Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IV.
Herbsttage auf Norderney.

(1866.)

Es war spät im September und das Wetter erbärmlich schlecht; mit jedem fälligen Dampfer leerten sich ein paar Dutzend der kleinen Häuser in Norderney von Badegästen und füllten sich die kleinen Grasgärten vor den kleinen Häusern mit Hammeln.

Denn die Badegäste und die Hammel in Norderney stehen in genauester Relation. Sobald der erste Gast sein Haus betritt, nimmt der Paterfamilias den Familienhammel, der bis dahin Herr des kleinen Grasgartens war, am Halfter, und führt, schweigend den Schweigenden, tief in das Innere der Insel in eine Verbannung, deren Dauer genau nach der Dauer des Aufenthaltes der Gäste in selbigem Hause bestimmt ist.

Offenbar ist die Existenz eines Badegastes in einem Parterrezimmerchen mit der eines Hammels in dem Gärtchen vor seinem Fenster unverträglich. Oder es genauer auszudrücken: Jeder, der die Natur eines angebundenen (getüderten) Norderneyer Hammels kennt, würde die unmittelbare Nachbarschaft eines afrikanischen Löwen, der frei umherläuft, bei weitem vorziehen.

Ich will versuchen, diese Natur zu schildern, so weit sie sich dem sinnigen Betrachter auf seinen einsamen Spaziergängen durch das Innere der Insel offenbart.

Allerdings wird die Beobachtung einigermaßen durch den Umstand erschwert, daß der Hammel, sobald er die Annäherung seines Todfeindes spürt, zuerst einmal, mit dem Instincte jedes vernünftigen Geschöpfes, die Flucht zu ergreifen versucht, und dieselbe auch ausführt, allerdings nur, so weit der Strick reicht, mit welchem er an den Pflock getüdert ist. Von genau diesem Punkte und diesem Momente an verwandelt er die gehemmte gerade Richtung in einen Kreis, dessen Centrum der Pflock ist, und dessen Peripherie durch die dunkle Masse eines Thieres, wie es scheint, umschrieben wird, welches mit eingeklemmtem Schweif und auf den Sand gesenkter Nase, in der Eile von acht Meilen die Stunde, sich so lange herumwirbelt, bis Du thust, was Du als verständiger Mann gleich hättest thun sollen: Dich hinter eine Düne duckst und von dort aus Deine Beobachtungen fortsetzst.

Der Hammel hat seine Nerven so weit beruhigt, um in seinem rasenden Lauf einzuhalten. Er durchmißt jetzt in kurzem Trabe seinen Kreis nach allen Windrichtungen und schaut nach dem verschwundenen Feinde aus.

Hier kommt Dir zuerst der zaghafte Gedanke, ob der Strick auch wohl fest genug sein möchte; denn Du hast jetzt den Eindruck, daß der Hammel jene Anstrengungen vorhin nur gemacht, und auch noch nichts Anderes im Sinne hat, als sich loszureißen und sich auf Dich zu stürzen; und daß ein Kampf Mann gegen Mann bis auf's Messer mit einer solchen Bestie kein Kinderspiel ist.

Denn der Norderneyer Hammel ist ein hochbeiniges, breitbrustiges, langrückiges Thier von der Größe jenes berühmten Widders aus der Stamm-Schäferei des Polyphem. Ja, während Dein bewundernder Blick diese ungeheuren Verhältnisse mißt, wird Dir die Rettung des Vielumgetriebenen und seiner Gefährten aus der Höhle des gesetzlosen Scheusals (an deren Möglichkeit Du bei aller Achtung vor Homer bis dahin immer noch bescheiden gezweifelt) vollkommen klar. Du sagst Dir, daß ein starker Mann und Held, sich unter den Bauch des Ungeheuers schmiegend, und seine Hände in den Urwald der fußlangen Wolle begrabend, »ausdauernden Herzens« die ganze ambrosische Nacht liegen könne. Und weiter, daß er sicher sein könne, es werde ihn das geblendete Scheusal am nächsten Morgen nicht entdecken; und sein Widder ihn zur Höhle hinaus und, wenn's sein muß, noch ein paar Meilen weiter schleppen.

