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III.
Aus Unter-Italien.

(1873.)

1.
Ankunft in Neapel.

Wer einmal in Neapel gewesen, kann
nie ganz unglücklich werden.

Goethe's Vater.

Ich stand in der Frühe eines Aprilmorgens, nachdem wir spät am Abend vorher angekommen, am Fenster meines Gasthofzimmers in Neapel.

Es regnete, regnete in jener Weise, die man in einzelnen Gegenden Deutschlands Bindfaden und in England cats and dogs nennt; und was ich durch diesen dicht gewebten Regenschleier von Neapel sah, war zuerst unmittelbar vor, oder richtiger noch eine Etage unter mir, das weite, flache Dach des gegenüberliegenden oder wahrscheinlich wohl der gegenüberliegenden, von unserm Hotel durch eine sehr schmale Gasse getrennten Häuser. Es war ein großer Raum, fast wie ein Marktplatz anzusehen, auf dem verschiedene kleine einstöckige Häuser zerstreut lagen und der von phantastischen Gebäuden und Bauwerken eingerahmt wurde. Jene kleinen Häuser waren wirkliche Häuschen, Dachwohnungen, Wohnungen auf dem Dache, Schmarotzerpflanzen auf der Eiche; kleine Schnecken, Muscheln auf der Schale einer großen Schnecke oder Muschel; die einrahmenden Baulichkeiten aber waren die überragenden Giebel, Zinnen, Dächer, Erker anderer höherer Häuser, Kirchen, Glockenthürme – was weiß ich!

Ein Marktplatz, – ein verregneter, verödeter Marktplatz! Nur von Zeit zu Zeit öffnete sich die Thür eines jener kleinen Häuser, und die tief vermummte Gestalt einer Frau trat vorsichtig heraus und trippelte zwischen den großen Pfützen hindurch, die sich auf dem Estrich des Daches gesammelt hatten, hinüber zu einer Nachbarin in einem der andern kleinen Häuser. Einmal, als der Regen ein paar Minuten nachließ, kamen ein paar Kinder heraus und begannen sich zu haschen, wurden aber bald wieder von den unbarmherzigen Elementen hineingetrieben. Dann kam ein Mann, der eine zerrissene Decke über dem Kopf hatte und mit lauter Stimme seine Waare – Töpfe, die er in der Hand trug – ausrief; dann kam ein Postbote, ein wirklicher Postbote mit hochgestelltem Kragen und lederner Brieftasche. Es gab also einen officiell geregelten Verkehr dieser Oberwelt mit der Welt da unten.

Tief unten in dem schmalen Gäßchen, das linker Hand mit einer schnellen Biegung in dem Gewirre anderer schmaler Gäßchen verschwand, und rechter Hand alsbald auf einen kleinen Platz mündete, den wir vom anderen Fenster aus – das Haus war ein Eckhaus – übersehen konnten, was davon nicht mit Regenschirmen bedeckt war. Und das war nicht eben viel; denn der Italiener hat eine Furcht und Scheu vor dem Regen, die uns Nordländern manchmal einfach kindisch erscheint; und die ganze, so bunt zusammengewürfelte Welt Neapels vom Dandy bis zum Lazaroni, von der jungen eleganten Dame, die von Laden zu Laden » chopping« fährt, bis zu der braunen alten Wechsler-Frau an der Straßenecke – Alles wandelte, fuhr, stand, saß unter Regenschirmen in allen Farben vom decenten Schwarz bis zum schreienden Roth, und in allen Dimensionen vom Entouscas bis zum regelrechten Pavillondach. Und der Regen und die Schirme dämpften den Schall, der aus dem »Tollhaus von Tönen« rasselnder Wagen, klappernder Pferdehufe, in allen Stimmlagen sprechender, schreiender, kreischender Menschen zusammenfließt zu einem gleichmäßig starken ununterbrochenen rauhen Getöse, und dazwischen wimmerten die Glöcklein einer Kirche, deren Thurm unsern Dach-Marktplatz überragte, und der Westwind heulte und der Regen klatschte und – »wer einmal in Neapel gewesen, kann niemals ganz unglücklich werden«, pflegte Goethe's Vater zu sagen.

Aber »wer lebt muß auf Wechsel gefaßt sein« sagt Goethe selbst; und da man auf Reisen doppelt und dreifach und manchmal hundertfach lebt, muß man doppelt und dreifach, muß man eben auf Alles gefaßt sein, auch auf schlechtes Wetter in Neapel – auf Sturm und Regen an dem Ort, den die Phantasie nur im glänzendsten Sonnenlicht zu sehen sich gewöhnt hat, und durch all die sonnestrahlenden Ausstellungs-Bilder mit der Pinie im Vorder- und dem rauchenden Vesuv im Hintergrunde hat gewöhnen müssen, – auf ganz landläufig-heimisches Aprilunwetter in dem Erdenparadies, aus welchem man nur eben verbannt zu sein schien, um sich immerdar zurückzusehnen ein volles Menschenalter hindurch mit einer stets gleichen, ja immer noch wachsenden Sehnsucht, die zuletzt so groß geworden war, daß sie sich gar nicht mehr zu äußern wagte.

Und als nun endlich in der Jahre Umrollung gnädige Götter mir den höchsten Wunsch ganz und voll gewährten; wir nicht wieder – wie schon zweimal: in Flüelen und in Innsbruck – vom seltsamsten Mißgeschick verfolgt, auf der unter scheinbar glücklichsten Auspicien begonnenen Römerfahrt umkehren mußten; als wir nun wirklich den Brenner überstiegen, die Chiusa di Verona im Sturm des thalwärts brausenden Eisenbahnzuges genommen hatten, als wir durch Verona, Padua kamen, durch die vielfach überschwemmte Poebene und unendliches Gequak der Frösche nächtlicher Weile in das säulengetragene Bologna einfuhren, und nach kurzer Rast weiter nach Florenz und weiter nach Rom, und selbst in Rom! – immer war die Sehnsucht meines Busens nicht gestillt; immer und überall hatte es mich weiter, weiter nach Süden gezogen, nach dem Lande, das, wie Schinkel in seinen Reisebriefen sagt, »der Nordländer meint, wenn er an Italien denkt«, wenn er von Italien spricht, wenn er Goethe's unsterbliche Verse von dem Land, »wo die Citronen blüh'n, im dunkeln Laub die Goldorangen glüh'n«, andachtsvoll, als wäre es ein Gebet – und meistens ist es ja eines! – recitirt.

Und doch, welche Tage hatten wir in Rom verlebt, welche Eindrücke aufgenommen, die, glaube ich, nun und nimmer der Erinnerung des Glücklichen entschwinden, dem sie zu Theil geworden. Wie hatte uns noch der letzte Abend, den wir in der ewigen Stadt zubrachten, so überreich beschenkt, als wir uns trotz der drohend schwarzen Wolken, die den vollen Mond manchmal Viertelstundenlang bedeckten, in der Kühle des Abends, die in dem offenen Einspänner manchmal empfindlich genug war, an der Fontana di Trevi vorüber, deren rauschende Wasser geisterhaft blinkten, zum Campidoglio und über das Forum nach dem Colosseum fahren ließen. Es war nur eine schwache Möglichkeit, daß unser Wunsch in Erfüllung gehen würde, denn immer dicker und schwärzer wälzten sich die Wolken ob unseren Häuptern, als der Hufschlag des Kleppers auf dem ehrwürdigen Pflaster der Via Sacra erschallte, und nur jezuweilen färbten sich die Ränder der finsteren Massen oben mit einem schwefelgelben Schein, in dessen Reflex hier und dort neben uns, vor uns, unter uns eine Säule, ein Fries von der Trümmerstätte, durch die unser Weg führte, für einen Moment heller aus dem Dunkel heraustrat. Dennoch: avanti! cocchiere, avanti! den holprigen Weg hinauf zum Titus-Bogen, wieder hinab den holprigen Weg: fermatevi! – Es hielten da schon ein paar Wagen; auch Anderen war es nicht entgangen, daß Vollmond im Kalender stand, und jetzt promenirten sie paarweise oder standen in kleinen Gruppen in dem ungeheuren Raume, ganz leise sprechend, so daß man nur, wenn man ganz dicht an ihnen vorüberstrich, eine Menschenstimme vernehmen konnte; sonst tiefstes, ununterbrochenes Schweigen in dem sandbestreuten Grunde des tiefen Kraters, der in nächtiger Stunde das Innere des Colosseums zu sein scheint. Schweigen und Dunkel; – kaum daß sich das Nächstgelegene mit einiger Deutlichkeit erkennen ließ und die obersten Ränder der Umfassungsmauer und der »höchsten Stufen« sich wenigstens etwas heller von dem schwarzen Wolkenhimmel absetzten; aber was zwischen unten und oben lag, verschwand in grauer Dämmerung, die von der einsamen Fackel, welche in einer der obersten Etagen bald hier, bald da zwischen den Bögen aufflammte, wahrlich nicht gelichtet wurde. Es war eine Gesellschaft, die sich die steilen Treppen hinaufleuchten ließ, die Wirkung des Mondscheines von oben herab zu beobachten. Sie werden unverrichteter Sache nach Hause kehren, wie wir, wenn die beiden Wolkenmassen, hinter deren einer der Mond bereits seit nur zu langer Zeit steht, über der klaffenden schwarzen Spalte, die sie jetzt noch trennt, sich vollends zusammenschieben.

Aber sie thun es nicht, sie rücken weiter und weiter auseinander; sichtbar mit jeder Sekunde nähert sich der Mond dem Rande der Wolke, der sich zu färben beginnt. Und mit jeder Secunde wird es hier unten zwischen den Ruinen lichter und lichter und mit einem Male ist das ganze ungeheure Rund im Vergleich zu der Nacht, die noch eben herrschte, wie von Tagesklarheit übergossen. Man unterscheidet, man sieht deutlich jeden Bogen, jeden Pilaster, jede Fuge zwischen dem gelbbraunen Travertin; das düsterrothe Fackellicht oben ist verschwunden – erloschen oder verlöscht, – jedenfalls bedarf die Gesellschaft keiner künstlichen Leuchte mehr, seitdem das prachtvolle Gestirn der Nacht, schimmernd, ja blendend in seinem Glanz, da oben in dem schwarzblauen Himmel schwimmt.

Es währte nicht lange; dann zogen wieder Wolken unter ihm weg; aber nicht die compacten Mauern von vorhin, sondern Dunstmassen, die ihn eher verschleierten als verhüllten, so daß jetzt ein Flackerlicht herabfiel, in welchem die grandiosen Ruinen bald klarer, bald undeutlicher erschienen, als ob sie von dem gelblichen Wiederschein einer mächtigen bald höher aufflammenden, bald zusammensinkenden Feuersbrunst getroffen würden:

Es war nicht Nacht, es war nicht Tag;
Es war ein eigen Grauen.

Das war unser letzter Abend in Rom.

Der nächste Morgen hatte uns nur noch Zeit gelassen, die Vorbereitungen zur Abreise zu treffen, und in dem Pantheon, dem herrlichsten der Tempel, welche Rom's Hügel tragen, den Göttern zu danken, die uns gnädig gewährt, bis hierher zu gelangen. Dann war die Stunde der Abfahrt gekommen, der Abfahrt nach Campanien, dem Lande meiner Träume; morgen früh der Busen von Neapel, der Vesuv – Capri –

Halt aus, mein Herz, Du darfst nicht auch zerspringen,
Weil er zersprang, der letzte von den Ringen,
Die Du so lange Jahre hast getragen!

Und wie wunderschön war die Fahrt gewesen, trotzdem wir zum ersten Mal, seitdem wir Berlin verlassen, das Coupé nicht allein für uns gehabt hatten! Aber der violetstrumpfige Monsignore aus Rom mit dem blassen Cäsarengesicht und der schwärzliche Herr aus Florenz mit dem Barte von gestern, die unsere Reisegesellschaft bildeten, hatten sich bald, sehr bald ausgesprochen, nachdem sie freilich in ihrer kurzen Conversation das ganze Mienenspiel vom höflichsten Lächeln bis zum Grinsen des Hohns und die ganze Geberdensprache vom konciliantesten Druck beider Hände auf den eigenen Busen bis zum demonstrativsten Spreizen aller zehn Finger in der unmittelbaren Nähe des gegnerischen Gesichtes durchgemacht hatten. Der Gegenstand war auch freilich darnach gewesen: die Einwirkung der großen politischen und kirchlichen italienischen Revolution auf den materiellen Zustand Rom's. Wollte man dem Monsignore glauben, so würde, wenn das so fortginge, von dem neuen Rom in fünfzig Jahren nicht viel mehr übrig sein, als vom alten, und die Campagnahirten ihre Ziegen auf dem Corso und dem Monte Pincio weiden; sprach der Florentiner die Wahrheit, so mußte Roma in eben der Zeit sich die ganze Ausdehnung ihres alten Territoriums wieder erobert haben. Eine Verständigung zwischen den beiden Propheten war offenbar unmöglich. Der Monsignore, dessen blasses Gesicht noch um eine Schattirung eingedunkelt war und dessen Nasenflügel krampfhaft zuckten, griff nach seinem Brevier, lehnte sich in seine Ecke zurück, öffnete das »vergriffene Büchelchen« bei dem eingelegten Zeichen und begann zu lesen oder gab sich wenigstens den Anschein; der Florentiner that wie der Violetstrumpf, nur daß sein Buch kein Brevier war, sondern ein neuer französischer Roman, der – wie ich mich überzeugte, als der Herr einmal ausgestiegen und ich den Band in der Zerstreuung zur Hand nahm – ein gut Theil anständiger hätte sein können, ohne den Vorwurf der Prüderie zu verdienen.

Der Monsignore hatte uns in St. Germano verlassen, vermuthlich um dem Kloster Monte Cassino einen Besuch abzustatten, das von steiler Felsenhöhe mit seinen ungeheuren Palastmauern, um die der Abendschein fluthete, so stolz auf uns herabsah, als habe es nie gegeben, gebe nicht und könne nie geben ein gottverfluchtes Gesetz teuflischer Demagogen- und Tyrannen-Erfindung, das von der Sequestration der Mönchs- und Nonnenklöster handle; der Florentiner – er war ein Grossist in Seide, wie er im Laufe der Debatte dem Violetstrumpf mitgetheilt – blieb mit sammt seinem schlüpfrigen Romane und dem schwärzlichen Barte von gestern in Capua, und wir waren wieder – den Göttern Dank! – allein!

Die Sonne, welche uns den Tag über so viel herrlichste, ewig wechselnde Bilder gezeigt – Bilder, die fast immer von den kühnen Formen der Appenninen-Kette mit ihren weithin im Schneeglanz strahlenden Gipfeln eingerahmt wurden – war schon vor Capua unseren Blicken entschwunden; aber als wir uns jetzt an das wieder freigewordene Fenster setzten, sahen wir in dem Hintergrunde des langen Thales, das der Zug von Nordwest nach Südwest durcheilte, den abendlichen Himmel in glühendstes Roth getaucht; tiefblaue Berge, von beiden Seiten gleichmäßig abfallend, schlossen die Gluth ein, und über uns in dem wolkenlosen Aether begannen einzelne Sterne zu blinken und zu schimmern. Hätte ich jene schöne verrätherische Gluth, anstatt zwischen den Bergen Campaniens, hinter den Dünen meiner heimischen Ostsee gesehen, so würde ich ohne Weiteres gedacht und gesagt haben: morgen bekommen wir einen schauderhaften Regen; so aber dachte ich, dachten wir an alles Andere, nur nicht an schlechtes Wetter und sagten auch nichts, sondern gaben uns stumm die Hände und waren im Vorgenuß des Morgen glücklich, sehr glücklich.

*

2.
Italienische Hôtels

Shall I not take mine ease
in mine inn?

Shakespeare.

Und heute? ich schloß seufzend die Fensterthür, dem Regen zu wehren, den der sturmartige Süd-Westwind jetzt weit in das Zimmer trieb, und wandte mich. Was nun? – Zuerst: Geduld haben! – Und dann? – Kaffee trinken!

Das war sicher weise gesprochen; aber auch die Weisheit, die wie eine Taube spricht, kann die Rechnung ohne den Wirth machen, und diese Kaffeestunde sollte nicht dazu beitragen, mich mit dem Schicksal auszusöhnen, welches mir für meinen ersten Tag in Neapel einen Regentag – und welch einen! – ausgesucht hatte.

Kaffeestunde! holder Moment für den Reisenden, du Inbegriff frischer Kraft und thatenfrohen Muthes, fröhlicher Erinnerung des Gestern und zuversichtlicher Hoffnung für das Heute! Glücklicher Augenblick des Schwankens, ob man es bei den zwei Eiern à la coque bewenden lassen und ob man Jean, der uns eben diskret in das linke Ohr flüstert: werden Sie heute an der Table d'hôte speisen? mit Ja oder Nein antworten soll! Holder Moment, dessen Zauber vielleicht durch den Anblick der beiden jungen Albionssöhne, die uns gegenübersitzen und mit wundersamer Bedachtsamkeit ihre »Muffins« »buttern«, nicht wesentlich erhöht, aber auch nicht eben verringert wird. Denn wir sind uns vollkommen bewußt, daß wir ihnen und den andern Muffins-Essern und Esserinnen, die in ununterbrochener Folge von den hochbeladenen Omnibussen in dem innern Hofe der Hôtels abgesetzt und wieder fortgeschafft werden, zu danken haben für dies blendend weiße, durch keinen Saucenfleck von gestern entweihte Tafeltuch, für diesen Kaffee, den man eigentlich nur mit einem grünen Turban geschmückt schlürfen dürfte, für diese Eier, die heute Morgen erst das Licht der Welt erblickten, ja, und auch für die ein wenig überladene, aber gewiß sehr reiche und auch wirkungsvolle Rococo-Dekoration des stattlichen Saales, und – nicht zuletzt – aber der Satz muß doch einmal zu Ende kommen – für die musterhafte Stille und heilige Ordnung, mit welcher das Personal seine komplizirten Dienstleistungen ausführt.

Es thut mir von ganzem Herzen leid, daß ich hier dies Bekenntniß machen muß. Der Himmel weiß es, wie viel lieber ich meinen eigenen Landsleuten für alle diese Wohlthaten verbunden wäre; wie viel lieber ich, hocherhobenen Hauptes, sagte: wir, wir Deutsche sind die Pioniere und Civilisatoren dieses unseres Planeten, so weit und manchmal noch ein wenig weiter als Eisenbahn- und Dampfschiffslinien auf der Karte gezogen sind und der Rauch aufsteigt von dem Herde gastlicher Häuser. Wir, wir Deutsche haben Christen, Heiden und Türken gelehrt, wie ein Beefsteak von Filet bereitet werden muß, und daß zur Toilette eines gebildeten Menschen noch etwas mehr gehört, als ein Vogelnäpfchen voll Wasser und ein quadratfußgroßes Handtuch. Wie gerne sagte ich das! Aber wie könnte ich es, da es so gar nicht der Wahrheit entspräche! Nein, die Engländer sind es, und immer wieder die Engländer, welche, indem sie, Alle wie Einer und Einer wie Alle, unablässig dieselbe gute Waare von den Gastwirthen aller Nationen forderten und unablässig für diese gute Waare, aber auch nur für sie, ihr gutes Geld zahlten, es dahin gebracht haben, daß man heut zu Tage die Bedürfnisse eines civilisirten Daseins, an die man von Hause aus und zu Hause gewöhnt ist, überall in dem sonst so verrufenen Italien: in Mailand wie in Florenz, in Florenz wie in Rom, in Rom wie in Neapel, in Neapel wie in Palermo, in Palermo wie in Syrakus befriedigen kann. Nur daß freilich die Beobachtung von ein paar Vorsichtsmaßregeln unerläßlich scheint, deren erste die ist: von allen für diese oder jene Stadt im Bädeker oder Gsell-Fels aufgezählten Hôtels immer und ohne Ausnahme das als das beste bezeichnte zu wählen, besonders wenn es mit zwei Sternen und etwa mit dem Zusatz »sehr gut, aber sehr theuer« oder ähnlichen besonderen Kennzeichen geehrt ist. Denn so viel ist doch klar, daß, wenn in dieser zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etwas sehr gut sein soll, es unmöglich auch zu gleicher Zeit sehr billig sein kann, und daß, wenn auch nicht »theuer und gut«, so doch ganz gewiß »gut und theuer« in Beziehung auf Hôtels und was dahin gehört, Synonyma sind.

Die zweite Vorsichtsmaßregel lautet: thue Geld in deinen Beutel! am besten in Form eines starken Kreditbriefes auf die diversen Banquiers in den diversen Städten, durch welche dich dein Weg möglicherweise führen wird.

Befolgt der Reisende aber diese erste und zweite Fundamentalregel, so kann er von drei Dingen überzeugt sein: einmal, daß er durch ganz Italien – selbstverständlich in den großen und größeren Städten; in den kleineren und kleinen und nun gar auf dem Lande würde selbst Se. Majestät der Kaiser manchmal nicht zu seinem Rechte kommen – ausgezeichnet gut logirt, gebettet, verköstigt und bedient werden wird; zweitens, daß er auf den mit Läufern und Teppichen belegten Treppen und Korridoren seiner nach Regel Nr. 1 gewählten Hôtels über- und überall Engländern und wieder Engländern begegnen, und daß er des Glückes, seine Landsleute zu sehen, dabei manchmal auf Tage wird entbehren müssen.

Ich habe keine Veranlassung, die Fragen zu erörtern, ob jener Luxus schwerer zu ertragen oder, ob es leichter sei, über diesen Mangel wegzukommen; man soll, nach der Vorschrift des Weisen, – die besonders für Reisende obligatorisch ist – die menschlichen Dinge weder belachen noch beweinen, sondern, wenn irgend möglich, zu begreifen streben; und da brauchen wir denn in diesem Falle nicht gar weit zu suchen. Die Deutschen verabsäumen nämlich in einer ganz auffallenden und sie vor allen andern Völkern auszeichnenden Weise die obige zweite Vorsichtsmaßregel, gewiß in den seltensten Fällen oder niemals: aus Vergeßlichkeit, auch wohl nicht immer aus angeborenem oder anerzogenem Widerwillen gegen das, was der Engländer unter dem einen inhaltschweren Worte: »Comfort« versteht, sondern in der Regel aus einer Ursache, deren logische Basis ich in dem Satze vom zureichenden Grunde entdeckt zu haben glaube und zu deren historischer Erklärung man mindestens bis auf den dreißigjährigen Krieg zurückgreifen müßte. Nun stehen ja freilich und seufzen die Menschen anderer Nationen: Engländer, Amerikaner, Franzosen, Russen nicht weniger unter diesen unerbittlichen Gesetzen der Logik und Staatsökonomie, aber doch mit einem gewissen Unterschiede. Diese, so lange sie nicht in der angenehmen Lage des preußischen Finanzministers oder der Ansicht Sheridans sind: daß es keine größere Extravaganz gebe, als sein Geld zur Bezahlung seiner Schulden zu zersplittern, denken nicht daran, das Schiff oder das Roß zu besteigen, und ihre schwarzen Sorgen durch die Welt spazieren zu führen; sie bleiben zu Hause und nähren sich redlich oder unredlich, wie's eben geht. Das ist nicht deutsche Art. In des heutigen Germanen Adern fließt noch immer ein etwas von dem wanderlustigen Blut seiner Vorfahren, die sich auf die Reise machten, nicht weil, sondern trotzdem, und oft genug: nun erst gerade recht. Fern sei es von mir, diese diskreten Abbreviaturen auszufüllen, oder gar eines Zuges zu spotten, der mehr als irgend ein anderer die selbstlose, opferfreudige, dem weichlichen Eudämonismus, in welchem andere Nationen versunken sind, gänzlich abgewandte Natur des deutschen Wesens beweist. Im Gegentheil: es liegt ein Heroismus, der keiner bessern Sache würdig ist, in dieser zähen Widerstandskraft, mit welcher sich der Deutsche durch eine See von Plagen bis zu dem Fußgestell des vatikanischen Apoll, oder bis zum Anblick der ludovisischen Juno durchringt. Ja, und darin sublimirt sich nach meiner Auffassung sein göttergleicher Muth – diese Plagen, Anderen unerträglich, sind für ihn – so systematisch hat er sich abgehärtet – gar keine Plagen mehr, oder sind es ihm, kraft seiner germanisch-spiritualistischen Abstimmung nie gewesen.

Man hatte uns in Rom von dem Gesundheitszustand Neapels in neuerer Zeit überhaupt, besonders aber in dem gegenwärtigen Moment, die schlimmsten Dinge erzählt. Der Typhus sollte vollständig endemisch sein, seitdem man durch gewisse Hafen- und Quaibauten die alten Abzugskanäle nach der Seeseite verstopft, und die gesundheitsschädlichen Wasser gezwungen, in dem Boden zu versickern, oder an Stellen hervorzubrechen, wo man sie durchaus nicht erwartet, und noch viel weniger gewünscht. So z. B. in dem Speisesaal eines der ersten Hôtels an der Riviera di Chiaja, dessen Fußboden sich eines Tages gerade zur Stunde des Diner plötzlich sammt dem Tisch und allem, was auf ihm stand und an ihm saß, um mehrere Fuß hob, bis dann von allen Seiten und aus allen Fugen und Ritzen Wasser wallten, vor denen selbst der zauberkräftigste Meister ohne den Versuch einer Beschwörung geflohen sein würde. Und dieser Gefahr seien gerade jene ersten Hôtels, deren Fronten den Golf beherrschten, am meisten ausgesetzt; und wenn wir denn durchaus nicht – was das bei weitem Gescheidtere sei – Neapel als Standquartier ganz aufgeben und uns statt dessen in Castellamare oder Sorrent ansiedeln, und von dort aus die nöthigen Ausflüge – also auch gelegentlich nach Neapel – machen wollten, so sollten wir in dieser heillosen Stadt mindestens jene zumeist exponirten und infizirten Hôtels meiden, und uns mit einem der allerdings bescheideneren im Innern der Stadt, also höher und wesentlich gesünder gelegenen, begnügen. Als eines dieser Gasthöfe zweiten Ranges, das übrigens sehr zu empfehlen sei und von den deutschen Landsleuten mit Vorliebe aufgesucht werde, hatte man uns das Hôtel de G. genannt.

Wir hatten gestern Abend in dem Wirrwar der Ankunft einen zwar etwas undeutlichen, aber doch hinreichend unfreundlichen Eindruck von diesem uns so sehr empfohlenen Hôtel davongetragen, während wir in dem thurmhohen Treppenhaus vier steile Himmelsleitern zu unserem Gemach erklommen; heute Morgen wurde dieser Eindruck um vieles deutlicher, aber keineswegs freundlicher. Es war ja gewiß ein tröstlicher Gedanke, daß, während es draußen in Strömen goß, der ehrwürdige Staub, welcher hier in unserem Zimmer die Tischplatten bedeckte, so ruhig Schicht über Schicht sich hatte ablagern können; oder war es kein Staub, sondern ein Residuum der Asche, welche weiland Pompeji und Herkulanum verschüttete? Und waren die schmalen halbdunklen Gänge, durch welche man aus den Zimmern in das thurmhohe Treppenhaus gelangte, keine Hôtelkorridore, sondern jene schauerlichen, mit abgestandener Luft der Jahrtausende angefüllten Schlüfte, wie sie uns noch aus den Katakomben Roms in grausiger Erinnerung standen? und waren das, worüber man da im Halbdunkel stolperte, keine Stiefel ungebührlich lange nächtigender germanischer Barbaren, sondern die noch vakanten Gebeine römischer Märtyrer? Und waren die mit Bärten und Brillen ausgestatteten Männer und die Frauen, die wir – letztere bereits mit den Reisehüten auf den Köpfen – in dem sogenannten Frühstückssalon trafen – waren es, wie es schien, deutsche Biedermänner mit ihren Gattinnen und Töchtern, im Begriff, sich zu den gelehrten Strapazen ihres heutigen Tagewerks zu stärken, oder waren es indische Büßer, die um den letzten Rest irdischer Lust in sich zu tödten, dem Gebrauch von Servietten und Kaffeetassen, welche nichts von gestern und vorgestern erzählten, ein für allemal entsagt hatten? Gewiß, das Letztere! Nur indische Büßer konnten so heiter lächeln über das wüste Gebahren von zwei Hausdienern, welche – in dieser Stunde! – mit Besen und Eulen bewaffnet, bei offenen Thüren und Fenstern dem ehrwürdigen pompejanischen Staub auf den zerrissenen Fußteppichen und in den schmutzigen Fenstergardinen einen Scheinkrieg lieferten; oder über die Impertinenz von Kellnern, die nie kamen, wenn sie gerufen wurden, niemals das brachten, was sie bringen sollten. O heiliger Zustand eines Gemüthes, für welches nicht existirt, was den Kindern dieser Welt als schwere Unbill erscheint! wie leicht machst du denen, die dich besitzen, den Wandel auf diesem unsern mangelhaften Planeten! wie leicht und auch, Alles in Allem, wie billig! denn die Rechnung, die ich, stehenden Fußes, forderte, war allerdings mäßig zu nennen, in Anbetracht, daß jener klassisch-ehrwürdige Zimmerstaub, ja nicht einmal der, welchen wir mit dem Frühstück genossen hatten, als besondere Items auf derselben figurirten; und uns ja doch, hätten wir in jenen Stiefelkatakomben Arm und Bein gebrochen, dieser erste Versuch, von der Reiseregel Nr. 1 abzuweichen, noch viel theurer zu stehen gekommen wäre.

So sahen wir denn »froh aus der Todesgefahr« unsere Koffer – Gott weiß, wie sie durch die Katakomben gekommen sind! – die Himmelsleitern des Treppenhauses hinabschaffen, und hießen den Kutscher uns schleunigst hinab in jene Gegend der Stadt in der unmittelbaren Nähe des Meeres fahren, wo nach der Sage die Fieber hausen sollten, und unglücklicherweise jene Hôtels stehen, die nicht für indische Büßer eingerichtet sind. Und dort fanden wir nach einigem Suchen – Neapel war in jenen Wochen überfüllt – in dem Hôtel d'Angleterre an der Riviera di Chiaja – vor uns die Giardini publici der Villa Nationale, über die Baumwipfel fort das Meer mit der Aussicht auf Capri – fanden wir, sage ich, Alles, was der braucht, dessen Wahlspruch auf Reisen ist: Shall I not take mine ease in mine inn!

Ja, du treffliches, du wackeres Albergo d'Inghilterra, du bist es werth, daß ich dir in diesen Erinnerungen ein freundlich Wort aus dankbarem Herzen nachrufe! Man darf eine solche Gelegenheit nicht versäumen; man kommt auf seiner Lebensreise in so manches befreundete Haus, in welchem man so viel für nichts, oder doch viel zu viel für das Wenige bezahlen muß, und bedankt sich hinterher noch recht sehr; und hier war nicht nur Alles gut, sondern ganz ausgezeichnet: Aufnahme, Bedienung, Sophas und Fauteuils, Küche und Keller, und man hatte nichts zu zahlen, absolut nichts, als die Rechnung! Sei mir gegrüßt und gepriesen darum, du treffliches Haus mit deinen weiten steinernen, teppichbelegten kühlen Treppen, mit deinen hohen, schönen, vornehmstillen Zimmern, in denen es einem beim ersten Eintreten war, als käme man nach Haus; mit deinem Speisesaal, der, so wie er da war, in die Wohnung eines reichen Privatmannes, der eine kleine ausgewählte Mittagsgesellschaft erwartet, zu gehören schien! Und auch du sei mir herzlich gegrüßt, würdiges Personal, von dem alten graubärtigen Portier, der so gewissenhaft und besorgt war und niemals krumme Hände machte, bis zu dem Oberkellner, dessen bescheidenes Wohlwollen man sich so gerne gefallen ließ, wie die Güte eines Vorgesetzten, der seinen hohen Posten verdient. Und nun gar du, der du, wie wir erfuhren, nur Verwalter des Etablissements und doch ganz gewiß kein Miethling warst! Was kümmert sich ein Miethling um das Königreich! und wie war es Deine beständige, stille, prunklose, werkthätige Sorge bei Tag und gewiß wie oft bei Nacht! Gewiß nicht Deine einzige! Es mußten andere, schwerere Sorgen, es mußte ein tiefer und edler Gram sein, der in Dein feines Gesicht diese melancholischen Linien mit ach! so sicherer Hand gezeichnet und den Blick Deiner blauen Augen so sanft verschleiert, und Deine Stimme so gedämpft hatte! Ich habe nie gewagt, Dich mit indiskreten Fragen über Deine Vergangenheit zu belästigen, aber Hôtel-Vorsteher bist Du nicht immer gewesen, und wenn Du Deinen wahren Namen sagen wolltest, würden die Herren Smith und Jones nicht wagen, die Hüte auf den Köpfen, jenes fürchterliche Kauderwelsch, welches sie für französisch halten, mit Dir zu radebrechen, der Du selbst ein Französisch sprichst, dessen sich kein duc und kein roy zu schämen hätte. Wir für unsern Theil haben Dir stets die Achtung bewiesen, die man dem unverdienten Unglück schuldig ist; und Du fühltest das wohl heraus und danktest uns augenscheinlich dafür in Deiner vornehm stillen Weise durch den fast liebevollen Ton der Begrüßungen, mit denen Du unser Kommen und Gehen begleitetest: j'ai l'honneur, Madame … à revoir, Monsieur!

*

3.
Bajae.

Wie die Wellenschaumgeborne
– – – in Schönheitsglanz.

Heine.

Man muß es in Neapel doppelt behaglich in seinem Gasthofe haben, da man der vielbewunderten, vielgerühmten, vielgelobten Stadt alle möglichen schmückenden Beiwörter geben kann, nur nicht das eine: behaglich. Oder es wäre denn eine ganz eigen angelegte Natur, der es behaglich würde in diesen langen, schmalen, verzwickten, gewundenen, zum Theil steil aufsteigenden, fast überall von himmelhohen, überaus häßlichen Häusern eingefaßten Straßen und Gassen und Gäßchen, durch die sich eine unzählige Menge Volkes vom Morgen bis tief in die Nacht unter ohrenzerreißendem, nervenerschütterndem Lärmen drängt und wälzt; – der es behaglich würde auf diesen endlosen Quais, in diesem Gewirre der Hafenanlagen, wo hier eine lange und dort eine kurze Mole in's Wasser schießt, hier ein Castell aufragt, dort eine Douane den Blick hemmt, dort ein Thor im wunderlichsten Zopfstyl, das hart am Ufer steht und offenbar nur Coulisse ist; und wo überall: auf großen und kleinen Molen, an den Quais, wo stolze Schiffe ankern und auf sandigen Strandplätzen, wo halbverrottete Boote in der Sonnengluth auseinander fallen, sich neben dem fleißigen Arbeiter nur zu viel des lumpigsten Lumpengesindels umhertreibt und faullenzt.

Schon daß es so äußerst schwierig ist, sich von Neapel ein einigermaßen klares Bild zu machen, ist für den gewissenhaften Reisenden ein mißlicher Umstand, der unmöglich zu seiner Behaglichkeit beitragen kann. Und dabei spreche ich nicht von der geistigen Physiognomie der Stadt, so zu sagen, sondern nur von dem Situationsplan, von ihrer Topographie.

The mountains look on Salamis,
And Salamis looks on the sea –

singt Lord Byron; aber wer das für unsern Fall frei übersetzen wollte:

Die Berge schau'n auf Napoli,
Und Napoli schaut auf die See –

könnte ja ganz entschieden den Beweis der Wahrheit seiner Schilderung antreten und jedes Item einzeln und auch in der Reihenfolge als vorhanden nachweisen, und würde doch für die Schilderung nicht nur nichts geleistet, ja im Grunde eine ganz falsche Vorstellung erweckt haben.

