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V.
Ein Idyll auf dem Thüringer Walde.

(1871.)

»Ein alter Mann, der vor der Thür eines alten Hauses einen alten Blasebalg flickt« –

Das – wenn er nicht noch vielleicht einen Blick hat für die Jahreszahl auf dem alten Blasebalg: 1776 und für den Fuhrmann in blauer Blouse und Zipfelmütze, der, die Hände auf die Kniee gestemmt, so eifrig zuschaut, und für ein zehnjähriges Mädchen, welches ihr kleines Schwesterchen oder Brüderchen auf dem Arm trägt und ebenfalls sich die merkwürdige Procedur ansieht – das, sage ich, ist so ziemlich Alles, was der Beschauer so für gewöhnlich aus einer anspruchslosen Bleistiftskizze von Paul Meyerheim herausliest, die zu den werthvollsten Perlen meiner kleinen Handzeichnungen-Sammlung gehört.

Für gewöhnlich sehe ich eben auch nicht mehr; aber ein und das andere Mal – ich habe dann wohl recht starr hingeblickt, und da gehen ja immer mit dem, was wir vor Augen haben, die sonderbarsten Veränderungen vor: ein und das andere Mal ist es mir wohl begegnet, daß Alles, was auf dem Blatte von des Freundes Meisterhand gezeichnet stand, wie in dem feinen blauen Nebel, der aus einem Wiesenthal am Rande des Dorfes aufsteigt, verschwand und aus dem Nebel blaue Berge auftauchten – dieselben Berge, deren »Ferne« Goethen »so sehnlich zog«, wenn er – ein alter Mann – in dem stillen Garten der Dornburg auf schroffer Felsenhöhe wandelte und sie über das breite Saalthal zu ihm hinüber grüßten und winkten. Und dann rückt die Ferne naher und näher, und ich steige durch dunkle Tannenwälder und über sonnige Halden auf, bergauf, und stehe endlich auf dem Gipfel, und unter mir liegt es ausgebreitet da mit seinen goldenen Auen, blumenreichen Matten und immergrünen Wäldern im Morgensonnenglanz oder Abendschein – wie nun gerade die Stimmung meines Gemüthes es will – das liebe, herzige, alte Thüringen.

Ja, das alte Thüringen! Ich nehme an, daß es auch in geologischem Sinne älter ist, als die norddeutsche Tiefebene, deren breite, weile, eintönige Flächen man, von Berlin kommend, auf den endlosen Schienenwegen durchrollt; jedenfalls weiß ich, daß, sobald bei Naumburg und Kösen die ersten Höhenzüge das Ufer der Saale umkränzen und von den Höhen die Ruinen der Rudelsburg und die beiden Thürme von Saaleck ernst herniederschauen, meine Phantasie mit Leichtigkeit über ein paar Jahrhunderte wegfliegt: und daß, wenn ich – von Dietendorf oder Gotha links abbiegend – nach einigen Stunden »auf dem Walde« bin, es mir auf ein oder zwei Tausend Jahre rückwärts gar nicht weiter ankommt.

Wie könnte es auch anders sein? Es ist so still da oben zwischen den moosigen Felsen unter den ernsten Bäumen – man geräth in's Träumen, besonders wenn man von Natur ein Träumer ist. Wie mit einem tiefen Zauber umfängt uns die sonnige Stille. Die Welt draußen, die geschäftige, lärmende, versinkt; und eine Ruhe zieht in unser Herz, die sich nicht mit der athemlosen Gegenwart und nicht mit der unsicheren Zukunft verträgt, – nur mit der Vergangenheit, die todt ist, und deren Bilder todtenstill durch unsere Erinnerung gleiten.

Todtenstill, auch wenn die Wirklichkeit lärmend genug war; aber die Zeit ist, wie die fußdicke aus vermoderten Tannennadeln und Heidekraut gepolsterte und wieder mit frischem Heidekraut überkleidete Decke des Bodens hier im Walde: sie dämpft den lautesten, den eisernsten Schritt.

Wie unzählige lauteste und eisernste Schritte mögen über diesen Weg gezogen sein, an dessen scharfer, abwärts gleitenden Krümmung ich hier – im tiefsten Herzen des Waldes – raste; über diesen Weg, der zwischen dem sanft ansteigenden Tannenberge links und der steilen Felswand rechts aus der Niederung unten über den Sattel des Hügelrückens auf den Wald und quer über den Wald führt? Es ist derselbe Weg – man kann es mit vollster Gewißheit sagen – der seit Menschengedenken und vor Menschengedenken durch diese Schlucht geführt haben muß. Dort, an der Krümmung steht das Gestein zu Tage. Zwei breite, ungleichmäßige Furchen sind tief in das »rothtodtliegende« geschnitten. Der Regen hat ohne Frage mitgeholfen; aber zuerst und zuletzt sind diese Furchen die Spur der zahllosen Fuhrwerke und Rosseshufe und Holzschleifen und Karren und Männertritte, die sich hier seit Jahrtausenden mühsam bergauf gearbeitet haben, und nicht minder mühsam bergab geglitten sind.

