nickten gerade diese zielenden Schützen freundlich den Mädchenköpfen zu, die sich sehen ließen, und hinter ihnen drein marschirte in hellen Haufen und im Geschwindschritt die Masse der Krieger, eroberte Geschütze führend, im Kampf gewonnene Fahnen schwingend, Lust und Leben, Muth und Kampfbegierde und Siegesfreude auf allen Gesichtern. Die Stadt war über; das blutige Werk des Tages hatte ein Ende. Aus allen Häusern drängten sich die Bewohner, die Soldaten mit Brod und Wein zu erfrischen, ihnen die Hände zu schütteln, sie mit herzlichem Willkomm in die Quartiere zu nehmen. – Auch dem Papa Hinterbein wurde eine ziemliche Anzahl solcher Gäste zu Theil, aber gerne hätte er ihrer noch mehrere aufgenommen, und auf seinen Befehl loderten plötzlich helle Feuer auf dem Küchenherde, und Cymbeline unternahm, in Eile und nach Möglichkeit die Mahlzeit zu ordnen und zu bereiten. Zu dem »schönen Fritz« jedoch sagte sie, lauter Anmuth, lauter Liebe: »O mein bester Freund, wenn Sie jetzo nach meinen Schwestern und der Tante sehen würden, wenn Sie dieselben glücklich in unsere Arme zurück brächten ...? ich wüßte nicht, wie ich Ihnen danken sollte!«

Es versteht sich, daß Friedrich alsobald flog, den ihm gewordenen Auftrag zu vollziehen; mit sich fort zog er den Leuenwirth, mit sich riß er dahin den Doktor Faust, der soeben, aus des Sattlermeisters Kellergruft emporgestiegen, mit Angst und Zagen nach seiner Braut zu forschen kam. – Aber schon auf der Hälfte [212] des Wegs zum Frauenkloster begegneten ihnen, die sie zu holen kamen, unversehrt und geleitet von einigen badischen Soldaten, die nach dem Sturme das Kloster durchsucht, und den Damen ihre Begleitung nach Hause angeboten hatten.

Als wie im Triumph ging es nun zurück zu Hinterbein, der auf seiner Schwelle noch vollauf zu thun hatte mit Begrüßung, Händeschütteln, ja sogar Umarmung seiner militärischen Gäste. Kaum, daß er noch Arme genug übrig hatte, um seine Töchter, die stillselige Mathilde, das frohlockende Kathrinchen, die bis in den Tod betrübte Cornelia zu umschlingen. Tante Laura fand ihren Stützpunkt an der Brust des Verlobten ... aber bis in den Himmel hinaus vergnügt und gleichsam neugeboren war der Leuenwirth im Arme seines Annele, und schrie ausgelassen in die Welt hinaus, wenn ihm schon die Thränen nur so aus den Augen kugelten: »Bin ich jetzt nicht froh, nicht reich, wasele? Herr Großherzog, wie theuer ist das badische Land dasele? Und ist der türkische Kaiser, ja der Großmogul selbst mit allen seinen Schätzen und Kleinodien zu vergleichen mit mir, dem Leuenwirth von Hirzenbach?«

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