Wer z. B. wähnte Neapel nicht in einer schönen glatten Kurve an dem Innern des Golfes hingelagert? Und doch ist dieses Bild gänzlich falsch, da die Stadt, nach dem Meere hin, durchaus die Form einer riesigen 3 hat, so daß Der, welcher in dem oberen (kleineren) Bogen – in der Chiaja, sagen wir – steht, von dem, was jenseit des Vorsprungs – des Castell del Ovo – in dem unteren größeren Bogen liegt, absolut nichts sieht, und umgekehrt. Wer meint nicht, daß Der, welcher von Neapel aus auf's Meer blickt, nach Westen schauen müsse? und bereits Franz Ziegler in seinen vortrefflichen Reisebriefen hat darauf aufmerksam gemacht, daß »Neapel, indem es den Rücken gegen die Berge nach Westen legt, nach Osten auf seinen Golf sieht« Franz Ziegler, Gesammelte Novellen und Briefe, III, p. 221..

Aber das Alles ist es nicht; die Sache vielmehr, glaube ich, die, daß Neapel gar keine einfache Größe, wie Salamis oder auch Berlin, Spandau oder Treuenbrietzen, sondern, so zu sagen, ein Kollektivbegriff, oder richtiger: eine Kollektiv-Vorstellung, eine Menge von Vorstellungen ist, die, wenn man das Zauberwort ausspricht, in der Seele des Sicherinnernden zugleich mehr oder weniger lebendig werden, und die man – natürlich vergeblich – für den Laien in einem Bilde zu konzentriren sucht. Neapel ist eben, von keinem Punkte aus gesehen, ein Bild – es ist immer und überall eine ganze Gallerie von so anziehenden, farben- und formenprächtigen entzückenden Bildern, daß das Auge des Beschauers, geblendet von dem Glanz, trunken von der Fülle, ruhelos von einem zum andern schweift; es ist nie und nimmer ein einzelner Ton, so zu sagen, oder auch ein Instrument, eine Stimme, – es ist immer ein brausender Chor mit voller Orchesterbegleitung; es ist überhaupt keine einzelne Stadt, – es ist eine schimmernde Garnitur von Städten, Städtchen, Ortschaften, Villen, Ruinen, hart am Strande, auf den Uferhöhen, auf den Bergen; es ist dieser vielgekrümmte und gewundene Strand selbst, und diese Uferhöhen, diese Berge, die in einem ungeheuren, meilenweiten Hufeisen sich um das Meer reihen und übereinanderthürmen; es ist vor Allem auch diese weite, in Glanzblau schimmernde oder von weißen Wellen gefurchte Meeresfläche, und – last not least – die bald klar hervortretenden, bald in Duft verschleierten, dem Busen vorgelagerten Inseln: Procida, Ischia, Capri – das Alles, oder, da man das ungeheure Ganze von keinem Punkte aus übersieht, was man von diesem Allem auf dem gegebenen Punkte gerade übersieht: das ist in der Erinnerung Neapel.

Ich verwahre mich hier ernstlich gegen die Unterstellung, als bildete ich mir nun heimlich doch ein, das Unmögliche fertig gebracht und Neapel oder, wenn man lieber will, den Busen von Neapel so geschildert zu haben, daß der Kenner zufrieden wäre, und der Nichtkenner sagen dürfte: nun weiß ich Bescheid. Man kann dort wochenlang umherstreifen und kennt sich noch immer nicht aus, wie der Wiener sagt; oder kommt doch erst allmälig dahinter und gewiß nicht eher, als bis man nicht nur in Neapel selbst rastlos auf der Jagd nach Aussichts- und Orientirungspunkten gewesen ist, sondern auch vom Cap Misen bis nach der Punta della Campanella alle die Orte besucht hat, welche in dem großen Orchester eine Stimme haben. Und überall und überall wird man mit derselben Schwierigkeit kämpfen müssen, nämlich: daß gerade da, wo man sicher sein könnte, einen bedeutenden Ausblick zu haben, kein Zugang zu finden, oder der Eingang verschlossen ist. Denn in diesem ungeheuren Rund ist jeder Punkt, der eine Menschenansiedelung duldete, im Laufe der Jahrtausende auch sicher besiedelt worden, von dem Rande der Felsenhöhe, die lothrecht hunderte von Fußen in's Meer stürzt, bis zum flachen Strande, in dessen Sande die Welle verrinnt. Und diese Besiedelungen und Anlagen, seien es nun Paläste oder Ruinen, Häuser oder Hütten, Orange-Gärten oder die gewölbten Mündungen der Kloaken, oder was immer – schieben sich nur gar zu gern zwischen den gleichviel ob steilen oder flachen Rand des Ufers und den Uferweg, auf dem sich der Aussicht durstige Wanderer befindet, so daß er im Bewußtsein der unmittelbarsten Nähe aller der Herrlichkeiten, die ihm so mitleidslos vermauert werden, bei einiger nervöser Anlage Tantalusqualen leidet und bei decidirt cholerischem Temperament einfach zur Verzweiflung gebracht wird. Und hier kommt noch ein Uebelstand, dessen ich nur ungern Erwähnung thue, den ich aber doch, weil er leider zum Gesammteindruck des Bildes gehört, nicht übergehen kann. Gelingt es einem nämlich wirklich einmal, bis an das Meer vorzudringen, so ist es nicht immer die heilige Thalatta, aus der die Wellenschaumgeborne hervorschweben könnte – so ist es nur zu oft, besonders bei Neapel manchmal auf hunderte von Schritten hinaus, ein von allen möglichen und unmöglichen Abfällen menschlicher Betriebsamkeit um seine jungfräuliche Reinheit gebrachtes Element, dessen Wellenschaum selbst eine unheimliche Farbe hat, und bei dessen Anhauch dem feiner konstruirten Bewunderer nur zu leicht der Athem vergeht. Freilich, eine äußerst geringe Anstrengung des Nachdenkens sagt dem sinnigen Wanderer, daß dies so sein muß und nicht anders sein kann, auch wenn wirklich die Fama recht hat und eine und die andere Ausfallspforte der Stadtgewässer durch zweckwidrige Molenbauten und dergleichen verstopft ist. Denn jenes so unendlich wichtige Feld, welches von den Weisen zur Unterscheidung von anderen Feldern Berieselungsfeld genannt wird und das die unglücklichen Berliner in mehrmeiligem Umkreise ihrer Stadt suchen, bis jetzt noch nicht gefunden haben, und wenn sie es gefunden haben, mit Gold werden bedecken müssen – für die glücklichen Umwohner dieses schönsten aller Meere – ist es eben dieses schönste aller Meere selbst.

Aber das sind traurige ökonomische Betrachtungen, durch die man sich die Freude an der reinen Schönheit nicht trüben lassen soll. Und wahrlich – diese reine Schönheit, sie blitzt und leuchtet, wie die jenes Bettlermädchens in der englischen Ballade vom König Kophetua, überall durch die Lumpen und den Schmutz, mit denen sie der Neapolitaner und hoc genus omne zu verdecken suchen: leuchtet und blitzt und schimmert oft, ehe man sich's versieht, so machtvoll, so überwältigend, daß es wie eine Offenbarung wirkt; ja, und wirklich eine Offenbarung, eine wahrhaftige Offenbarung sein kann.

Für mich kam ein solcher Moment, den ich nie vergessen werde, und den ich, so gut ich es vermag, zu beschreiben versuchen will.

Wir waren am dritten oder vierten Tage unseres Aufenthalts in Neapel an einem nicht mehr regnerischen, aber doch noch immer trüben Morgen zu Wagen aufgebrochen, um den westlichen Theil des Golfes wo möglich bis Cap Misen abzustreifen. Wir waren durch die Grotta di Posilippo direkt nach Bagnoli gefahren, von Bagnoli am Meeresufer hin nach Puzzuoli, und hatten das dortige Amphitheater und die übrigen Reliquien pflichtschuldig besucht. Dann führte uns der Weg wieder landeinwärts – eine staubige monotone Straße, auf der uns die Sonne, welche mittlerweile den Dunstschleier vollends zerrissen hatte, arg belästigte. Der Anblick des Montenuovo, dessen zuckerhutartige Form im Jahre 1538 eine vulkanische Eruption binnen acht Tagen von der Basis bis zum Gipfel vierhundert Fuß hoch funkelnagelneu aufthürmte, konnte unsere etwas gedrückte Stimmung so wenig heben, als der des kreisrunden Averner-See's, zu welchem wir alsbald gelangten, mit seinen trichterförmig absinkenden bebuschten Ufern. Wir wußten, daß hierher die alte Poesie den Eingang der Unterwelt verlegt hatte; wir konnten sie der Reihe nach herzählen die Schauer, die diesen stillen Ort für das klassisch gebildete Gemüth umwittern sollen; aber wir empfanden absolut nichts davon. Der Stand der Sonne, die jetzt ihren Zenith erreicht hatte, war offenbar poetisch-historischen Reminiscenzen zu ungünstig; Helios herrschte machtvoll, glanzvoll; und wie dankbar wir auch für ein wenig Schatten aus dem Reiche gewesen wären, an dessen Schwelle wir hielten, – die Pforte war und blieb verschlossen; von den regungslos stillen Wassern reflektirten die Sonnenstrahlen, wie von einem Metallspiegel; kein leisester Hauch regte die Halme des Uferschilfes.

Und weiter schleppten uns die wackern Gäule die staubige, schattenlose Straße durch den arco felice, einen alten prächtigen, mit Grün übersponnenen Mauerbogen, der vormals zu einem Aquädukt oder Viadukt in dem Weichbilde von Cumae gehört haben mag. Wir wissen, rechts ab führt der Weg zu den spärlichen Ruinen dieser ersten aller griechischen Niederlassungen in Italien; wir frischen im Schatten der Sonnenschirme aus dem Reisehandbuch unsere historischen Erinnerungen auf; es ist ganz evident, daß wir eine Felonie und Hochverrath begehen, wenn wir diesen altehrwürdigen Ort nicht besuchen; aber wir haben nicht mehr die Kraft eines Entschlusses, wir haben nur noch einen Wunsch, baldmöglichst von den Beschwerden dieser Fahrt, die nachgerade wirklich empfindlich werden, erlöst zu sein, und in Bajae einen guten Gasthof und in dem guten Gasthof ein schattiges Zimmer und in dem schattigen Zimmer eine Flasche kühlen Avellino und Sodawasser zu finden.

Endlich öffnet sich doch der Weg, der zuletzt ein förmlicher Hohlweg geworden war, wenigstens nach rechts. Ein nicht unbedeutender See von länglicher Gestalt, dessen Ufer von Wald umkränzt sind und den in seinem schmaleren Theile ein Schlößchen auf einer kleinen Insel schmückt, schaut so freundlich zu uns herauf, daß wir uns nicht enthalten können, wiederum freundlich zu ihm hinabzublicken. Es ist der Lago del Fusaro, der alte Acherusia-See, und das Schlößchen ist ein königliches Kasino. Es hat die grünen Jalousien sämmtlich geschlossen, als thäten ihm von den glitzernden Lichtern auf dem stahlblauen regungslosen Wasser die Augen weh, wie uns. Plötzlich wendet sich der Weg links und beginnt einen Einschnitt hinaufzusteigen, welchen man schon zur Römerzeit durch den Höhenzug machte, der uns jetzt nur noch von dem Meere trennt. Wir haben den Wagen verlassen, um den armen schweißtriefenden keuchenden Pferden die saure Arbeit zu erleichtern. Wir gehen, den Staub zu vermeiden, langsamer und wenden uns von Zeit zu Zeit im Gehen um, einen Blick auf den See zu werfen. Plötzlich bleiben wir betroffen stehen: über dem waldbesäumten Ufer des dunkelblauen See's erhebt sich ein schmaler hellblauer Streifen, – ein See über dem See. Wir eilen ein paar Schritte weiter; der hellblaue Streifen wird breiter und breiter, die sandigen Ufer schwingen sich in kühnen Bogen nach Norden – es ist die Bucht von Cumae, es ist das Meer, hier wahrhaft, wie es in seinem Glanze zu uns herüberschimmert: das heilige Meer.

Wir können uns kaum von dem Anblick trennen; es ist wie die Steigerung in einer dramatischen Scene, die als Idylle anhebt, aus der sich unversehens eine bedeutende Situation entwickelt. Und dabei ist der Anblick so schön, wie er groß ist. Das Dunkelblau des herrlichen Ovals des Fusarer-See's ist von dem in der Sonnengluth schimmernden Wald immergrüner Bäume, wie von einem Bronze-Rahmen, eingefaßt; und drüben hat sich der prachtvolle Bogen der Cumäer Bucht, indem wir höher steigen, in's Unendliche des Golfes von Gaëta erweitert, und während wir deutlich den weißen Wellenrand an dem sandigen Ufer erkennen, schweift das Auge bis zum fernsten Horizonte, wo der wolkenlose Himmel und das »weintraubenfarbene Meer« sich vermählen.

Der Wagen ist unterdessen auf der Höhe des kleinen Passes angelangt und hält; wir folgen, wir erreichen die Höhe, wo der noch immer tief eingeschnittene Weg sich nach der andern Seite senkt, und ein Schrei der Ueberraschung ertönt so gleichzeitig von unsern Lippen, daß es nur ein einziger Ruf zu sein scheint – ein Ruf tiefsten, bis in's Innerste der Seele dringenden Staunens, das es zu keinem artikulirten Worte mehr bringen kann. Dort vor uns – unmittelbar vor uns – blaut es abermals auf, aber farbenkräftiger, machtvoller, und drüben, jenseits der meilenweiten Fläche, leuchten und schimmern die Felsenufer. Es geht ja durchaus mit natürlichen Dingen zu: was wir da vor uns sehen, ist die Bucht von Bajae und über sie hinaus der ganze Golf von Neapel bis hinüber zu den Bergen von Sorrent; wir hatten alles ja zu sehen erwartet und doch ist es wie ein Traum.

Wie ein Traum in der Mittagssonne, wie eine Fata Morgana in der Tropengluth. Und so wie im Traum, wie von Feenhand geführt, sind wir durch einen Seitenpfad, der in den Einschnitt mündet, die steile Höhe, welche den Einschnitt überschaut, hinaufgestürmt, hinaufgeflogen und stehen oben zwischen den Rebstöcken und sehen nun von dieser luftigen Höhe, was mir, – ich kann es nicht anders ausdrücken – eine Offenbarung gewesen ist.

Und diese Offenbarung bestand darin, daß, während mein Auge mit einem Blick diesen Ueberschwang landschaftlicher Schönheit in sich aufnahm, die doch wieder so unendlich einfach, dem kindlichen Sinn selbst begreiflich schien: die tiefblaue See hüben und drüben und aus der tiefblauen See in der Sonnengluth weiß wie Marmor schimmernde Felsenufer, hier in der Nähe und dort in der Ferne, und über dem Allen der leuchtende, wolkenlose Aether – daß ich da nicht blos als wahr erkannte, was ich auf der Schule schon gehört und hernach in tausend Büchern gelesen, sondern sie wirklich vor meinem geistigen Auge aufsteigen sah: die schlanken Marmorsäulen des Tempels und den herrlichen Zeus von Otricoli und die Ludovisische Juno, und die schöngeschnäbelten Schiffe hinüber und herüber fahren sah, welche den Odysseus trugen, und seine Gefährten und die äolischen Männer, welche tausend Jahre vor unserer Zeitrechnung Cumae gründeten, und daß diese und solche Thaten der Kunst und wagenden Kühnheit hier und nur hier geschehen konnten, hier auf diesen blauen Sirenenmeeren, hier auf diesen schimmernden Gestaden, hier unter diesem leuchtenden Himmel.

Es war ein einziger Augenblick, und er hat sich auf meiner Weiterreise nicht eben häufig wiederholt; ja, er ist in dieser seiner offenbarenden Kraft und Herrlichkeit der einzige geblieben; aber, was thut es? Die großen Momente sind im Leben und auf der Reise immer nur spärlich gesäet. Sei Jeder dankbar, den die Götter ein oder das andere Mal, und wäre es ein einziges Mal, würdigten, bei ihnen niederzusitzen an der goldenen Tafel im Hause des Vaters, und mit ihnen zu schwelgen in Ambrosia und Nektar.

*

4.
Pompeji.

Gleich wie Blätter im Walde, so sind die Geschlechter der Menschen.
Blätter verweht zur Erde der Wind nun; andere treibt dann
Wieder der knospende Wald, wann neu auflebet der Frühling;
So der Menschen Geschlecht, dies wächst und jenes verschwindet.

Homer.

Für den Reisenden unserer Zeit ist es ein zweifelhafter Vorzug, daß er von den Dingen, die er sehen wird, vorher schon so viel gelesen, gehört, ja selbst gesehen hat. Auch die besten Photographien geben ein falsches Bild; sie ermangeln ja jedenfalls der Farbe, des Lichts, und sind bei Gegenständen von größeren Dimensionen, vor allem bei Landschaften, ganz verwirrend in Folge der unrichtigen Pespective. Oelbilder haben Farbe, gewiß, und manchmal mehr als nöthig, und nicht immer die richtige. Wenige, sehr wenige Künstler haben den Muth ihrer Meinung, und wagen es, da sie Claude Lorrain'sche Sonnenuntergänge und Friedrich Preller'sche Odyssee-Bilder weder malen wollen, noch auch vielleicht malen können, als echte, stramme, moderne Realisten, die Dinge so wiederzugeben, wie dieselben nach ihrer innersten Ueberzeugung gegeben werden müssen, und wie sie sie auch – nach ihren Scizzen zu urtheilen – mehr oder weniger anfänglich gesehen haben. Aber so wie es nun an die Ausführung geht, verlieren sie, ich weiß nicht wie, den Glauben an die Natur, auf den sie so sehr pochen, und mit diesem Glauben auch die Bescheidenheit, die Keuschheit, die Nüchternheit der Natur, und in ihr Karmin und Ultramarin mischt ihnen ein böser Asmodeus von Kunsthändler oder Kunstmäcen ein sonderbares Ingrediens, das Allem und Jedem ein gewisses konventionelles, scheinheiliges, auf das Vorurtheil der tiefverachteten Menge speculirendes, kokettes, nach dem Effect haschendes, lackirtes Aussehen gibt. Und die Reisebeschreiber gar – ich nehme mich und Dich, lieber Leser, der Du, zehn gegen eins, auch einer bist, selbstverständlich aus – aber, sage selbst – wir sind unter uns und es hört uns keiner – die Anderen! wie nehmen sie alle den Mund so voll und wagen doch nie, das Kind beim rechten Namen zu nennen! wie wollen sie Alle an Ort und Stelle Empfindungen und Gedanken gehabt haben, die ihnen sämmtlich erst post festum eingefallen sind, wenn sie zu Hause wieder in ihrem Studirzimmer saßen – um sich her die topographischen Pläne, die photographischen Ansichten, die illuminirten Karten der durchwanderten, durchfahrenen, durchschifften Städte, Länder, Meere! Freilich haben sie es da leicht, gesammelt zu sein, leicht, gesprächig zu sein! gelehrt, vor allem, mit Hülfe von einem oder ein paar Dutzend grundgelehrter Vademecums! Aber an Ort und Stelle! Hand auf's Herz, lieber Vielgewanderter! warst Du auch da gesammelt, gesprächig, gelehrt! oder vielmehr ein wenig zerstreut, stumm und, Alles in Allem, kaum gelehrter als Dein ungelehrter Gefährte, der nicht die Hälfte, nicht ein Viertel von dem gelesen hatte, was Du so mühsam zusammenstudirt? Ja, Du gehst so weit, ihn um seine mangelnde Belesenheit zu beneiden, und um die Unbefangenheit, mit der er Alles auf sich wirken läßt. Du sagst Dir, daß Du doch wahrlich nicht die lange Reise gemacht hast, um Deine falschen Vorstellungen von den Dingen an Ort und Stelle zu konserviren, sondern zu rectificiren und, wenn es sein muß, ganz umzugestalten. Und wie oft muß es nicht sein! fast immer, beinahe überall! Und da hast Du denn freilich Ursache, still zu werden, in Dich zu gehen, und weder Dich, noch Deine Gefährten mit Deiner Gelehrsamkeit zu belästigen! Aber, weshalb sich nun hinterher dieses so natürlichen, ja selbstverständlichen Zustandes schämen? warum thun, als ob man durch die Lande gezogen sei, wie der Gott, und Land und Meer und alle Creatur nur einen Willkomm für Dich gehabt habe: Evoe, Bacche! Evoe! warum Dir die Miene eines Cäsar geben, der nur zu kommen braucht, und zu sehen, um zu siegen? Wem thust Du mit dieser geschminkten Komödie und dieser Komödienschminke einen Gefallen? Die mit Dir (oder vor Dir) auf der Bühne gewesen sind, werden auch wohl einen Blick hinter die Coulissen geworfen haben, und sie werden Dich für das halten, was Du (in diesem Falle wenigstens) bist: einen Comödianten, und Deine gespreizten Schilderungen für Declamationen. Die aber nach Dir kommen werden, denen thust Du geradezu Unrecht. Denn Du entzündest in ihrem Busen schmachtendes Sehnen, das bis zur Krankhaftigkeit, ja zur wirklichen Krankheit sich steigern kann, und füllst ihren Kopf mit falschen Vorstellungen, so daß sie die Dinge nicht wiedererkennen, wenn sie davor stehen, und den Finkler (Dich nämlich und Deinesgleichen) verwünschen, der sie in diese Falle gelockt.

Und Du thust doppelt Unrecht, da die Gegenstände selbst, wenn man sie nur einfach nimmt, wie sie sich geben, fast durchgängig viel interessanter und auch meistens viel schöner sind, als Deine affectirten Schildereien, an deren Wahrhaftigkeit Du selbst nicht glaubst und glauben kannst, und die Du schließlich auch nur so bunt und grell machst, um auf dem Jahrmarkt unter all den andern grellbunten Bildern nicht übersehen zu werden.

Wie ich zu diesen Betrachtungen komme? Ich glaube, sie kommen zu mir, indem ich der Stunden denke, die wir in Pompeji (Pompi-ei von den Engländern ausgesprochen) zubrachten und mir den Eindruck zu vergegenwärtigen suche, den die Ruinenstadt auf mich machte. Es war an einem der ersten Tage unseres neapolitanischen Aufenthaltes. Obgleich nicht gerade fortwährend, so regnete es doch mehr als irgend wünschenswerth; dazu wehte zeitweise ein ziemlich heftiger Wind – wir Alle waren einstimmig darin, daß wir in Berlin sehr viel schönere Apriltage verlebt hatten. Wir waren heute unserer Vier; und ich schätzte mich im Geheimen sehr glücklich, zu dieser Expedition, welche die Gelehrsamkeit des Reisenden auf eine so scharfe Probe stellt, zwei so grundgelehrte Männer, wie den Professor B. und den Dr. O. in unserer Gesellschaft zu haben, von denen ich wußte, daß sie, obgleich nicht Archäologen von Fach, doch gerade in den römischen Alterthümern, als gründliche und elegante Juristen und Rechtslehrer, ganz vorzüglich bewandert waren. Was mich selbst betrifft, so war ich freilich als Secundaner einmal mit Becker's Gallus prämiirt worden; ich kannte Overbeck's Pompeji, noch bevor es gedruckt war, aus Vorträgen, welche der treffliche Gelehrte seiner Zeit in Leipzig in einem ausgewählten Kreise hielt; es hatte mich auch sonst der etwas unregelmäßige Gang meiner Studien ein und das andere Mal in diese Regionen geführt (von Bulwer's Roman und andern Allotriis zu schweigen), aber ich konnte doch eben kaum, oder eben nur sagen: militavi.

Indessen, aus dem Fest des Scharfsinns und der Gelehrsamkeit, auf das wir Laien zu rechnen einen zwiefachen Grund hatten, wurde nichts, ganz und gar nichts. Ich habe nur eine dunkle Erinnerung an einen kurzen Vortrag des Professor B. in dem Hause des Pansa (Römischer Ritter etc. etc., nicht zu verwechseln mit seinem spanischen Namensvetter, der in der heiligen Taufe den Namen Sancho empfing und der durchaus kein Ritter war) – über die Stellung der Sclaven in dem römischen Haushalt zu der Zeit, als der Vesuv die Herren und die Sclaven in Pompeji unterschiedslos unter der Asche begrub; und dann – an einer windigen Straßenecke unter einem Wahlaufruf an der Hauswand – erfreute uns Dr. O. mit einem kleinen Excurs über die städtischen Aemter der Römer im Allgemeinen und über Duumvirat und Aedilität im Besonderen; schließlich fand ich selbst noch Gelegenheit, mein kleines Licht leuchten zu lassen, und jene beiden berühmten Briefe zu citiren, in welchen der jüngere Plinius dem Tacitus den Tod seines Oheims und seine eigenen Fata während der Katastrophe erzählt – mir waren die Briefe als Beispiele ausführlicher Naturschilderungen bei den Alten interessant gewesen – aber bei diesen bescheidenen Leistungen ließen wir es bewenden. Selbstverständlich suchten wir über den Plan der Stadt Pompeji und über den des pompejanischen Hauses – er ist fast noch stereotyper, als der eines Berliner – in's Klare zu kommen; wir statteten den Tempeln, den Bädern, den Theatern und andern notorischen Stellen pflichtschuldigen Besuch ab; aber, Alles in Allem, war doch wohl Jeder von uns innerlich und zumeist damit beschäftigt, den wunderbaren Eindruck, den dieser seltsame Ort auf jedes nur einigermaßen empfängliche Gemüth macht, still in sich zu verarbeiten, wenn man das Kommen und Zerflattern von mehr oder weniger undeutlichen Bildern und das Auftauchen von Reflexionen, die man nie zu Ende denkt, eine Arbeit nennen darf. Wenigstens kann ich versichern, daß ich es während der vier oder fünf Stunden, die wir in den Ruinen umherirrten, nicht weiter gebracht habe. Ein einziges Mal hatte ich eine Art von Vision. Ich habe bereits gesagt, daß der Tag grau war, und daß es von Zeit zu Zeit regnete; ein unangenehm rauher Wind strich durch die öden Gassen. Auf einmal, als wir von der breiteren dell' abondanza genannten Straße links in ein ganz schmales gekrümmtes Gäßchen abbogen, sah ich das Gäßchen, so weit es eben abzusehen war, im tiefsten röthlichen Abendschein unter einem wolkenlosen Himmel, der zwischen den Firsten der kleinen Häuser herniederblaute. Und ich sah die kleinen Häuser – klein und armselig und öde genug mit den fensterlosen Wänden – aber doch bewohnbar und bewohnt, und auf den steinernen Schwellen der schmalen Thüren kauerten und standen schöne bräunliche Mädchen, und ein Eseltreiber mit seinem beladenen Esel kam mir gerade entgegen. Diese seltsame Vision dauerte in ihrer ganzen Schärfe und Vollständigkeit gewiß nicht länger als eine Secunde, vielleicht – wer kann das berechnen! nur den hundertsten Theil einer Secunde – dann wurde sie wieder undeutlich, und ich erinnere mich genau, daß der Eseltreiber sammt Esel zuerst verschwand, dann verdämmerten die Mädchen, die Häuschen waren wieder Ruinen, am längsten hielt sich der warme Abendsonnenschein, ja, ich glaubte ihn noch zu sehen, als ich bereits im Uebrigen längst das volle Bewußtsein und Gefühl der grauen, verregneten Gegenwart hatte; und noch ein paar Mal, während wir so weiter von Gasse zu Gasse, von Haus zu Haus wanderten, dämmerte, aber immer schwächer, der rothe Schein auf, gerade, wie man von der Erinnerung an einen Traum der Nacht begleitet wird, bis der Tag und die Arbeit des Tages in ihre vollen Rechte getreten sind. Interessant war es mir, später – aber erst nach einigen Tagen – auf dem Plane von Pompeji zu entdecken, daß man jenes Gäßchen zu Ehren, glaube ich, einiger nicht ganz salonfähiger Bilder, die man im Innern eines der Häuschen fand: vico dei lupanari genannt hat.

Ueberhaupt wird wohl die Regel sein, daß die Besucher Pompeji's, wenn ihre Phantasie, wie wohl kaum anders möglich, nach dieser Seite hin angeregt und thätig wird, die Staffage der Stadt der Vergangenheit aus der unmittelbaren Gegenwart, versteht sich: der italienischen Gegenwart nehmen; und ich wüßte nicht, was sie Besseres thun könnten. Ich bin der Ueberzeugung, daß es auf den Marktplätzen und Straßen Pompeji's im Frühling des Jahres 79 nach Christus nicht sehr viel anders ausgesehen hat und zugegangen ist, als ich es in diesem Frühlinge des Jahres 1873 auf den Straßen und Plätzen der kleinen Städte Italiens und Siciliens gefunden habe. Ja, ich habe, wenn ich später durch die schmalen schattigen Gäßchen dieser kleinen Städte mit ihren weißen oder schmutzig grauen, fensterlosen oder beinahe fensterlosen Häuschen strich, oft und immer wieder an Pompeji denken müssen. Allerdings nannte man damals die Kirchen Tempel und die Tempel sahen ein wenig anders aus, wie die Kirchen, aber was in den Tempeln geschah, wird wohl ungefähr heute noch in den Kirchen geschehen; allerdings trug der Wohlhabende und Wohlmögende damals seine Toga, wo er heute seinen Frack trägt (vielleicht mit einer Rosenknospe zu Ehren der Verkündigung der Geburt der allerheiligsten Jungfrau im Knopfloch), aber die Liverei der Armen und Elenden wird wohl zu keiner Zeit der Mode sehr unterworfen gewesen sein. Zumal in Italien, wo man jeden Augenblick auf jedem Zaune, oder auf einer Stange, die zum Fenster hinausgesteckt ist, oder auf dem Rücken von Kindern, Weibern und Männern, besonders sehr alten, Lumpen sehen kann, die, wenn sie nicht die identischen Lumpen sind, welche die Vorfahren dieser Kinder, Weiber, Männer vor zweitausend Jahren bereits trugen, jedenfalls in directer Descendenz von jenen, ich meine von den Lumpen, abstammen. Und der arme Fischer wird wohl im Jahre 79 ebenso mit nackten braunen Beinen (dieselbe phrygische Mütze auf dem schwarzen Lockenkopf) in dem Schaum der zerrinnenden Welle umhergetapft sein und mit den Gesellen sein Boot auf den Sand gezogen haben, und der Hirt vom Gebirge wird, mit Ziegenfellen bekleidet und breitkrämpigem Hut, auf Sandalenschuhen zur Stadt gekommen sein und, scheu aus den dunklen Augen auf die Vorübergehenden blickend, vor den kleinen offenen Läden an der Straßenecke seine kleinen Einkäufe gemacht haben; und so wird mit einem Worte dieser ganze lasttragende Theil der Bevölkerung (incl. seiner Esel und Maulesel und Maulthiere) mit kaum nennenswerthen Veränderungen (die sich jedenfalls nicht auf ihre Last beziehen) über die Jahrhunderte zu uns gerettet sein. Dagegen will die Wandlung, welche die verhältnißmäßig so kleine Minorität der glücklichen Besitzenden mit ihrem Aeußern etwa vorgenommen hat (über das Innere erlaube ich mir kein Urtheil), nicht viel bedeuten; und somit ist, glaube ich, die Phantasie in ihrem Recht, wenn sie, ihrem eingebornen Gesetze folgend, nach der Analogie dessen, was sie kennt, das Halbbekannte und das Unbekannte zu ergänzen und zu construiren sucht.

Was führt denn auch schließlich die Tausende, welche Jahr aus Jahr ein, ja Tag aus Tag ein, von allen Weltgegenden her durch die enge Porta marina auf das Pompejanische Forum ziehen und weiter durch die engen Gassen auf dem identischen Lavapflaster von damals sinnend wandern – was führt sie hierher? Antiquarisch-gelehrtes Interesse, Viele – ohne Zweifel; aber die ungeheure Mehrzahl doch wohl nur der seltsame Gedanke: eine Stadt sehen, betreten zu dürfen, in welcher jeder Stein dieselbe Geschichte erzählt: wie die Menschen, die hier vor achtzehnhundert, vor zweitausend Jahren lebten, uns zusammenfügten und aufrichteten, so liegen wir, so stehen wir heutiges Tages, die Zeit, die allgewaltige, über uns hat sie nichts vermocht; wir knüpfen die Geschichte jener Tage unmittelbar an das Heute; ja wir sagen Dir, daß es kein Heute und kein Gestern gibt, nicht blos für die Sonne da droben, die noch eben hinter schwarzem Gewölk stand und jetzt in dem Augenblick, wo Du durch dies enge gewölbte Thor die stillste der Städte verläßt, mit einem wehmüthig freundlichen Schein das alte Gemäuer und die jungen Rosen, die daran hinwuchern, überhaucht; und nicht für den gewaltigen Herrn dieses Landes, den Feuerspeier, der selbst jetzt noch nicht die finstere, schwärzliche Bläue, in die er sich den ganzen Tag über gekleidet, ablegt, sondern auch nicht einmal für Dich, Du Menschenkind! Vor zwei Jahrtausenden schien diese Sonne Dir; dräuete der Berg Dir; dufteten die Rosen Dir; vor zwei Jahrtausenden schon gingst Du durch dieses enge Thor. Du hast nur dies und das Andere vergessen, wie es denn überhaupt nur Eure kindische Vergeßlichkeit ist, die Euch die Puppe, welche Euch gestern die Mutter wegschloß, heute wieder neu erscheinen läßt, und daß Ihr Euch immer wieder über das schon so oft gegessene Zuckerbrot freute, und über das schon so oft zerbrochene Hottepferd immer auf's Neue betrübt. Aber so seid Ihr nun einmal und werdet so bleiben, auch wenn zweitausend Jahre alte Steine, wie wir, Euch die Wahrheit aufdecken, welche die Priester von Sais mit dem Schleier (ich hätte bald gesagt, dem Aschenregen) verhüllten. Und es ist auch gut, daß Ihr so und nicht anders seid. Denn die Welt will doch nun einmal da sein, leben, lieben, sorgen, sich mühen, heute wie gestern, und morgen wie heute, wenn auch ein und der andere grauköpfige Talleyrand mit boshaftem Lächeln flüstert: Je n'en vois pas la nécessité.

*

5.
Vesuv.

Was Ander's suche zu beginnen,
Des Chaos wunderlicher Sohn.

Goethe's Faust.

Es war den Tag nach unserer Bajae-Fahrt. Die Aprilsonne schien glorreich von dem blauen Himmel. Die Wellen tanzten lustig auf der breiten Meeresfläche, die sich – nur durch den Fahrdamm der Riviera di Chiaja und den schmalen Garten der Villa nationale von uns geschieden – vor unsern Augen ausbreitete. Alles versprach einen schönen Tag, so wie man ihn wünscht, wenn die mancherlei Requisiten einer Vesuv-Fahrt längst in den Taschen des dreispännigen Wagens beigestaut sind, der bereits seit einer Stunde in der Hausflur des Hôtels unserer harrt. Nicht, daß wir uns um eine Stunde verspätet hätten – ich bin, so viel ich mich erinnere, zu keinem Rendez-vous auf der Jagd, auf dem Marsch oder sonst je zu spät gekommen – aber es ist die sonderbare Gewohnheit italienischer Kutscher, immer eine Stunde, bevor man sie wünscht oder braucht, auf dem Platze zu sein.