Ein seltsamer Zug! Die plumpen Wagen mit Weib und Kind und Hab und Gut dem warmen Süden zustrebender kimmerischer Germanen; die schweren Rosse der Kreuzfahrer, die nach Palästina pilgern; die geduldigen Saumthiere italienischer Kaufleute; die langen Karavanen Augsburger und Nürnberger Handelsherrn; die glänzende Cavalcade sangesfroher Fürsten, minniglicher Damen und ritterlicher Sänger; die struppigen Gäule adliger Buschklepper; die nägelbeschlagenen Schuhe der armen gehudelten Bauern, die mit Picken und Hellebarden und Dreschflegeln und Sensen aus ihren Walddörfern kommen, die Ritter todtzuschlagen und die Pfaffen, ihre Peiniger und Dränger, und die Welt zu befreien von »Nimrod und ' Baal«. Ach, sie haben die Welt nicht befreit; und er, der dieses selbigen Weges gezogen ist, als er von Worms kam, der streitbare Mönch, der große Reformator: auch er hat sie nicht befreit, ja, hat sie in diesem Sinne nie befreien wollen; und sein Tintenfaß, das er dort drüben auf der Wartburg dem Bösen an den Kopf warf, hat die Bösen nicht vertrieben.

Und noch viele Böse, die Bösesten der Bösen, sind dieses Weges gezogen in jenem schaudervollen Kriege, den man den dreißigjährigen nennt, und der kaum in einer andern Gegend unseres armen Vaterlandes so furchtbar gehaust hat, wie gerade in diesen Bergen. Ach, wenn man des Jammers denkt, des unaussprechlichen Elends, das – wie Feuer und Schwefel aus dem Rachen einer Hölle – auf dieses Paradies des Friedens herniederras'te, und mehr als eines seiner stillen Dörfer für immer von der Erde weggesengt hat – ja, dann verhüllt selbst die liebe Sonne droben ihr strahlendes Angesicht, melancholisch rauscht es durch die Wipfel der Riesentannen, und traurig murmelt der Duell, als wäre jeder Tropfen eine Menschenthräne. Ich habe zu viel gesagt: es giebt eine Vergangenheit, die keine dichteste Decke der Zeit in Frieden zudeckt, die immer und immer wieder ihr bluttriefendes Dulderhaupt erhebt, und mit schmerzzuckenden bleichen Lippen fragt: warum habt ihr mir das gethan?

Weg, weg, ihr fürchterlichen Bilder! macht anderen Platz, lieben, schönen Bildern, wie sie lieber und schöner meine Phantasie kaum hervorzurufen weiß, und zu denen die herrliche Gestalt eines Jüngling-Mannes immer den leuchtenden Mittelpunkt giebt. Es ist nun auch schon beinahe hundert Jahre her, daß er zuerst, jetzt zu Fuß und jetzt zu Roß, bald allein und bald in Gesellschaft, durch diese Wälder, diese Berge, diese »immergrünen Thäler« schweifte, und sie mit dem süßen Klange seiner Lieder erfüllte, so sehr, so ganz, daß sie heute noch für mich von diesem Klange wiederhallen, daß die Wipfel seinen Namen zu rauschen, die Bäche seinen Namen zu murmeln, die Vögel seinen Namen zu singen scheinen.

Da kommt er im leichten Bauernwagen, an der Seite seines fürstlichen Freundes. Sie waren, in tiefernste Gespräche verloren, von der Jagdpartie abgekommen, und haben nun in Schwarzenbach, oben »auf dem Wald« ein Gefährt requirirt, das Johann Jürgens, der reiche Johann Jürgens, selber führt, nicht schnell genug für die Ungeduldigen, denn die Sonne steht schon tief, und drunten aus dem Thal, wo der Kirchthurm aus Bäumen und Büschen aufragt, die der Herbst und der Abendschein mit Purpurfarben und Purpurlichtern überstrahlen, ertönen die rufenden Hörner der thalwärts ziehenden Jagdgenossen. Und der junge Fürst hebt sich im Sitz und ruft, zu Johann Jürgens gewandt, seines Dichters Verse citirend:

Töne Schwager in's Horn
Rassle den schallenden Trab!
Daß der Orkus vernehme: wir kommen,
Daß gleich an der Thüre
Der Wirth uns freundlich empfange!

Johann Jürgens versteht von dem Allen nur so viel, daß er schneller und schneller fahren solle, eine verteufelte Aufgabe auf solchem Wege! Aber Johann Jürgens thut, was er kann, seinem gnädigsten Herrn zu Liebe, und nach wenigen Minuten empfängt die hohen Reisenden der Wirth, nicht der des Orkus, sondern Peter Mertens, aller Welt, und nicht zum mindesten seinem Herzog bekannt durch seine guten Späße und das treffliche Gebräu, so er ausschänkt, und das schöne Töchterlein, das so fein und schlank ist, als ob es eines Goldschmieds und nicht eines Grobschmieds Töchterlein wäre.

