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Erstes Kapitel.
Die Begegnung im Bahnhof.


Seitdem der Ausstand im Seekreis eine Wahrheit, war der Eisenbahnhof zu Freiburg Tag für Tag ein Sammelplatz der Neugierigen aller Stände und aller Parteien geworden. Tag für Tag drängten sich dort Beamte und Bürger, Meister und Gesellen, Herren und Damen, Liberale, Radikale und Konservative, um die Neuigkeiten, die das Dampfroß von oben und unten aus dem Lande brachte, alsobald abzufassen, und je nach ihren Ansichten, Wünschen und Hoffnungen zu verarbeiten. Am Siege zweifelte keine Partei, an eine Niederlage wollte keine glauben, und doch hatten seit langen langen Jahren die Herzen sammt und sonders zu Freiburg nicht so heftig, nicht so ängstlich-geklopft. An Futter für ihre Neugier fehlte es allerdings den Sehnsüchtigen und Fürchtenden nicht. Jeder Tag, jede Stunde brachte Zufuhr verschiedener Art und Geltung. Die ersten Nachrichten von dem, was sich in Konstanz begeben sollte, waren überraschend schnell über'n Wald zur Stadt gekommen, und die Entwicklung versprach, sich flugs und nachhaltig – so oder anders – zu [2] machen. Am 14. April war schon die Ansage des Heckersturms verbreitet. Um eben diese Zeit hatten die Väter des Gemeinwesens sich berathen, was wohl zu thun, wenn der besagte Landsturm und Freiheitszug siegreich zur Dreisam niedersteigen würde, und – die Väter hatten die Neutralität der Stadt proklamirt, und einem jeden Stadtangehörigen auf sein Gewissen anheim gegeben, ob er den Marsch nach Karlsruhe in Waffen mitmachen wolle oder nicht. – Von der Seite der Regierung gab sich ein gleichfalls merkwürdiges Zuwarten kund. Von kräftigen Maßregeln gegen den Aufstand wußte man lang nichts zu sagen, bis am 17. April plötzlich hessische Truppen, badische Dragoner und Infanterie einrückten, und zum größten Theil – an ihrer Spitze Gagern – dem heranziehenden Feind im Rheinthal entgegen marschirten. Dunkle Gerüchte sprachen von dem Einrücken der Württemberger im Seekreis. Gewisses wußte man davon nichts. Die Anhänger der Erhebung läugneten es so lang als möglich, obschon der wunderliche Zug des Heckerheers allerlei zu denken gab. Am 17., als die Hessen kamen, war Hecker in Bonndorf, nach den Aussagen der Eisenbahnkondukteure, sowie nach denen der mancherlei Staffetten, die durch's Land ritten – junge Leute meistens, die's mit dem Fortschritt hielten, und ihren Freunden vom Freiheitsheer Botschaft brachten und Dienste leisteten, wo sie nur konnten. Die Volksvereine reichten sich die Hände durch's ganze Land. Die bedrohte Regierung hätte vieles von ihnen lernen können. Am 18. – Dienstag in der Charwoche – stand Hecker, der alle Abmahnung, brüderliche und freundschaftliche, von der Hand gewiesen, zu Menzenschwand. Am 19. zu Schönau und St. [3] Blasien. – Am selben Tag sollte und wollte in Offenburg ein Aufstand losbrechen, den Obmann der Republikaner unterstützen und die Eisenbahn zu zerstören, damit die anrückenden Truppen aufgehalten würden. Der Anschlag wurde vereitelt. – Aber daß im Oberlande etwas geschehen würde und ein Zusammenstoß nicht zu vermeiden, das fühlte, ahnte und hoffte Jedermann nach seiner Weise. – Und dergestalt war – es ruhten so ziemlich alle bürgerlichen Geschäfte – der Gründonnerstag herangekommen, und am Abend die Menschenmenge, die sich zum Bahnhof drängte, zahlreicher als je zuvor. Mit peinlicher Erwartung schauten Aller Augen dem Bahnzug entgegen, der von oben zu kommen hatte. Es mußte eine Kunde eintreffen, eine wichtige, eine entscheidende, deß waren Alle versichert, und ein Jeder prophezeite im voraus, was ihm lieb gewesen wäre. –