Dafür fahren sie dann, als gelte es, diese Stunde, die sie durch die Unpünktlichkeit der Fremden auf so schmähliche Weise verloren haben, nachzuholen – schärfsten Trab, der zuweilen in einen Galopp fällt, auf den glatten Lavaquadern immer am Hafen hin, dem endlosen, wenn er sich auch hier Porto militare und dort Porto grande und hier Spiaggia della Marinella und anderswo wieder anders nennt. Rechts Molen, Zollhäuser, Schiffsmasten, Schiffe, Fahrzeuge aller Art, Arsenale, Hafenkastelle, Hafendämme, Werften, Stücke sandigen Ufers, auf denen Boote hilflos auf der Seite liegen, auf Leinen befestigte Lumpen in dem frischen Morgenwind flattern, halb oder ganz nackte Kinder spielen, braune Weiber hanthieren, braune Männer ihre Hosen flicken; und dazwischen wieder und immer wieder größere und kleinere Stücke von dem blauen Meer, das all diesem Treiben das Leben gegeben hat und stets erhält. Auf der anderen, der linken Seite: Häuser, Häuser, immer wieder Häuser, bis in's Endlose Häuser, im Anfang prunkende Hôtels mit prachtvollen Thorfahrten und galonnirten Portiers, bald bescheidenere Wohnungen privater Menschen, aber immer noch ansehnlich genug; dann in raschem Niedergang, den eigentlichen Häfen gegenüber, wo die Schiffe aus allen Weltgegenden vor Anker gehen und die Anker lichten, und der Lazzarone den Verkehr zwischen ihnen und dem Lande vermittelt: Hafenschenken, Schifferwohnungen, Matrosenkneipen, Fischerhütten – ein seltsames Gewirr von Konstruktionen, die sich einander gleichen wie ein Lumpen dem andern, und ihr Symbol, den Lumpen, auch in jeder Fensterthür – auf Bindfaden, die von der einen Seite des Rahmens zur andern gezogen sind, auf den niedrigen eisernen Geländern, auf Stangen, die weit hinausragen – hangen und flattern lassen. Und in den Fensterhöhlen, die im Kontrast zu dem hellen Sonnenschein, der auf den Häusern liegt, seltsam schwarz und unheimlich aussehen, erscheint dann und wann, aber sehr selten ein Kind oder eine Frau, die sich mit den Lumpen zu schaffen macht – einmal – es war aber, glaube ich, schon in Portici – ein beinahe nackter Mann – ein Makaronibäcker, der Luft schnappte, wie uns der Kutscher sagte. Ich glaube, es war in Portici; es konnte aber ebenso gut noch in der endlosen neapolitanischen Hafenvorstadt oder in Resina gewesen sein; ich bemerkte schon an einer andern Stelle, daß dem nicht sehr genau Orientirten dies nur verschiedene Benennungen für eine und dieselbe endlose, zuletzt an beiden Seiten mit Häusern besetzte Straße sind, die den Reisenden nach einer Stunde oder so anfängt, weniger zu interessiren – um es milde auszudrücken – trotzdem es an interessanten Bildern keineswegs fehlt. Besonders in dem Erdgeschoß der Häuser, in dessen rembrandt'schem Halbdunkel durch die weitklaffende Thüröffnung, die eigentlich eine ganze Wand des Raumes einnimmt, wie in unsern Kaufgewölben – man das ganze intime Leben der kleinen Leute symbolisch oder in Aktivität schauen und erblicken kann. Da ist links das eheliche Lager – eine breite hölzerne Pritsche, auf der die Matratze oder Decke so weit zusammengerollt ist, daß das freigewordene Ende als Tisch oder Stuhl dienen mag; da steht im Hintergrunde die Kommode – ein Möbel, das man in jedem italienischen Zimmer finden kann, wenn auch sonst nichts weiter darin zu finden wäre; da hängt über der Kommode der handgroße Spiegel, wenn er nicht, was allerdings fast immer der Fall (siehe unten), in Gebrauch ist; links daneben der an dem Tage des Lieblingsheiligen geweihte Strauß, rechts ein kleines Kruzifix. Das ist das ganze Meublement, einen Schemel ausgenommen, auf welchem sitzend der Paterfamilias irgend eine Hanthierung treibt, und einen zweiten Schemel, der ganz im Vordergrunde der Bühne, so zu sagen, dicht an die Lampen gerückt ist, so daß er das schärfste und vollste Licht hat. Und wohl bedarf es dessen zu der Haupt- und Staatsaktion, welche sich auf diesem Stuhle abspielt. Auf diesem Stuhle sitzt nämlich, sagen wir, ein junges und schönes Mädchen, denn sie ist es in Wirklichkeit oft genug, das mit jenem sinnenden, still resignirten Ausdruck, welchen man in jedem Salon pour la coupe des cheveux – aber auch nur da – beobachten kann, in den Schooß starrt, wo sie in beiden Händen einen handbreiten Spiegel (siehe oben) hält. Man möchte darauf schwören, daß jener resignirte Ausdruck echt ist, denn ihr schwarzes Haar ist von der Dichtigkeit des jungfräulichen Urwalds, und dabei lang und trotzdem an Stirn und Nacken stark gekraust, und der Kamm, mit welchem die Schwester oder Nachbarin dies lange, dichte, krause Haar bearbeitet, hat unmöglich noch alle seine Zähne; und dann muß das Geschäft des Strähnens, Flechtens alle Augenblicke unterbrochen werden, weil – weil – mein Gott, wie soll man das, zumal, wenn man von einem schönen, jungen Mädchen spricht, in den schicklichen Ausdruck bringen! Ja, hätte man die klassische Unbefangenheit eben dieses jungen Mädchens, das in dem Momente, wo wir, von dem vorüberrollenden Wagen aus, zu unfreiwilligen Zuschauern einer der vielen Katastrophen werden, die dunklen Wimpern hebt, uns heiter aus den dunklen Augen anlacht, vielleicht ein lustiges buon giorno, Signora! als freundliche Wegegabe nachruft!

In Portici werden nach der Seeseite zu stattliche Villen häufiger, die den Neapolitanern als Sommerresidenzen dienen müssen, denn an gar vielen hingen Zettel mit a locare, das selten mit einem to let oder à louer abwechselte. Dann sah man wohl über die Vorgartenmauer nach der Straße zu Rosen schwanken, oder man hatte einen flüchtigen Blick durch die geöffneten Thüren oder an dem Hause vorüber auf größere und kleinere Gärten, die nach der See lagen, und hätte die Glücklichen, die in diesen Rosengärten ihre Villeggiatura halten dürfen, schier beneidet, wenn man nicht noch rechtzeitig für die Ruhe seiner Seele daran gedacht hätte, daß man nicht nur unter Palmen, sondern auch am Strande des weitaufrauschenden Busens von Neapel (und besonders, wenn er weit aufrauscht) keineswegs ungestraft wandelt.

Aber trotz der Villen und Seeblicke und trotz des königlichen Schlosses, durch welches, – ich vermuthe da, wo Portici in Resina übergeht, – die Straße führt, und trotz des Wechsels der Scene in Resina, wo die Gassen enger und steiler werden, (und die Bettler den langsamer fahrenden Wagen hartnäckiger verfolgen können), sind wir doch recht dankbar, als wir jetzt, die Wohnungen der Menschen hinter uns lassend, in die Region der Wein-, Obst- und Gemüsegärten, der Olivenpflanzungen und des Cactus kommen, der überall wächst, wo nichts Besseres wachsen will. Freilich kaum etwas Besseres für den Reisenden, der an den ungeheuerlichen Stachelgewächsen, die er sonst nur in Treibhäusern und dann nur in liliputanischen Verhältnissen zu sehen gewohnt ist, sein Wohlgefallen hat, trotzdem es im Grunde genommen etwas Häßlicheres kaum geben kann. Und dann hat diese seltsame Pflanze, wie andere seltsame Käuze auch, ihre sehr nützlichen Eigenschaften. Sie trägt eine reichliche Frucht, die von den Landesbewohnern gern gegessen wird, und vor allem ist sie ein überaus braver Pionier, welchen der kluge Bauer stets vorauf schickt, wenn es gilt, dem grimmen Eroberer und Zerstörer ein Stück seines Gebietes abzutrotzen und abzulisten. Denn bekanntlich ist die Lava ein Boden, den die Flora liebt und auf dem sie überaus üppig gedeiht; aber freilich muß sie erst verwittert und zu Staub und Erde geworden sein. Und das würde unter diesem konservirenden Himmel doppelt schwer halten, wenn der brave Cactus dem Regen und der Luft nicht zu Hilfe käme und seine grobfaserigen, geduldigen Wurzeln in jede kleinste Spalte triebe, die sich ihm in der schwarzen glasharten Masse der Lava darbietet, bis die kleine Spalte zu einer großen wird, und eines schönen Tages der stolze Block in Trümmern liegt. Nun rankt die Weinrebe hinterher und der Oelbaum klettert hinauf und verrenkt sich dabei wundersam seine knorrigen Glieder; ja die Palme schießt machtvoll auf und läßt ihre Federzweige als Siegesfahne wehen über der glücklich eroberten Provinz, und – wer denkt dann noch an den armen Cactus!

Freilich!

Leicht ist's, folgen dem Wagen,
Den Fortuna führt;
Wie der gemächliche Troß
Auf gebesserten Wegen
Hinter des Fürsten Einzug –

Freilich! aber dem Fürsten selbst, wer besserte, wer ebnete, wer bereitete ihm den Weg! Hut ab vor dem groben, dem stachlichen, dem häßlichen, dem wunderlichen Kauz! Hut ab vor dem braven Cactus!

Er hat hier oben noch mächtig viel zu thun und mehr als er, trotz seines Fleißes, je bewältigen kann, denn wir sind jetzt in die Region des Berges gekommen, wo die Lava unbedingt herrscht. Eine scheusälige Herrschaft, an der Dante für die grausigsten Capitoli seiner grausen Hölle die trefflichsten Studien hat machen können; ein fürchterliches Gebiet, auf dem kein Baum, keine Pflanze gedeiht; eine Schlachtenstätte der gewaltigsten und wildesten Erdensöhne, die den Himmel stürmen wollten und die der hochdonnernde Sohn des Kronos mit lohenden Blitzen zu Boden geschmettert und zerschmettert und versengt und verkohlt hat, so daß man hier nur noch eben ein entsetzliches Haupt und dort ein Riesenbein und hier einen knorrigen Arm und hier eine Faust erkennt, die sich »vergebens tückisch ballt«. Zerschmettert und übereinandergethürmt, hoch, bergehoch, wie sie selbst den Pelion auf den Ossa thürmten, während ihr dickes, rothes Blut lang und langsam durch die Schluchten abwärts wallte und sickerte und endlich gerann und erstarrte.

Droben aber, seines Sieges froh, »lacht der unbewölkte Zeus«, und der hochhinwandelnde Helios gießt sein strahlendes Licht über die schwarze Todtenstätte und hinauf zu der höchsten Kuppe der ungebrochenen Zwingburg der Empörer, deren dunkles Banner noch immer herausfordernd gegen den Thron des Kroniden weht, und hinab auf die fromme Erde, auf die Weingärten und Olivenwälder und die Fruchtfelder, die sich meerwärts senken, und überall, überall im Sonnenlicht weißlich schimmernde Weingartenhäuschen, Villen, Weiler, Dörfer tragen, vereinzelter nach oben, immer zahlreicher, immer häufiger, einander immer näher rückend nach unten, bis sie sich um den Golf zu einer ununterbrochenen Schnur aneinander reihen, in welcher man eben nur noch die größeren Perlen unterscheiden kann, unter ihnen die größte: Neapel. Und nun der herrliche Golf selbst, mit seinen wollüstigen Uferkurven, dem Horizont entgegenschwellend, und seinen Inseln, Capri, Ischia, Procida – eben so vielen Schönheitsmalen!

Und immer größer und weiter wird der Blick mit jeder Biegung, welche der nun steilere Weg um die Lavablöcke aufwärts macht. Mit heißer Gluth liegt die Sonne auf dem schwarzen gleißenden Gestein und das schwarze gleißende Gestein hinauf und hinab schlüpfen die grüngoldig schillernden Lacerten, die langen Schwänzchen ängstlich regend, während schon die rettende Spalte den übrigen Leib geborgen hat, »froh aus der Todesgefahr, doch beraubt der lieben Gefährten«, welche die Peitsche des Kutschers erschlug, des tückischen Frevlers.

Und da sind wir endlich an der berühmten Einsiedelei mit dem künstlichen Einsiedler, dessen wallender grauer Bart den gelbbraunen Inhalt der bauchigen Flasche, die er in der Hand schüttelt, nimmer zu echter Lacryma Christi machen wird. So wollen wir denn von seinem Ermitage nichts als ein wenig Schatten für den Wagen, in welchem sitzend wir unser aus dem Hôtel mitgebrachtes vortreffliches Frühstück verzehren: Sandwiches, welche der Deutsche belegte Butterbrötchen nennt, Capri rosso und Orangen, die auch unter dem Namen Apfelsinen, besonders, wenn sie reif, eine gar köstliche, vielwillkommene Frucht sind, und zumal einem italienischen Frühstück in dieser Zeit des Jahres niemals fehlen dürfen.

Dann wandern wir, gestärkt, die kurze Strecke zum Observatorium hinauf, wo ich von uns die unverschämtesten aller Eseltreiber kaum durch die härtesten Drohungen abwehren kann. Ein etwa achtzehnjähriges Individuum, das schicklicher in einer feuchten Berliner Kellerwohnung zu diesem Grad der Verkommenheit gelangt wäre, verfolgt uns sogar noch weit über das Observatorium auf dem mit Lava-Asche knietief bedeckten und hier und da mit Gesträuch und Gestrüpp betupften Wege, und fleht in allen Tonlagen des Winselns um die Cigarre, die ich rauche, bis ein handgreiflicher Appell an meinen erprobten Wanderstab der widerwärtigen Scene ein Ende macht und das Reptil verscheucht.

Wir sind allein und können in dem dünnen Schatten eines Strauches die Vesuvfahrer beobachten, von denen sich eine große Karavane am Fuße des eigentlichen Kegels gesammelt hat. Wir befinden uns mit ihnen so ziemlich auf gleicher Höhe, und der Weg von uns zu ihnen führt auf dem Rücken des langen Ausläufers hin, welcher, von dem Fuß des Kegels ausstrahlend, an seinem andern äußersten, dann ziemlich jäh abfallenden Ende das Observatorium trägt. Unsere Entfernung von der Caravane ist etwa 1000 Meter; und so lange sie mit uns auf derselben Ebene sind, sehen wir nur ein undeutliches Gewimmel, wie in einem kleinen Lager, das eben abgebrochen wird; aber wie sie jetzt, sich erst etwas rechts haltend, den Aufstieg beginnen, können wir mit Hilfe unserer guten Operngläser das Einzelne unterscheiden, ja, die Damen von den Herren, die Führer von den Reisenden, und wie viel Führer ein Jeder hat. Die Linie wird länger und länger; Einige bleiben ganz entschieden zurück; ein größerer Trupp hält sich so ziemlich zusammen; fünf oder sechs aber, die immer an der Tête marschirt sind, gewinnen mehr und mehr Terrain und erklimmen mit staunenswerther Geschwindigkeit die steile Höhe. Jetzt erscheinen ihre Pygmäengestalten, sich scharf gegen den Horizont erhebend, bereits auf der schräg abfallenden Seite des Berges, wo der Aufstieg weniger steil ist, und jetzt sind sie bereits auf der allerhöchsten Höhe der oben abgestumpften Pyramide, welche, von unserem Standpunkte aus gesehen, der Berg zu sein scheint, weniger deutlich als vorhin, zumal, wenn sie den Rauch, der ununterbrochen emporwallt, zum Hintergrunde haben, aber doch noch immer als bewegliche Punkte wohl erkennbar.

Es wäre vergeblich, zu leugnen, daß wir sie um ihre Situation herzlich beneideten; denn, »was entdeckt der nicht alles, der auf einem hohen Punkte nur um ein Geschoß höher steht«, bemerkt der Dichter, als die Gesellschaft in den »Wahlverwandtschaften« auf die Gerüste des neuen Berghauses klettert; und jene Glücklichen standen volle 500-600 Meter höher als wir, und hatten es in kaum einer Stunde geleistet. Wir hatten mehrmals in der Schweiz und in Tirol solche Bravourstücke fertig gebracht; aber ich fühlte mich bereits seit einigen Tagen nicht ganz wohl und frisch, und so mußten wir entsagen, schweren Herzens. »Ein Blick westwärts nimmt wie ein heilsames Bad alle Schmerzen der Anstrengung und alle Müdigkeit hinweg«, heißt es in Goethe's Reise. Er war droben und verdiente es, wenn Einer; und so stand Schinkel oben und trank mit seinen Künstleraugen diese Farbengluthen und schwelgte in diesen wunderbaren Formen; und so vor ihnen und nach ihnen viele große und gute Menschen, und mancher Große, der nicht gut, und mancher Gute, der nicht groß war; und außerdem unzähliges Gesindel, das weder gut noch groß war und von dem wir hoffen wollen, daß es in den Augenblicken, die es da oben zubrachte, einen Dämmerschein des »unendlichen Lichts« gehabt hat.

Von den verschiedenen Belvederen des Observatoriums kann sich auch der Laie über die Situation, in welcher er sich befindet, leicht orientiren. Er sieht, daß er auf einer Halbinsel in dem Lavameer steht. Er sieht auch, daß es sich eigentlich um zwei Berge handelt, und daß der zweite, den man jetzt erst schätzen lernt, der Monte di Somma, wie mit einem ungeheuren Stuartkragen das Haupt, den Vesuv selbst, nach hinten zu umgiebt, nur daß freilich der Kragen so hoch ist, wie das Haupt. In der That ist der Monte di Somma der ältere, und der Vesuv nur ein neuer Kegel im Krater des alten Feuerspeiers, und wahrscheinlich erst bei dem verhängnißvollen Ausbruch im Jahre 79 entstanden. Zwischen Kopf und Kragen nun haben sich fast alle Lavaströme der verschiedenen Ausbrüche ergossen, auf das von unten auf hineinragende Vorgebirge des Observatoriums zu, an welchem sie sich theilten. Die weniger gewaltigen Ströme zogen links vorüber und das waren die, über welche wir bei der Ausfahrt gekommen sind; die Hauptströme aber flossen zwischen Vesuv und Observatorium-Vorgebirge einerseits und den steilen Hängen des Monte di Somma andererseits; und mit Schauder und Grausen sieht man, wie diese Ströme, besonders der letzte von 1872, mitleidslos durch die Pflanzungen der Menschen, Olivenwälder, Weinberge, Fruchtfelder gebrochen sind und weiter hinab mitten hindurch zwischen den Dörfern St. Sebastiano und Massa, von denen sie einen großen Theil zerstörten, und – wenn auch jetzt schwächer werdend – so doch noch immer ein paar tausend Meter weiter durch Weinberg und Saatgefild bis zu einem dritten Dorf, das ebenfalls mit genauer Noth der gänzlichen Einäscherung entging. Man schilderte uns die schauerlichen Scenen, die in den der Vernichtung geweihten Ortschaften stattgefunden und auch die tragikomische Wuth, mit welcher die Weiber ihre nichtsnutzigen Heiligen, vor denen sie eben noch in heißem Flehen auf den Knieen gelegen, geschimpft und – beschimpft haben.

Es ist später Nachmittag. Die Sonne neigt sich; immer satter werden die violetten Tinten auf den Hängen des prachtvollen Monte St. Angelo über Castellamare und der ganzen Uferkette, die sich links an dem Golf hin bis nach Sorrent zieht; immer rosiger leuchten aus dem dunklen Grün der Olivenwälder und Weingärten die Villen, Weinberghäuser, Weiler, Dörfer – die unzähligen Perlen des losen Gehänges an der dicken Perlenschnur der Städte, die sich um den Golf reiht; in immer dunkleres Purpurblau hüllt sich das Meer, und jedes der Segel, die über dasselbe hinwegziehen, glänzt wie ein sanftes Licht, und die Inseln, die noch immer von einem leisen Duft verschleiert waren, treten klar hervor, »wie ein Schild«, meint Odysseus, als er von der Spitze der Wellen die Insel der Phäaken erblickt, nur daß nur etwa das ferne Ischia mit seinem stolzen Monte Epomeo für einen »hochgenabelten« Schild genommen werden möchte, während Capri jetzt ganz offenbar eine Sphinx ist, deren Kopf und Hals und Brust in Trümmern liegen, während der Riesenleib selbst noch voll erhalten ist. Und so schwelgt das Auge in diesen Erdenwonnen und kann sich nicht losreißen, obgleich Sauroktonos längst schon die tödtliche Schweppe über den Ohren der unglücklichen Pferde klatschen und knattern läßt. Noch einmal sind wir taub gegen die Schmeichelreden des falschen Eremiten, der uns abermals den verdächtigen Inhalt seiner bauchigen Flasche vor den Augen schüttelt; noch einmal scheuche ich das verkommene Gesindel zurück, das sich bettelnd an, ja auf den Wagen drängt.

Und wie wir nun, entgegen der Sonne, die, in unerträglichem Glanze strahlend, hinter Ischia in das leuchtende Meer sinkt, durch schwarze Asche und über zackiges Gestein bergab gleiten und rasseln mitten hinein in die grausigen Felder der erschlagenen Giganten – da mochten uns wohl die Verse aus der Kronos-Ode im Ohr tönen:

Trunknen vom letzten Strahl,
Reiß mich, ein Feuermeer
Mir im schäumenden Aug',
Mich Geblendeten, Taumelnden
In der Hölle nächtliches Thor.

*

6.
Straßenleben.

Ich will von Atreus Söhnen,
Von Kadmos Ruhme singen:
Ach, aber ach! die Leyer – …

Anakreon.

Es war großer Markt in Neapel gewesen und die heute Morgen verhältnißmäßig leere, unendliche Straße war von den um diese Frühabendstunde heimwärts eilenden Landleuten und Vorstädtern – Portici und Resina sind ja nur eben Vorstädte von Neapel – buchstäblich überfüllt. Unablässig folgten sich kleinere und größere Trupps, unablässig jagten an unserem Wagen jene wundersamen Fuhrwerke vorüber, die aus einer unförmlichen Pyramide von Menschen besteht, vor welche ein Pferd gespannt ist. Denn die zweirädrige Karrete, auf welcher jene Menschen sitzen, stehen, liegen, knieen, kauern, hangen, baumeln, kleben, sieht man vor eben jenen Menschen nicht, wobei denn freilich auch die sonnedurchleuchtete Wolke Staubes in Anschlag zu bringen ist, die Alles – Roß und Wagen und Menschen umfliegt. Dabei scheint zweierlei merkwürdig, daß das Pferdchen diese Last nicht nur bewältigen kann, sondern im schärfsten Trabe, oder gar im sausenden Galopp mit ihr davoneilt, und zweitens, daß die Menschen sich offenbar mühelos stundenlang in Lagen halten, die jedem Andern nach wenigen Minuten unerträglich werden würden. Für diese letztere, höchst merkwürdige Eigenschaft der Italiener der unteren Volksklassen habe ich trotz der eindringlichsten Beobachtungen, welche ich einem so bedeutenden Gegenstande selbstverständlich widmete, keine genügende Erklärung finden können; aber auch der zureichende Grund der außerordentlichen Leistungsfähigkeit ihrer Zug- und Lastthiere ist mir nicht ganz klar geworden. Ich glaube ungefähr zu wissen, was man einem Pferde zumuthen kann; ich habe manche scharfe Fahrt und manchen langen Ritt, bei dem weder Roß noch Reiter ihre Kräfte sparten, in meinem Leben gemacht, aber vor dem Trab, den die beiden Grauschimmel trabten, welche uns einst von Tivoli durch die Campagna nach Rom wirbelten, – da muß ich sagen – wie einer meiner Majors, wenn der Parademarsch nach vierstündigem Bataillons-Exerziren tadellos gelungen war: Hut ab! Daß die gute Beschaffenheit der meisten italienischen Straßen: Chausseen, Vicinalwege u. s. w., auch des Pflasters in den Städten den Thieren die Arbeit ungemein erleichtert, ist wohl unzweifelhaft; aber sie sind auch auf schlechten Wegen bewunderungswürdig, und manchmal wird ihnen sogar die Güte des Weges beschwerlich, z. B. in Neapel, wo man auf den glatten Lavaquadern, besonders in den abschüssigen Straßen, alle Augenblicke ein Pferd stürzen sieht. Nun benimmt sich ein Berliner Droschkengaul, wenn ihm dies Unglück arrivirt, in neun von zehn Fällen bekanntlich so: er streckt alle Viere so weit als möglich von sich, läßt, wenn es irgend angeht, oder sobald es angeht, den Kopf auf die Erde sinken, reagirt auf die Bemühungen, das Zureden, Schelten, Stoßen, Schlagen des Kutschers vorläufig gar nicht, höchstens durch ein tiefes Stöhnen, so daß, wer es nicht besser weiß, glauben muß, das Thier sei eine unzweifelhafte Beute des »langhinstreckenden Todes«, bis es plötzlich ein paar krampfhafte Bewegungen mit den Hinterbeinen macht, den Leib halb aufrichtet, die Umstehenden verwundert anblickt, die Vorderbeine von sich streckt, und mit einem plötzlichen (meistens durch Peitschenhiebe und Fußtritte, welche in diesem Stadium seiner Auferstehung reichlicher zu fallen pflegen), motivirten oder doch begünstigten Entschluß wieder aufrecht steht. Wie anders das neapolitanische Droschkenpferd! Wenn ich nicht ein Feind jeder Uebertreibung wäre, würde ich sagen: es steht wieder auf, bevor es hingefallen; aber daß Hinfallen und Wiederaufstehen bei ihm zwei Handlungen sind, welche mit Blitzesschnelligkeit aufeinanderfolgen, ist eine Darstellung, die unter zehn Fällen neunmal der Wahrheit nur die Ehre giebt. Allerdings ist das gewöhnliche neapolitanische Pferd klein und oft zierlich, und jene Elastizität gewiß zum Theil Rassen-Eigenthümlichkeit und Temperamentssache; überhaupt spielt in dieser ganzen Frage die Rasse ohne Zweifel eine große Rolle; Ich finde eine nachträgliche Bestätigung meiner Vermuthung in Max Jähn's ausgezeichnetem Werke: » Roß und Reiter« (Leipzig 1872), wo ich Band II, p. 151 ff. das Nähere nachzulesen bitte. A. d. Verf. ebenso sind auch sicher Klima und Nahrung von einschneidender Bedeutung, – und dann: der Italiener ist ein ganz ausgezeichneter Kutscher, ich meine Fahrer, Rosselenker; es ist, als ob jeder Einzelne direkt von Sthenelos stammte. Wenigstens hat der kapaneische Sprößling, als er dem Rufer im Streit, dem herrlichen Tydiden, nacheilte – »der nun folgte mit grausamem Erze der Kypris« – die prangenden Zügel nicht geschickter handhaben und den Lauf der starkhufigen Rosse nicht sicherer durch das Schlachtengewühl lenken können, als der römische, der neapolitanische Kutscher sein Gefährt durch das sinnverwirrendste Gedränge des Korso oder der Toledostraße zu winden versteht. Und in den engen Straßen gar, wo ein Ausbiegen unmöglich scheint, man müßte denn die nöthige Kurve an den Häuserwänden entlang machen! Und nie, oder doch unendlich selten ein Zusammenstoß, oder gar ein Unglück: Umwerfen, Ueberfahren! Es ist bewunderungswürdig!

Dafür hat der Italiener aber auch eine Leidenschaft für das Fahren. Die allabendlichen Korsi jeder größeren italienischen Stadt kennt Jedermann, und Wettfahrten spielen in dem Leben der jeunesse dorée eine so große Rolle, wie bei den Nordländern die Wettrennen. Pferd und Wagen in dem denkbar oder doch relativ besten Zustande zu haben und auf jede Weise herauszuputzen, ist dem Italiener der höchsten und niedrigsten Klassen gleicherweise eine heilige Verpflichtung. Die Pracht der Karosse, mit welcher der vornehme Römer den Pincio befährt, findet sein bukolisches Pendant in dem zweiräderigen Holzkarren, welchen der sizilianische Bauer mit rothen und gelben Farben bis an die Spitze der Deichsel bemalt, ohne den grellen Märtyrer- und Räubergeschichten, welche die Außenwände des Kastens schmücken, irgend Eintrag zu thun. Und nun die phantastisch geformten ellenhohen Kummete mit ihren blinkenden Blechzierrathen und das mit Bändern und Schleifen ausgeputzte rothlackirte Sielenzeug! Selbst die öffentlichen Fuhrwerke – und das ist entscheidend – partizipiren an dieser Liebhaberei. Wenn man in Italien auf eine unsaubere, schlecht gehaltene Droschke trifft, so ist der Kutscher sicherlich ein nichtsnutziges Individuum. Sonst hält er gewiß darauf, daß Alles in einem so guten Zustande ist, wie es eben durch Striegeln, Putzen, Bürsten, Klopfen gebracht werden kann. Dabei, um auch das zu erwähnen, was doch gewiß erwähnt zu werden verdient, sind die Leute durchweg freundlich, artig, zuvorkommend, mittheilsam, wenn es verlangt wird, und nicht übermäßig habgierig. Es ist uns ein einziges Mal während unserer ganzen Reise begegnet, daß wir in eine ernstliche Differenz mit dem Kutscher einer voiture de remise geriethen, während in Berlin das Kriegsbeil zwischen Publikum und Droschkenkutschern eigentlich nie begraben wird. »Darum sind wir ja so niederträchtig«, sagte mir einmal einer der letzteren, der den allzu niedrigen Tarif für Alles, auch für die eingeborene Grobheit, verantwortlich machte; aber auch in Italien fährt man billig, sogar zum Theil erstaunlich billig, und wird doch gut bedient; gut und vor allem: willig, überwillig sogar. Wer denkt nicht noch mit Vergnügen an all die fragenden Finger, die ihm von vorbeifahrenden Kutschern, oder, sobald er aus seinem Hôtel trat, von dem Droschkenstand in der Nähe dutzendweis entgegengehalten wurden, und wie aus der Wagenburg sich plötzlich zwei, drei, vier loslösten, und wie der Schimmel dann doch um seine eigene Länge die Konkurrenten schlug, welche ohne Murren auf ihren Platz zurückkehrten, hoffend, es werde ihnen das nächste Mal besser glücken; und wie, als eben seine müde Seele seufzend fragte, ob es denn für den allzufleißigen Wanderer keine Gerechtigkeit mehr im Himmel und keine Droschken in Rom gebe, plötzlich – dem Geier gleich, der aus dem wolkenlosen Himmel Afrika's über dem gestürzten Kameel auftaucht – oben an St. Maria Maggiore ein Punkt sichtbar wird, der mit Blitzesschnelle die lange Via delle quattro Fontane auf Dich herabschießt, nur, daß es kein Geier ist, (ebenso wenig wie Du ein Kameel) sondern eine Droschke, dessen scharfäugiger Sthenelos Dich aus endloser Ferne unter all dem Gewimmel der Menschlein erspäht und erkannt hat als Einen, dem »geholfen werden kann.«

In Neapel allerdings wird dem Wanderer, der nicht müde ist – er hat ja auch solche heroische Momente – manchmal die Dringlichkeit lästig, mit welcher der Roßlenker – denn meistens ist es ein Einspänner – seine Dienste offerirt, indem er straßenlang neben seinem erkorenen Opfer herfährt, wieder und immer wieder ihm sein klagendes, mahnendes, schmeichelndes, drohendes Signor! Musju! Signor, Musju! zuraunend; sich ihm auch gelegentlich, wenn er es wagt, den Straßendamm zu kreuzen, mitten in den Weg stellt, und beinahe über die Füße fährt. Gegen den Mann sich zu ereifern, würde absolut nichts helfen; er läßt Dich ausschelten, ohne eine Miene zu verziehen, und kaum daß Du fertig, oder wenigstens mit Deinem Athem, vielleicht auch nur mit Deinem Italienisch zu Ende bist, tönt Dir schon wieder in's Ohr: Signor! Musju! Musju! Signor! Eine Abkürzung dieser für manche Nerven ziemlich lästigen Heimsuchung darf der Betroffene hoffen, wenn er kein Wort spricht, dem Manne keinen Blick schenkt; noch wirksamer ist, wenn er in die gespannte Situation einen Scherz hineinwerfen kann, und wäre es auch ein praktischer, z. B. den alten bewährten Kölner Maskenscherz, daß er ganz ruhig in die ihm den Weg versperrende (stets offene) Droschke hinein und eben so ruhig auf der andern Seite wieder hinaussteigt. Gegen eine solche Beweisführung ist der Neapolitaner stets empfänglich; sein braunes Gesicht verzieht sich sofort zu einem Grinsen, das alle seine weißen Zähne zeigt; er stößt jenes seltsam breitgequäkte, tief aus der Kehle geholte Aeh! aus, mit welchem die italienischen Pferde, Esel und Maulesel, vermuthlich schon zu den Zeiten des frommen Aeneas angetrieben wurden, und verschwindet in der nächsten Quergasse.

Ueber meinen hippologischen Studien ist es Abend geworden; ich gehe nach dem Thee noch einmal aus, um womöglich nach dem heißen Tage etwas kühlere Luft zu schöpfen und gehe allein. Denn um diese spätere Stunde sind die Damen von den Straßen und Plätzen Neapels verschwunden. So bietet die unendliche Toledostraße, in welche ich, dem Strome folgend, gerathe, ein wunderliches, von dem Tagestreiben durchaus verschiedenes Bild. Es ist, als ob es Männer, oder doch Individuen männlichen Geschlechts, geregnet hätte, und die Ueberschwemmung sei im langsamen Abfließen begriffen, auf beiden Seiten, unter den thurmhohen Häusern hin, in einem etwas lebhafteren, gleichmäßigeren Fluß, der sich freilich aber auch über die ganze Breite des Fahrdammes ergossen hat und dort in unregelmäßigen Wellen durcheinander plätschert und wirbelt. Alte Männer, junge Männer, halbwüchsige Burschen, feine Herren, ehrbare Bürger, Handwerker, zerlumpte Gesellen, richtiges Gesindel, truppweise, paarweise, selten allein – so flanirt, promenirt, vagabundirt es nebeneinander, hintereinander, durcheinander, das Ganze in wohl- oder übelriechende Wolken gehüllt, die den unzähligen Cigaretten und Cigarren entsteigen. Besonders dicht um die Cafés herum, durch deren weitgeöffnete Thüren und Fenster man in lange gaserhellte Perspektiven von Marmortischchen und rothen Sesseln und Divans sieht, auf denen Platz um Platz mit eifrigen Zeitungslesern, Plauderern, Nichtsthuern besetzt ist. Natürlich sind es Männer, und Männer sind es, die in den von einer Oellampe durchdämmerten Spelunken sitzen, in welchen billiger Wein verzapft wird; und Männer sind es, die den Limonadenverkäufer umstehen, welcher an der Straßenecke seine Boutique aufgeschlagen und das in der Schwebe hangende Wasserfaß von Zeit zu Zeit schüttelt, ich weiß nicht, ob aus Langerweile, oder damit der Inhalt nicht vor der Zeit faulig wird. Denn die Tramontana des Morgens hat wieder einmal dem Sirocco, unter welchem wir hier schon so viel gelitten haben, Platz gemacht; die Luft ist schwül zum Ersticken; um die Gaslaternen schwebt eine schmutzig gelbe Aureole und von den erleuchteten Balconfenstern, die, manchmal aus Thurmeshöhe, auf uns herabblicken, verdämmern die obersten in der schweren Atmosphäre wie Sterne im Nebeldunst. Man blickt, indem man so langsam weiter schiebt und geschoben wird, in halbdunkle, nach der Straße zu weit offene Räume, in denen sich Menschen aufhalten und hanthieren, unzweifelhaft zu irgend einem bestimmten Zweck, nur daß wir, und kostete es das Leben, nicht sagen könnten, wie menschenmöglicherweise dieser Zweck beschaffen sein möchte; man hat eine plötzliche Vista in ein Nebengäßchen, welches in richtigen Treppenstufen so steil sich erhebt, und in eine so sonderbare Welt zu führen scheint, daß man unwillkürlich ein paar Stufen hinaufklimmt, und ebenso schnell wieder hinabsteigt, ohne einen Moment später angeben zu können, ob, was man da gesehen, eine Wirklichkeit oder eine wüste Ausgeburt unserer Phantasie gewesen ist, welche die Hitze der Siroccoluft und die Fremdartigkeit der Scene ein wenig überspannt haben.