Denn das niedrige Haus, das übrigens sonst ganz schmuck und auch erst im vorigen Jahre und halb von des Herzogs Gelde erbaut wurde, nachdem das alte abgebrannt – das niedrige Haus ist, nach alter guter Sitte, Ausspannung und Gasthaus und Schmiede, Alles in Einem, und heißt »Zum goldenen Hufeisen«, und ein Hufeisen von blitzblankem Messing prangt über der Thür.

Und ein Glück ist's, daß Peter Mertens an dem Schmiedefeuer ebenso gut Bescheid weiß, wie sein Töchterlein am Küchenfeuer, denn auf der schwindligen Fahrt, die uralte Heerstraße herab, ist der Bolzen der Deichsel gebrochen, und muß durch einen neuen ersetzt werden, wollen die Reisenden nicht hier im Dörflein übernachten.

Der junge Fürst hätte dazu nicht übel Lust. Er meint, es sei genug, daß ein jeglicher Tag seine Plage habe, und sie seien heute gerade ausreichend umhergetollt. Aber der Dichter lächelt und spricht:

Seitwärts des Ueberdachs Schatten
Ziehe Dich an,
Und ein Frischung verheißender Blick
Auf der Schwelle des Mädchens da.

Auf deutsch: mach', daß wir fortkommen, nicht wahr? sagt der Fürst ärgerlich lachend. Nun meinetwegen! Mich erwartet freilich Niemand; aber sie soll nicht vergebens Deiner harren, die schöne Frau.

Und da sitzen sie wieder im leichten Gefährt. Johann Jürgens klatscht mit der Peitsche, die Gäule ziehen an: eine Wolke herbstlichen Staubes und – Alles ist verschwunden.

Nicht Alles. Die Scene blieb; sie hat sich nur ein wenig verändert. Das damals so schmucke Haus fühlt die hundert Jahre, die darüber hingezogen, bis in den letzten Nagel. Die Balken haben sich vor langer Weile schief gereckt, und darüber ist das ganze Hans schief geworden: die Thür, das Fenster mit den runden, bleigefaßten Scheiben, von denen mittlerweile der größte Theil erblindet ist. Alles ist schief geworden: selbst der Bretterzaun von dem Gärtchen nebenan, selbst das Hufeisen über der Thür, das schon lange, lange »kein goldenes« mehr ist, und kein Wahrzeichen für den müden, durstigen Wanderer. Das jetzige Gasthaus liegt am anderen Ende des Dorfes – ein stattliches, großes Haus mit spiegelblanken Fenstern. »Zu den drei Forellen« heißt es, und die Curgäste aus dem benachbarten Bade wallfahren des Abends dahin, um Forellen zu essen. Hierher zur allen Schmiede kommt keiner von den Curgästen; was sollten sie auch da? Haben doch selbst die Fuhrleute es aufgegeben, das alte Haus zu frequentiren, seitdem sich die Sage verbreitet: der alte Blasebalg von Anno 1776 habe einen Riß bekommen, und das Schmiedefeuer auf dem alten wackligen Heerde wolle in Folge dessen nicht mehr brennen.

Ach, es ist mehr als Sage! Es ist traurige Wirklichkeit. Der Johann Jürgens aus Schwarzenbach – der Urenkel von dem Johann Jürgens, der an jenem Abend die beiden Dioskuren fuhr – er ist neulich Abends »vom Walde« herabgekommen, und da hat der alte Peter Mertens – sein Großvater selig baute zu Karl August's Tagen das Haus und hieß auch Peter Mertens – im Abendsonnenschein vor der Schmiede gesessen und hat mit Hammer und Zange und Nägel den alten Blasebalg geflickt, der ein Loch gehabt, so groß wie das Thor in Johann Jürgens Scheune. Und ist der alte, stocktaube Mann so in seine Arbeit vertieft gewesen, daß er ihn – Johann Jürgens – der still gehalten und eine halbe Stunde dicht dabei gestanden und zugesehen, gar nicht bemerkt hat. Und die kleine Anne Kathrin von der Wittfrau Becker hat auch dabei gestanden und ihr Brüderchen auf dem Arm gehabt, und kann es auch bezeugen.

Und noch Einer kann es. Der hat ebenfalls dabei gestanden oder vielmehr gesessen, – ein wenig abseits, drüben neben der niedrigen Schlehdornhecke; und hat sein Skizzenbuch auf den Knieen gehabt und in seiner genial-rapiden Weise die kleine Scene, die sein Künstlerauge angezogen, zu Papier gebracht. Dann ist er nach den »drei Forellen«, allwo er auf seiner Studienreise für die Nacht Quartier genommen, zurückgekehrt, und hat den letzten Abendschein benutzt, die Skizze noch ein wenig aus- und herauszuarbeiten.

Von den Curgästen aber ist Einer an den eifrigen Künstler herangeschlichen, hat ihm einen Augenblick über die Schulter geschaut und sich dann wieder mit enttäuschtem Gesicht zu der neugierigen Gesellschaft gewendet.

Nun, was war es?

Ach, nichts Besonderes! So viel ich sehen konnte: »Ein alter Mann, der vor der Thür eines alten Hauses einen alten Blasebalg flickt.«

*


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