Die Gruppen derjenigen Konservativen, denen Alles paßte, wenn nur sie konservirt wurden, wiederholten in jeder Minute, die Hände über die feisten Bäuche geschlagen: »Es wird schon recht werden!«

Wo andere, thatkräftigere und fürstlich gesinnte Bürger zusammenstanden, hörte man oft, ja immer das Stichwort: »'s ist ja nicht anders möglich, – die Rebellen müssen den Kürzern ziehen. Wofür wären denn in Gottesnamen die Soldaten da? Und wir, die neugeschaffene Bürgerwehr, tragen wir denn umsonst die Waffen?«

Nebenan waren in allerlei Haufen diejenigen Handwerksgesellen vereinigt, denen eben die Bürgerwehr vor kurzen Tagen die Sensen abgenommen, – sie betrachteten von ferne, aber mit wilden Blicken die Waffen [4]räuber, und murmelten untereinander: »Schelme von Aristokraten, bald werdet Ihr anders pfeifen!«

Und in dichte Trupps zusammengedrängt, die Köpfe hoch, mit muntern kecken Augen und vorlauter Zunge standen hie und da die Turner und plauderten vom Sieg der Freiheit: »Sollen nur hoffen und harren! 's kommt anders, als die Spieße meinen. Die Soldaten werden nicht schießen, nicht die Schergen machen, sondern übertreten zum Volke. Wir ziehen dann in hellen Haufen gen Karlsruhe, setzen die Regierung ab und proklamiren die Republik!«

Die wenigen Soldaten, die um die Wege, schienen nicht ungern der Turner Rede zu vernehmen In kleinen Gesellschaften strichen jüngere wohlgekleidete Herren unter'm Volke hin und her, wechselten mit ihren Freunden, oder denen, die sie für solche hielten, Blicke der Vertraulichkeit und der Aufmunterung, Wink und Händedruck, und flüsterten dem Einen und dem Andern zu: Jetzt ist's losgegangen ... jetzt geht's erst recht los. Bis Samstag spätstens ist der Hecker da, und Vivat hoch alsdann! –

Daß Papa Hinterbein auf dem Bahnhof nicht fehlte, war sehr natürlich, und dennoch nicht leicht zu glauben. Er hatte in neuester Zeit sich von allem Volksverkehr zurückgezogen, war beinahe nicht mehr aus dem Hause gegangen. Das Treiben der jüngsten Tage war ihm so fremd, so unbequem geworden, daß er sich eigentlich nur mehr innerhalb seiner vier Wände gefiel, obgleich andererseits er gerne gewesen wäre, wo in der That der Pfeffer und der Zimmet und der Kaffee wächst. – Indessen hatte am heutigen Tage sowohl die Hoffnung, etwas Neues und in seinen Horizont Passendes zu [5] vernehmen, als auch seines Hausarztes Befehl ihn aus dem Bau getrieben. – Daß er seinen Platz in der richtigen Mitte, zwischen Denen, die da meinten: »es werde schon recht werden« und Denjenigen, die dem Bajonett vertrauten, nahm, ist leicht begreiflich. Ihn begleitete seine Tochter Mathilde, ein schönes blasses Bild stillen Liebeskummers; der schon einmal besprochene Nachbar Sattlermeister, sodann ein alter Geschäftsfreund aus dem Elsaß, und der Sekretär, Hausfreund und Piketpartner Friedrich, auch der »schöne Fritz« genannt, der seine Aufmerksamkeit der schönen Mathilde mehr zuwandte, als den Bahnzügen, die immer noch nicht eintreffen wollten, weder aus dem Ober- noch aus dem Unterlande. Er mußte sich indessen gefallen lassen, daß ihn der Papa in einer äußerst galanten Ansprache unterbrach, und zwar mit den verdrossen hingesagten Worten: Da, sieh einmal hinüber, Mathilde! Da ist die Cornelie wahrhaftig wiederum mit ihren Volksfreundinnen zusammen gewandelt! Da hilft keine Warnung, kein Verbot; das Mädel ist wie verhext, und wird nächstens in unserm Haus die Republik einführen, wenn nicht unser Herrgott oder ich mit Blitz und Schlag hineinfahren. Schau' nur, wie frohmüthig jene Damen thun, als hätten sie eine Depesche vom Himmel herunter bekommen, daß es mit der sogenannten Freiheit allbereits wohl geglückt und gerathen. Sieh doch die dreifarbigen Schleifen und Bänder! 's wundert mich, daß die Cornelie nicht unsere Patriotenfahne mit herausgenommen!