Du fühlst Dich einer Ohnmacht nahe, Du blickst Dich nach einer Droschke um und bemerkst jetzt zum ersten Male, daß es in diesem Gedränge eben so wenig Droschken wie Frauen giebt. Sollte die normale Thätigkeit Deines Gehirns ernstlich gestört sein? Wie? hier auf dieser Straße, die den ganzen Tag vom Gerassel zahlloser Wagen durchdonnert wird, auf der man tagtäglich, tagstündlich zermahlen, zermalmt, zerrädert wird – kein Wagen, kein Pferd, kein einziges? Wo sind sie hin? wo sind sie geblieben? »Verswunden«, sagte der Gärtner im Park von Putbus, als ich ihn nach dem Verbleib der Millionen kleiner Kröten fragte, von welchen den Tag vorher die Wege bedeckt gewesen waren. Aber Pferde können doch nicht »verswinden«, wie kleine Kröten! Und sie können doch auch nicht wie die Frauen vier, fünf, sechs, sieben, acht Treppen hinaufsteigen und jetzt in jenen Räumen, durch deren Balconfenster das Licht dämmert, am Theetische sitzen, oder an der Wiege ihrer Kinder? und diese Tausende und aber Tausende von Cigaretten- und Cigarrenrauchern können doch nicht die ganze Nacht flaniren, promeniren, vagabundiren; sie müssen doch irgend einmal ein Dach über dem Kopf haben wollen, und wo bliebe dann in diesen Häusern, trotz ihrer acht Stockwerke, Raum für Pferde! für diese Tausend und aber Tausend Pferde von Neapel!

Ich quäle mein dumpfes Gehirn mit dem Versuch der Lösung dieses Problems, während ich, aus dem Gewühl der Toledostraße glücklich gerettet, mich durch verhältnißmäßig stillere Straßen der Chiaja zu schleppe. Auf einmal, als ich gesenkten Blickes an der Front eines Hauskolosses hinschleiche, der ein ganzes Viertel zu bedecken scheint, bleibe ich erschrocken stehen und fasse an meine Stirn. Es muß ja eine Illusion sein; wie kann ich die Pferde, die ich auf der Erde nicht mehr sehe, unter der Erde sehen? tief unter dem Straßenpflaster, das sonst von ihrem Hufschlag wiederhallt? Man sieht ja in einer großen Stadt – besonders in Berlin – Vieles – nur zu Vieles – unter dem Straßenpflaster durch die viereckigen Fenster der Souterrains: Gemüse-, Milch-, Butter- und Käse-, Grün- und anderen Kram, Bier- und Branntweintische mit obligaten Stamm- und sonstigen Gästen – aber Pferde! Pferde, die hüben und drüben in ihren Ständen stehen, ruhig und reinlich ihr Futter aus den Krippen fressend, und dazu mit den Schwänzen wedelnd, mit den Halftern klirrend und gelegentlich zufrieden schnaufend oder vorsichtig hüstelnd, wenn ihnen ein wenig Hecksel in die »unrechte« Kehle gekommen ist! Es ist eine Vision – müde wie ich bin und einer Droschke bedürftig, sehe, höre, rieche ich Pferde, wie der durstgequälte Wanderer der Wüste Wasser zu sehen, zu hören, zu trinken glaubt. Ein Blick durch das nächste viereckige Souterrainfenster wird Alles in Ordnung bringen. Aber! da sind sie wieder: viere hüben, viere drüben, mit den Schwänzen wackelnd, mit den Halftern klirrend, nur daß es diesmal Füchse und Braune sind, während es am ersten Fenster Schimmel und Rappen waren. Wohl! Der Sinnestrug ist hartnäckig! Doch hier bin ich am dritten Fenster und – da stehen sie abermals, die acht, nur daß eines sich hingelegt hat! Ich muß mich in das Unvermeidliche schicken, denn so bleibt es dabei – Fenster um Fenster, Dutzende, ja Hunderte von Pferden! das ungeheure Gebäude entlang bis zur Ecke, und, als ich um die Ecke in eine Querstraße biege, – Fenster um Fenster dasselbe Bild, das trotz seines idyllischen Charakters etwas seltsam Schauerliches hat in seiner endlosen Wiederholung und in der düstern Beleuchtung, die von keinem irdischen Lichte – wenigstens sieht man keines – zu kommen scheint. Es ist ja möglich, daß dies nichts als ein colossaler Pferdestall ist und jene Pferde die identischen Gäule sind, die uns gestern, heute die neapolitanischen Straßen hinauf und hinabgeschleppt haben, und ihre Brüder und Schwestern; es ist ja möglich! Aber unmöglich ist es doch auch nicht, daß es nur Schattenbilder sind der weiland neapolitanischen Rosse, welche, nachdem sie des Lebens Last und Mühe redlich gezogen, endlich zu ihren Vorfahren in die Unterwelt hinabgestiegen, – nicht auf klassische Asphodelos-Wiesen, sondern, wie es sich für moderne Pferde schickt, zu einer rationellen behaglichen Stallfütterung unendlichen Hafers aus unvergänglichen Krippen. Es schafft sich ja jeder seinen Himmel nach seinem Geschmack! Und weshalb sollte mir, der ich die Pferde von Kindesbeinen an geliebt, und der ich tagtäglich über die Hölle schaudere, welche die Menschen den edlen Geschöpfen auf Erden bereiten, nicht einmal in guter Stunde vergönnt gewesen sein, einen Blick in ihren Himmel zu werfen!

*

7.
Fensterstudien.

Ich wohne am Boulevard des Capuzines:
wenn ich aber zu Hause bin, wohne ich
am Fenster.

Octave Feuillet.

In meinen neapolitanischen Erinnerungen spielt die Balconfensterthür unseres Salons in dem lieben Albergo d'Inghilterra eine der hervorragendsten Rollen. Oft und oft ertappe ich meine Seele, wie sie sich, in ein Schattenbild meiner selbst gehüllt, auf einem der grünsammetnen Fauteuils in der unmittelbaren Nähe dieser Fensterthür niederläßt und bald mit bewaffneten, bald mit unbewaffneten Augen, bald eifrig, bald träumerisch, bald viel, bald wenig, bald gar nichts denkend, von da oben hinab- und hinausschaut. Ich kann es meiner Seele nicht verargen; es giebt verhältnißmäßig wohl wenig Fenster auf dieser fensterreichen Erde, aus denen so vieles zu sehen wäre, so vieles, das noch in der Erinnerung einen freundlichen Schimmer in eine trübe Stunde werfen kann und das schwärmerische Wort des Vater Goethe: »der könne im Leben nie wieder ganz unglücklich werden, wer einmal Neapel gesehen«, zur Wahrheit zu machen scheint.

Nie werde ich des ersten Abends vergessen, als wir, dem entsetzlichen Hotel de G. entronnen, uns nun unsers »frisch erkämpften« Asyls wahrhaft freuen konnten. Der stürmische Regen des Tages war am Nachmittag schwächer geworden und hatte gegen Abend ganz aufgehört. Wir hatten mitten im Lärm und Gedränge der Stadt des Umschwungs, welcher in der Natur vor sich gegangen, kaum geachtet, und so traf uns denn, als wir, nach Hause und auf unser Zimmer gekommen, an das Fenster traten, die volle Kraft des Zaubers, der sich vor uns entfaltete. Auf der Chiaja unmittelbar unter uns rollten nur noch einzelne Wagen; aber in dem Garten der Villa Nazionale, der sich schmal und lang zwischen der Chiaja und dem Meere hinzieht, promenirten im Schein der Gaslichter, die hell durch das Frühlingsgrün der Bäume und Büsche strahlten, zahlreiche Menschen, sich des stillen Abends freuend, der Allen als ein unerwartetes Geschenk kam. Und unzählige Lichter blinkten nach rechts, wo die Chiaja in die Riviera di Chiaja sich fortsetzt und die Riviera mit einer kühnen Curve sich in die Mergellina herumschwingt, die dann in die hohe Uferstraße übergeht, welche bis zum Posilipp und weiter führt. – Und Lichter blinkten nach links, wo sich der Bogen flacher bis zum Castell dell Ovo hinzieht, das finster drohend seine gewaltige Steinmasse weit in das Meer hineinschiebt, und den andern Theil der Stadt unsern Blicken verdeckte, so daß erst wieder aus weiter Ferne vereinzelte und schwächere Lichter von der Sorrentiner Küste zu uns herüberschimmerten. Das Meer, das von dem schweren Regen niedergehalten war, wallte in weiten weichen Schwingungen. Wir konnten das langsame Heben und Sinken deutlich bemerken in dem düsterrothen Schein der Fackeln, die auf einigen Booten brannten, welche, von der Mergellina kommend, von rechts nach links quer über den weiten dunkel blinkenden Spiegel nach der Richtung des Castell dell Ovo fuhren.

Und jetzt nahm mit jedem Moment eine Helligkeit zu, die seit einiger Zeit hinter dem Castell am Himmel aufgedämmert war; immer schärfer hoben sich die finstern Massen von dem sanft leuchtenden Hintergrunde ab: die Thürme, die crenelirten Mauern, und durchsichtiger die Kuppen großer Bäume, die da irgendwo wachsen mußten und jetzt plötzlich sichtbar wurden; und nun glänzte es machtvoll hinter dem alten Gemäuer auf, dessen bisher so scharfe Ränder vor dem Glanz wegzuschmelzen schienen, und ein paar Augenblicke später schwebte der volle Mond in stiller Majestät hervor und goß sein mildes Licht über Himmel, Erd' und Meer.

Und als ich mitten in der Nacht erwache und für einen Moment an das Fenster trete, schwebt er am westlichen Himmel, wie vorhin am östlichen. Er ist kleiner und glänzender geworden und hat alle Lichter auf Erden und auch fast alle Himmelslichter ausgelöscht und die leise wallende Meeresfläche funkelt und glitzert in seinem Schein, wie sie gefunkelt und geglitzert hat vor den schlummerlosen Augen des Odysseus, während die Gefährten, in die Schiffermäntel gehüllt, am hallenden Strande den Schlaf der Gerechten der heiligen Morgenfrühe entgegenschliefen.

Und dann wieder der helle Morgen, wenn der ganze Uferbogen vom Posilipp bis zum Castell mit Fels und Baum und Busch, Ruinen und Häusern, Molen und Hafenmauern, in allen Bizarrerien der Formen und Farben sich zu uns her, an uns vorüber weiter schwingt, und auf dem blauen Meer die Fischerboote kreuzen, und wir jetzt den Dampfer beobachten, der, von Genua oder Marseille kommend, auf der Höhe von Ischia sichtbar wird, und jenen anderen, der nach Sicilien oder der Levante gehend, auf die breite Lücke zwischen Kap Minerva und Capri zu hält; und jetzt unsere Blicke aus der Ferne zur Nähe zurückkehren, angelockt durch eine eigentümliche Erscheinung auf dem Wasser zwischen den Fischerbooten, die bereits eine ziemliche Strecke vom Ufer sind, und dem Ufer selbst: das plötzliche Sichherausheben einer dunkleren und doch feuchtglänzenden Masse, die sich eine kurze Strecke auf der Oberfläche fortzuschnellen scheint, und dann wieder verschwindet, um an einer anderen Stelle und jetzt an mehreren Stellen zugleich aufzutauchen und aus der wir anfangs nichts zu machen wissen, bis ich in einer plötzlichen Inspiration die geniale Entdeckung mache, daß es spielende Fische, ja! und heiliger Arion! – daß es Delphine sind!

Und nun die Stunde vor Ave Maria, wenn sich der Garten der Villa Nazionale mit Spaziergängern füllt, auf dem schmalen Reitwege zwischen dem Garten und der breiten Straße häufiger und immer häufiger elegante Cavaliere auf schönen Pferden vorüberfliegen, und auf der breiten Straße selbst unmittelbar unter unsern Fenstern und von unsern Fenstern vollständig beherrscht, sich der Glanz und die Pracht des Corso entfalten. Wie sie stolz mit den Köpfen nicken die prachtvollen Rappen vor der großen wappengeschmückten Familienkutsche, in welcher die Mutter mit der ältesten Tochter den Fond und der Vater mit der jüngsten Tochter den Vordersitz einnehmen, der Vater trotz seiner stattlichen martialischen Gestalt unter den Bauschen der schweren Seidenkleider seiner Damen fast verschwindend; wie er blitzschnell die Hufen auf das glatte Pflaster schlägt, der Pony vor dem kleinen Einspänner, den der schwarzgekleidete Herr mit dem Veilchenstrauß im Knopfloch und den hellen violetten Handschuhen so sicher über die freie Stelle lenkt, um sich einen andern Platz in der Reihe zu erobern – einen Platz in der unmittelbaren Nähe einer Equipage, an und in welcher bis auf die schönen Blondfüchse, die ihn ziehen, Alles veilchenblau ist, oder doch in Nuancen von Veilchenblau spielt: die Livreen des Kutschers und Bedienten, der Sammetbezug der Kissen, die Roben beider Damen – beide jung und schön – und ihr Kopfputz und ihre Handschuhe, in denen sie riesige Veilchenbouquets halten, die dem Herrn im Cabriolet mehr als ein Zwanzigfrankstück gekostet haben müssen.

Und so stolzirt und prunkt und coquettirt die schöne Welt von Neapel, eingeschlossen die Dueñen, Tanten und Mütter und die Jeunesse dorée bis hinab zum halbwüchsigen Burschen und hinauf zum ergrauten Stutzer ein, zwei Stunden vor unsern Fenstern die Chiaja hinaus und hinab und wieder hinauf und hinab, beim Klange der brausenden Polka's des Orchesters in dem Garten der Villa Nazionale, von welchem sie nichts hören vor all dem Gerassel und Geklapper der unzähligen Wagen und Pferdehufe, Angesichts des lieblichsten Meeres und der herrlichsten Küste, von denen sie nichts sehen vor der prachtvollen Toilette, mit der sich heute die schöne Contessa S., die Königin der Mode selbst übertroffen hat, und dem glücklichen Gesicht, das der junge Principe T. macht, heute, wo er zum ersten Mal als erklärter Bräutigam an der Seite seiner Holden in dem schwiegerväterlichen Wagen des Marquese X. fahren kann.

Die Sonne sinkt hinter Ischia, die Wagenreihen werden lichter und lichter, bald sind es nur noch einzelne; jetzt sind auch sie verschwunden und nach dem vorangegangenen Lärm folgt eine erquickliche Stille. Wir sitzen immer noch am offenen Fenster, nachdem Jean bereits die brennende Lampe hereingetragen und die Lichter auf den Spiegelconsolen angezündet hat. Plötzlich schlagen wohlbekannte Töne an unser Ohr. Es ist der Sänger, der alle Abende die Hôtels der Chiaja absingt, jedem mit rühmlicher Unparteilichkeit drei duftige Blüthen aus seinem Kranze spendend, der unzweifelhaft sehr reich ist, obgleich die Blüthen immer und unweigerlich dieselben sind: eine Arie aus der neuen Verdi'schen Oper, der ich selbst aus diesem liederreichen Munde keinen Geschmack abgewinnen kann; ein Lob der »bella Napoli« mit einem walzerartig schleifenden Rhythmus und einem stets wiederkehrenden Refrain, wie es sich für ein Volkslied schickt; und zum dritten – nach einer längeren Pause, die allein hinreicht, den Lauscher ahnungsvoll zu stimmen: das Hauptlied, eine Barcarola, die wir durch ganz Italien hörten – in Venedig von den Gondolieren, die »unserm Fritz« ein Ständchen brachten, bis nach Syrakus und wieder hinauf: die »Santa Lucia«! Wer diese »Santa« war, – ich weiß es nicht; ich habe mich nicht überwinden können, mir den Text, von dem man nur immer Einzelnes verstand, im Zusammenhang vorsagen zu lassen. Es hätte sich am Ende herausgestellt, daß es eine wirkliche Heilige war, und das hätte mich um eine Illusion – wer hat in meinen Jahren noch viele zuzusetzen? – ärmer gemacht. Um die Illusion eines jungen, schönen, übrigens nicht weiter heiligen Mädchens, das am Fenster lauscht, mit verhaltenem Athen: und hochklopfendem Herzen, und deren braune Augen so voll schmachtenden Sehnens durch das Dunkel herabspähen, wie die Töne des liebekranken Sängers zu ihr emporschweben: Santa Lucia! – San–ta–a–a Lucia!

[Fußnote aus technischen Gründen im Text wiedergegeben. Re.]

Freundschaftliche Güte überraschte mich, als ich längst wieder zu Hause war, mit dem Text und der Musik der »Santa Lucia«. ( L'eco di Napoli. Album dii Canzoni napolitane. Torino, Giudici e Strada.) Ich hatte mich umsonst geängstigt. Signora Lucia ist allerdings eine wirkliche »Santa«; aber es handelt sich glücklicherweise nicht eigentlich um sie, oder um sie doch nur insoweit, als sie angerufen wird, die Barke und die Ladung mit ihrer heiligen Flagge zu decken. Ich setze die ersten Strophen mit einer – allerdings etwas freien – Uebersetzung hierher:

Sul mare lucica
L'astro d'argento;
Placida è l'onda,
Prospero è il vento!
Venite all' agile
Barchetta mia …
Santa Licia!
Santa Licia!

Mare si placido,
Vento si caro,
Scordar fa i triboli
Al marinaro;
E va gridando
Con allegria:
Santa Licia!
Santa Licia!

Und so weiter mit Grazie.

Silbern der Mondenschein
Auf glatten Wogen;
Laulich die Lüfte
Vom Himmelsbogen!
Kommt doch zur Barke her,
Schwebt mit mir über's Meer!
Santa Lucia!
Santa Lucia!

Wenn es so ruhig blinkt
Im Sternenglühen,
Denkt nicht der Schiffer
An seine Mühen;
Singet mit heitern Muth:
Nimm uns in deine Hut,
Santa Lucia!
Santa Lucia!

[Ende der Fußnote]

Ich glaube nicht, daß der Bursch – denn es ist noch ein junger Mensch in braunem Mantel mit langen schwarzen Locken, wie wir im Licht der Hôtel-Laternen hinreichend deutlich von oben erkennen können, wenn er den breitkrämpigen Hut abnimmt – ich glaube nicht, daß er viele so andächtige Zuhörer hat, als uns. Seine Stimme ist trotz ihrer Jugend etwas abgesungen und er tremulirt fürchterlich; überhaupt dürfte ein feinfühliger Musik-Recensent nicht finden, daß die lyrische Muse ihm, als sie ihn zu seinem Erdenwallen entließ, »ihren besten Segen gegeben«; aber wir kommen jedesmal in eine angenehme, romantische Erregung, sobald die ersten Klimpertöne seiner Guitarre heraufschwirren, oder – mit Eichendorff zu reden: »wenn der Lautenklang erwacht«; und zu »Santa Lucia« treten wir unweigerlich an das Balkonfenster – gerade als ob er uns, will sagen: meine Frau ansänge! und wer weiß, ob er es nicht thut; wenigstens bemerke ich, daß von dem Moment an seine Töne noch zärtlicher werden, daß er öfter den Kopf hebt, und wenn die eingewickelten Soldi zu seinen Füßen niederklappen, ruft er unveränderlich sein kokettmelancholisches: Gracie, Signora! obgleich er sehr wohl sieht, daß es der Signor ist, der das Geld hinabwirft.

Ja, es war ein liebes, gebenedeites Fenster in dem trauten Salon des guten Albergo d'Inghilterra an der prächtigen Chiaja in der bella Napoli, und – seltsam zu sagen! – wir konnten zuletzt kaum noch ohne eine gewisse schmerzliche Ungeduld an diesem Fenster weilen, das ein so prachtvolles Bild, wie den Busen von Neapel mit Capri im Hintergrunde, in seinen Rahmen einschloß. Es war eben nur ein Bild, »ein lackirtes Bild«, sagt Werther, und wir sehnten uns mit Werther'scher Leidenschaft nach der Natur, nach dem vollen Leben in der Natur. Ich konnte damals jene Ungeduld, die in mir wühlte, selbst nicht begreifen; jetzt verstehe ich sie wohl, und mir ist klar, weshalb wir, Alles in Allem, in kein rechtes, zum wenigsten kein recht intimes Verhältniß zu der Sirenenstadt zu kommen vermochten. Unsere Seelen waren eben noch zu voll von den großen – ich möchte sagen: heiligen Erinnerungen Roms, wir standen noch ganz im Bann dieser bis zum Schmerz köstlichen Erinnerungen. Wie hätten wir nach jener feierlichen Tragödie uns aufrichtig ergötzen können an dem lärmenden Spectakelstück, das man Neapel heißt? Auch hier waren Götter, wir wußten es wohl, und hatten sie gesehen im Museo Nazionale, und bewundert, wie man ja auch nach der Venus auf dem Capitol selbst eine Callipygos bewundern muß; wir waren an den pompejanischen Fresken wahrlich nicht kalt vorübergegangen, und ich zumal hatte in dem Saal der Bronzen vor dem wunderbaren Merkur nicht ohne Rührung der Zeit vor fünfundzwanzig Jahren gedacht, als den jungen Studenten in dem von Welcker gegründeten Gyps-Museum zu Bonn vor der Copie eben dieser Statue die erste Ahnung der Herrlichkeiten griechischer Plastik durchschauerte; aber von dem Anblick der Juno Ludovisi muß man sich förmlich erst erholen, bevor man für neue Genüsse alter Kunst empfänglich ist, und als wir es zur Abwechselung mit der modernen Schwesterkunst, der Musik, versuchten, wollte es das Unglück, daß wir im Teatro S. Carlo die Bekanntschaft mit Verdi's neuester Oper Aida machen mußten, an der und in der wir – mit Ausnahme der wahrhaft prachtvollen Dekorationen – Alles: Text, Musik, Ausführung unter der Mittelmäßigkeit fanden, selbst das Ballet, auf das, wie man mir sagte, die Neapolitaner besonders stolz sind. Ich habe jetzt, nachdem ich die Oper in Berlin gehört, eingesehen, daß mein Urtheil zu hart und es nur die Ausführung war, die allerdings einem Laien, wie mir, das Verständniß eines Werkes erschweren mußte, welches nicht ohne Verdienst, aber doch auch nicht groß und bedeutend genug ist, um unter weniger günstigen Umständen groß und bedeutend zu wirken. Nein! der römische Zauber war nur mit einem Gegenzauber zu besiegen, der aller Zauber Zauber ist: nach Rom kann man – auf lange Zeit – nur in der Natur Befriedigung finden, in dem Anblick des Himmels und der Sterne und der Wunder alle, die der Dichter des 104. Psalms so andächtig preist.

So athmeten wir denn froh auf, als endlich, nachdem der Himmel wieder einmal ein paar Tage lang schwer gehangen hatte über bella Napoli, an einem schönen Morgen die Sonne freudig herabstrahlte aus dem wolkenlosen Aether, und in ihrem Strahl die Kämme der Wellen blitzten, die eine frische Tramontana vor sich hertrieb; und befreit und ledig von dem Wolkendunst, der ihre Schultern umhüllt hatte, die Inselsphinx Capri hell und scharf in jeder Linie ihrer wunderbaren Form sich aus dem Meere hob.

»Anzuempfehlen: Mit Eisenbahn nach Castellamare, von der Station mit Wagen nach Sorrent, hier übernachten! – Früh Morgens mit Barke nach Capri. – Der Ausflug erfordert zwei bis drei Tage« – steht auf der Fahne, der wir zugeschworen.

Zwei bis drei Tage für Capri! Es wäre ein kurzes Glück für die lange Liebe!

*

8.
Capri.

Aber nachdem er erreicht das fernabliegende Eiland,
Jetzt aus dem Meerschwall trat er, dem bläulichen, zu dem Gestad auf.

Homer.

Wir waren zehn Tage auf Capri – eine scheinbar unverhältnißmäßig lange Zeit, wenn man für ganz Italien, Sicilien inbegriffen, nur drei bis vier Monate hat; aber ich lobe und preise jeden Tag, den ich dort verlebt – jeden Tag und jede Stunde, obgleich manche Stunde, ja, mancher Tag mit unterlief, die in einer und der andern Hinsicht keineswegs löblich waren.

Man ist eben nachsichtig, wo man liebt, und ich sagte schon, daß Capri für mich eine alte Liebe war. Hatte ich einmal in der Jugend, ich weiß nicht was, über die Insel gelesen, das ich vollständig vergessen, das mir aber, als ich es las, das Herz für immer bewegt; war in dem Namen selbst ein Zauber – Capri hatte in meinen Träumen von Italien immer eine sehr große Rolle gespielt; es hatte seit Jahren und Jahren seinen Platz hinter Rom und Venedig fest behauptet, und es war mir seltsam zu Muthe gewesen, als ich – in dem Rahmen unsres gebenedeiten Balkonfensters im Albergo d'Inghilterra – die Insel meiner Sehnsucht zum ersten Male erblickte, nur eben hervortauchend aus dem Wasserdunst, und doch die unvergeßlich bizarre Form von zartesten Linien deutlich umschrieben.

Und so hatte sie alle diese Tage da gelegen, wechselnd, wechselnd, immer wechselnd in jeder Stunde, jeder Minute fast, und doch nimmer dieselbe – wie das Leben. – Ein paar Mal war sie hinter dichten Regenschleiern ganz verschwunden gewesen; und mir war zu Muthe, wie Ritter Toggenburg, wenn sich das theure Bild einmal einen ganzen Tag nicht gezeigt.

Es war eine alte Liebe, oder vielmehr die alte Liebe in neuer Form – die schlimmste Wendung bekanntlich, welche die Krankheit nehmen kann.

Es war die alte Liebe für das Rauschen der Wogen am Felsengestade, für den Schrei der Möwen, die über der Brandung flattern, für den herben Duft des Salzschaums, den uns der feuchte Athem des Meeres in's Antlitz haucht, für die Brise, die sich jetzt stärker aufmacht und lustig um unsere Ohren knattert, während uns der alte Carl Rickmann klar zu machen sucht, warum das Schiff, das, für unser Auge kaum sichtbar, da hinten am Horizont segelt, ein Engländer und kein Holländer, und ein Barkschiff und kein Vollschiff ist.

Alter braver Carl Rickmann! Du hattest in Deiner Jugend zu Hause bleiben und Deine alten Eltern und Deine jüngeren Geschwister, und nebenbei Dich selbst redlich nähren müssen, und so warst Du nie, wie die Andern, weit in der Welt herum, sondern im Osten nur bis Petersburg und im Westen nur bis Kopenhagen gekommen; und wenn die jungen Theerjacken von ihren Fahrten auf fremden fernen Meeren erzählten, und was sie da erlebt und erduldet in ihrer lieben Seele – da lächeltest Du wohl halb ungläubig, halb überlegen, als wolltest Du sagen – und Du sagtest es ja auch gelegentlich: das Alles könne sein, oder auch nicht sein, daß es aber – angenommen es wäre – nichts, rein gar nichts sei im Vergleich mit dem, was Einer erlebe, der so fünfzig Jahre auf der Ostsee fahre; – und dann schobst Du Deinen Priem aus der linken in die rechte Backe mit der Miene eines Mannes, der einen Satz aufgestellt, dessen apriorische Gewißheit für jedes normal funktionirende Gehirn evident ist.

Guter alter Mann, dem ich verdanke, daß ich ein Segel handhaben und ein Fahrzeug steuern kann, was hättest Du wohl von den fünf braunen nacktfüßigen Burschen gesagt, welche die Bemannung des großen Bootes bilden, auf dem wir eine Rundfahrt um die Insel machen wollen? Ich vermuthe, Du würdest die gestikulirende, schnatternde Gesellschaft nicht für voll genommen und, Alles in Allem, für »richtige« Windhunde taxirt haben; und daß dieses Wasser, welches ganz die Farbe des Wassers in der Waschbütte hat, wenn der Beutel mit dem Berliner Blau seine volle Wirkung gethan – und nur noch mit einer seltsamen Leuchtkraft ausgestattet ist, die man in der Waschbütte nicht beobachten kann – daß dieses tiefblaue, leuchtende Element »richtiges« Meer sein könne und sei, – ich glaube, es wäre Dir herzlich schwer angekommen, dazu Ja und Amen zu sagen.

Und doch irrtest Du wohl in dem Einen wie im Andern. Daß dieses Meer allen Anforderungen genügt, welche Jemand billigerweise an ein Wasser stellen kann, das nicht der »offenbare« Ocean ist, davon bin ich trotz der Kürze meiner Bekanntschaft mit ihm vollkommen überzeugt; ja, es möchte in manchen, keineswegs liebsamen Eigenschaften: in seiner Launenhaftigkeit und seinem gebrochenen, unregelmäßigen Wogenschlage eine ausgesprochene Aehnlichkeit mit unserm nordischen Binnenmeer haben. Und was die braunen, nacktfüßigen Jungen anbetrifft, – ich erzähle Dir noch gelegentlich ein und das andere Stückchen von ihnen; aber, das kann ich Dir jetzt schon sagen: »in Einem sind sie Dir über!« Die bauchige Flasche, die am Vordersteven beigestaut ist und alle halbe Stunde oder so hervorgeholt wird, um in die Runde zu gehen – Du wirst wieder Deinen grauen Kopf schütteln, aber ich kann Dir nicht helfen – jene große Flasche enthält nichts als Wasser, schieres, mit keinem Tropfen Rum oder Cognac vermischtes Wasser; und es ist die einzige, die an Bord ist, und die sie je an den Mund nehmen während stundenlanger, tagelanger Fahrt – nein, nein, alter Freund! das machst Du ihnen nicht nach!

Es war am Tage nach unserer Ankunft.

Wir hatten gleich am ersten die kleinen Pferdchen bestiegen, mit welchen vor dem Hofthore unseres Gasthofes braune Weiber und halbwüchsige Mädchen oder Buben vom Morgen bis zum Abend auf den Fremden lauern, – der durch diese hohle Gasse kommen und auch gehen muß – und waren zur Villa di Timberio (wie der Capreser hartnäckig den Tiberius nennt) hinaufgeritten, und hatten doch eine Art von Ueberblick der Schätze bekommen, welche das Eiland umschließt und von denen es umschlossen wird: steile, mit niedrigen Cactusbepflanzten Mauern hüben und drüben eingefaßte Felsenpfade: Weingärten, die den Berg hinab- und hinaufklettern; weißschimmernde Häuschen mit flachen oder flachkuppeligen Dächern, an deren fensterlosen, sonneüberstrahlten Wänden der Schatten der Rebe schwankt, oder vielleicht auch der eines Feigenbaumes oder Oelbaumes; Felsenhöhen, die, mit unzähligen Blöcken übersäet, vor Dir aufsteigen und sich hinter und auf einander schieben, in so phantastischer Regellosigkeit, daß auch ein von Haus aus guter und gut geschulter topographischer Sinn nach kürzester Frist in eine hoffnungslose Verwirrung geräth. Blicken wir hier zwischen den Felsenzacken durch nach Süden oder Norden auf das Meer, welches aus der Tiefe herauf in die unermeßliche Ferne leuchtet? Ist das, was da in violetter Pracht herüberschimmert, das Felsengestade der Sorrentiner Küste, oder umgekehrt das von Ischia? Wir wissen es nicht, bis wir wenige Schritte weiter hinauf Eines mit Sicherheit wissen: daß wir hart am Rande der Felsenstirn stehen, die lothrecht ein paar hundert Meter oder so in's Meer fällt, und rechts und links ragen wieder andere Felsenstirnen und starren wieder andere Felsennasen und Felsenzinken und Zacken. Und Du mußt einen durchaus schwindelfreien Kopf haben, um bestätigen zu können, daß der große Stein, welchen der Führer herbeigeschleppt hat, nicht in die Brandung fällt, welche unmittelbar unter Dir weißlich an den glatten Felsen brodelt, sondern, nachdem er kaum die Hälfte des Weges zurückgelegt, an eben diesem glatten Felsen zerschellt.

Ueber diese und noch tausend andere Einzelheiten, die man ebensowenig auf einmal ganz erfassen und erschöpfen könnte, wie man die Steine eines Mosaikbildes mit einem Blicke zu zählen vermöchte, und die man doch alle zusammen haben muß, wenn man eine richtige Vorstellung von dem Wundereiland haben, oder Anderen machen will, waren gestern unsere erstaunten, entzückten, verwirrten Blicke hingeglitten. Wir hatten durchaus das Bedürfniß, der Ueberfülle dieser Eindrücke, die jeder Schritt und jeder Blick nur vermehrte, auf ein Paar Stunden auszuweichen, und uns unser Capri – es fing schon an unser zu sein – vom Meere aus anzusehen, ungefähr wie Gretchen, nachdem sie mit einem ersten gierigen Blick die Schätze des Kästchens durchwühlt, den Deckel für ein Paar Momente zumacht und sich nachdenklich das Gehäuse besieht, das diese Schätze einschließt.

Zwar hatten wir gestern, als wir mit dem Dampfer von Sorrent kamen und erst bei der Blauen Grotte anlegten und hernach an der Marina grande ausgeschifft wurden, schon so Manches gesehen – auch die Blaue Grotte selbst; aber man sollte, wenn es irgend zu vermeiden ist, Gegenständen der Liebe, der Verehrung, ja nur der gespannten Erwartung sich niemals in großer Gesellschaft zum ersten Male nahen, oder man läuft Gefahr, daß die Liebesflamme nicht aufloht, die Verehrung mechanisch wird und die Erwartung hinter sich selbst zurückbleibt. Da stoppt der Dampfer endlich unter dem steilen Felsenufer vor der Stelle, die schon von weitem sich durch die Menge der kleinen Boote, welche dort auf den blauen Wassern schaukelten, als den Eingang zur Grotte angekündigt. Der Dampfer wird umgelegt und geht mit der Steuerbordseite nach der Insel, vor Anker. Alle Welt drängt nach dem Steuerbord, das sich in Folge dessen tief in's Wasser neigt – unbehaglich tief für eine alte Dame, die uns bleichen Antlitzes frägt, ob das mit rechten Dingen zugehe. Die kleinen, zum Theil unglaublich dürftig aussehenden und oft von ganz alten kümmerlichen Männern geführten Boote drängen sich an das Schiff und nehmen ihre Ladung: zwei, drei Passagiere – je nach der Größe ihrer Fahrzeuge. In fünf, sechs Minuten sind fünf, sechs, zehn Boote befrachtet, andere fünf, sechs, zehn Boote folgen; im Nu ist der schmale Raum zwischen dem Dampfer und dem Felsengestade mit einer Flotille kleiner Fahrzeuge bedeckt, die unter endlosem Spektakel der Führer und der ungeberdigen oder ungeschickten Passagiere durcheinander treiben und sich nach einer halbrunden, halbmannshohen Oeffnung drängen, die man jetzt erst gewahr wird, und welche der Eingang zur Grotte ist. Man wird unwillkürlich an das Flugloch eines Bienenstocks erinnert, aus welchem ein, zwei, drei Bienen eine nach der andern leer herauskriechen, und die Geduld von einem Dutzend schwer befrachteter Bienen, die hineinwollen, auf eine allzu harte Probe stellen. Denn wir sind bei weitem nicht die ersten, wie wir nicht die letzten sind, und stoßen, als wir nun endlich doch vor der Oeffnung auf- und abschaukeln und des Augenblicks harren, wo wir auf einer niedrigeren heranrollenden Welle hineinschlüpfen können, beinahe auf ein anderes Boot, das diesen unpassenden Moment zum Herauskommen zu benutzen versucht. Scharfer Wortwechsel zwischen unserm Schiffer und dem der Gegenpartei, während die Gegenpartei uns lachend ein paar Worte zuruft, die wir in dem Lärm der klatschenden, brausenden Wellen und zeternden Menschenstimmen nicht verstehen. Ist dies wirklich der Eingang zu der weltberühmten Grotta azzuro, die unsere Phantasie von jeher mit den schönsten und holdseligsten unter den Nymphen geschmückt? ist es eine Schaubude auf der Leipziger Messe mit der Riesendame und dem dreiköpfigen Kalbe? – Wir haben uns, den eifrigen Warnungen des Schiffers gehorchend, tief in das Boot geduckt, das endlich an der Reihe ist – ein Auf- und Abschaukeln, ein Knirschen der Wände des Bootes an den Felsen, eine momentane Dunkelheit und dann eine wunderliche Phantasmagorie von einem hellblauen felsenüberwölbten Stück Wasser – heller und blauer nach dem Eingang zu, dunkler, graulich verdämmernd an den Rändern der Höhle – von vier oder fünf Booten, die außer dem unsern auf dem kleinen Stück blauen Wassers herumtreiben und zu denen sich eben wieder eines, das durch den Eingang schlüpft, gesellt, und noch eines, dessen Insassen in dem Moment, wo sie sich lachend aus ihrer gebückten Stellung aufrichten, in ein wüstes Geschrei ausbrechen – ich vermuthe, die Akustik der Höhle zu prüfen – bis sich in das Halloh! halloh! der Männer das helle Gekreisch von Damen mischt, die über einen kahlköpfigen, häßlichen Alten, der halbnackt zwischen den Booten in dem hellblauen Wasser herumplätschert, nicht ohne Grund erschrocken sind.