Lassen Sie ihr doch die Freude, lieber Vater; entgegnete Mathilde melancholisch: Cornelie will gewiß nur das Gute, und wenn der Freiheitstraum sie ergötzt [6] – in Gottes Namen. Sie wird, fürchte ich, bald und unangenehm genug daraus erwachen.

Hierauf wendete sie sich wieder zu dem schönen Friedrich, und sprach mit ihm – wie gewöhnlich von ihrem Verlobten Hugo Wildian; ein Kapitel, das dem Sekretär eben nicht besonders zusagte, dem er jedoch, ohne unhöflich zu seyn, nicht ausweichen konnte.

Mittlerweile sah der Elsäßer auf seine Uhr, und rief mit Ungeduld und zugleich mit sehr hervortretendem Dialekt und Accent: Eure Eisenbahn geht doch aber verdammt langsam und außer aller Regel. Diangtre! Da sind sie bei uns in Frankreich drüben viel präciser, auf meine honneur! Ihr könnt halt eben nicht von Euerm »ditsche« Wesen lassen. Wir gehen Euch alleweil vor, by Gott! Bis der »Ditsche« erst resolvirt hat, ob er auf'm Kopf oder auf denen Füßen steht, ist der Franzos schon arrivé au port!

Hinterbein schüttelte sein Haupt mißbilligend; – das Französischprahlen der ursprünglich deutschen »Ditschverächter« war ihm von Herzen zuwider. Aber der Sattlermeister nahm auf sich, das Gespräch fortzusetzen, indem er sagte: Ich wollte, daß sie noch viel langsamer gingen, die Eisenbahnen, und daß sie endlich ganz stecken blieben! Seitdem die Unglückserfindung in der Welt, ist Alles schlecht und immer schlechter geworden. Die Gewerbsleute sind um ihren Verdienst gekommen, das geringe Volk gaukelt auf und ab von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, arbeitet nicht mehr, aber hetzt um so ärger; – die Wühler fahren wie die Irrlichter herum und sind in Mannheim und zu Basel schier zu gleicher Zeit ... und darum die Revolution und alles Uebel ... und 's wird schon noch ärger werden und [7] wir hätten gar nie was von der Rebellion gewußt, wenn die Menschen fein zu Hause geblieben, oder doch nur vernünftig mit Kutschen und Pferden gefahren wären, wie seit Anno Eins im Brauch gewesen. – Der Sattler schwieg seufzend und nahm eine Prise. Und der Elsäßer sagte wichtig zu ihm: Permettiren Sie: der Progrès ist einmal da, und im Progrès stecken eben die Chemings de fer, und die Revolutionen. Voyes-vous? Der Kaiser hat's noch auf Sankt Helena gesagt: In dreißig Jahren ist die Europa entweder en république, oder cosaque. Und der Napoleon hat's doch verstanden, ... he?

Ei was, mischte sich Hinterbein in das Gespräch: Ich denke so in meinem Sinn, daß er nur also geredet, weil ihm selbst Kron' und Thron und aller Gift genommen war, und er sich doch für den Einzigen in der Welt gehalten, der im Stande, sowohl der Republik als den Kosacken die Spitze zu bieten.

Mon ami, machte der Elsäßer, Sie trompiren sich, und je vais vous dire ...

Horch! ein ferner Pfiff, ... ein Signal der Lokomotive ...! »Aha! jetzt kommt's! jetzt werden wir hören!« schreit, halloht, murmelt und brummelt's von allen Seiten, und zusammenlauft aus allen Ecken und Enden die Menge, die begierige.

Aber – leider ... es war das Zeichen des Zugs vom Unterland herauf. Die Neugierigen ziehen mißgestimmt ihre Fühlhörner ein. Was konnte der Bahnzug von Karlsruhe Neues bringen? Höchstens noch ein oder das andere Bataillon von Soldaten ... und damit Holla! Aber auch nicht einmal die brachte der allmählig und ziemlich langsam heranschnaubende Train. [8] Kaum, daß man sich um die ankommenden Passagiere umsah. – Indessen gab's doch Einen unter den vielen Wartenden, der dem Zug aus dem Unterlande ein halb geneigtes Aug' und Ohr schenkte.

Mathilde war nämlich von einigen Bekanntinnen angeredet worden, die nach dem Stadtgebrauch den dabeistehenden Sekretär, weil er nicht Bruder oder Vetter, oder wenigstens ihnen noch nicht vorgestellt, keines Blicks würdigten, und von ihm so viel Notiz nahmen, als vom nächst besten Eckstein. Der »schöne Fritz«, von der Hauptstadt her anderer Sitten gewohnt, vielleicht auch verwöhnt, fühlte sich verletzt, und drehte sich von der Gesellschaft ab. Zugleich überkam ihn der traurige Gedanke, daß heute schon Gründonnerstag, und daß dennoch von seinen zur Charwoche bestellten Freunden auch nicht ein einziger erschienen, nicht ein einziger sich angemeldet. – »Und in diesem dünnbesetzten Zug von Mannheim und Karlsruhe wird auch die Umschau rein umsonst und grasser Luxus seyn!« setzte Friedrich seinem traurigen Gedanken in Gedanken bei. Sprach dieses ganz geheim zu sich selber, als just der Zug unter'm Dach des Bahnhofs einfuhr und Halt machte. Friedrich überflog die Wagenreihe mit geringschätzig-ungläubigem Blick ... da nickte ihm aus der dritten Wagenklasse sehr auffallend ein Reisender zu, gestikulirte ziemlich beinebst, und rief sogar mit wenig verhaltener Stimme: Grüß Gott, Poppele! Wie freu' ich mich, Dich zu sehen!

Herr meines Lebens! macht hierauf der schöne Fritz ganz stutzig und aufgeregt: Wenn das nicht Raphael, der Stulpenstiefel ...? ja, ja, er ist's! ... Aber wie sieht doch der Bursche aus?

[9] Seiner bisherigen Gesellschaft völlig uneingedenk, springt der Sekretär auf den Wagen zu, aus dem sich fraglicher Raphael nicht ohne Mühe herausarbeitet. – Bist du's? Bist du's in der That? schreit der schöne Fritz, und: Amice, ich bin's, ich bin's, wir sehen uns wieder! deklamirt der Künstler seinen Freund sehr theatralisch an und macht Anstalten zu einer Umarmung, wie sich's gehört. – Aber, sich ihn vom Leibe haltend, antwortet Fritz-Poppele: Wie siehst du aus? welch' ein Aufzug? Willst du wohl gleich mit mir gehen, wohin uns keine Seele folgt, damit ich dir von deiner abenteuerlichen Kleidung helfe? – Zog ihn wirklich auf die Seite, riß ihm vom Halse die mächtige rothe Binde, vom Kopf den schwarzen Schlapphut mit der rothen Feder, – nahm ihm von der Hüfte den martialischen Schleppsäbel, womit sich der Künstler umgürtet und raunte ihm zu: Du siehst ja einem Fra-Diavolo, einem fantastischen Carl Moor ähnlich? Was soll das bedeuten? Ist nicht der Karneval schon längst vorbei?

Der Andere, sich wehrend der Plünderung, halb im Ernste grollend, halb scherzhaft grinsend, rief, der Gewalt weichend: Mach' doch kein dummes Zeug, Poppele! Du operirst ja wie ein Scherge! Komm' ich daher, voll Freude, die alten Kameraden zu sehen und der politischen Wiedergeburt des Landes beizuwohnen, und siehe: ich werde entwaffnet, meiner Farben entkleidet von dem Freunde! O pfui, was soll das bedeuten? So hab' ich zu fragen!