Unser Reisegefährte von Sorrent her – ein liebenswürdiger holländischer Offizier aus den Kolonien – hat sich uns auch zu der Fahrt heute Morgen angeschlossen. Er hat gestern denselben halb phantastischen, halb widerwärtigen Eindruck aus der Grotte zurückgebracht; wir beschließen, während wir unter dem lothrecht aufsteigenden Felsenufer in dem tiefen Schatten, der jetzt – 10 Uhr Morgens – diese nördliche Seite der Insel kühlt, auf der langsam an- und abrollenden Dünung hinrudern, es noch einmal mit der Blauen Grotte zu versuchen. Der Dampfer von Sorrent ist freilich bereits in Sicht, aber wir haben eine halbe Stunde oder so Vorsprung und unter den auf den neuen Fang am Eingang harrenden kleinen Booten die Auswahl.

Wie anders muthete uns heut der Zauber des reizenden Naturspiels an! Heut sahen wir zum ersten Male, daß nicht blos das Wasser in einer ganz unbeschreiblichen weißlich hellbläulichen Farbe leuchtet, sondern auch die niedrige Decke und die Wände der Grotte – besonders in dem ersten Drittel – den etwas dunkleren Widerschein dieses Leuchtglanzes zurückwerfen. Dann fanden wir die Grotte, die uns gestern mit den vielen Booten und den schreienden Menschen befremdend klein erschienen war, viel geräumiger – ungefähr, wie man sie sich nach den Abbildungen vorzustellen pflegt – und, Alles in Allem, auf der Höhe ihres Weltrufes. Auch war der schreckliche kahlköpfige Alte von gestern noch nicht auf seinem Platze – einem Felsenvorsprunge im dunklen Hintergründe, auf dem er, von Wasser triefend und vor Frost zitternd, steht, wenn er nicht »auf der Bühne« ist. Geschwommen aber muß sein und unser Bootsführer – die Leute sind auf diesen Fall immer eingerichtet – war es erbötig. Ich hätte es viel lieber an seiner Stelle und hätte es ein gut Theil besser gethan, denn der Bursche konnte sich kaum über Wasser halten, geschweige denn tauchen und unter dem Wasser schwimmen, wie er uns bei allen Heiligen versprochen.

Und darüber war denn die Zeit vergangen, und als der Mensch endlich wieder in seinen Kleidern war und wir uns dem Ausgang näherten, – da – wahrhaftig! durch den engen halbrunden Bogen, in welchem die Woge auf- und abschwankt und mit dem Licht des Tages kämpft, kommt es hereingeschossen, eine dunkle Masse, aus der sich plötzlich drei Gestalten heben, und: Halloh! Hallooh! Halloooh! erschallt's. Der Dampfer ist angekommen; da liegt er, als wir uns den Ausgang erkämpft, auf derselben Stelle und auf derselben Seite – wie ein verendender Walfisch – während die Passagiere – es mochten heute über hundert sein – sich in die Boote stürzen, in ihrer sinnigen Weise die Nymphe der Grotte anzurufen.

»Froh aus der Todesgefahr«, setzten wir unsere Fahrt fort, zu welcher ich, wie sehr sie mich entzückt hat, Niemand rathen möchte, der nicht an den »Werken des Meeres«, wie Homer sagt, ein Vergnügen empfindet, das einigen Menschen angeboren und anderen unwiderruflich versagt ist. Ich kann mir sogar denken, daß Andere diese drei- oder vierstündige Ruderfahrt um das Felseneiland für ein monotones, langweiliges, durch die Hitze und die Sonnenblende – von der Seekrankheit abgesehen – überaus beschwerliches, und mit Ausnahme einiger weniger interessanter Einzelheiten, undankbares und gar nicht lohnendes Stück Arbeit ausgeben werden. Ich fand die Fahrt (die ich überdies später noch zweimal gemacht habe) entzückend. Sie gleicht, wenn man sich anders denkt, was anders ist, der um Helgoland, nur daß allerdings des Andern für einen bequemen Vergleich unbequem viel ist. Es ist Alles – mit Ausnahme des Meeres, das unserem Nordmeere an Kraft und Hoheit nachstehen muß – so viel großartiger: Felsenwände, die buchstäblich in den Himmel zu ragen scheinen, Felsenthore, durch die ein Elbever mit vollen Segeln fahren könnte, Höhlen in jenen Felswänden, deren mit seltsamen Steingebilden besetzter Eingang haushoch über dem Meere liegt, und die groß genug scheinen, daß

»verbannte Götter
Wohl finden möchten weit genug die Nacht,
um d'rin zu bergen ihr entkröntes Haupt;«

andere Höhlen, niedriger und kleiner, zu denen die Fluth – trotzdem es beinahe Windstille ist – gierig emporleckt; an einer Stelle, wo die Felsen aus der Höhe und von rechts und links sich bis zum Meeresspiegel öffnen, und in der so entstandenen Lücke die Brandung zu weißem Schaum zerpeitscht wird, ein Leuchtthurm, als stände er nur hier, um vor der ungastlichen Bucht zu warnen; ein paar Mal, wo die Felsendächer sich tiefer senken, nicht Blicke auf kultivirtes Land, aber doch eine Ahnung der Möglichkeit, es könnten da oben Menschen ihr Wesen treiben; und dann gleich wieder, als schämten sich die Gewalten der Natur dieser milden Regung, solche glatte Riesenmauern oder ein so toller Wirrwarr von Zinken, Nadeln, Zacken, daß Die, in dem kleinen Menschenschifflein da unten, ein beschämendes Gefühl ihrer Ohnmacht überkommt und ihrer hilflosen Vereinzelung in dieser Natur, die auf Alles eher als auf Menschen gerechnet zu haben, und aller Kreatur freundlicher gesinnt scheint, als gerade dem Menschen. »Unnahbar« – das ist das Wort, und es bezeichnet doch nur die schroffe Felsenstirn und das mitleidslose Auge, mit welchem die Natur dem Hilfesuchenden entgegenstarrt, nicht die Gewalt, die Lust, die Wuth der Zerstörung, mit welcher sie in sinnloser Wahl ihre Opfer ergreift, zerreißt, zermalmt, verschlingt, – wie Polyphem des Odysseus Gefährten. Wahrlich, er könnte hier herum Hausen der Riesensohn des Umuferers; er könnte hier überall hausen; da vor uns ragen ein paar Felsen aus dem Meer, das um sie wallt und weißlich aufschäumt, als seien sie eben erst hineingeschlendert. Es hat sie da oben abgerissen, »das Haupt des großen Gebirges« und den Enteilenden nachgeschickt; sie aber »stürzten sich rasch aus die Ruder.«

Es wäre gut, wenn sie es thäten! wir sind bereits drei oder vier Stunden unterwegs, neben und über uns die glatten Felsenwände, auf denen die Sonnenstrahlen zittern, wie auf einem überheizten Ofen; unter uns, neben uns unabsehbar weit das tiefblaue Meer, von dem sie reflektiren, wie von einem metallnen Spiegel. Wir verschmachten schier unter unseren Schirmen, aber auf die Köpfe der braunen Bursche brennt die Sonne mitleidslos; ihr Geplapper und Geschnatter hat längst aufgehört; immer häufiger hat die bauchige Flasche die Runde gemacht; seit einer halben Stunde ist auch sie leer; schlaffer und schlaffer sitzen sie da, die sonst so munteren Gesellen; lässiger und lässiger ist ihre Arbeit.

Aber es giebt ein Mittel, ein Zauberwort, dem – ich weiß es – jeder von ihnen folgen muß. Ich schwenke den Schirm und rufe: Coraggio! Maccaroni!

Und wie elektrisirt zuckt die Schaar zusammen, aus den dunklen Augen leuchtet es wieder, sie »stürzen sich rasch auf die Ruder«, sie peitschen das Meer, daß es aufschäumt, und wie aus einem Munde tönt's, und von den Felsenwänden wiederhallt's: Coraggio! Maccaroni!

*

9.
Quisisana.

Traun, ein schöner Titel!

Lessing's Nathan.

Quisisana! Hier gesundet man! so heißt unser Gasthof auf Capri, und heißt nicht blos so, mir nicht blos, der ich der freundlichen Hilfe eines milden, reinen Klimas und einer guten reinlichen Herberge gar sehr bedurfte. Denn ich war, ohne es eigentlich zu wissen, krank aus der schlimmen Luft Neapels gekommen, und die versengende Hitze, welcher wir heute Morgen stundenlang schutzlos preisgegeben waren, mochte meinen Zustand nicht verbessert haben.

Federigo sah es mir an, als wir am späten Nachmittage zu einem Spaziergang gerüstet, aus dem Hause auf die Veranda traten, wo er, mit den Beinen baumelnd, auf der niedrigen Umfassungsmauer saß, und seine Blicke zu den schroffen Hängen des Monte Solaro schweifen ließ, an denen sich grauschwarzes Gewölk zu sammeln begann: wir würden in der Nacht eine burrasca, einen Sturm haben und Regen in wenig Minuten – wenn es so schwarz über den Solaro komme, das täusche nie. Wohin wir noch wollten? – Wir fragen nach den Felsen, die Polyphem dem Schiffe des Odysseus nachgeschleudert, und die uns heute Morgen so interessirt hätten Federigo weiß nichts von den genannten beiden Herren; jedenfalls haben sie nie in Quisisana logirt, vielleicht drüben im Pagano, auch die Geschichte von den nachgeschlenderten Felsen ist ihm unbekannt; sollte er mich – meine Aussprache des Italienischen sei musterhaft – aber sollte er mich doch nicht verstanden haben? sollte ein sprachliches Mißverständniß obwalten? Wir lachen; Federigo lacht nicht – er lacht überhaupt selten – sondern führt uns in der Veranda herum nach der Hinterseite des Hauses, auf der wir noch nicht gewesen, und von der man einen prächtigen Blick über ein mit Obstgärten, Feldern, Oelbaumplantagen, Gartenhäusern angefülltes, sich nach dem Meer absenkendes Thal hat, das links und rechts von hohen, mit Ruinen gekrönten Felsenvorgebirgen flankirt wird. Ganz nahe bei dem linken Vorgebirge sehen wir die Gipfel unserer Felsen ragen, die wir sogleich wiedererkennen. Es sind die weltberühmten Faraglioni, belehrt uns Federigo; man gelange auf einem bequemen Pfade in einer halben Stunde zur Punta Tragara, – der südöstlichen Spitze der Insel – wo man sie unmittelbar vor und unter sich habe, aber la pioggia werde nicht auf sich warten lassen, ja es könne un acquazzone – ein Wolkenbruch werden, und ich sähe gar nicht gut aus – Neapel thue Niemand gut – und wir seien ja nicht, wie die täglichen Barbarenschaaren, heute gekommen, um morgen wieder abzureisen, und hinterher den Leuten und sich selbst weiß zu machen, man habe Capri gesehen, und morgen sei auch noch ein Tag.

So sprach Federigo in seinen fetten Gutturaltönen und blickte mich dabei mitleidig aus seinen guten, melancholischen nicht allzu klugen, braunen Augen an; ich war eigensinnig; ich wollte die Stelle sehen, von der »das gesetzlose Scheusal« die Felsen abgerissen; so machen wir uns auf den Weg, der fast ganz in der Horizontale auf einer der oberen Terassen des terassenförmig abfallenden Thales, immer mit dem Blicke über die unteren Terassen weg auf das Meer, sich bis zu der besprochenen Spitze zieht, die freilich hinreichend ausgezeichnet ist, um für sich selbst zu sprechen.

Es ist nicht der höchste Punkt des Vorgebirges, das sich vielmehr noch ein paar hundert Fuß höher, mit Felsblöcken übersäet, aufbaut; es ist nur ein Vorsprung in etwa der halben Höhe, aber immerhin schon hoch genug und schroff genug, daß man für das niedrige Mäuerlein, mit welchem man es eingefriedigt hat, recht dankbar ist. So lehnt man sich denn über die niedrige Mauer und sieht min unmittelbar unter sich die Felsen dem Meere entragen – von diesem hohen Standpunkte viel höher erscheinend, als sie uns heute Morgen vom Meere aus erschienen, ja, so hoch und gewaltig, daß wir dem Sohne des Erderschütterers nothgedrungen noch ein gewaltig Stück Kraft und Größe zu dem ihm bereits in unserer Phantasie verliehenen zulegen müssen. Und da, wo um die Felsen her heute Morgen die Dünung nur eben aufsiedete und hier und da in weißen Schaum zerfloß, branden jetzt die Fluthwellen von dem Nordwest, der sich mit jeder Minute stärker aufmacht, getrieben, mit wilder Gewalt, daß der Gischt überall hoch ausspritzt. Zwischen dem dein Ufer zunächst gelegenen und auch mit demselben noch durch eine schmale Zunge verbundenen Fels und dem Ufer ist eine kleine, fast ganz eingeschlossene Bucht, in die wir heute Morgen hineingerudert waren; wir hatten das Wasser so still gefunden, daß Kinder ihre Papierkähne drauf hätten schwimmen lassen können; jetzt rast es drin auf und nieder und an den Felsenwänden empor, wie ein gefangenes Raubthier in seinem Käfig herumtobt und an den Wänden desselben hinauffährt. Wir können der Luft, dies Schauspiel noch näher zu sehen, nicht widerstehen; wir steigen, wir klettern auf dem steilen, an einzelnen Stellen schwindelhaft steilen, kaum angezeichneten Felsenpfade herunter, während der sturmartige Wind in unseren Kleidern wühlt und uns einzelne Regentropfen in's Gesicht schleudert. Aber wir lassen uns nicht irre machen; und da sind wir unten auf der schmalen Felsenbrücke zwischen dem Ufer und dem ersten Felsen, der, wie ein Thurm aus grauer Riesenzeit, vor uns aufragt, links von uns in dem Felsenkessel die Bestie in dem Käfig, rechts die offene donnernde, schäumende Brandung an dem durch die Stürme und Regengüsse der Jahrtausende zerklüfteten Ufer, das wir in seiner ganzen Ausdehnung bis zum nächsten Vorgebirge übersehen könnten, wenn Sturm und Regen unsere Blicke nicht auf das Nächstgelegene beschränkten. Aber, was wir da sehen, ist interessant genug für den leidenschaftlichen Liebhaber der Natur und den Bewunderer Homers, der ja nur durch den Geist geläuterte und potenzirte Natur ist. Heute Morgen hatten wir die Scylla zu sehen geglaubt; jetzt sahen wir sie wirklich.

Ungefähr zwanzig Meter von uns ist in dem Fels, der glatt sein würde, wenn er nicht durch tiefe, etwas unregelmäßige, mehr oder weniger perpendiculäre Rinnen wie kannelirt wäre, eine mäßig große Höhle. Der Fels, der zumeist vor den anderen ragt, ist der Wuth der Brandung ganz vorzüglich ausgesetzt. Woge auf Woge donnert mit Vollgewalt gegen ihn, und siedet, zu weißem Gischt zerpeitscht, daran empor, hoch und höher, als wolle und müsse sie noch zu der Höhle hinauf, deren Mund in unheimlicher Schwärze über der weißen Sud gähnt. Und plötzlich ist der ganze Fels bis zur Höhle und die Höhle selbst unter einer ungeheuren Woge verschwunden, die alsbald zurückweicht und, indem sie zurückweicht, stürzt aus dem schwarzen Schlund ein schäumender Schwall hervor, dessen Hauptmasse vornüber frei in die Tiefe schießt, während die andere durch jene Kannelirungen in sich schlängelnden weißen Linien abstürzt. Und schon im nächsten Augenblick wiederholt sich das grause Schauspiel, das dem Dichter des 12. Gesanges der Odyssee vorgeschwebt haben muß, ja – was sage ich! – das er nur einfach in seiner grandios-genialen Weise kopirt hat, in den Versen, die uns, als wir sie auf der Schulbank lasen, so mystisch grauenhaft vorkamen; und die doch die lautere, allerdings sehr grauenhafte Natur sind:

»Siehe, das Ungeheuer hat zwölf unförmige Füße;
Auch sechs Hälse zugleich, langschlängelnde, aber auf jedem
Droht ein gräßliches Haupt, worin drei Reihen der Zähne
Häufig und dicht umlaufen und voll des finsteren Todes.
Halb ist jen' inwendig hinabgesenkt in die Felskluft,
Auswärts reckt sie die Häupter empor aus dem schrecklichen Abgrund,
Schnappt umher und fischt sich, den Fels mit Begier umforschend,
Meerhund oft und Delphin, und oft noch größeres Seewild,
Aufgehascht aus den Schaaren der brausenden Amphitrite.
Niemals rühmte sich noch ein Segeler, frei des Verderbens,
Dort vorüber zu steuern; sie trägt in jeglichem Rachen
Einen geraubten Mann aus dem schwarzgeschnäbelten Meerschiff.«

Wir mußten vor der Gewalt des Sturmes unter einem Felstrumm Schutz suchen. Und da saßen wir denn zusammengekauert, während Regen und Salzschaum über uns wegpeitschten, umtost, umdonnert von der Brandung, naß, vom wilden Wind zerzaust, unbehaglich, – und doch seltsam glücklich in einer Empfindung, die sich dem, der sie in solchen Augenblicken nicht spürt, gar nicht beschreiben läßt, und die es mir, der ich sie in hohem Grade besitze, zur vollen Gewißheit gemacht hat, was ich hier niederschreiben will auf die Gefahr, daß die frommen Seelen sich ob so frevler Rede entsetzen: wir Menschen sind, so locker auch scheinbar durch die Kultur das Band geworden, welches uns mit der Natur verbindet, doch leibliche Brüder und Schwestern mit dem ungefügen Fels und der ihn umtanzenden Welle, und mit dem Sturmwind und dem Regen, und haben uns aus dem wilden Reigen, den jene tanzen, nur so auf ein paar Secunden weggestohlen, um einzusehen, daß wir es außerhalb desselben doch nicht lange aushalten können, und werden wieder hinzugehen, wo wir hergekommen, und durch alle Ewigkeiten den Reigen der Brüder und Schwestern weiter tanzen.

Ich sagte es Ihnen ja, murmelte Federigo, als wir eine Stunde später, gänzlich durchnäßt und ich für mein Theil fiebernd und tödtlich erschöpft, in der Veranda das Wasser, so gut es gehen wollte, aus den Kleidern schüttelten, Sie sehen übel aus, Signor, ma – qui si sana!!

Und er deutete mit melancholischem Lächeln und jener Anmuth, die auch den italienischen Kellner schmückt, nach der Thür, über deren Schwelle wir eben in das Haus treten wollten.

Qui si sana! hier gesundet man, wenn es uns sonst gelüstet, noch ein wenig weiter mit den Reigentänzern zu schmollen, in Anbetracht, daß uns die Ewigkeiten bleiben, wieder mit ihnen auf guten Fuß zu kommen; hier gesundet man, muß man gesunden, hier in diesem weißen zweistöckigen Hause, mit seinen einfachen weiß gestrichenen, mit dem einfachsten Meublement ausgestatteten Zimmern, die von ihren Fenstern und den Verandas und Balkonen vor den Fenstern nach Süd und Nord und Ost und West und allen Nebenrichtungen der Windrose die köstlichsten Ausschnitte aus dem köstlichen Ganzen, das man Capri nennt, beherrschen. Besonders nach Süd-Ost und Nord-West, wo hier zwischen den Vorgebirgen über der Thalsenkung die »offenbare« See mit dem Horizonte zusammenfließt, und nach Nord-West (der Front des Hauses) sich der Blick nicht sättigen kann an einem Bilde, das schon gar nicht mehr nach Capri, sondern ein paar Breitengrade tiefer, nach Afrika, gehört: ein Bild, welches zu beschreiben ich mich wohl hüten werde, und von dem ich nur so viel sagen will, daß es von dem geistreichsten Maler aus einem Gewirr von weißen, im Sonnenschein glänzenden Häuser-Mauern, und von den runden Kuppeln eines Gebäudes, das unmöglich ein Christentempel sein kann – schon wegen der Palmen nicht, die hier und da mit ihren schlanken Stämmen zwischen den weißen Mauern aufschießen – und außerdem aus Allem komponirt ist, was ein felsiges Eiland unter diesem Himmel an Busch- und Pflanzengrün und steinbesäten Berglehnen und mächtig ragenden Felsenstirnen leisten kann.

Hier gesundet man! wenn auch im Westen über der mächtigsten dieser Felsenstirnen, dem stolzen Monte Solaro, schwarzgraues Gewölk unaufhörlich lagert und, die Hänge herabstürzend, mit breiten Schwingen über Capri geflogen kommt, den Sturm entfesselnd und unendlichen Regen herabschüttend, fast ohne Aufhören zwei, drei Tage und Nächte, die ich im Bette oder vor dem Kamine zubringe, in welchem ein mit dem Holz der Steineiche genährtes Feuer bald lustig flackert, bald mißmuthig hinschwält. Ich benutze die Zeit, um – ein Buch in den Händen, das ich im Lesezimmer entdeckt habe – einen Ausflug nach Venedig zu machen, und auf dem Markusplatz und über den Rialto und durch schmale Gäßchen und Hinterhöfe, dunkle Emporen von Kirchen und glänzende Concertsäle den Spuren eines Wesens zu folgen, das mir seit meiner Jugend Tagen sehr theuer gewesen ist. Schönes, schlankes Mädchen mit den seelenvollen Augen, der glockenreinen prachtvollen Stimme und dem großen köstlichen Herzen – Consuelo! Daß es euer Loos ist, ihr herrlichsten Geschöpfe, in der Dichtung und ach! im Leben so oft, fast immer eure Liebe an leere Gecken wie Anzoletto oder thatlose Träumer, wie Albert, zu verschwenden! Süße, traurige Geschichte eines genialen Weibes, geschrieben von einem anderen genialen Weibe! es ist ein eigener Genuß, dich hier zu lesen, krank auf diesem Zaubereiland, das in Regen und Nebel gehüllt ist, wie eine Ultima Thule. Ihr edlen Junker aus der Mancha kommt und seht: diese graue, naßkalte Wirklichkeit ist die Wahrheit eurer Träume!

Sie ist es nicht! Der erste Sonnenblick, der durch die grauen Wolken fällt, beweist es. Und der Sonnenblick wird zum Sonnenschein und in dem Sonnenschein wandle ich in dem großen Baumgarten unseres Quisisana. Durch die Mitte des Gartens läuft ein mit leichter weinlaubumrankter Holzlaube übergitterter gepflasterter Weg, und auf beiden Seiten in dem jedenfalls für sie erhöhten Boden stehen die Orange- und Limonenbäume, zu Hunderten, und durch das dunkle Laub glühen die goldenen Früchte. Capri-Sonne trocknet schnell; bald wagen wir uns unter die Bäume und können uns nicht enthalten, ein paar von den Früchten, die gar zu paradiesisch locken, für unsere Rechnung und Gefahr zu pflücken, und wir gehen weiter die schmalen Steige neben der hohen weinlaubübersponnenen Gartenmauer hin, an der eine Leiter lehnt. Ich steige hinauf und wie ich den Kopf über den Mauerrand hebe, – da blauet über der grünenden Thalmulde das Meer unabsehbar, und links neben dem Vorgebirge ragen die herrlichen Kyklopenfelsen der Faraglioni aus dem blauen Wasser, vor Sonnenglanz schier blendend, aber doch nicht so weiß wie der Schaum, der ihre mächtigen Füße umkräuselt.

Hier muß man gesunden! Diese Welt ist viel zu schön, um drin krank zu sein, und selbst die Melancholie sollte nur als Kontrebande passiren. Seltsamerweise treibt man hier – in diesem gebenedeiten Quisisana – ganz offenen Handel damit. Ich will nichts von Federigo sagen; ich glaube, er ist nur fett und sonst in keiner Weise ein Hamlet; aber ein munterer Horatio ist der junge englische Diplomat wahrhaftig nicht, der halbe Tage lang in der offenen Thür seines an der Veranda, in der Vorderfront des Hauses gelegenen Zimmers in einem Easy-Chair sitzt, während seine Beine auf einem Strohsessel ruhen, der bereits auf der Veranda steht. Er soll, nach einem Gerücht, das Federigo ausgebracht hat – der einzige, der mit ihm verkehrt – alle Sprachen der Welt sprechen. Da ist es denn freilich kein Wunder, wenn er sich ein wenig ausgesprochen hat und zumal bei Tische außer zum Essen nie den Mund öffnet. Selbst nicht gegen seinen mehrwöchentlichen Nachbar zur Linken, einen großen schönen Amerikaner mit einem prächtigen blonden Bart, und einer schlanken eleganten Frau, die mit der Fülle ihres lichtbraunen Haares, ihren dunkelbraunen Augen und ihren seinen, jetzt bereits ein wenig scharfen Zügen vor zehn Jahren sehr hübsch gewesen sein muß und noch immer recht gut aussieht. Sein Metier ist, in der Welt herumzureisen und Löwen, Tiger und sonstiges hohes und höchstes Wild zu jagen; seine Frau begleitet ihn überall hin. Sie gleicht in Haltung, Miene, Kleidung im Ganzen einer Engländerin und spricht das Deutsche mit einem englischen Accent, aber sie ist eine Landsmännin, noch dazu im engern Sinne, aus Holstein, Mecklenburg oder da herum, und ich habe mir eine Geschichte von dem Löwenjäger gemacht, in welcher die Schwermuth, die in seinen großen blauen Augen liegt, und der trübe Zug um den feinen Mund der hübschen Frau schicklich erklärt wird.

Ihnen gegenüber sitzen ein alter Kaufmann aus Manchester mit seiner alten Frau. Sie können ihre Abstammung nicht verleugnen, da sie ihre Heimathsprache während eines dreißigjährigen Aufenthaltes drüben noch nicht ganz vergessen, aber das Englische auch noch keineswegs ganz gelernt haben. Wenigstens sprechen Sie es mit einem deutschen Accent, der selbst meinen Ohren weh thut, und unserem Tischnachbar zur Rechten ein Scheuel und Greuel ist. Der alte Manchestermann ist nicht schön und manchmal etwas verdrießlich und mürrisch und er hat einige Ursache dazu, da er an mehr Gebrechen leidet, als ihm selbst und seiner alten Frau und unserm Tischnachbar zur Rechten lieb sein kann, welcher der Zimmernachbar des alten Ehepaares ist, und von der gereizten Stimmung desselben, die manchmal – selbst in tiefer Nacht – in heftigen Worten sich Luft macht, in seiner launigen Weise zu klagen weiß.

Unser Tischnachbar zur Rechten hat eine satirische Ader und so glaube ich, daß das Wort, welches er einem andern Tischgenossen in den Mund legt: er würde nicht ohne ein Gefühl starker Unbehaglichkeit sich in der Schuld des alten Manchestermannes wissen, von ihm selber ist. Freilich könnte es der Andere wohl gesagt haben, der, so lange er sein Kapitäns-Patent noch nicht verkauft, oder die einzige Tochter des Birminghamer Messerfabrikanten sich den hübschen Kapitän noch nicht gekauft hatte, jedenfalls in manches Mannes Schuld gewesen. Jetzt ist er hier mit seiner jungen Frau und dem schwiegerväterlichen Messerfabrikanten und der Schwiegermutter, und die Herren wollen Wachteln schießen und was ihnen sonst in Gebirg und Thal Schießbares vorkommt, und sie sind verstimmt, daß sie durch das Regenwetter bereits drei ganze Tage verloren, was ihnen allerdings um so unangenehmer sein muß, als sie nur drei Monate, Alles in Allem, für Capri haben.

Das hat ebenfalls unser Nachbar zur Rechten herausgebracht. Er ist nicht blos ein scharfsinniger Mann, sondern er hat auch scharfe Sinne, unter andern sehr leise Ohren. Wir haben ihn anfangs für einen Landsmann der Wachteljäger gehalten, und sind verwundert und erfreut zu hören, daß er von Geburt ein Deutscher mit einem kreuzdeutschen Namen ist, und daß wir mehrere seiner nächsten Verwandten in Berlin und Hamburg kennen. Er liebt seine neue Heimath, in die er ganz jung gekommen, sehr, und er hat ihre Sprache wie ein Eingeborener zu sprechen gelernt, ohne darüber die alte Heimath und die Muttersprache zu vergessen. Und als er vor einigen Jahren eine Vergnügungsreise um die Erde machte und sich in St. Franzisko nach Lektüre für die Fahrt über den Pazific umsah, wählte er die »Sämmtlichen Werke« eines deutschen Schriftstellers, um sich dafür abzustrafen, daß er von einem Manne, der bereits so viel geschrieben, noch nie gehört. Die Strafe war verhältnißmäßig gnädig ausgefallen, ja der Name des Autors war ihm in so freundlicher Erinnerung geblieben, daß, als er denselben auf der Adresse eines Briefes las, den sein Tischnachbar zur Linken rechts neben sich auf den Tisch gelegt, er sich mit der Frage an ihn wandte: Verzeihen Sie, mein Herr, sind Sie der – Ihnen heute am Arco naturale begegnete? allerdings – Ich wollte das nicht fragen; ich wünschte zu wissen, ob Sie derjenige sind, welcher! – und er deutete lächelnd auf die Adresse des Briefes. Da ich, zum ersten Male voll in das kluge Gesicht meines Nachbars blickend, keine Veranlassung sah, länger den Tauben und Unwissenden zu spielen, so sagte ich: ja; und Herr L. erzählte mir nun, wann und wo er meine Bekanntschaft gemacht; und als wir vom Tisch aufstanden, waren wir darüber einig, daß wir für den Rest unserer italienischen Reise uns nicht wieder trennen wollten: Pästum, Amalfi – Sicilien. – Vorerst aber müssen Sie uns noch einige Tage für Capri verstatten, sagte ich; ich bin durch mein Unwohlsein arg zurückgekommen; ich habe noch sehr viel nachzuholen; ich bin vor allem noch nicht in Anacapri gewesen, habe den Solaro noch nicht erstiegen. – Muß man das? fragte Herr L. – Es ist einfach obligatorisch. – Und Sie, gnädige Frau? aber was will ich denn! ich bin von jetzt an bei allen Differenzen in der Minorität; ich muß mich fester als je auf Katarozzi stützen. – Und wer ist Katarozzi? – Mein Courier, der fortan – ich werde das mit Ihrer Erlaubniß arrangiren – auch Sie in seinen preislichen Schutz nehmen wird. Sie werden mit ihm zufrieden sein und mehr als das. Sie werden ihn bewundern, lieben; denn er ist, obgleich ihn ein launisches Geschick verurtheilt hat, in der leibhaftigen Gestalt des Dore'schen Sancho durch diese Zeitlichkeit zu gehen – wenn kein Ritter – so doch ein Mann ohne Furcht und Courier ohne Tadel.

*

10.
Ana-Capri.

Hinter dem Berge wohnen auch Leute.

Sprichwort.

Tritt man durch das bei Tage stets offene, von Eseln nebst obligaten Treibern stets besetzte Gitterthor, welches unser Quisisana zur Nacht gegen Unbefugte verschließt, so gelangt man in ein acht Fuß breites, anfangs auf beiden Seiten nur mit Garten- und Hofmauern, bald aber auch mit Häuserwänden eingefaßtes Gäßchen. Ueber die Garten- und Hofmauern blickt und nickt wohl hier und da das dunkle Gezweig und die goldene Frucht der Orange, ja ein und das andre Mal wehen Palmenblätter; in den Häuserwänden sind natürlich auch niedrige Thüren, aus denen ein paar Stufen in den Hausraum hinabführen, und weiter oben sind Oeffnungen, die für Fenster genommen werden können, aber – Alles in Allem – überkommt uns doch, wenn wir – besonders in der heißen Tageszeit – durch diese liliputanisch engen, öden Gäßchen wandern, jene weltfremde Empfindung gänzlichen Verlassenseins und hoffnungsloser Vereinsamung, die einem nach Pompeji nicht wieder aus der Seele will, wie ein starkes Parfüm aus den Kleidern. Man sagt sich ja, daß die Leute diese Gäßchen so eng und diese Häuser so fensterlos bauten und sich lieber in den Häusern gleich noch ein paar Fuß tiefer in die Erde oder den Fels eingruben und solche wunderlich verdeckten Kellergänge aus ihren Höfen, ja aus den Straßen selbst machten, um der Sonne aus dem Wege zu gehen, die Ende April kaum noch erträglich ist und im August unerträglich sein muß; aber wo sind die Leute selbst? In dem Innern der Stein- und Mörtelmassen, ohne Zweifel, wie die Kaninchen in den Minen ihrer Sandhügel, aber weshalb kommen sie nicht hervor? Selbst nicht, als jetzt der Fußtritt des Wanderers durch das leere Gäßchen hallt? Sie müssen doch, wie aus manchen gar nicht mißzuverstehenden Zeichen zu schließen ist, vor nicht allzulanger Zeit dagewesen sein; aber weshalb sich nicht zu seinen Thaten bekennen? weshalb die ausgestorbene Stadt spielen, wenn die wichtigsten Lebensprozesse seiner Einwohner so augenscheinlich – und nicht blos augenscheinlich – normal vor sich gehen? Ja, hätten wir nicht gestern Abend die ziemlich geräumige Kirche übervoll gesehen von Männern und Frauen, die eifrig knieten und sich bekreuzten, und die Stimmen von Dutzenden von Knaben gehört, die aus einer im Hintergrunde verdämmernden Kapelle den betreffenden Heiligen mit Stimmen lobten, die nicht machtvoll wie Posaunenton, aber schrill und scharf klangen, als wären die Sänger ebenso viel langschnäblige Möven.