Und die Antwort wird sich nicht lange erwarten lassen, versetzte der schöne Fritz, sobald du an sicherm Ort und anständig umgezogen sehn wirst. Wo dein Bündel, oder Nachtsack, oder Koffer? Gib her, gib her, [10] und Marsch hinein in diese Droschke! Meine Wohnung ist nicht gar zu weit von hier; dort sollst du ein neuer Mensch werden: Eine saubere Geschichte, wenn dich Papa Hinterbein in dieser Maskerade gesehen hätte…

Wie? loderte Raphael auf: Wäre er zugegen sammt seinen Töchtern, den holden Grazien, sammt dem braunen Lockenköpfchen Katharine? O Freund, o Poppele ... geschwinde ...!

Geschwinde da hinein! befahl ihm Friedrich strengstens, und schob ihn gewaltthätig in die Kutsche: Sollst Alles hören, Alles wissen ... aber vernünftig, gehorsam, ein gescheidter Kerl seyn. Fahr' zu, Kutscher, fahr' zu, als gält' es, Hasen zu fangen! – Wie er gesagt, so geschah es. – –

Auf dem Bahnhof blieb's noch eine Weile im Alten. Von oben kam und kam eben nichts. –

Was muß denn nur geschehen seyn? fragte Hinterbein besorglich einen Nebenstehenden. – Was wird geschehen seyn? antwortete dieser sehr lustig und aufgeräumt: Werden schon kommen, wenn's Zeit ist! Der Hecker hat eben gewonnen, die Eisenbahn mit Beschlag belegt und wird darauf heransausen mit tausend und abertausend Mann!

Bei dem Kerl da bin ich an den Rechten gekommen; flüsterte Papa noch sorglicher seiner Mathilde zu: Gott, Gott, welche Menschen, welche Leute! – Wo ist denn der Sekretär, mein Schätzchen, daß ich aus seinem Munde etwas Gescheidteres höre? – Weiß nicht; entgegnete Mathilde, etwas verletzt und bitter: der Herr ist verschwunden ohne Abschied, ohne Lebewohl. Ich begreife nicht ... er muß wohl einer angenehmern Gesellschaft begegnet seyn?

[11] Ja, ja; sagte hierauf Papa mit mißliebigem Achselzucken: so ist die Welt in heutzutage. Keine Schicklichkeit mehr, kein Anstand, sondern ein Sichgehenlassen, wie man's voreinst nicht bei den Bauern, nicht bei den Mohren und Malaien angetroffen. Gott bessre Alles, was jung ist! Indessen hab' ich schon seit einiger Zeit an dem Herrn Sekretär eine gewisse Unstätigkeit und Zerstreuung bemerkt, die mir aufzurathen gab. Hat mir schon manche verkehrte Antwort gegeben, hat sich im Piket verzählt, wie kaum ein Lehrling zu thun pflegt ... sieht zum öftern so konfus in die Welt hinein, daß es zum Verwundern ... so daß ich meine, daß ihm nicht Alles eingeschlagen, wie er's etwa wohl wünschte ...?

So mein' ich auch; dachte Mathilde still für sich, und lächelte ... aber traurig, schwermüthig sogar war dieses Lächeln. Ein Frauenherz von edlem Gefühl hat Mitleid mit dem Mann, von dem es geliebt wird, wenn schon es diese Liebe nicht erwiedern kann oder darf. –

Ehe jedoch Papa Hinterbein sich mit der wiederholten Frage: »Was muß denn nur geschehen seyn?« an den Elsäßer oder an den Sattlermeister wenden konnte, gab's wieder einmal einen großen Aufstand unter den Leuten und durcheinander tobte das hundertzüngige Geschrei: »Da, da! jetzt kommt's! – Ein Zug! – Nein, ein Lokomotiv ganz allein! – Die Truppen haben gesiegt! – Der Hecker hat's gewonnen! – Eine Fahne! – Die freie deutsche Fahne! – Die badische Fahne, die badische Fahne!«

Diesmal war's nicht gefehlt; ein Lokomotiv keuchte eiligst heran ... eine Botschaft jedenfalls, und in der That flatterte darauf ein Fähnlein, und zwar ein badi [12]sches! – Den Freiheitsmännern wollte das Herz sinken, den Fürstlichgesinnten schwoll es hoch auf ... dennoch waren Alle noch im Zweifel: die Botschaft konnte ja dennoch eine Hiobspost sein?