Doch hier ist der Marktplatz, der genau so aussieht, wie der italienische Marktplatz auf der Bühne eines kleinen, gut dotirten Hoftheaters und auch nicht viel größer ist; und hier sind Menschen, drei vor dem bescheidenen Postbureau, sechs vor einem offenen Laden, in welchem Obst und Wein verkauft wird, und ein Dutzend oder so, die auf den Stufen einer Steintreppe, welche von dem Markt in eine etwas höher gelegene Region des Städtchens führt, und sonst vor den Thüren herumstehen, kauern, liegen. Und ebenso kann man sicher sein, daß man, durch das enge Thor schreitend, welches – wie es sich für eine Theaterdecoration schickt – unmittelbar vom Markt aus durch die zertrümmerte Stadtmauer hinausführt, auf dem Platz vor dem Thore zu jeder Tages- und ich glaube auch so ziemlich jeder Nachtzeit Menschen trifft. Wenigstens haben wir noch immer welche getroffen und es ist das wohl begreiflich, denn einen entzückenderen Platz findet man so leicht nicht, selbst hier in dieser an entzückenden Plätzen überreichen Insel. Es ist auch so recht eigentlich kein Platz, sondern eher ein großer Altan an dem Städtchen, wie ein Balkon an einem Hause. Auch hebt er sich auf zwei Seiten frei aus einer beträchtlichen Tiefe, (die Hinterseite wird selbstredend durch die zertrümmerte Stadtmauer und das Thor gebildet) und ist mit Balustraden eingefaßt, die aus Steinpilastern bestehen, welche durch eiserne Geländer verbunden sind. An diese Steinpilaster, auf diese eisernen Geländer sich lehnend, hat man unmittelbar vor sich den Sattel, durch welchen Capri mit Anacapri zusammenhängt und auf dessen dachartig abfallenden Seiten man links steiler zur piccola marina und rechts auf vielfach gezackten Steintreppen durch ein köstliches breites und weites Gelände langsamer, aber auch bequemer 120 Meter zur marina grande hinabsteigt. Rechts, wohin der Blick ganz frei ist – nach links hemmt ihn etwas der Sattel – blaut über den Wein- und Obstgärten und den Villen des Geländes das Meer, schimmern über das blaue Meer, bald in röthlichem, bald in violettem Duft, die Klippen von Ischia und Procida und die Küste des Golfs von Cap Misen bis Neapel, und Neapel selbst – man glaubt an sonnigen Tagen die einzelnen Häuser zu unterscheiden – und der Vesuv mit seiner Allongeperücke weißlicher Wolken auf dem Haupte und dem blendenden Perlenbesatz der Städte und Städtchen an seinem zum Meer herabwallenden Purpurmantel; bis in der Nähe von Castellamare die Coulisse der hier sehr stattlichen Mauern und Zinnen von Capri sammt dem Fels, auf dem es liegt und an den es lehnt, sich hineinschiebt und das Bild nach dieser Seite abschließt. Es ist, wie gesagt, ein köstliches Bild in seinem überschwänglichen Reichthum von Formen und Farben und malerischsten Motiven in nächster Nähe und weitester Ferne und man kann sich nicht leicht satt sehen; und doch schweift das Auge wieder und wieder zu der gewaltigen Felsmasse, welche, uns gerade gegenüber, des Sattels zu spotten scheint, der sich offenbar redliche Mühe giebt, einen Ueber- und Aufgang zu eben dieser Felsenmasse zu bilden. Aber man braucht nicht lange, um herauszufinden, daß hier kein Ueber- und kein Aufgang ist. Wie der Giebel eines Riesenhauses erhebt sich die graue Wand, da, wo unten der Sattel ansetzt, mit Grün umgeben und in ein und der anderen Spalte viertelwegs hinauf mit Grün betupft, sonst aber kahl und schroff und starr und steil, wie die Felsenwände, die den Wanderer, der von dem Hirschbühl nach dem Hintersee hinabsteigt, zur Linken begleiten, oder wie man die Engelhörner von Meiringen aus sieht; natürlich weniger hoch – es handelt sich im besten Falle nur um 500 Meter. Aber da die Felsenmasse in der Entfernung von kaum einer Viertelstunde, also scheinbar unmittelbar vor uns, über dem bedeutend niedrigeren Sattel aufwächst und sich rechts und links über den Sattel hinaus in's Meer stürzt, mithin jeder Maßstab fehlt, so erscheint sie gewaltiger als manches Gebirge im größten Styl. Indessen – es ist nicht die Höhe der Felswand; es ist auch nicht, daß sie so schroff, so steil, so an allen und jeden Punkten unnahbar und unersteiglich ist. Weshalb sollte sie denn erstiegen werden? es giebt so viele unersteigliche Höhen, die zu ersteigen wir gar keine Neigung verspüren; aber – und das ist es – hinter diesem Berge wohnen auch Leute; hinter dieser Felswand liegt Anacapri; d. h. liegt mehr als die Hälfte der ganzen Insel, die man Capri nennt, liegen viele, viele Morgen Kornfelder, Wein- und Orange- und Citronengärten, Oelbaumplantagen und ein ganzes Städtchen mit zwei Kirchen; und es leben ein paar tausend Menschen da oben, und man wohnt, so zu sagen, nur eine Etage unter ihnen und sieht und hört nichts von ihnen, so wenig, als ob sie im Monde oder auf dem Sirius wohnten.

Nun sind wir ja freilich, sogar schon zweimal, um die ganze Insel, folglich auch um Anacapri, herumgefahren; aber außer den beiden Marinen zu Füßen des Sattels giebt es nichts auf Capri, was auch nur mit einigem Rechte Strand genannt werden könnte; und wenn wir auch wohl bemerkt haben, daß jene Felswand, welche Anacapri gegen Capri kehrt – der Monte Solaro – gleichsam nur eine Coulisse, jedenfalls der bei weitem höchste Theil von Anacapri ist und das Andere nur ein, noch dazu ziemlich starkabfallendes Plateau, – man hat doch nirgends einen Blick auf dies Plateau gehabt. Und steht man nun wieder auf dem Altan von Capri und blickt hinüber nach der Felsenwand, so wird einem die Existenz von Anacapri und der Anacapreser von neuem ungewiß und räthselhaft, und die Arbeit der Menschen, welche im Begriff sind, von dem Thore von Capri, ja von dem Altan aus, über dessen eisernes Geländer wir lehnen, auf der Kante des Sattels hin einen Weg, eine Art von Chaussee nach eben jenem Anacapri zu bauen, erscheint uns einfach verrückt.

Selbst wenn man diesen Weg, so weit er fertig, oder doch wenigstens gangbar ist, geht. Und es verlohnt sich der Mühe, diesen Weg zu gehen, und er ist jetzt unser regelmäßiger Spaziergang. Hat man nur eben erst die letzten Mauern von Capri hinter sich, so öffnet sich auch der Blick nach links auf die offene See, während der Blick nach rechts auf den Busen von Neapel mit jedem Schritte lohnender wird, denn jetzt tritt auch Castellamare hervor und die ganze Küste von Sorrent bis Cap Minerva. Der Weg, der bis hierher in der Horizontale lief, wird steiler. Man würde das Pferd – es ist das einzige auf ganz Capri, Anacapri eingerechnet, und auch nur ein Pferd ad hoc – ich sage, man würde das Pferd, welches auf einem zweirädrigen Karren den Arbeitern auf dem unebenen Plane der neuen Straße Steine zuführt, bemitleiden, wenn man dies Gefühl nicht für die Frauen und Mädchen reserviren zu müssen glaubte, die sich mit dem Pferde in jene solide Beschäftigung theilen und auf ihren Köpfen staunenswerthe Lasten herbeischleppen. Ach! und die Köpfe sind fast durchgängig hübsch, einige sogar entschieden schön – eine Vase, ein Blumenkorb, ein Wasserkrug statt des zackigen schmutzigen Steins und das anmuthigste Bild ist fertig. So ist es ein Jammer vom ästhetischen und volkswirthschaftlichen Standpunkt, ein Jammer, von welchem freilich die schönen Trägerinnen offenbar nichts wissen, denn ihre braunen Augen und ihre weißen Zähne blitzen, als ich ihnen auf ihr: un soldo, Signor! un soldo, Signor! erwidere, daß ich die ganze Tasche voll Soldi haben müßte, wenn ich jedem hübschen Mädchen von der Schaar ein Stück geben wollte, und daß ich die Soldi lieber in ein Paar Franken verwandeln wolle. Und ein zwölfjähriger krausköpfiger Bursch, der auch un soldo, un soldo! geschrieen hat und der jetzt hört, daß ich nicht blos ein bischen italienisch, sondern auch zur Noth einen Scherz verstehe, stellt sich vor uns hin und deklamirt: »Kennst Du das Land, wo die Citronen b–l–u–é–n? und bekommt ebenfalls einen Frank für das glückliche Citat, das er unzweifelhaft einem Landschafter verdankt, dem er am ersten Tage den Weg gewiesen, am zweiten den Malkasten getragen und am dritten Modell gestanden hat.

Wir wollen unsern Weg fortsetzen; aber ein Mann mit einer zusammengerollten Karte unter dem Arm tritt an uns heran und macht uns darauf aufmerksam, daß weiter hin seine Mineurs an der Arbeit sind und die Passage bedenklich wird. Ich bitte ihn, mir zu sagen, wie diese Straße geführt werden soll, um nicht blos bis an die Felswand zu kommen, unter der wir jetzt stehen, sondern auf die Wand hinauf. Er rollt höflich seine Karte aus einander, und zeigt uns, wie es erst noch im Zickzack ein Paar Etagen des Felsens, die er noch zum Sattel rechnet, hinauf, dann am schroffen Felsen, den man aussprengt, hin, dann um den Felsen herum – um Gotteswillen, um diese Kante, wo es lothrecht in die See hinab – dreihundertzwanzig Meter, ganz recht, Signor! hier mündet unsere Chaussee in die alte Treppe, die schon immer von der Marina Grande 786 Stufen hinaufgeführt hat, jetzt aber nur noch des Sonntags benutzt wird und werden kann, da wir bereits etwas höher an dem Felsen sprengen und so die Passage sperren, abgesehen davon, daß die herunterstürzenden Trümmer die Brüstungen abgeschlagen und überhaupt die Treppe arg zugerichtet haben. – Also sie kann doch noch benutzt werden? – Von den Anacapresern, ja – und Sie werden sie morgen, da Sonntag sein wird, hier an der Kante hin kommen und gehen sehen; der Signora möchte ich den Weg nicht empfehlen; und auch nicht Ihnen, Signor.

Wir danken dem höflichen Beamten, der uns in drei Worten das Räthsel erklärt hat. – Noch Eines! also ist Anacapri dem Fremden, wenn er nicht zufällig ein schwindelfreier Hirtenknabe ist, gegenwärtig verschlossen? – Doch nicht, Signor; man landet an der Grotta azzurra oder am Limbo – dem Leuchtthurm von Anacapri – vorausgesetzt, daß das Wetter gut ist.

Und am nächsten Morgen standen wir auf dem Altan von Capri und sahen an der Stelle, die uns der Architekt bezeichnet, durch unsere Operngläser von Zeit zu Zeit puppenwinzige Gestalten sich bewegen, die hinab- und hinaufstiegen, zum größten Theil mit irgend einer Last auf den Köpfen. Am deutlichsten traten sie hervor, wenn sie um die scharfe Felsenecke bogen und den hellen Himmel zum Hintergrunde bekamen, zwischen welchem und dem Meere, das lothrecht unter ihnen lag, sie in der Höhe von tausend und einigen Fußen auf der schmalen zertrümmerten Treppe schwebten, – ein Anblick, der schier ängstlich wurde, wenn es einem für einen Moment gelang, sich zu überzeugen, daß die Puppengestalten keine Bergmännchen, sondern wirkliche Menschen waren, Leute, die da – »hinter dem Berge wohnten.«

Und eine Stunde später landeten wir an der Grotta azzurra (wo natürlich wieder das Dampfschiff von Neapel auf derselben Stelle auf derselben Seite lag und dieselben kümmerlichen Boote dieselben lärmenden Menschen nach dem Eingang der Grotte ruderten) und stiegen einen steilen Pfad, wenn man dergleichen einen Pfad nennen kann, hinauf zu den Leuten, »die hinter dem Berge wohnten.«

Wie es da aussah? Ich darf und will kein Märchen erzählen und doch ist es mir wie ein Märchen. Nicht als ob es da oben »nun erst anfinge« – durchaus nicht! Im Gegentheil, Partien wie der Arco naturale in seiner grotesken Schönheit, wie die Villa di Tiberio in ihrer finstern Majestät, giebt's da oben nicht; selbst der Monte Solaro hat sich seiner unnahbaren Hoheit begeben und sieht auf dieser seiner bescheidenen Rückseite aus wie eine Gobelintapete, wenn man sie umdreht; aber – der Tag war so wunderbar schön, die mildwarme Luft so wonnig zu athmen, der Himmel, der wolkenlos über uns in Glanzlicht schwamm, und das Meer, das wir über die grünen Gelände fort bald hier bald dort aufleuchten sahen, von so intensiver Bläue; – und dann die kleinen weißen Häuser und Mauern und die schmalen sonnigen Gäßchen des Ortes, durch die wir, um eine Kirche zu besehen, gingen, die natürlich nicht des Besehens werth war, und das alte zerfallene verlassene Kloster, in das uns die Schaar der zerlumpten kleinen barfüßigen schwarzäugigen und schwarzlockigen Buben, die sich uns angeschlossen, führte, wir wußten nicht weshalb, und sie wußten es gewiß ebensowenig; – und dann der Spaziergang in der Mittagsgluth nach einem Punkte, von dem eine Aussicht sein sollte, und wo absolut nichts zu sehen war, als was man von tausend und tausend Punkten in Capri besser zu sehen bekommen kann; – und dann das Mittagsessen in der reinlichen Osteria, die sich Il paradiso nannte, und mit Recht, denn reifer können die Aepfel vom Baum der Erkenntniß nicht gelockt haben, als die Orangen, welche wir uns nach einem wahrhaft ambrosischen Eierkuchen zum Dessert selbst aus »dem dunklen Laub« pflückten; – und dann der Niedergang auf der langsam abfallenden Breite des Plateaus durch unendliche Weingärten und Kornfelder und Olivenplantagen zu dem »Limbo«, zu deutsch »Vorhölle«, wo der Leuchtthurm in einer Steinwüste steht und es im August nicht blos eine Vor-, sondern eine ganz regelrechte Hölle zwischen den brennenden Felsenwänden sein muß; und augenblicklich tanzt da unser Boot, das von der Grotte hierher herumgerudert ist, auf den Wellen, die schäumend an dem zackigen Gestein des Strandes brechen, und es bedarf der ganzen Geschicklichkeit unserer nacktbeinigen Freunde und einiger kühnen Tellsprünge unsererseits, bevor wir eingeschifft sind – gewiß, gewiß, es war nichts, gar nichts Besonderes in dem Allen, aber es war so schön, stimmte so harmonisch ineinander, konnte sogar nicht anders sein, wie – nun, wie es eben nur in einem hübschen Märchen zu sein pflegt.

Und wenn denn doch einmal unsere Tage auf Capri gezählt waren, wenn wir von dem stillen Federigo im Quisisana und der donnernden Brandung an den Kyklopenfeen, von dem Arco naturale und dem naturalisirten Manschestermann – von den steinigen Pfaden, auf denen wir gewandelt, von den steilen Höhen, auf denen wir gestanden, von Allem, Allem scheiden mußten, was uns hier in den zehn Tagen an's Herz gewachsen, um für immer da zu bleiben, so war es uns lieb, daß dieser Tag auf Anacapri der letzte war. Auch die noch so schön scheinende Sonne muß untergehen, wir wissen es; die Variationen unseres Lebens haben ja nur diesen Text; aber mag sie wenigstens auch schön untergehen, schön und weitstrahlenden Glanzes, wie sie uns an diesem Tage in's Meer tauchte, als uns eben unsere nacktfüßigen braunen Freunde um die Westspitze der Insel ruderten.

Was ist Ihnen, Madame? Die Sonne blendet Sie? – Coraggio! Coraggio!

*

11.
Paestum

Dich begrüß ich in Ehrfurcht.

Schiller.

Wir waren gestern zur festgesetzten Stunde von Capri abgefahren, und eine wundervolle Fahrt war's gewesen. Tiefblau, wolkenlos der Himmel; tiefblau, regungslos die See, nur die langen, langsamen Schwingungen der Fluthwelle, auf denen das Boot leicht dahinschwebt, wie ein Vogel in der sanftbewegten Luft. Und unsere vier nacktfüßigen Freunde halten die ganze Fahrt über geschwatzt und sich gelegentlich ihr coraggio! maccaroni! mehr im Scherz als im Ernst zugerufen. Es gehört auch wahrlich nicht viel Muth dazu, um an einem solchen Morgen das bischen Ruderarbeit des Lebens auszuhalten, und selbst der Maccaroni glaubt man entbehren zu können. Was glaubt man nicht entbehren zu können, wenn man Alles hat!

Und da nähern wir uns bereits der Küste und haben eine Art von Vorgebirge zu umschiffen, das, flacher abfallend, ziemlich weit in die See hineinragt, und kommen jetzt in das stille Becken, dessen Wasser den Fuß der Pianura von Sorrent bespült – jener schroffen, lothrecht aus dem Meer aufsteigenden Felsenmauer, auf welche die äußersten Mauern der Häuser des Städtchens so scharf aufgesetzt sind, daß man nicht weiß, wo die Natur aufhört und die Menschenkunst anfängt. Jene Häuser aber sind fast ausnahmslos Hôtels: Sirene, Tasso – und wie die verführerischen, vielversprechenden Namen sonst noch lauten – und aus ihren Höfen und Souterrains leiten mit der Kunst des Bergmanns durch den lebendigen Fels getriebene Schachte und Stollen, die hier und da durch grottenartige Oeffnungen Licht und Luft von der See her empfangen, oder auch, an günstigeren Stellen auswärts am Felsen hinabgeführte Treppen nach unten an den Strand, wenn man große und kleine Steine, zwischen denen das durchsichtige Wasser steigt und sinkt, so nennen kann.

Wir waren auf der Hinfahrt nach Capri programmmäßig einen Tag in Sorrent gewesen, genauer einen Nachmittag, der warm und golden über den blauen Bergen, grünen Orangenhainen und weißen Häusern lag; und eine unvergeßliche Abendstunde, in welcher wir auf dem Balcon unsers Zimmers in der Sirena saßen und ein schweres Gewitter beobachteten, das nach Sonnenuntergang, scheinbar von allen Seiten zugleich heraufziehend, alle Sterne am Himmel und auch alles Licht auf Erden ausgelöscht hatte, so daß wir in unserm Balcon, wie von Geisterhänden getragen, über einem unermeßlichen, unergründlichen Abgrund des Chaos zu schweben schienen, bis plötzlich die schwarzen Massen oben auseinanderrissen, weithin die Ränder schwefelgelb und röthlich erglühten, oder ein flammender Strahl im Zickzack herabfuhr und für einen Moment den Abgrund mit dem gespenstischen Conterfei des Zauberbildes füllte, das man den Busen von Neapel heißt.

Denn ein Zauberbild ist es; und wir sahen es heute in seiner ganzen berauschenden Schönheit von dem Altan einer ziemlich verfallenen Villa inmitten eines großen Orangengartens, wohin wir uns von einem Führer hatten geleiten lassen. Viele werden schon vor uns auf dieser selben Stelle gestanden und gesessen haben – es schien mir nach der Miene der Gartenleute, die uns mit reifsten, süßesten Orangen fütterten, ein ganz bekannter Aussichtspunkt trotz der geheimnißvollen Miene des Führers – und so wird der Mann oder einer seiner Collegen noch Viele nach uns an diesen Ort geleiten. Viele, hoffentlich sehr, sehr Viele und doch nicht Alle; und doch sollte jeder Mensch, der einmal in seinem Leben eine gute That gethan oder einmal etwas Schönes, Großes gedacht, empfunden, zur Belohnung dafür und als Entschädigung für den Erdenrest, an dem zu tragen ihm so peinlich ist, einmal an diesem Punkte stehen, und mit Sinnen, die sich selbst kaum noch trauen, den bacchantischen Ueberschwang solcher Erdenschöne einathmen dürfen.

Der Abend dieses herrlichen Tages fand uns in Castellamare, und wir sahen, als wir in die Thür unseres Hôtelzimmers traten, durch das weit offene Balconfenster die glühende Sonnenscheibe neben Ischia in's Meer tauchen, gerade als habe sie den Reisenden gegenüber ihre Schuldigkeit nun gethan und könne schlafen gehen.

Aber in den Herzen der Reisenden zitterte der Reflex von all dem Licht und Glanz des Tages noch lange nach; und sie promenirten noch lange in den schlecht erhellten Straßen der Stadt mit der stereotypen Staffage der abendlichen, aus allen Ständen – vom eleganten Lieutenant bis zum zerlumpten Lazzarone – sich recrutirenden Flaneurs; und an den Hafenquais, wo jene wohlriechenden Wasser italienischer Küstenorte leise an den Quadern plätscherten und die Masten und Körper der Schiffe sich schwarz von dem hellen westlichen Himmel absetzten, und von dem Deck eines großen flachen Bootes der rothe Schein eines Feuers seltsame Lichter in die nächtliche Scene warf.

So ward aus dem Abend, der in's Meer sank, und dem Morgen, der bereits hinter den Bergen auf seine Stunde wartete, der nächste Tag.

Und der nächste Tag fand uns auf der Pilgerfahrt nach den Ruinen der Tempel von Paestum.

Wir hatten diese Fahrt schon von Neapel aus machen wollen. Dort sah man in den Fluren der Hôtels große Affichen, auf welchen sich Signor So und So erlaubte, einem hochlöblichen Publikum mitzutheilen, daß zu der Fahrt nach Paestum, Salern, Amalfi noch Theilnehmer (Herren und Damen) angenommen werden könnten; die Fahrt selbst würde dann und dann stattfinden. Auch ein Engländer haranguirte das reiselustige Contingent in derselben Weise. Man hatte uns von diversen Seiten gerathen, einer oder der andern dieser Lockungen zu folgen, aber sie hatten nichts Verlockendes für uns gehabt; im Gegentheil: mit vierzig oder fünfzig Menschenbrüdern und Schwestern aus aller Herren Ländern zu jenen heiligen Schreinen zu wallfahren, eingepfercht in die quetschende Enge möglichst knapp bemessener Eisenbahncoupé's und Stellwagen – diese Aussicht war uns eher schauderhaft erschienen; und überdies hatten wir den Grund und die Ursache des complicirten Apparates zur Lösung einer, wie uns däuchte, doch ziemlich einfachen Aufgabe nicht recht einzusehen vermocht. Das Ganze schien uns eine Reminiscenz jener glücklich verflossenen Zeit, in welcher man nach Paestum nur in Karawanen ziehen konnte, wie die Pilgrime des Mittelalters – eine Reminiscenz, die aufzufrischen und in einträgliche Praxis umzusetzen, der wohlverstandene Vortheil jener Biedermänner war.

Daß jene Zeit noch nicht lange verflossen, wußten wir wohl; einem Freund von Räubergeschichten kann hier zu Lande noch immer geholfen werden. Hatten wir doch selbst während unseres Aufenthaltes in Neapel im Salon eines Herrn G. aus Frankfurt a. M. eine dieser Geschichten erzählen hören, die um so wirksamer war, als sie der Erzähler selbst, wenn auch nicht handelnd oder leidend, so doch mitleidend selbst erlebt hatte.

In dem Anfang der fünfziger Jahre, als Herr G. zum ersten Male Italien bereiste, wurde er in Neapel sehr befreundet mit einer vornehmen englischen Familie. Zwischen den Herren – die Damen verzichteten in jenen ritterlichen Zeiten auf solche Abenteuer – war ein Ausflug nach Paestum verabredet worden; der Zufall – ein Unwohlsein oder dergleichen – verhinderte Herrn G. an diesem Ausflug Theil zu nehmen und bewahrte ihn vor dem Schicksal des Lords, der die Fahrt nicht länger hinausschieben konnte oder wollte, und in Paestum selbst, ein paar hundert Schritt von den Ruinen, von Räubern aufgehoben und in die Berge geschleppt wurde. Die Räuber, die vortrefflich bedient waren, wußten nur zu gut, wen sie gefangen hatten und forderten ein kaum erschwingliches Lösegeld. Vielleicht war es wirklich für die in Neapel zurückgebliebene Familie unerschwinglich oder doch für den Augenblick nicht aufzutreiben – genug, dieser Augenblick zog sich in die Länge, viel zu lange für die Herren Räuber, die von den Gensd'armen hart bedrängt wurden, und vermuthlich während dieser Zeit ein, wenn auch freies, doch wenig seßhaftes und behagliches Leben führten, das selbstverständlich ihr unglückliches Opfer in des Wortes schlimmster Bedeutung zu theilen hatte. Unterdessen wurde zwischen dem Chef derer vom Berge und der ihres Chefs beraubten Familie eine Korrespondenz geführt, die deshalb nicht weniger lebhaft war, weil sie sich nicht der vom Staate zu diesen Zwecken gestifteten Anstalten bediente. Die Vermittlung war etwas complicirt; im Uebrigen aber die harmloseste von der Welt; es trat dem Herrn G. – denn er führte im Namen der Familie die Unterhandlung – an einer einsamen Straßenecke ein friedlicher Landmann entgegen, der »zwischen Rock und Camisole« ein kleines Briefchen hervorlangte und es ihm in die Hand drückte mit der dringenden Bitte, die Antwort dort und dort unter den und den Stein am Rande des und des Weges zu legen. Oder es erhob sich in irgend einer Kirche aus der Schaar von Betern auf den Stufen einer Capelle ein altes Mütterchen, das scheinbar » un Bajocc« um unserer heiligen Jungfrau willen von dem Signor zu erbitten kam, in Wirklichkeit aber u. s. w.; oder es war ein Gärtnermädchen, das einen Korb Blumen brachte, den Niemand bestellt hatte u.s. w. Nicht ganz so idyllisch wie die Vermittelung dieser Korrespondenz war der Inhalt. Besonders zeichneten sich die Briefe des Herrn vom Berge durch eine gewissermaßen finstere Kürze aus, die, je länger die Sache währte, immer lakonischer und drohender wurde. Er hatte wirklich den vermuthlich sehr überzeugenden Auseinandersetzungen des Herrn G. die großmüthige Concession gemacht, die ursprünglich geforderte unerschwingliche Summe um so und so viel tausend Lire herabzusetzen; aber damit hatte er sein Ultimatum gesprochen, oder doch nicht ganz. Denn eines Tages, nachdem wieder eine Woche vergangen und der Polizeipräfect von Neapel der Familie sagen ließ: er werde demnächst die ganze Gesellschaft haben und man solle doch ja nicht das schöne Geld zum Fenster hinauswerfen – eines Tages erschien jenes fromme alte Mütterchen vor der Wohnung des Signor, der immer so gut zu ihr war, und drückte ihm, als er zur gewohnten Stunde herauskam, ein kleines Packet in die Hand, dessen Inhalt sie Ihrer Excellenz noch ganz besonders empfehle – per amor del cielo! Und der Inhalt war – horribile dictu! – ein wenn auch noch so aristokratisches, so doch sehr blutiges und ganz unzweifelhaft mit einem scharfen Werkzeuge von dem dazugehörigen Kopfe getrenntes Ohr; und dazu ein paar Zeilen in dem Lapidarstyl des Herrn vom Berge: heute sende er das Ohr, übermorgen werde er den Kopf senden, wenn nicht morgen um die und die Stunde und Minute an dem und dem Orte das Geld deponirt sei. – Ich brauche wohl kaum hinzuzufügen, daß das Geld pünktlich geliefert und der Lord ebenso pünktlich seiner Familie zurückgegeben wurde – eines Ohres beraubt und auch sonst die Spuren der Leiden, die er ausgestanden, an sich tragend, im Uebrigen aber wohlerhalten.

Diese und ähnliche Geschichten kamen uns wieder in Erinnerung, als wir an dem hellsten Maivormittage von Battipaglia aus auf dem Wege nach Paestum waren. Wir kamen heute Morgen bereits von Castellamare, hatten in Torre Anunziata eine halbe Stunde oder so hart am Meeresufer auf den Zug Neapel-Eboli gewartet, und denselben eben in Battipaglia, der letzten Station vor Eboli, wieder verlassen. In dem bequemen Coupé der Eisenbahn denkt man nicht an Räuber; auch wenn die Bahn, wie heute von Salern ab, durch ziemlich einsame, hier und da öde Gegenden führt. Auf der Eisenbahn ist man, oder glaubt man sich auf der terra firma moderner europäischer Civilisation und in der Allmacht der Polizei; aber, auf: »des Königs Land- und Hochstraße« – auf dem Bock der offenen Chaise neben Katarozzi, dem Courier der Couriere, ein schwärzliches, verhuzzeltes, finster blickendes Kerlchen als Kutscher und hinten auf dem Trittbrett, auf welchem er bald aufgerichtet steht, um dann wieder auf halbe Stunden spurlos zu verschwinden, ein brauner baumlanger junger Kerl mit einem brutal-stumpfen, von kurzen blauschwarzen Locken umgebenen Gesicht, den der Kutscher uns als » il piccolo mio« vorgestellt hat – in dieser Lage und Gesellschaft würde ich es begreiflich finden, wenn schwachnervige Personen nach der ersten Räubergeschichte auffallend still würden, wenn sie der zweiten nur noch eine zerstreute Aufmerksamkeit schenkten und ernstlich erschräken, als jetzt über der weiten öden Ebene, die sich rechts von uns nach dem Meere erstreckt, Gott weiß woher, zwei Reiter auftauchen, die im vollen Jagen auf uns zukommen und, wie sich bald herausstellt, höchst verdächtig breitkrämpige Strohhüte auf den Köpfen haben und unheimlich lange Flinten quer vor sich auf dem Sattelknopf.

Es wäre Verleumdung, wollte ich behaupten, daß einer von uns auch nur mit der Wimper gezuckt hätte, als die beiden Reiter unmittelbar hinter unserem Wagen über die Landstraße setzten und auf der andern Seite in unverminderter Eile weiter ritten; aber es würde Großsprecherei sein, wenn ich in Abrede stellte, daß wir für die Wohlthat der Existenz von Bersaglieri im Allgemeinen und deren häufiges Vorkommen auf der Landstraße von Battipaglia nach Paestum im Besonderen nicht empfänglich gewesen wären. Noch vor wenigen Jahren war jeder Reisende angehalten, von Battipaglia oder Eboli aus eine Escorte von berittenen Gensd'armen, welche zu diesem Zweck an beiden Orten stationirt haben, mitzunehmen. Die Einrichtung hatte ihr Unbequemes für den Reisenden, der, wenn nicht für Sold und Tractament, so doch durch Cigarrenspenden und so weiter für die gute Laune seiner Begleiter zu sorgen hatte, und von dem Staub der seinen Wagen umtrappelnden Pferdehufe gewiß vielfach belästigt wurde. Die neue Institution, den ganzen drei bis vier Stunden langen Weg von Bersaglieri zu Pferde und zu Fuß abpatrouilliren zu lassen, ist eines polizirten Staates, welcher die Romantik des Räuberwesens noch nicht überwunden hat, entschieden würdiger. Die Leute sehen in ihrer bequemen grauen Jägertracht, derben Schuhen und Leinwandgamaschen so diensttauglich und mit dem breitkrämpigen Filz, von welchem der riesige Federbusch herabhängt, so phantastisch aus, daß sie ebensoviel vom Soldaten wie vom Briganten zu haben scheinen, ungefähr wie der echte Schäferhund eine schöne Mitte hält zwischen Isegrimm im Walde und Phylax auf dem Hofe.

Es muß, ganz abgesehen von der etwaigen Gefährlichkeit, ein ungemein anstrengender und ermüdender Dienst sein, den die braven Leute hier haben, und ich will in ihrem und besonders auch ihrer Herren Offiziere Interesse annehmen, daß sie oft abgelöst werden. Jetzt – in den ersten Tagen des Mai – wehte doch noch ein frischerer Hauch durch die Luft und hier und da war doch die nach dem Meere zu unabsehbar breite und nach der andern Seite von mehr oder minder entfernten Bergzügen begleitete Ebene hier und da mit dem Dunkelgrün vereinzelter Bosquets und dem hellen Grün einer gelegentlichen Korn- oder Grasfläche betupft; aber wie mag das hier sich athmen lassen, und wie mag das hier aussehen, wenn die Juli- oder Augustsonne Alles zu einer braunen Wüstenei ausgedörrt hat, und aus den Marschen des benachbarten Meeres und aus den faulen stagnirenden Sümpfen der Bäche und Flüßchen, die im Sommer von den Bergen durch diese Wüstenei einen Weg zum Meere suchen und nicht finden, giftige Dünste aufsteigen, um alles höhere animalische Leben zu tödten, das diese Vernichtung der Vegetation überdauern zu können glaubt. Auf die Dauer geht es freilich nicht; die alte Poseidonia hat es erfahren!

Aber noch ist von den Ruinen nichts zu sehen. Wir kommen an das umbuschte Ufer eines Flusses, der breit genug ist und sich tief genug in den Marschboden gewühlt hat, um eine stattliche Brücke aus starken Quadern nöthig zu machen, neben der in geringer Entfernung die Trümmer einer zweiten, ebenfalls steinernen Brücke von der Winter-Gewalt des Wassers, das jetzt so sommerlich bescheiden thut, Zeugniß abgeben. Der Fluß ist der Sele (Silarus bei den Alten), aus dessen Uferschlamm und Röhricht nach den Reisehandbüchern Büffel die dummen breiten Köpfe nach dem vorüberziehenden Wanderer erheben müssen; aber die Büffel kommen heute ihrer Pflicht nicht nach, oder sind gestorben, verdorben, – jedenfalls sehen wir keine Büffel.

Die Straße wendet sich jetzt mehr nach rechts dem Meere zu; während von links die Berge näher herantreten – überaus häßliche Berge, die einzigen häßlichen, die ich in ganz Italien gesehen zu haben mich erinnere – besonders einer, der sich lang und langweilig, uns seine zerrissene kahle Seite zukehrend, in die Ebene hineinschiebt und dann plötzlich gänzlich unmotivirt, in sträflich unschönen Formen abbricht – ein wahres Monstrum von einem Berg, als habe der Teufel dem Schöpfer das Bergeschaffen nachmachen wollen und es nun endlich »so herrlich weit gebracht.« Und dazu weist Katarozzi noch nach einem Dorfnest, das da irgendwo in einer Falte dieses Bergdickhäuters halb versteckt lauert und sagt uns – auf deutsch – daß es ein Haupträubernest sei und in den Peripetien des höchst ernsthaften Räuber- und Gensd'armenspiels, auf dessen klassischem Boden wir uns eben befinden, eine sehr bedeutende Rolle gespielt habe. Jetzt freilich müßten die Biedermänner da oben nothgedrungen Friede halten. Requiescant in pace!

Es bedarf noch einer Stunde monotoner Fahrt auf dem staubigen, schattenlosen Weg – den einzigen Schatten gewähren die Sonnenschirme und Katarozzi's breiter Rücken – um zum Ziele zu gelangen. Ich habe die ganze letzte Zeit rückwärts gesessen und mich wohl gehütet, mich umzuwenden und einen neugierigen Blick nach vorn zu werfen – ich will den Eindruck voll und ganz haben – ich will mich überraschen, wenn die Götter wollen, erschüttern, überwältigen lassen.

Der Wagen hält – in der Nähe einer Osterie, die hart an der Wegseite liegt und in dem grellen Sonnenschein unsäglich elend und verfallen aussieht. Und dann, mich im Wagen aufrichtend, erblicke ich auf der andern Seite, in der Entfernung von einigen hundert Schritten, inmitten der mit niedrigem Buschwerk hier und da betupften und sonst mit allerlei wirrem Pflanzenwerk übersponnenen Ebene ein paar niedrige, durch unweite Zwischenräume getrennte Bauwerke, die unter dem weiten wolkenlosen Himmelsdom auf der weiten einödigen Fläche so verloren dastehen, so schutzlos, zeitlos, rechtlos.

Auch diesmal schien mir wieder der schwärmerische Glaube, welchen ich allen künstlerischen Darstellungen Italiens in früheren Jahren entgegengetragen, einen bösen Streich gespielt zu haben. Wie oft, wie oft hatte ich im Leipziger Museum vor jenem großen Bilde Calame's gestanden, das den Ruinen von Paestum eine so tief empfundene Elegie singt! Wie oft hatte ich mich auf die Säulentrommel gesetzt, die da rechts im Vordergrunde umgestürzt und halb vergraben in Ginster und Rankenkraut liegt, und hatte meine trauernden Blicke schweifen lassen über die wellige Ebene, wo die rothen Abendlichter auf den Hebungen mit den Schatten in den Rissen und Sprüngen des Bodens ein seltsam phantastisches Spiel treiben, hinüber zu der schönen Tempelruine, die in diesem Licht wie von einem höheren Leben, als welches sonst dem von Menschenhand geformten Stein zukommt, durchleuchtet und durchglüht ist. Und weiter die Ebene bis zu dem schmalen blauen Streifen, mit welchem das ewige Meer, das nie unterworfene, diese Einöde, welche sich von der Menschenherrschaft wieder frei gemacht, zu begrüßen scheint. Und aufwärts zu dem Abendhimmel, der in köstlichen goldgeränderten Wölkchen, als transparenter Baldachin, über einem Künstlertraum schwebt. Denn ein Künstlertraum ist das Bild. Wo seid ihr, ihr Zauberlichter, wo bist Du, himmlische Aureole, wo ist der ganze schöne Spuk, mit welchem Calame diesen Erdenfleck übersponnen hat, wie die Elfen und Geister in Titania's Gefolge einen Hain, in welchem die Königin für die Nacht ihren Oberon erwartet?