Als jedoch der Dampfkurier mit Hutschwenken und »Vivat!« in der Halle anlangte, riefen zwar Viele das »Vivat« mit, ohne sich bewußt zu seyn, warum? aber schnellstens trat eine feierliche Stille ein, und Alles horchte, lauschte, hoffend und zagend, der lang ersehnten Kunde.

»Ein Gefecht, geschlagen bei Kandern ... die Aufrührer, unter Hecker und Struve, zersprengt ... ihre Artillerie genommen ... Gagern gefallen ... die Freischaaren in wilder Flucht nach dem Rheine und der Schweiz ...!« Also lautete der Bericht. –

Nach einigen Sekunden hatte die Hälfte der versammelten Zuhörer den Bahnhof schon verlassen. Alle, die mit der Nachricht unzufrieden, wollten Nichts mehr hören, hatten schon genug, und trösteten sich auf dem Heimwege mit der Voraussetzung, daß der Regierungsbote gelogen, und daß die längst angesagten Zuzüger aus Frankreich Alles wieder in das gewünschte Geleise bringen würden. – Die Freude der Andersgesinnten war indessen bedeutend geschmälert durch die Kunde von Gagern's Tod, und weniger geräuschvoll, als vielleicht sonst geschehen wäre, traten auch sie den Rückweg nach ihren Häusern an. Papa Hinterbein war aber recht munter geworden. Was ging ihn der Fall des Feldherrn an, wenn nur die Rebellion zu Boden geschmettert lag? Und daß sie darniederliege, ohne jemals wieder aufstehen zu können, daran zweifelte Hinterbein keinen Augenblick. Die Tage, die verschienen, die Tage [13] der Ruhe, des Friedens, des Genusses und behaglichen Wohllebens, sollten wieder anheben, ungestörte Schlafnächte folgen, die Polizei wieder in Floribus seyn, und nächstens die unbequeme Franzosenrepublik ein- oder besser ausgehen, wie nach dem Sprichwort das Hornbergerschießen!

Jetzt haben wir's gewonnen! rief er auf dem Heimweg den Elsäßer mit einem jokosen Rippenstoß an, da Mathilde, die sich ihren Hugo auf fernem Schlachtfeld sterbend wie Gagern vorstellte, eben nicht auf des Vaters Freude besonders einging: Jetzt ist wieder Ruh' und Fried' im Lande, und mit der dummen Freiheit ist's aus und vorbei! Ich sag' es ja immer: den Kerlen ist zu wohl gewesen, ... sie sind auf's Eis gegangen, und haben's Bein gebrochen, Viktoria!

Worauf der Elsäßer ganz mauderig erwiederte: Hm, ich bin fâââché, das kann ich sagen, daß es so gearrivirt ist! Ich hätte gar zu gern die république in »Ditschland« proklamiren gehört!! Jetzt hab' ich leider meine Voyage umsonst gemacht, und dauern mich nur die schönen Hundertsousstückeln, die ich so pour rien verdepensirt habe!

Aber – wie kann man nur solchen Tollheiten nachlaufen, wenn man bereits sein halb Jahrhundert auf'm Rücken hat? fragte Hinterbein staunend und spöttlich. –

Der Elsäßer antwortete darauf sehr gleichgültig: Was mach' ich mir aus denen folies? Das ist mir tout-de-même. Ich hab' seit vierzig Jahren in Frankreich fünf Revolutionen gesehen oder gar sechs: Die République, das Consulat und das Kaiserthum, und den Louis Tout-de suite (Dix-huit) und dann wie [14]derum den Napoleon in denen Gent-jours, et alors den Charles-dix und die révolution de Juillet, und den Louis Philippe und die Februarrevolution mit abermals und encore la république ...! das ist mir alles tout égal, wenn ich nur's Leben habe und mein Geld behalte ... die Wälschen brauchen eben immer de tems en tems ein Schangschemang eie Décorationg und Amen: in »Ditschland« möcht' ich's doch einmal auch erleben ...!

Machen Sie, Nachbar, daß mir der Steckelburger da von den Rippen kommt! bat Hinterbein den Sattlermeister inständigst und leise. – Wird gleich gethan seyn; versicherte der Nachbar lächelnd, und sprach zu dem von drüben: Wollen Sie nicht meinen Meisenschlag sehen, und meine ausgestopften Meisen? – Und fröhlich aufgeweckt ging der »Meisenlocker« mit, und ließ den Hinterbein in Ruhe seinen Weg fortsetzen. »Meisenlocker« und »Steckelburger« -- Uebernamen, die besonders den Straßburgern von ihren Nachbarn diesseits und jenseits des Rheins gegeben werden. – –

Inzwischen kam ein vollständiger Bahnzug aus dem Oberlande, dem Kriegskurier in nicht allzulanger Zeit folgend, aus dem Bahnhof an. Er war spärlich besetzt, indessen waren doch immer noch Leute genug mitgekommen, die den wenigen Neugierigen, so noch in so später Stunde nicht vom Platz gewichen, allerlei von dem Gefecht bei Kandern und von der Retirade des Heckerheers erzählen konnten: bekanntes und nicht bekanntes, wahres und erfundenes, Kraut und Rüben – wie's eben zu gehen pflegt.

[15] Unter denen, die sich um die Wagen versammelten, und mit den Aussteigenden und Weiterreisenden Frag' und Antwort wechselten, stand auch ein zärtliches Paar, das vom Lustwandel sich in den Bahnhof verloren, aber viel zu viel mit sich selber zu thun hatte, als daß es an der Kriegs- und Freischaaren-Zeitung viel Antheil hätte nehmen mögen. – Daß der Aufstand niedergemacht, und eine friedfertige Ostersonne des Paares Hochzeitstag bescheinen würde, war den Liebenden schon genug des Glücks, und nicht bedurften sie der Einzelheiten.– In ihrer Nähe stieg ein langer vornehm aussehender junger Herr aus dem Wagen, den ein ebenfalls mit dem Zug angelangter Bedienter ehrerbietig am Schlag erwartete. – Der Herr blickte gleichsam verwundert und unangenehm überrascht ringsum, und fragte halblaut, weil zerstreut und befangen: Wie? Keiner da? Niemand, der mich erwartet? Mich dünkt doch, daß ich immerhin noch zu rechter Zeit komme? –

In diesem Augenblicke bemerkte er das Paar, das unfern stand, grüßte höflich, wenn schon kalt, und sprach, zu den Hochzeitleuten tretend: Hab' ich nicht das Vergnügen, Herrn Doktor Faust in Ihnen zu verehren, der vor einigen Jahren in Heidelberg ...?

Zu dienen; bin derselbe: antwortete der Doktor ziemlich freundlich: Ich sollte auch die Ehre haben, Sie zu kennen, Sie gekannt zu haben dazumal ... doch weiß ich nicht mehr ...

Ei, haben Sie Ihren Zuhörer vergessen, Herr Doktor? Ihren einzigen Zuhörer? Das ist nicht recht, nicht lieb von Ihnen. Wir haben uns ja ein ganzes Semester hindurch in Ihrem Kollegio begegnet und gesehen, gerecht und beharrlich aushaltend, Sie der [16] Lehrer, ich der Studiosus, beide uns ergänzend, wo es noth that, und zufrieden mit unserer einfachen Doppelexistenz ...? Und jenes rührende Verhältniß ... hätten Sie's vergessen?