Es ist immer das alte Lied! Verwunderung, Enttäuschung, Rathlosigkeit im ersten Augenblick; dann ein Aufdämmern der Würde und des Werthes der Wirklichkeit, welche an die Stelle der Illusion getreten, schließlich der Triumph der Wirklichkeit über alle Illusion.

Wie winzig waren mir anfänglich die Ruinen erschienen, und wie wuchsen sie förmlich sichtbar, je länger wir zwischen ihnen umherschweiften, bald hier, bald dort verweilend, um mit unseren Blicken diese ernsten, großen Linien der mächtigen Säulenschäfte mit ihren kräftigen Cannelüren, der alterthümlich weich ausladenden, noch an ägyptische Kunst anklingenden Kapitäle, des schweren, fast zu schweren Architraves nachzuzeichnen. Eine aufgescheuchte Dohlenschaar flattert krächzend über dem Gemäuer in der blauen Luft, und an den Säulenschäften, an den mächtigen, zerstreut umherliegenden Blöcken huschen grüngoldene Lacerten eifrig hin und her. Als wir aus einiger Entfernung auf den Neptunustempel zurücksehen, glüht, trotz des grellen Mittagslichtes, der alte Travertin, aus dem der herrliche Bau besteht – der Stucküberzug ist glücklicherweise längst verschwunden – wie echte Bronze.

Wir sind auf ein paar von Epheu und Schlingkraut überwucherte Mauerreste geklettert, die von dem Führer und von unserm Handbuch als Porta Maritima bezeichnet werden. Wie lange mag es her sein, daß durch dieses »Thor« die Landleute ihren mit Frucht- und Blumenkörben beladenen Esel – Poseidonia war für ihre Rosen berühmt – aus- und eintrieben, und die Schiffer und Fischer vom Hafen her die Waarenballen von der letzten Fahrt und den Fang der verflossenen Nacht zu Markte brachten! Wie stattlich mag das Thor in jenen Blüthetagen der rosenreichen Poseidonia gewesen sein – und jetzt! lieber Himmel, zu welchem Nichts doch stolze Menschenwerke zusammenschwinden können!

Vier solcher Thore, berichtet uns unser Reisehandbuch, führten in die Stadt – wenn man ihre Ruinen zusammennimmt, wird noch kein halbes daraus; von der Stadtmauer soll sich die ganze, eine Stunde lange Linie noch verfolgen lassen – wir wollen es glauben, obgleich wir in Wirklichkeit nichts davon bemerken, ebenso wenig wie von dem Flüßchen Salso, das an der südlichen Seite parallel mit der unsichtbaren Mauer fließen soll, oder von der Gräberstraße vor einem andern der vier unsichtbaren Thore – der Porta Aurea – wie das klingt! – und von noch diversen anderen Herrlichkeiten, die sich vermuthlich nur dem gefeiten Auge der wirklichen oder nachgemachten Gelehrsamkeit enthüllen.

Aber die beiden andern Tempel, die sogenannte Basilika und den Cerestempel besuchen wir; sie kommen nicht gegen den prächtigen Neptunustempel auf, doch bilden sie eine stattliche Begleitung wie Hofleute im Gefolge des Königs. Unser Gefolge besteht aus dem offiziellen Custos der Tempel, einem noch jungen hübschen Mann in halb militärischer Tracht, und zwei Bersaglieri, die im Moment, als wir aus dem Wagen gestiegen, mit bescheidener Festigkeit an uns herangetreten sind und uns seitdem noch keine Sekunde verlassen haben. Ja, als ich einmal, um wo möglich den Standpunkt des Calame'schen Bildes zu gewinnen, mich von der Gesellschaft entferne und durch Ginster und Rankenkraut nach einer kleinen Erhöhung schreite, die hundert Schritte oder so abseits liegt, höre ich ein Geräusch hinter mir und sehe, mich umwendend, einen der Soldaten, der mir folgt, wie ein Schutzmann seinem Gefangenen. – Aber ich werde sofort zurückkehren. – Si, si, Signor, ma –

Es war seine Pflicht; und der Aufseher, mit dem wir noch ein wenig plaudern, nachdem wir ihm die nöthigen kleinen Photographien abgekauft, die sein Pudel in einem rothen Tuch während dieser ganzen Zeit neben ihm hergetragen hat – ein Trinkgeld anzunehmen, ist ihm streng verboten – der Aufseher bestätigt uns, daß jene Vorsichtsmaßregeln gerechtfertigt sind, so übertrieben sie scheinen. Man hatte einmal eine Zeit lang die Sache etwas leichter genommen; und die Folge war, daß bei jener Porta Maritima, auf deren Trümmern wir noch eben gestanden, fünfhundert Schritt von dem Wachtposten eine Gesellschaft total ausgeraubt wurde von einem halben Dutzend Briganten, die sich plötzlich aus einer Terrainfalte erhoben, und ebenso geheimnißvoll nach vollbrachter That verschwanden. Wir meinten, daß, wenn die Sachen wirklich so lägen, für ihn – den Aufseher – die Situation doch Alles in Allem ziemlich unbehaglich sein müsse. – Weshalb? ich gehe hier bei Tage und bei Nacht umher ohne Furcht und bin noch nie belästigt worden. Und warum sollten sie mir auch was thun? Sie wissen: ich bin so arm, ärmer als sie. Und dabei zeigte der Bursch seine weißen Zähne und seine braunen Augen lachten und ich dachte an das Beranger'sche:

Les gueux, les gueux!
Sont des gens heureux,
Ils s'aiment entre eux –

selbst wenn der eine Custos und der andere Brigant ist, und sie sich pro patria gegenüber auf der Mensur stehen – auf gezogene Karabiner.

Unsere Zeit war um, wenn wir in Battipaglia den letzten Zug nach Salern erreichen wollten. Die Trennung wurde uns nicht leicht; es ist ein mächtiger Zauber, der diese Grabstätten alter Kultur umwittert, und er hat die seltsame Eigenschaft, mächtiger zu werden mit jeder Stunde, die wir uns seinem Einfluß hingeben. Aber es mußte eben sein. Da auf der sonnigen Landstraße, von welcher der Wind kleine Wolken Staubes seitwärts in das verstrüppte Feld wirbelt, hält unser großer offener Wagen nicht weit von der Osterie, die in dem scharfen grellen Licht mit jedem Moment elender und räubermäßiger aussieht. Ein paar Soldaten lungern in der Nähe umher und lassen sich die Cigarren schmecken, die ihnen die Signori geschenkt. Die wenden sich noch einmal, einen letzten Blick nach der Ebene meerwärts zu werfen, auf welcher der Neptunustempel und seine zwei Begleiter stehen – wie König Lear auf der Haide mit Edgar und dem Narren. Wo sind die hundert Ritter, wo die Diener und Knechte? wo der ganze königliche Troß? Alles zerstoben, gestorben, verdorben – und ihr hinausgestoßen so baar, so bloß, so jeder Laune des Wetters, jeder Unbill der Elemente, jeder Brutalität der Menschen preisgegeben!

Und doch noch königlich – jeder Zoll ein König!

Wessen unterfängst Du Dich! Laß doch Jeden sich die Sache in seiner Weise zurecht legen! Calame's zauberisch schöner Sonnenuntergang hat Dir den ersten Eindruck verwirrt und gestört, der Du dazu verurtheilt warst, dieselbe Scenerie in diesem grellen Sonnenlicht zu sehen, das Dir die Augen blendet; und so werden Andere nach Dir kommen und Deinen poetischen Vergleich nicht minder störend und verwirrend finden, weil sie sich unwillkürlich, im Bilde des schwachsinnigen Alten, eine wankende epheuumrankte Ruine vorgestellt haben, und nicht diese straffen, machtvollen, festgefügten Basen und Säulen. – Nein, nein! begnügen wir uns, wenn wir je über diese Dinge zu Andern sprechen, zu sagen, was ist –

Es ist die höchste Zeit aufzubrechen! sagte Katarozzi.

*

12.
Von Salern nach Amalfi.

Qu'y a-t-il de plus beau
qu'un chemin!

George Sand.

Auf der Ostseite von Capri, wo die schwindelhohen Felsenufer am tollsten durcheinander und übereinander klettern und jede dem wirrsten Traum nur träumbare Form oder Unform von Zacken, Zinken, Spitzen und Nadeln annehmen und unzählige Schlüfte und Klüfte, Höhlen und Thore bilden (unter Andern den berühmten Arco naturale), hat man – unmittelbar über jenem Arco – zwischen zwei steil abfallenden Felsen hindurch, deren Fuß in dem blauen Meer und deren Haupt in den blauen Himmelslüften badet, ein allzeit wunderbares Bild, das aber gegen Abend in dem schönsten Lichte steht.

Man sieht tief unter sich das Meer – an einem ruhigen Tage, von dieser Höhe aus gesehen, glatt wie ein Landsee. Ueber die glatte, wie tiefblauer Sammet sanft glänzende Fläche ziehen Schiffe, deren Segel jetzt weiß schimmern, jetzt sich verdunkeln – nicht in dem Schatten irgend einer Wolke, denn es ist auch keine Spur eines Wölkchens am Himmel – sondern weil sie beim Kreuzen, bei irgend einer geringfügigen Wendung des Steuers in eine andere Stellung zum Licht gekommen sind. Unter den Schiffen ist eine Fregatte, ein Holzschiff von der älteren stattlichen Konstruction, die jeden Zoll breit Segeltuch ausgerefft hat, um mit dem flauen Ostwind durch die Meerenge zu kommen. Das mächtige Schiff erscheint so groß, wie eines jener Wunderwerke, welche in den Schaufenstern der Tabaksläden in Hafenstädten mit dem Mohrenknaben alterniren, der vor Freude über die ungeheure Cigarre, die er in der Hand hält, alle seine weißen Zähne zeigt.

Drüben aber jenseits der Meerenge ragen die Felsen der Sorrentiner Küste, steil und schroff; vielleicht nicht überall so steil und schroff, wie es scheint, aber die Entfernung beträgt an der schmalsten Stelle fünf bis sechs Kilometer und man kann von den Einzelheiten wenig mehr erkennen – eine einzige dunkelviolette Felsenwand, deren Fuß das tiefblaue Meer in scharfer Linie abschneidet, nur daß manchmal in blendender Weiße – wie der Strahl aus einer Fontaine – die Brandung hoch, in Wirklichkeit gewiß haushoch, an der violetten Wand emporleckt.

Die Felsenwand endet nach rechts in der Punta della Campanella; und schwingt sich dann scharf nach Osten, eine lange, lange, vielfach sich ein- und ausbiegende Linie felsiger Küste bildend, die anfänglich sich noch compact genug darstellt, dann immer durchsichtiger wird, bis sie manchmal ganz verschwindet, wie die Sterne der Plejaden; und dann wieder hier und da hervortritt, oder manchmal auch nur hervorzutreten scheint. Diese allmälig im Doppelglanz der sinkenden Sonne und des leuchtenden Meeres verdämmernde Felsenküste ist der prächtige Bogen des Busens von Salern, an welchem Paestum, Salern selbst und Amalfi die hauptsächlichsten Punkte sind, nur daß wir sie natürlich von Capri aus in entgegengesetzter Reihenfolge vor uns haben.

Und an der Straße, die an diesem Felsenufer sich hinzieht, fahren wir an dem schönsten Maienmorgen mit demselben Salerner Geschirr, das uns gestern bereits von Battipaglia nach Paestum und zurückgebracht hatte; auf dem Bock vor uns der kleine schwärzliche Kutscher und der ehrliche breite Rücken Katarozzi's, hinter uns auf dem Trittbrett, von Zeit zu Zeit auftauchend, um dann auf Stunden zu verschwinden, jener baumlange Schlingel, den der Kutscher » il piccolo mio« nennt. In welcher Situation » il piccolo mio« gestern die lange Fahrt durchgemacht hat und heute durchmacht, ist mir ein Räthsel und wird mir immer eins bleiben. Denn wenn ich ihn mir auch, sich mit Händen und Beinen anklammernd, unter dem Wagen hangend, oder, mit einer Hand anfassend, hinter dem Wagen herlaufend vorstelle – ein Mensch ist doch keine Fledermaus und ist doch auch kein Hund, für einen Menschen aber – besonders von dem herkulischen Bau des piccolo – ist auf dem mit Koffern belasteten Trittbret absolut kein Platz; kurz: il piccolo ist eine jener räthselhaften Existenzen in dem Staub der Landstraße des Lebens, über die wir, bequem in den Fond des Wagens gelehnt, gelegentlich unsere Bemerkungen machen, wenn gerade der Weg nichts besonders Interessantes bietet.

Das kommt nun heute kaum vor. Der Weg ist ein Wunderweg, selbst im Vergleich zu dem mit Fug und Recht viel bewunderten von Sorrent nach Castellamare. Zwar die Lieblichkeit der Weingärten und Oelbaum-Gelände, der Limonen- und Orangenhaine, die anmuthige Abwechselung tief eingeschnittener Thäler und anmuthiger Bergformen – das fehlt hier; oder kommt doch nicht zur rechten Geltung, zum vollen Ausklingen vor der tiefernsten Grundstimmung einer Felsenküste, die auf Meilen baumlos, schattenlos, mitleidslos lothrecht in's Meer hinabfällt, oder hinabzufallen scheint.

Denn natürlich thut sie es nicht in Wirklichkeit; aber man hat den Eindruck davon; die grandiose Regel imponirt so, daß man die Ausnahmen nicht rechnet, daß man sich erst daran erinnern muß, um dann allerdings inne zu werden, wie häufig sie sind und welches Interesse sie dem Beobachter gewähren.

Oder ist es nicht interessant, ja wunderbar zu beobachten, wie ein winziges Bächlein, das, da oben im Gebirge entspringend, sich durch tausend und tausend Hindernisse hindurch windend, endlich in einer tieferen Spalte den Weg zum Meere gefunden (gewiß sich auch eben diesen Weg, soweit an ihm war, selbst gearbeitet hat), wie das hier unten ein Dorf, ein Städtlein, eine Stadt gründet? In des Wortes eigentlichster Bedeutung. Denn mit dem Geröll und dem Sand, den es aus dem Gebirge im Lauf der Jahrtausende herabführte, schaffte es vor der glatten Felsenmauer den Vorstrand, den Grund und Boden, auf dem das Dorf, das Städtchen, die Stadt sich aufbauen konnte. Und auch das ist noch nicht einmal richtig. Man kann auch auf dem Felsen, in dem Felsen bauen – man sieht es hier an dieser Küste oft genug – aber seine Boote, seine Schiffe am glatten Fels in die Brandung legen, das kann man nicht. Dazu gehört der Vorstrand, la marina, wo die Schiffe kommen und gehen, auf dem man sie bergen kann, wenn der Sturm droht. Und von dem Meere und den Werken des Meeres lebt die Stadt, die dann immerhin sich an dem Felsen hinauf und in den Felsen hineinbauen mag, wenn sie nur diese Schwelle unscheinbaren Sandes vor ihrer Hausthür hat, von dem jede Quadratruthe kostbarer ist, als eine Quadratmeile der stolzen Felsen.

So, genau so, sind alle die Städtchen an dieser Küste entstanden: oben der Bach im Gebirge, die Spalte, in welcher er herabgekommen ist, das Thor, durch das er zuletzt aus der Küstenfelsenwand heraustritt, die sandige Schwelle vor dem Thor, auf die der Mensch seinen Fuß hat setzen können – und eines Weiteren bedarf es bekanntlich für diesen seltsamen Gast nicht, damit er bald Herr im Hause sei.

Freilich, er hat hier um diese Herrschaft ehrlich kämpfen müssen. Wir, die wir in schlimmen Jahren manchmal zu ein paar Monaten Schnee und Eis und auch sonst unzweifelhaft zu diversen Extra-Mängeln dieser mangelhaften Erde verurtheilt sind, haben die neidische Tendenz, uns das Leben des Südländers als ein ewiges dolce far niente unter einem ewig blauen Himmel vorzustellen. Was das mit dem Himmel auf sich hat – auf diesen Blättern steht's zu lesen; – ich habe erst in Italien verstanden, weshalb man dem Jupiter Pluvius ein besonderes Ressort in den himmlischen Angelegenheiten eingeräumt hat; und was das far niente betrifft – man habe doch nur die Güte, die Augen ein ganz klein wenig aufzuthun, und, wenn die schläfrige Phantasie sich so weit ermuntern kann, den Versuch zu machen, eine Vorstellung zu gewinnen von dem Zustandekommen dessen, was man hier vor und neben und unter sich sieht.

Hier, wo wir uns abermals einem jener kleinen Küstenorte nähern und die Straße, die sich eine Zeitlang auf der Höhe gehalten, allmälig sich senkt, beginnen bereits einzelne Häuschen, Häuser, manchmal stattliche Villen besonders günstig gelegene Punkte zu schmücken. Die günstige Lage aber besteht darin, daß man überhaupt hat hinaufgelangen können auf Treppen, die man Stufe um Stufe in den lebendigen Fels gehauen, durch Gänge und Stollen, die man hinein und hinauf durch den lebendigen Fels gearbeitet hat. Und wenn man Alles, was zu dem Hause gehört, nun glücklich diese Hühnersteige hinaufgeschafft und zusammengefügt, so war das Haus fertig und mochte lange so stehen; aber wie ist das mit dem Garten, der da um das Haus herum terassenförmig den Felsen krönt und die schrägen Hänge hinabgearbeitet ist? Jede Schaufel Erde mußte hinaufgetragen werden – das versteht sich; aber wie sie da oben bewahren vor dem Regen, der hier, in diesem Klima, wolkenbruchartig herabstürzt; vor den Bächen, die sich im Nu oben bilden und blindwüthend nach dem Abgrund rasen? Welche Futtermauern, welche kunstvolle Rinnsale und Kanäle gehören zu dem Schutz so gefährdeter Pflanzungen? und wie oft nützt aller Schutz nichts, und die mühselige Arbeit hat wieder von vorn zu beginnen! Und wenn es nur noch Ziergärten wären! Aber der Bauer, der seine Artischocken und sein Broccoli pflanzt; der Winzer, der seine Reben zieht, sie sind ja alle in derselben Lage. Und welche Weinberge sieht man hier! wahre Wunderwerke, die von weitem ganz den fabelhaften Bauten gleichen, welche auf alten Gemälden den babylonischen Thurm darstellen: zwei- bis dreihundert Fuß hohe, von der Basis bis zur Spitze in wage- und lothrechten Stufen abgebaute Pyramiden, nur daß die Stufen jetzt mit frischem Grün gekrönt sind, durch das im bräunlichen Herbst die dunklen Trauben blicken werden. Und keine Sclaven haben unter des Treibers Peitsche für den Hochmuthsteufel eines Pharao dieses Wunderwerk auf- und ausgeführt, sondern freie, arme Menschen, die für Weib und Kind Brot zu schaffen halten. Und Weib und Kind haben wacker mitgeholfen und helfen täglich wacker mit, wie Du sehen kannst, wenn Du willst. Respect vor diesen Nichtsthuern!

Und nun diese Brücken, die wir, während wir uns dem Einschnitt mehr und mehr nähern, sich von einem Rande zum andern spannen sehen. Der Italiener hat ein Genie für den Brückenbau; er kann dabei jene Eigenschaft, die ihn im höchsten Grade auszeichnet, ja, welche die ganz eigentliche Signatur seines Wesens im ästhetischen und auch im moralischen Sinne ist, auf das beste verwerthen. Ich meine die Eigenschaft, mit den einfachsten Mitteln zu seinem Ziele zu kommen. Hier ist der Abgrund, Du willst hinüber, wie fängst Du das an? Und nun entsteht ein Bauwerk, das nicht zu schwer und nicht zu leicht, nicht zu hoch und nicht zu niedrig ist, und bei dem man fühlt, daß eine andere Curve, ein andrer Bogen wohl auch zum Ziel geführt haben würde, weshalb nicht? aber ganz sicher nicht auf einem so simplen und dabei so anmuthigen Wege.

Und dann wieder unten an der sandigen Schwelle des Städtchens, bei dem wir jetzt angekommen sind, die stattlichen aus gewaltigen Quadern wohlgefügten Hafenmauern und Molen – das Städtchen selbst, von welchem nur ein paar Häuser noch unten auf dem kostbaren Sande Platz gefunden haben und der übrige Theil die Felsen, welche die Schlucht flankiren, und die Schlucht selbst in die Höhe klettert – Respect vor diesen Nichtsthuern.

Und nun gar die Straße, auf der wir fahren, die Straße, welche sich meilenlang an der Küste hinzieht, und Fuß für Fuß, Zoll um Zoll dem Felsen abgetrotzt ist. Wenn ich mir eine Vorstellung von diesem Räthsel machen will, brauche ich nur an Capri zu denken, wo sie sich mit ihrer neuen Kunststraße ebenso über dem Meer um die Felsenecke wanden; oder an den Vierwaldstätter See, wo sie im Jahre 1863 von Fluelen aus eine Straße nach Brunnen, sollte ich meinen, bauten, und zu dem Zweck dicht bei Fluelen, an der lothrecht abfallenden Felsenwand, unmittelbar über dem See, den Weg hinführen mußten. Vom Dampfer aus gesehen, nahm sich der Weg aus ungefähr wie ein hellerer Strich quer über eine hochaufgerichtete riesige Schiefertafel, und von Zeit zu Zeit puffte da oben ein weißes Wölkchen in die blaue Morgenluft und etwas später sah man am Fuß der Felsenmauer das Wasser hoch aufspritzen. Es war eine Mine, die man da oben gesprengt hatte; es waren die abgesprengten Blöcke, welche, ohne sich unterwegs aufzuhalten, unten in den See stürzten.

Diese für die betreffenden Arbeiter so ausnehmend behagliche Situation muß aber bei dem Bau der Uferstraße von Salerno nach Amalfi unzählige Male vorgekommen sein; und es ist kaum anders möglich, als daß manche Stelle, über die wir jetzt so bequem und mit solchem Entzücken dahinrollen, manchem armen Nichtsthuer fein süßes Leben gekostet hat. Man begreift das als etwas, das in der Natur der Sache liegt und durch keine Vorsicht vermieden werden kann, wenn man aus seinem Platz im Wagen über die niedrige Brüstung, die uns einzig und allein vom Abgrunde trennt, ein paar hundert Fuß in das blaue Meer hinunter und einer armseligen Nußschaale von Fahrzeug, das da segelt, unmittelbar auf das Verdeck sieht. Und dabei hat es noch nicht sein Bewenden, denn drüben jenseits des tiefen Einschnitts, den das Meer an dieser Stelle in die Felsenküste macht, schwingt sich um die scharfe Kante des Vorgebirges uns gegenüber eine Kunststraße, die mindestens noch hundert Fuß oder so höher liegt, als der Punkt, auf welchem wir uns in diesem Augenblick befinden, und doch ist kein leisester Zweifel, daß jene Straße drüben unsere Straße, und daß wir uns in einer halben Stunde an dem schwindelhohen Punkt befinden werden. Und wie wir an jenem Punkt sind – wahrhaftig, da wiederholt sich das Stück oder vielmehr, da ist zu unserm Positiv der Comparativ, welchem sehr wahrscheinlich noch ein Superlativ folgt. Und dieses, der starren, unbarmherzigen Natur abgetrotzte Wunderwerk haben Menschenköpfe ausgesonnen und ausgerechnet, und Menschenhände in Angriff genommen und fertig gestellt – Köpfe und Hände von Nichtsthuern, vor denen man, wenn man sich so die Einzelheiten ihres holden Müßigganges klar macht, wahr und wahrhaftig einigen Respect bekommt. Einigen Respect, in welchen sich etwas mischt, das ich für Dankbarkeit halten würde, wenn für den modernen Reisenden eine solche Empfindung nicht zu altväterlich wäre. Denn zu leugnen ist nicht, daß die Nichtsthuer, indem sie sich so gleichsam in den Entscheidungskampf des Meeres und der Felsenküste mitten hinein warfen, uns in eine Lage brachten, in der sich im gewöhnlichen Lauf der Dinge nur Seeadler, Eidergänse, Möven und sonstiges luftiges Gesindel zu befinden pflegt, denen wir, wenn wir sie über ihren hohen Horsten oder über der donnernden Brandung schweben und flattern sehen, unsern innigsten Neid nicht zu versagen pflegen. Jetzt sind wir selbst in dieser beneidenswerthen Lage. Ueber uns lothrecht der glatte Fels, unter uns lothrecht die blaue See, soweit das Auge reicht. Und es reicht weit in der klaren durchsichtigen Frühlingsluft; man hat durchaus das Gefühl, daß an diesem Morgen der Himmel noch ein gut Theil höher und die Welt im Allgemeinen und unser Herz im Besonderen noch ein gut Theil weiter sind, als sonst.

Nur manchmal zieht es sich ein wenig zusammen, und das ist, wenn der kleine schwarzbraune Kerl auf dem Bock die abschüssige Neigung der Straße – sagen wir 5': 100' – als einen ganz selbstverständlichen Grund ansieht, um durch wiederholtes Ausstoßen jenes unnachahmlichen Aeh! und durch einige obligate Peitschenhiebe seine drei nebeneinandergespannten Gäule zu einem furiosen Galopp anzutreiben. Eine etwas erregliche Phantasie gefällt sich dann wohl in der Ausmalung des Bildes einer offenen Kutsche, die durch ein Straucheln, ein Scheuwerden der Pferde, durch, der Himmel weiß, welchen Unfall, der absolut nicht zu den unerhörten zählt, gegen die drei Fuß hohe Brüstung geschleudert wird, und, wenn sie auch vielleicht selbst oben bleibt, so doch ihren Inhalt – unter andern: ein halbes Dutzend Menschen – über den Rand dreihundert Fuß tief in's Meer schüttet, wie man eine Schaale Wasser ausgießt.

Doch das sind flüchtige Momente, flüchtiger noch als die flatternden Dünste an dem tiefblauen Himmel, oder der Schatten, der eben dunkel über die leuchtende Meeresfläche zieht.

Und jetzt senkt sich der Weg, rasch und immer rascher. Eine weite Bucht liegt vor uns, die in ihrer Tiefe eine ganze zusammenhängende Garnitur jener kleinen, pittoresken, gebirgsbacherzeugten Hafenstädtchen zeigt: Majori, Minori, Atrani – sagt die Karte. Und hinter und über ihnen steigt die Felsenküste zu wahrhaft schreckbarer Höhe auf, und am Fuße dieser Höhe liegt wieder ein Städtchen, und Ecco! Amalfi! sagt Signor Katarozzi, aus einem süßen Vormittagsschläfchen jäh erwachend.

*

13.
Amalfi.

Cappuccini an der Marina, mit vortrefflicher Küche.

Unter-Italien von Gsell-Fels S. 504.

Es giebt viele gute Menschen, denen diese dem Reisehandbuch entnommenen Worte gar nichts sagen – und sie thun mir von Herzen leid; denn für Andere sind sie ein »Sesam« der Erinnerung, die sich alsbald erschließt, und ihnen ein paar Tage – ein paar Stunden zurückruft, die sie ungern aus ihrem Leben streichen möchten.

Cappuccini, löbliches Gasthaus! Du würdest noch immer löblich sein, auch wenn Du nicht an der Marina lägest; aber besser ist es doch, daß Du da liegst, daß man, auf Deinem Balcon stehend, unmittelbar unter sich die kleine Wunderwelt hat, die jeder Hafen für den sinnigen Beobachter ist – und nun gar der Hafen einer kleinen italienischen Küstenstadt!

Was man da nicht Alles sieht! Das Meiste ist einem vertraut und bekannt von Jugend auf – bekannt und vertraut wie die Gesichter der Menschen, unter denen wir, mit den forschenden Wunderaugen der Kindheit zu ihnen aufschauend, groß geworden sind. Oder, wer in einer Hafenstadt aufgewachsen, wüßte nicht, wie man Boote von dem Strand in die Wellen schiebt, und wie man sie aus den Wellen wieder auf den Strand zieht; und wie man Netze flickt oder zum Trocknen auf den Sand breitet; wie hier die Ladung eines Fahrzeuges gelöscht und dort ein anderes befrachtet, und wie hier getheert und dort kalfatert, und dort gescheuert und hier gewaschen wird, und wie das hier so bienenfleißig, und wie das dort so göttlich faul ist. Dies und Vieles der Art kann man, wie gesagt, überall sehen, wo die Meereswelle an Hafenmauern plätschert: in Stralsund oder Amalfi, nur daß infolge der Verschiedenheit der Breitengrade sich allerlei kleine Unterschiede herausstellen, die dem Bilde, als Ganzem, doch etwas sonderbar Fremdes und Anziehendes geben. Wie ist das hier Alles so – ich möchte sagen, wenn es nicht wie eine Phrase aussähe – aus dem Plattdeutschen in's Italienische übersetzt; ich meine, aus dem Breiten, Behäbigen, Langsamen, Groben in's Schlanke, Eifrige, Rührige, Zierliche! Da wird jedes Wort mit einer Geberde begleitet, und welche Geberde, wenn das Wort darnach ist! Wie der Scheltende mit den zusammengelegten Fingern vor den eigenen Augen agirt, um sie dann plötzlich vor denen des Gegners auseinanderzuspreizen! Man glaubt, die braunen Kerle müßten sich im nächsten Moment in die blauschwarzen Lockenhaare fahren oder nach den Messern greifen – sie denken nicht daran; sie haben durchaus keine Absicht, als die löbliche, sich gegenseitig den Standpunkt klar zu machen. Ja, es scheint hier neben der zweifellosen Freiheit der Sprache und der offenbaren Gleichheit der Sitten, die dritte republikanische Tugend kein leerer Wahn zu sein. Kann Einer allein mit seiner Arbeit nicht fertig werden, – und er hat eine starke Tendenz nach dieser Seite – gleich sind ein paar Andre bei der Hand, ihm mit Rath und That beizustehen. An einem größeren Fahrzeug, das hereinkam und auflief und ganz auf den Strand gezogen werden sollte, arbeiteten anfänglich vielleicht sechs Mann, und das hätte auch völlig ausgereicht, wenn es ein halbes Dutzend unserer Matrosen gewesen wäre; in der nächsten Minute hatte sich das andere halbe dazugefunden, und zuletzt war der lange Strick, an dem sie zogen, nicht mehr lang genug für all die hilfreichen schmutzigen Hände.

Heute ging es noch besonders geschäftig zu in dem kleinen Hafen, denn es war Sonnabend und die heilige Jungfrau und Santa Lucia wollen verhüten, daß ein gläubiger Christ den Sonntag durch schnöde Arbeit entweihe! So mußte denn heute Nachmittag noch Alles gethan sein; und dabei standen, wie heiß auch in diesem Augenblicke die Sonne schien, ein paar dunkle Wolken am Himmel, die den wetterkundigen Söhnen von Amalfi gar nicht geheuer schienen, und mit denen es – wie der Abend lehrte – auch nichts weniger als geheuer war. Das konnte besonders für den Weizen verhängnisvoll werden, mit welchem ein Schiff, welches an dem kleinen Quai lag, befrachtet werden sollte, und der vorläufig noch zum Trocknen auf den glatten Quadern des kleinen viereckigen Platzes ausgebreitet war, zu dem sich der Quai unmittelbar unter unsern Fenstern erweiterte. Des Getrocknetwerdens aber war er dringend bedürftig, sintemalen man ihn eben erst in dem Bach, welcher sich neben dem Quai in's Meer ergoß, gewaschen, wie denn das auch bei uns zu Lande mit brandigem, oder auch nur unansehnlichem Weizen zum öfteren geschieht. Es war ein köstlich geschäftiges Treiben; die holden Nichtsthuer mußten sich tummeln und tummelten sich. Die Frucht der Ceres wurde zum letzten Male der Sonne zugewandt, indem nacktfüßige Gesellen im Trabe mit den vor die Brust gestemmten Schaufeln breite, von beiden Seiten alsbald wieder zusammenquillende Furchen durch das goldene Feld zogen. Unterdessen wird aber bereits in der Mitte des Quai das an drei oben zusammenlaufenden Stangen hangende große Sieb unaufhörlich im Kreise bewegt, so daß von dem drin roulirenden und geschüttelten Korn der Staub davon fliegt, die eigentliche Spreu aber sich oben im Centrum des kreisenden Kornes sammelt und mit einem einzigen Griff des Schüttlers entfernt werden kann im Moment, bevor das Sieb umgedreht wird und das so gereinigte Korn in den untergehaltenen Sack läuft. Wie viel Jahrhunderte mögen vergangen sein, ohne daß an diesen einfachen sinnreichen Manipulationen auch nicht ein Handgriff verändert ist!

Für mich war bei der ganzen Operation nur ein Aber. Jener Bach, welcher unmittelbar neben dem Quai und gewissermaßen unter unserm Hôtel aus der Wölbung seines Kanals hervor und die noch fehlenden paar Meter in's Meer stürzte, jener Bach, in welchem das Korn gewaschen wurde – war jener Bach – acqua pura, purissima, Signor! sagte der Padrone der Cappuccini, seine Hand auf's Herz legend. Ich blickte dem Manne in die dunklen Augen; seine Wimpern zuckten nicht; er war auf die Frage vorbereitet, gefaßt, wie ein biederer Landmann, der die Depesche zwischen den beiden Sohlen seines linken Stiefels trägt, auf die Fragen der ihm begegnenden Patrouillen. Er weiß, daß ihm die Geschichte den Hals kosten kann, und trotzdem, oder gerade deshalb schaut er so treuherzig drein, so still und harmlos, so – an den Baum mit dem Schelm! ohne Gnade!

Nein, laßt ihn laufen! er ist ja hart genug gestraft durch die fürchterliche Angst, die er fortwährend aussteht: sie könnten doch das schlimme Geheimniß zwischen den Stiefelsohlen entdecken. Er sagt es ja selbst am dritten Tage mit Thränen in den braunen Augen. Er klagt, daß er in seiner Existenz bedroht sei, wenn der Magistrat nicht endlich ein Einsehen habe, und auf seinen Antrag eingehe, den ominösen Kanal nach rechts hin, wo das Ufer frei ist – selbstverständlich in einem überdeckten Kanal – zu leiten und dort ausmünden zu lassen. – Sehr schön, aber woher dann hier am Quai zum Spülen des brandigen Weizens acqua pura nehmen, acqua purissima!

Und das Hôtel selbst verlegen – daran ist nicht zu denken, kann Niemand denken: so einen Platz giebt's in ganz Amalfi nicht weiter, geschweige denn in der übrigen Welt!

Inzwischen bis der Magistrat zur Einsicht gekommen, geben sich die Cappuccini Mühe, ihre Gäste für das »Scelett« (es giebt ja schließlich in jedem Hause eines, und in den Gasthäusern sogar meistens mehrere, und dieses hier existirt für sehr viele gute Menschen nicht einmal) zu entschädigen durch eine Aufnahme, von der man kaum zu viel sagt, wenn man sie liebevoll nennt, und durch eine Küche, für die »vortrefflich« wirklich ein nur in aller Bescheidenheit schmückendes Beiwort ist.