O nein, o nein! Sieh, sieh; das freut mich wirklich, Herr Alfred ... ja, in der That. Ei, ei, wie die seither verflossene Zeit Sie verändert, und fast um, eine Elle gesteigert hat! Nun, nun, seyn Sie willkommen! – Sehen Sie, meine beste Laura, ... das ist mein Zuhörer ... mein Zuhörer, mein Student aus der gelobten Zeit, da ich Privatdozent gewesen! Herr Alfred also, mein Zuhörer! Fräulein Laura von Wildian, meine Braut! –

Alfred machte ein Musterkompliment, feierlich sprechend: Freut mich unendlich ... Bitte das schätzbare Fräulein, meine ergebenste Huldigung zu genehmigen, und ...

Während Tante Laura sich kalt verneigte, hob der Doktor an: Sie kommen von oben herunter? Bringen Sie Neues? Ist wahr, was Ihre Reisegefährten von Kandern und Gagern erzählen?

So viel ich weiß, ist Alles so, wie Sie sagen; antwortete Alfred ganz ruhig: ich bin recht zufrieden, daß es also gekommen, denn ich habe just Italien verlassen; wo ich als Deutscher zumal nicht mehr bleiben konnte. An der vaterländischen Gränze jedoch angelangt, in der Hoffnung, mich auszuruhen von den Revolutionsstrapazen, mußt' ich hören, daß auch bei Uns das Volk in Gährung, Gegenwart und Zukunft in Gefahr ...! Beinahe wäre ich durch Frankreich nach Deutschland gereist, doch wollt' ich heut und just nur heute hier eintreffen. Darum hab' ich gewagt, mich [17] in den Rachen des Löwen zu begeben. Gottlob, 's ging noch besser, als ich gedacht. Die Rheinstraße ist überall von Truppen besetzt, die Freischaaren streifen im Gebirge, fliehen nach der Schweiz. So bin ich heil und wohl hier angelangt, und bin nur in Verlegenheit, ob ich den Sekretär Friedrich Wahlinger noch in Freiburg vorfinde, und wo ich denselben aufzusuchen hätte?

Ich kann Ihnen da glücklicherweise vollkommene Auskunft geben; sprach der Doktor sehr liebenswürdig: Der Herr Sekretär befinden sich allerdings noch in loco, und wenn Sie sich die Mühe geben wollen, mit uns zu gehen, so sehen Sie Ihren Freund noch in dieser Viertelstunde. (Auf die Uhr sehend.) Es ist just die Zeit, da sich Herr Sekretär bei Kaufmann – oder besser – Privatier Hinterbein einzufinden pflegt, um sein Parthiechen zu machen! ...

Die Aussicht, alsogleich bei Hinterbein heimisch zu werden, lächelte dem kühlen Alfred; dennoch versuchte er eine halbe Weigerung ... nicht belästigen, nicht Mühe machen wollend – und was der Ausflüchte mehr, an die man in gebildeter Gesellschaft schon längst nicht mehr glaubt, die man jedoch immer wieder vorbringt ... die man sogar vom anständigen Mann erwartet ...

Doktor Faust war aber in diesem Punkte nicht der Mann der übertriebenen Förmlichkeit. Darum nahm er flugs Alfreds Arm unter den seinigen, und sagte gutmüthig grob: Ach was da! Lassen Sie die Faxen, liebster Zuhörer und Studente mein. Meinem zukünftigen Schwager wird Ihr Besuch sehr lieb, Ihre Bekanntschaft sehr werth seyn, und dankbar wird er die Neuigkeiten aufnehmen, die Sie ihm aus dem Oberlande mittheilen wollen. –

[18] Wohlan denn; – weil Sie darauf bestehen ...? Mit diesen Worten ergab sich Alfred in sein Loos, musterte mit einem Blick seinen Anzug, der, wie immer, gentil und untadelhaft, schickte seinen Koffer mit dem Bedienten nach dem »Engel«, und wandelte seine Straße dahin in Begleit des Fräuleins Laura und ihres Doktors, der lustig deklamirte:

Stürzen wir uns in das Rauschen der Zeit,
In's Rollen der Begebenheit:
Da mag denn Schmerz und Genuß,
Gelingen und Verdruß,
Mit einander wechseln, wie es kann:
Nur rastlos bethätigt sich der Mann.


[19]


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