Aber der Bruder Koch (das Hôtel wird von zwei Brüdern gehalten, von denen der eine dem Küchendepartement ausschließlich seine Sorgfalt widmet), der Bruder Koch weiß auch, was er werth ist und was er leistet, und wenn sie sich an Speise und Trank weidlich gelabt: an dem köstlichen Seefisch, dem saftigen Braten, dem leckeren Fritto, an dem feurigen dunkelrothen Amalfi-Wein Sonnenseite, und ihr Gemüth über dem duftenden Nachtisch: den Erdbeeren und Orangen und der echten Lacryma Christi und dem gelblichen Kuchen nun fröhlich und guter Dinge ist – dann öffnet sich die Thür, und mit einem bescheidenen Anstand kommt ein hübscher Mann von vielleicht dreißig Jahren mit dunklem Haar und Bart und in elegantem schwarzen Anzuge zur Thür hinein, reibt sich leicht die Hände, indem er sich dem Tische nähert und hinter deinen Stuhl tritt und mit leiser Stimme – gewissermaßen privatim und vertraulich – fragt, wie dir das Essen gemundet habe? Du bist – durch irgend einen Vielgewanderten, mit dem du von Amalfi gesprochen, – auf diese Frage vorbereitet und weißt auch, daß dieser Held von einem Koch zugleich ein Sänger holder Lieder ist, und – so oder so – die Scene damit endet und darin gipfelt, daß er – der Koch und Sänger – die Guitarre holt (die vor der Thür schon auf dem Stuhl liegt) und in bescheidener Entfernung von der Tafel Platz nehmend, seine süße Stimme erhebt.

Aber heute kam in das gewöhnliche Programm noch eine amüsante Einlage. Die Gesellschaft war sehr klein – sie bestand in der That nur aus uns; das Gespräch hatte eine Wendung genommen, die in Gegenwart eines Kochs nicht auffallen konnte (um so weniger, als er selbst ohne Zweifel diese Wendung veranlaßt): man sprach von den Producten des Landes, u. A. auch von dem Schinken, der, nach der Aussage des liederreichen Kochkünstlers, hier in Amalfi zu der höchsten Höhe irdischer Vollendung emporgegipfelt würde. Die Signora und die Signori trauten seinen Worten nicht? (kein Mensch hatte widersprochen), wenn die Signora und die Signori erlaubten (er wartete diese Erlaubniß nicht ab) – und da stürzte er bereits wieder zur Thür hinein in den erhobenen Händen ein Etwas tragend, das nach seiner Form, Größe, Dicke jener Feldstein hätte sein können, »so schwer, daß nicht zween Männer ihn trügen, wie nun Sterbliche sind« – mit welchem Diomedes dem Aeneas die Knochen zermalmte, in Wirklichkeit aber wahr und wahrhaftig ein enormer Schinken war. Und nun den Mann hinter diesem Schinken stehen zu sehen, jetzt docirend, wie ein Professor der Anatomie, und jetzt declamirend, wie ein Tragödienheld und mit der flachen Hand auf die Brust und dann auf den Schinken schlagend und dann die Finger wie zum Schwur gen Himmel streckend, und dann wieder lachend, wie ein Erzschelm, der er war, und seine weißen Zähne zeigend – und das Alles, uns zu überreden, einen, zwei dieser Riesenschinken mitzunehmen, nach Hause voraus zu senden – der Himmel weiß was – es war die köstlichste Comödie, die sich denken läßt und selbst der Nebengedanke, daß der Mann dieselbe Comödie schon vor so manchem unsrer Vorgänger aufgeführt und noch so manchem unsrer Nachfolger aufführen werde, machte sie in meinen Augen nicht schlechter. Im Gegentheil! Unser Einer weiß, daß ausgezeichnete Leistungen nicht »aus dem Aermel geschüttelt« werden; weiß, welche Mühe, welcher Fleiß, welche Ausdauer in jeglicher Kunst dazu gehören, bis der Meister fertig ist, ja, und daß jene moralischen Eigenschaften und Tugenden, weit mehr als die Unterschiede der sogenannten Begabung, den Künstler von dem Dilettanten scheiden.

Freilich, wie glücklich ist auch dieses Volk begabt, das bei jeder Gelegenheit, im Handumdrehen gleichsam, Dinge producirt, von denen man wahrlich nicht mehr weiß, ob dies noch ein geistreicher Dilettantismus, ob es bereits wirkliche Kunst ist. Da saß, fünf Minuten später, der Mann des Schinkens und der Orange-Marmelade (in steinernen Töpfen – auch die hatte er uns angepriesen und angeboten), die Guitarre am blauen Bande um Hals und Schulter, und erhub nach einer discreten Introduction seine Stimme und sang uns Volkslieder, um die wir ihn besonders gebeten, mit einem Geschmack, der nichts zu wünschen ließ, als daß manche unserer Concertsänger nur einen Theil davon haben möchten.

Wir machten ihm, als er geendet unsere aufrichtigen Complimente (denen wir noch vor unserer Abreise ein gewichtigeres Zeichen unserer Anerkennung hinzufügten). Der Sänger lächelte bescheiden; die Signora und die Signori seien allzugütig; was sei er denn anders, als ein armer Teufel von Dilettant, der allerdings ein Recht zum Stolzsein habe, wenn er vor solchen Kennern bestehe. Wenn indessen die Signora und die Signori die Barcarolen liebten, und eine echte von echten Barcaroli hören wollten, so könne leicht Rath dazu werden. Die Brüder Tomasi (oder hießen sie anders?) hätten ein vortreffliches Boot und so weiter.

Es war noch keine Viertelstunde vergangen, als wir uns dicht neben dem Quai, auf welchem heute Nachmittag der Weizen verladen war, einschifften. Der Abend war nach dem starken Regen, der, während wir bei Tisch gesessen, herabgerauscht war, stockfinster, so daß man eben nur die Fluthwellen weißlich auf dem glatten Strande zerrinnen sah. Sie machten das Einschiffen etwas schwierig, aber als wir erst aus der Brandung heraus waren, fanden wir die See spiegelglatt. Es war ein großes Boot und wir hatten sechs oder acht Ruderer außer dem Steuermann. Die Leute hatten Fackeln mitgenommen, welche sie anzündeten, bevor wir in die große Höhle gelangten, die unweit von Amalfi sich in den Felsen öffnet und die das Ziel unserer Fahrt war – ein würdiges Ziel! Durch ein verhältnißmäßig niedriges Thor gelangt man in einen Raum, dessen Wände und Decke sich an den meisten Stellen trotz des hellen, von den Wassern wiedergespiegelten Scheines der Fackeln in undurchdringliches Dunkel verlor, und die Flamme der einen, die ein Mann hielt, den man auf einen: Felsen nicht weit vom Eingang ausgesetzt hatte, wie einer einzelnen Kerze Licht erschien, als wir in der Tiefe der Höhle waren. Das Schauerliche der Situation wurde noch dadurch wesentlich erhöht, daß das draußen stille Wasser innerhalb der Höhle, die selbstverständlich in dem vollen Bereich der Brandung war, in mächtigen Wellen auf und nieder schwankte, über den Riffen aufspritzte und aufschäumte, und sich an den glatten, schroffen Wänden mit dumpfem Donner brach. Und dazu sangen die Leute – ein wunderlicher Gesang! Unisono in einer Mittellage, aber mit so scharfen, hellen Stimmen, daß es das Rauschen und Donnern des Wassers laut übertönte. Natürlich verstand man von dem Text, der überdies in reinstem Amalfitaner Dialect war, nur eben so viel, daß eine gewisse Schöne, die als la bella Sorrentina im Refrain stets wiederkehrte, auf Kosten aller übrigen Schönen, nicht blos der italienischen, sondern auch der » francese« und » inglese« gefeiert wurde. La bella mußte wohl sehr schön sein, denn die Leute geriethen, je länger sie sangen – und das Lied konnte, wie es bei einem solchen Gegenstände begreiflich war, kein Ende finden – in ein Feuer, das heller noch auflohte, als ihre Fackeln. Und sie waren alle gleicherweise von der Flamme erfaßt, nicht blos der junge Mensch mit dem lüsternen Satyrgesicht, oder der schöne ein paar Jahre ältere schwarzbraune bärtige Kerl in der Mitte des Bootes, die wohl die Leute darnach waren; »der Liebe süßes Glück in vollen Zügen zu trinken«, sondern auch der Bursch neben dem Schwarzbraunen, dem noch nicht ein Flaum im glatten Gesicht sproß, und nun gar der Alte im Vordertheil des Bootes! Wie er sich hintenüber legte, um den zahnlosen Mund so weit als möglich öffnen und so recht con amore aus voller Kehle singen zu können, und wie dabei ein glückseliges Lächeln auf den alten verwitterten Zügen spielte! Und immer tiefer sangen sie sich in die bacchantische Stimmung; sie schrieen und klatschten, die Ruder zwischen den Armen haltend, in die Hände, und der Schwarzbraune sprang auf und stieß seinen jüngeren Gefährten von der Bank und riß die Bank heraus, um, im Stehen rudernd, den Tact mit den Füßen stampfen zu können. Es war ein tolles Schauspiel.

Denn auch dies war doch ein Schauspiel nur; darüber waren wir Alle einig, als wir eine halbe Stunde später wieder auf dem Balcon des Gasthofes saßen; ein Schauspiel, das die Bursche, wer weiß wie oft ausgeführt hatten, und noch wer weiß wie oft aufführen würden – immer mit demselben Brio, demselben Furore – gerade wie vorhin der Koch, der zugleich ein Sänger war, seine Liebeslieder gesungen.

Ein Schauspiel gewiß, und doch Natur; oder ein Schauspiel, das aufzuführen und immer wieder gut aufzuführen, nur eben diesen leichtlebigen, warmblütigen Naturen möglich war, denen so ein bischen Comödienspiel neben den trocknen Geschäften des Lebens durchaus Bedürfniß ist.

Ein Schauspiel, und doch Natur, gewiß Natur! machen sie's ja nicht anders wie ihre Erde, ihr Himmel, und ihr Meer. Weshalb müssen denn die neben ihren landläufigen Verrichtungen noch so viel Extravorstellungen geben? Es geht zur Noth auch ohne das – wir Nordländer wissen es – warum prangen sie hier in solcher Schönheit, leuchten sie hier in solchem Glanz, thun, was sie thun, mit solchem Brio, mit solchem Furore! sie, die Uralten!

Wie können wir uns da wundern, daß ihrer Kinder Kinder Kindeskinder es machen wie sie!

*

14.
Ravello und Scaricatojo.

Nun umleuchtet der Glanz des helleren
Aethers die Stirne.

Goethe.

Es waren die letzten Tage, die wir vor dem nun festbeschlossenen Ausflug nach Sicilien noch für Unteritalien, oder, wenn dieser Ausdruck zu viel sagt: für Neapel und Umgegend (bis Paestum inclusive) hatten. Und als sollten wir für so manche in Regen und Sturm verseufzte Stunde zu guter letzt entschädigt werden, schmückte sich für diese Tage die herrliche Natur dieses Himmelsstriches mit aller Sorgfalt und aller Pracht, die ihr nur irgend zu Gebote stand. Allüberall ein Leuchten, Glänzen, Schimmern, Flimmern, – Farben von einer Intensivität, die wir nie für möglich gehalten, und zwischen den breiten starken Lichtern nicht minder breite markige Schatten, klar bis in ihre tiefste Tiefe bei der unendlichen Durchsichtigkeit der Luft. Wir hatten uns in diesen Tagen ein paar schmückende Beiwörter angewöhnt, mit denen wir uns später viel geneckt haben. Ich fand Alles: unglaublich, während die Andern dem schönen Worte: »wunderbar« einen entschiedenen Vorzug geben. Mir schien und scheint (selbstverständlich) das von mir beliebte das bezeichnendere. Es geht am Ende Alles mit natürlichen Dingen zu, das weiß man; aber man traut seinen Sinnen nicht, indem man es sieht; man glaubt nicht, daß so etwas möglich sei in dem Momente selbst, wo es wahr und wahrhaftig in vollster Wirklichkeit vor einem steht. Und dabei noch der so naheliegende Nebengedanke, der in dem einen Worte gleich mit anklingt: daß nämlich Andere, denen man das zu schildern sucht, es nicht glauben, vielmehr annehmen werden, man habe nun endlich doch auch den ehrenwerthen Vorsatz: so viel an einem ist, die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen, aufgegeben, und flunkere in der beliebten Reisebeschreiber-Manier so ein wenig mit.

Und unter dem Druck dieser Befürchtung – mir der allerschlimmsten, denn was ist an diesen Aufzeichnungen, wenn sie nicht treu und ehrlich sind! – darf ich nicht versäumen, daran zu erinnern, daß wir uns jetzt in dem ersten Drittel des Mai befanden, der denn auch bei uns Stunden hat, von denen wir ohne alle Sentimentalität sagen dürfen: sie gefallen mir wohl. So wollen wir denn die halkyonischen Tage am Busen von Salern zwar in tiefer Dankbarkeit, aber doch als etwas hinnehmen, das zwar sehr schön, sehr herrlich, ja gewissermaßen »unglaublich«, aber trotz alledem in jedem Sinne des Wortes nur in der Ordnung und in keiner Weise »wunderbar« ist.

Gewissermaßen unglaublich ist so auch Amalfi selbst, ich meine der Ort, von dem sich (wie bei fast allen diesen Städtchen) nur der allerkleinste Theil unten am glatten Strande befindet und befinden kann, und der andre sofort gezwungen ist, in dem engen Thal des Baches und an den ringsherumstarrenden Felsenwänden in die Höhe zu klettern. Und das thut er denn nun in einer Weise, die man schon an Ort und Stelle nicht wohl begreift, und die, sobald man den Rücken gewandt hat, eine heil- und hoffnungslose Verwirrung der Eindrücke im Gefolge hat. Man weiß nur noch mit Deutlichkeit anzugeben, daß dies der Hafen und jenes eine Gasse, die auf eine kleine Piazza führt, von welcher eine stattliche Treppe zu einer Kathedrale emporleitet. Dann abermals ein Gäßchen, das aber nur eine offene Halle; dann eine steinerne Treppe, die aber auch ein Gäßchen, und dann ein Gäßchen, das aber eigentlich ein Tunnel, und dann eine Treppe, die in einem Tunnel hinaufführt, welcher von Zeit zu Zeit Thüren, rechts und links Thüren hat, durch welche man in das Innere von Räumen sieht, die unzweifelhaft von Menschen bewohnt werden, so daß man, Alles in Allem, diese Tunneltreppe, oder diesen Treppentunnel ebenfalls für ein Gäßchen nehmen muß; und im nächsten Augenblick eine Brücke, unter der ein Bach mit stärkstem Gefälle vorüberschießt und in der Richtung verschwindet, aus der wir eben gekommen, ohne daß wir doch von dem wilden Gesellen eine Spur bemerkt hätten, ebenso wenig wie wir eine Ahnung haben, wo um Alles in der Welt er hergekommen, bis wir denn endlich aus diesem mehr als seltsamen Labyrinth auftauchen und tiefaufathmend die balsamische Lust in dem Licht rosigen athmen, das uns plötzlich umfluthet. Denn da drunten war es, unter uns, zum größten Theil fürchterlich, und wir – wußten jetzt, wo das Skelett der Cappuccini begraben lag.

Hier nun aber hüpft der Bach in klarsten grünlichen Wassern lustig von Fels zu Fels, und stürzt sich dort schäumend und brausend über Mühlräder, und bringt es hier und da zu einem respectablen Wasserfall mit obligatem Getöse und giebt unendliche Gelegenheit zu jenen entzückenden Brücken, in denen die Italiener excelliren, und belebt in tausenderlei Weise ein tiefeingeschnittenes, von so gigantischen Felsmassen auf beiden Seiten flankirtes Thal, daß man glauben könnte, an einer ganz besonders schönen Stelle der Schweiz zu sein. Nur daß der Reichthum und die Ueppigkeit der Vegetation beständig dem südlicheren Breitegrad die respectabelsten und anmuthigsten Zeugnisse ausstellen in der Form von gewaltigen Oelbäumen, immergrünen Eichen, Pinien, Kastanien und in einer solchen Fülle von Blattpflanzen, Buschwerk. Cactus, Rankenkraut und Blumen, daß der nicht botanische Wanderer die Arme in Demuth über der Brust kreuzt und seine Unfähigkeit bekennt, einem solchen Ueberschwang anders zu huldigen, als durch eine innigste Empfindung von Glückseligkeit in diesem Erdenparadies.

Aber einige Geschöpfe giebt's hier, die dafür sind, daß auch in einem Paradiese nicht Alles vollkommen ist; ich meine unsere Esel, und uns selbst, die wir auf ihnen sitzen bleiben sollen, während die armen Thiere auf jeder dritten Stufe der Felsentreppen stehen bleiben, um sich zu verschnaufen und sich dann von den Treibern wieder drei Stufen höher prügeln und schieben zu lassen. Wir halten selbstverständlich diese Doppelqual nur die allerkürzeste Frist aus, und erklären dann dem Führer, daß wir nichts mehr von den Eseln wissen und sehen wollten, obgleich er schwört, daß wir dann nimmermehr bis la Scala, geschweige denn bis Ravello kommen würden. Wir meinen, daß wenn Basso buffo (so haben wir den schwärzlichen, schwammigen, unrasirten fetten Kerl mit seinen tiefen Gutturaltönen in aller Eile getauft) auf den gänzlich schief gelaufenen Hacken seiner ausgetretenen Schuhe hinaufkomme, würde es uns auch wohl gelingen; und wir klettern ohne Esel weiter und weiter, höher und höher bis nach la Scala.

La Scala ist ein Städtchen, das da oben wie ein Adlerhorst auf den Felsen liegt, einsam, still mit grauweißlichen Häuser- und Hofmauern, – so hoch und einsam und still, daß man sich von der Existenz der jetzigen Bewohner, die nur in einer mindest geringen Zahl von Individuen vertreten sind, keine rechte Vorstellung machen kann, noch viel weniger aber von dem Umstande, daß das Adlernest einst eine Stadt mit 150 Kirchen gewesen sein soll. Freilich, wohin kann es mit einer Stadt, die 150 Kirchen hat, nicht endlich kommen? Wohin kann es mit einem jungen blühenden Mädchen nicht endlich kommen, die einen Vampyr zum Gatten hat? Es geht langsam, aber sicher. Erst das junge frische Blut, dann das strotzende Fleisch, endlich die trocknen Knochen. Es waren wirklich noch ein paar Knochen da. Wir begegneten an zwei verschiedenen Stellen kleinen, bläßlich aussehenden Kindern, die in dicken Mönchskutten steckten. Die armen Würmchen nahmen sich in der grotesken Tracht seltsam genug aus; wir hatten es zuerst für eine häßliche und unpassende Maskerade gehalten, wie wenn bei uns eine Majorsfrau ihr Bübchen zu einem kleinen Ulanen oder Kürassier ausputzt; der zweite Kleine aber war von seiner Mutter begleitet, und so konnten wir fragen. Sie sagte uns, daß das Kind am Fieber gelitten und noch leide, und daß sie deshalb neulich, als es am kränkesten gewesen, gelobt, es bis zu seiner Firmelung in dieser Tracht gehen zu lassen. Und siehe, es sei schon viel besser geworden und werde mit der heiligen Jungfrau und San Franzisco Hülfe noch ganz gesunden und un soldo, Signori! Grazie, Signori, Grazie! Aberglaube, Armuth, Bettelei – nun San Franzisco wird mit den paar übrigen Knochen allmälig wohl auch noch fertig werden.

Flecken auf der Sonne! Und sie schien doch sonst so hell an diesem Tage, mit einer bezaubernden Helligkeit, die durchaus nicht blendete. Von den Scheiteln des Gebirges, die sich fast in marmorner Weiße gegen den tiefblauen Himmel absetzten, strömte das Licht die steilen Hänge hinab und bronzirte das Laub der immergrünen Bäume und rieselte selbst in die Schluchten, die im tiefsten Schatten lagen, daß man meinen konnte, man habe bis dahin die Welt nur mit halber Sehkraft betrachtet, und auf die Fürsprache des guten San Franzisco (der für seine Beleidiger gebetet) seien uns die Schuppen von den Augen gefallen. Was kann es so einem Heiligen auf ein Wunder mehr oder weniger ankommen!

Basso buffo begann einen steilen Pfad hinabzusteigen, der ganz dazu angethan war, seine Schuhe um den letzten Rest der schief getretenen Hacken zu bringen. Wir wären gern auf der Höhe geblieben, die sich in weitem Bogen nach dem Ausläufer des Gebirges herumschwang, auf welchem wir Ravello, das zweite Ziel unserer Wanderung, liegen sahen. Basso buffo war unbarmherzig gegen die Ketzer; vielleicht führte wirklich kein andrer Weg nach Ravello. Es kommt nichts darauf an; bei jedem Schritt – und wäre es auf den rauhesten Steinen – entdeckt man etwas Schönes – das Schönste freilich zuletzt: Ravello selbst.

Ravello als Städtchen, siehe la Scala! auch nur noch ein paar alte Knochen, die sie mit der Zeit ganz abnagen werden. Undankbarer Ketzer! als ob norddeutsche Land- oder Stadtpastoren im Verein mit Consistorial-, Land-, Schul-, Regierungs-, Bau- und andern Räthen je so malerische Ruinen aus einem ihrer Dörfer oder Städte machen könnten!

Ich glaube nicht, daß auf der weiten Erde eine Besitzung schöner gelegen ist, als die Villa oder der Palazzo Ruffoli in Ravello. Man kann Villa oder Palazzo sagen, besser noch: der auf und in den Trümmern des alten Palazzo Ruffoli hergerichtete Villagarten nebst obligater Villa eines gewissen Mr. Reed. Dort an einem frischen Sommermorgen, wie sie Boccaccio in seinem Decamerone schildert, zu wandeln zwischen diesen mit Rosen und Epheu übersponnenen, kunstsinnig restaurirten und wohl arrangirten Ruinen, von denen jede Säule und jedes Säulchen, jeder Bogen der Gewölbe und jeder Mosaikstein der Fußböden eine Geschichte erzählt dem, der sie zu lesen versteht – zu wandeln zwischen den Beeten voll köstlichster Blumen, in deren Mitte aus saracenischen Marmorbrunnen helle Wasser plätschern, aus dem Schatten immergrüner Bäume hinauszutreten auf die Terrassen, die in Adlerflughöhe über dem Spiegel des Meeres hangen, sich auf die Brüstung zu lehnen, hinabzuschauen an den Felsen auf die blauen Wasser, über welche weiße Segel wie Schwäne ziehen – da zu wandeln, zu ruhen, zu träumen, unter Anderm, daß man der Herr dieses Paradieses ist – pah!

Wir trafen ihn, den Herrn dieses Paradieses einen Tag später in La Cava: einen ernsten, schwermüthig, fast finster blickenden Mann, der eine kranke Schwester dorthin gebracht hatte, ob ihr die Luftveränderung vielleicht gut thue. Augenscheinlich hatte der Mann nicht Weib noch Kind, nur eine kranke Schwester und – oben in Ravello – sein Paradies. Nein, nein, Paradiese sind nicht für Menschen, und Menschen nicht für Paradiese, und selbst der Unsterblichen Einer würde sich in einem Paradiese sterblich langweilen. Ueber den letzteren Punkt waren wir schon an diesem Maienabend einig, während wir auf der Terrasse lehnten und in die felsenumgürtete Bucht von Atrani links und in die felsenumgürtete Bucht von Amalfi rechts und gerade aus in die blaue Unendlichkeit des Meeres und zuletzt auf ein Segel starrten, das einzige, das in der unendlichen Runde zu erblicken war und das jetzt, näher und näher kommend, unter den Uferklippen verschwand, wie ein helles Licht, das plötzlich erlischt.

*

Katarozzi hatte beschlossen, daß wir, bevor wir Amalfi und dieser Küste Valet sagten und nach Neapel zurückkehrten, durchaus nach Scaricatojo müßten. Als wir in aller Bescheidenheit nach dem Grund dieses »durchaus« fragten, sah er uns mit jenem Blick an, den er für solche Fälle bereit hatte: einem Blick tiefer, mitleidigster Verwunderung über die Unendlichkeit der Lacunen unserer geographischen Kenntnisse, Dieser Blick sagte, daß Signor Katarozzi ebenfalls nur eine sehr unbestimmte Vorstellung habe von dem, was uns auf unserer Fahrt erwarte; und sein Zurückbleiben im Moment des Einschiffens (er mußte nothwendig das Gepäck seines Herrn ordnen), daß unser Ziel, wie es auch sonst beschaffen, ohne bedeutende Anstrengung sicher nicht erreicht werden könne.

Anstatt unsers Mentors hatten wir denn einen jugendlichen Telemach irgendwoher aus den russischen Ostseeprovinzen, dessen Bekanntschaft wir gestern an der Table d'hôte gemacht, und der sich uns als Begleiter auf unserer Fahrt angeboten mit jener Ungenirtheit, welche das fürchterliche Geheimniß gewisser Leute ist. Die Natur, welche es mit ihm nicht genau genommen, hatte unter anderm vergessen, ihm ein Kinn auf seinen Lebensweg mitzugeben; er war infolge dessen außerordentlich irritabel und das Benehmen unserer lieben Freunde, der Amalfitaner Lazzaroni und Bettler, die ihm bis an den Bord unsres Bootes pflichtschuldiges Geleit gaben, versetzte ihn in lodernden Zorn, welcher seine Nasenspitze (die lang war) alsbald in Weißglühhitze brachte. Er erklärte, während er sein Gepäck – vier kleine Kunstwerke der Lederindustrie – auf und unter der Bank ordnete, daß seine Geduld erschöpft sei, daß ihn die Bettelei und der Schmutz Italien für immer verleidet hätten, und daß er den Augenblick herbeisehne, der ihn von diesem Elend befreie. Wir waren natürlich viel zu höflich, gegen diesen letzten Wunsch irgend etwas einzuwenden, constatirten vielmehr, daß die Erfüllung desselben allerdings im Interesse aller Betheiligten zu sein scheine; und damit überließen wir ihn den Geiern der Reue, die an seinem edlen, aber leichtsinnigen Herzen so gierig fraßen.

Dieser melancholische Begleiter – wie er dasaß: ein Bild der finstern Sorge, die, nach Horaz, auch derjenige, welcher sein Glück in fremden Landen sucht, mit auf's Schiff nimmt! – war übrigens der einzige dunkle Punkt, so weit das Auge reichte; sonst Alles Licht und Glanz und Einladung und Locken zu Leben und Lust. Und kann das uns Wunder nehmen hier, wo unser Boot mit jedem Ruderschlage näher und näher durch die tiefblaue Fluth den Inseln der Sirenen treibt? Wir haben sie aus der Ferne von Capri's Felsenufern Tag für Tag liegen sehen und manchmal hob sich an dem sonnigen Gestein eine brandende Welle wie ein weißer Frauenleib. Ob es die identischen des Homer sind? Laienfrage! Die Felsen, auf welchen die Dichter ihre Sirenen und Nixen sitzen sehen, tauchen nur für sie aus den blauen Fluthen des Meeres, aus den grünen Wogen der Flüsse an sonnigen warmen Maimorgen wie dieser, oder dunkelkühlen Sommerabenden. Vergebens, ganz vergebens, daß die Herren Staubtrocken u. Co. mit ihren Laternlein den heiligen Ort suchen; sie finden »ihn nimmer und nimmermehr.«

Ich muß zur Ehre der Wahrheit bekennen, daß auch ich ebensowenig an diesem gesegneten Morgen von den elastischen Seejungfrauen etwas gesehen oder gehört habe; doch möchte ich daraus keinerlei unliebsame Schlüsse gegen die Existenz von Sirenen oder gegen mich ziehen oder gezogen sehen.

Statt der Sirenen sangen die Schiffer; ich glaube nicht, daß die Lieder der Gefährten des Odysseus viel anders geklungen haben werden; ebenso wie das geschickte Rudern und primitive Segeln jener alten Küstenfahrer wohl so ziemlich noch heutigen Tages von diesen Sonnenkindern unverändert geübt wird. Daß die Männer von Ithaka gesungen hätten, wird freilich nirgends erwähnt. Vielleicht wollte der Dichter damit andeuten, daß ihnen mittlerweile die Lust zum Singen vergangen war; doch ist das wohl eine zu kühne Interpretation seiner Schweigsamkeit über den wichtigen Punkt; wahrscheinlicher ist, daß er keinen Vers für eine Sache übrig hatte, die ihm so selbstverständlich schien. Bei unsern Freunden verstand sich das Singen von selbst. Es waren übrigens genau dieselben, die wir gestern Abend kennen gelernt: der Satyr, der Schwarzbraune, der zahnlose Alte, der Junge und noch drei Andre. Die beiden Ersteren, erfuhren wir heute, waren die Brüder, denen das Boot gehörte, und der Satyr spielte heute den Capitain. Ich sage: spielte, denn es war heute eine Rolle, wie der Satyr vorgestern auch eine gewesen war, und ich muß gestehen, daß ihm die eine so gut stand, wie die andre. Heute war er » quite the gentleman«. Eine linnene Schifferjacke, ditto Inexpressibeln, ein kleiner gelber Strohhut mit flatterndem blauen Bande, Stiefeletten von einem derben hellen Zeugstoff mit Sohlen aus ungegerbtem Leder (gestern waren seine Füße und die Beine bis zu den Knieen nackt gewesen) – das war die einfach schickliche Toilette des Capitano. Und dieser Toilette entsprach sein Benehmen. Odysseus selbst konnte nicht würdevoller am Steuer sitzen und den Gefährten mit gehaltener Stimme oder einem Winken der Augen seine Befehle austheilen, als es der Bursche that, der vorgestern Abend alle Andern in lärmender Lustigkeit überboten.

So zogen wir denn, von Rudern getrieben, über die tiefblaue Fluth, links von uns die zwei oder drei weiß leuchtenden Felsenriffe der Sirenen, vor uns in weiterer Ferne das geliebte Capri, rechts in ununterbrochener Linie das vielfach eingezackte Ufer mit seinen Dörfern und Städtchen, kleinen Marinen, Wachtthürmen (unter Karl V. gegen die Tunesischen Seeräuber gebaut), Olivenwäldern, Gärten, Villen, – Menschenansiedlungen aller Art an freundlichen bachgetränkten Geländen, die wieder mit schroffsten Ufermauern und Pfeilern abwechseln, wie sie nur für Möven und Adler taugen – und das Alles übergossen von der strahlenden Maiensonne, die in kühnsten Lichtern und duftigsten Schatten und in einem Reichthum von Farben schwelgt, welcher nicht blos jeder Beschreibung (was gar nichts sagt), sondern auch des Pinsels des Malers spottet (was auch nicht viel sagen will); und – da ist Scaricatojo!

Oder doch die Marina, der Hafen von Scaricatojo – ein bescheidener Hafen! zwischen größeren und kleineren Steinblöcken ein paar Quadratfuß Sand, den ein Wasseräderchen, das im Sommer wahrscheinlich austrocknet, hier unten mühsam zusammengebracht hat, gerade genug, um ein Boot auflaufen lassen zu können, wenn es nicht allzuheftig weht. Und die Flotte von Scaricatojo entspricht seinem Hafen: zwei oder drei Boote, deren Mannschaft uns am Ufer, zu welchem uns unsere Leute durch die unbedeutende Brandung tragen, empfängt, um alsbald mit den letzteren in schärfsten Wortwechsel zu gerathen. Die Männer von Scaricatojo behaupten, daß sie einzig und allein das Recht hätten, die vier Wunderwerke der Lederwaarenindustrie des Kinnlosen und unsere Eßvorräthe und Plaids die Felsentreppe hinaufzuschaffen, während die Amalfitaner diese Ansprüche nicht gelten lassen wollen. Endlich wird ein Compromiß geschlossen; die Wunderwerke gehen in die Hand eines Scaricatojoners, während zwei unserer Matrosen unsere Sachen schultern; den Oberbefehl der Expedition übernimmt selbstverständlich der Capitano. Er geht frei und ledig auf seinen ungegerbten Sohlen, wie es einem edlen Capitano zukommt, und hat sich nur, Gentleman wie er ist, das Tuch der Signora ausgebeten.

So steigen wir die Felsentreppe hinan, nur durch die denkbar niedrigste Brüstung von der schwindligen Tiefe getrennt, in der alsbald das Meer unter uns liegt. Doch sind wir an dergleichen Situationen jetzt so gewöhnt, daß wir ohne den geringsten Beigeschmack von Aengstlichkeit die einzige Schönheit des Ortes und der Stunde in vollen Zügen trinken können. Dann auf ungefähr zwei Drittel der Höhe, geht es nach rechts landeinwärts in Zickzackwindungen zwischen Felsen, auf denen allerlei wilde Blumen im Morgenwinde nicken; und dann kommen auch bereits winzige Gärtchen oder auch ein kleines Feld und ein paar Obstbäume, und dann sind wir oben, glühend von der Anstrengung des Marsches und der Sonne, gegen deren heißen Strahl uns die kleine Osterie, in die wir treten, endlich einen ausreichenden Schutz gewährt.

Eine kleine, elende, windschiefe, verräucherte Osterie, mit einem von morschen Holzständern getragenen schadhaften Vordach und sonst nur aus einem einzigen Raum bestehend, der in der Mitte durch einen mannshohen Verschlag in das Gastzimmer und in die Familienwohnung getheilt ist. Die Familie besteht freilich jetzt, woraus sie auch immer bestanden haben mag, aus einem alten Paare, von welchem die Frau aussah, wie eine gutmüthige Baucis, die nach dem Tode ihres Philemon ein bereits sehr decrepiter, aber noch ausreichend schlauer Silen zu einer zweiten Ehe überredet, und die in diesem Verhältniß an Werth und Würde nicht unbedenklich verloren hat.

Capitano-Satyr ließ es sich nicht nehmen, den Tisch zu decken, während wir, ein wenig abgekühlt, wieder aus der dunklen Spelunke traten, und von dem Kinnlosen ungerührten Abschied nahmen. Er wollte nach Sorrent und hatte unterdessen einen Esel aufgetrieben, auf dem er nun (in Begleitung des Eselbuben) seine Straße zog, die sich alsbald in einen Einschnitt senkte. So, als Staffage in diesem Bilde – das kahle, sonneüberglänzte Plateau, auf dem ein paar Häuschen zerstreut liegen; drüber der wolkenlose blaue Himmel, ein abwärts gleitender Weg, durch den aus der Ferne das weiße Sorrent, oder doch ein Stück davon, und ein Streifen von dem blauen Meere heraufgrüßen – ich sage: als Staffage in diesem Bilde machte sich der Mann recht gut und darf als solche eines dankbaren Andenkens unsrerseits versichert sein.

Capitano-Satyr kam zu verkünden, daß das Frühstück bereit sei – ein herrliches Frühstück, wie es aus der vortrefflichen Küche und, wie ich hinzufügen muß, dem nicht minder vortrefflichen Keller der Cappuccini wohl nicht anders hervorgehen konnte. Den Wein, eigenes Gewächs, welchen uns Silenus in der ungeheuern bauchigen Flasche credenzte, überließen wir willig den Männern von Amalfi, ebenso wie den gewaltigen Vorrath gekochten Schinkens, welcher unterwegs, mitsammt der Schüssel dem auf dem Kopfe getragenen Korb entgleitend, eine der Stufen der Felsentreppe garnirt hatte. Ich war der Einzige, der das Unglück beobachtet und der darauf bestand, daß gekochter Schinken bei großer Hitze Reisenden nicht zuträglich sei.

Und so saßen wir denn in dem Halbdunkel der Spelunke auf wackligen Schemeln an einem wackligen Tisch in der Nähe der weitgeöffneten Thür; und aus dem Halbdunkel tauchten der Silen und seine alte Baucis auf und verschwanden wieder, und durch die weitgeöffnete Thür ging Capitano-Satyr geschäftig ab und zu; und die Stimmen unserer Schiffer, die unter dem Vordach schmausten und zu denen sich ein paar Scaricatojoner gesellt hatten, erklangen scharf und lustig; und lustig strich der frische Wind durch die dunkle Spelunke; und wir schmausten und tranken ebenfalls und waren guter Dinge. Und ich möchte wissen, wie man an einem sonnigen Maienmorgen auf Scaricatojo, hoch über dem Busen von Salern und dem Golf von Neapel, die man beide von diesem erhabenen Standpunkt aus erblickt, im Vollgenuß der köstlichen Gegenwart und der ahnungsvollen Aussicht auf Sicilien, wohin wir morgen schon unsere Segel richten werden, anders als guter Dinge sein kann.

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