Der Hammel hat seine Nerven vollkommen beruhigt; er ist zu seinem habituellen Gemüthszustand zurückgekehrt, und Du überzeugst Dich, daß dieser Zustand ein bis zur Melancholie des Wahnsinn's sich vertiefender Ernst ist.

Schon physiognomisch ist dieser Ernst deutlich erkennbar in dem Meer von Schmerz, das um die hohlen Augen herumliegt und sich in einem ununterbrochenen Strom die lange Nase herab ergießt, sich um die zuckenden Nüstern noch einmal stauet, und dann, Tropfen um Tropfen, in den Dünensand, auf welchem sich die Nase jetzt wiederum tief gesenkt hat, zu verrinnen scheint.

Das Opfer der Schmerzen verharrt lange in dieser trostlosen Stellung; so lange, daß Du schwören möchtest: hier sei kein anderer Ausweg mehr als Selbstmord; aber –

wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
Gab ihm ein Gott zu sagen, was er leidet.

Er hebt das Haupt mit dem thränenreichen Angesicht. Er schaut hinauf zu den Wolken, die schwer über ihn dahinziehen, und im nächsten Moment einen dichten Schauer auf ihn herabschütten werden – den vierunddreißigsten heute Vormittag. Er blickt in die Runde der Dünen, die ihn einschließen und auf deren öden Seiten nicht einmal mehr die harten Halme des Strandhafers nicken, so haben Wind und Regen ihre zähe Kraft gebrochen. Das Gras, das um ihn her in groben Büscheln wächst und auf dessen Genuß er für Leben und Sterben angewiesen ist, liegt da, als wäre eine Walze drüber weggegangen. In den Stapfen seiner Hufe sammelt sich der Regen, der eben wieder losbricht – ein Zeichen, daß der Sand vollkommen getränkt ist. Und jetzt, jetzt! – über seinen breiten Rücken gleitet ein dünner kalter Strahl – er kann, er will's nicht glauben, und doch: es ist nicht anders: der Regen hat sich einen Weg durch sein Fließ gebahnt! und die feuchten Wimpern aus die halbgebrochenen Augen senkend, erhebt er seine Stimme.

Es ist nur ein Ton, aber welch ein Ton! ein Ton, tief, wie das tiefste Register einer Orgel, stark, wie die Drommeten Jericho's; ein Ton, der eine Welt von Schmerzen nicht sowohl in sich schließt, als von sich giebt, ausgiebt, zu den Wolken schreit, die droben hangen, zu den Möven, die schweren Flugs vorbeischwingen, – ein Ton absoluter Hoffnungslosigkeit aus jedes Glück hienieden und in einem zukünftigen Leben, an das jeder glauben mag, wer kann – ein Ton, der gewissermaßen das Band zwischen dem Hammel und seinem Schöpfer zerreißt und das Tischtuch zwischen ihm und dem Menschen mitten durchschneidet.

Dieser Ton, der, einmal ausgestoßen, zur Zertrümmerung und Vernichtung einer schönen Welt voll Licht und Frieden und Sonnenschein zu genügen scheint – er erdröhnt nun in regelmäßigen Pausen von fünf bis zehn Minuten wieder und wieder, Tag und Nacht, bis der Abgrund sich zu Deinen Füßen aufthut und Dein Herz in Dir verzagt.

Die Sache ist so klar, die Unmöglichkeit, beide Pole der natura naturata, den Norderneyer Badegast und den Norderneyer Hammel, zusammenzubringen, so evident, und der Ruin der Insel als Bad, wollte man keine Rücksicht walten lassen, so augenscheinlich, daß während der Saison sich, wie ich schon andeutete, auch wirklich von Obrigkeitswegen kein Hammel sehen und hören läßt, außer für die Tollkühnen, die sich muthwillig in die Gefahren begeben, welche in dem Innern der Insel zwischen den von hartem Gras und Strandhafer überlaufenen Dünen auf Dich lauern. Geht aber die Saison zu Ende, fangen die Häuser an sich zu leeren, dann holt sich Einer nach dem Andern seinen Hammel wieder und – doch weshalb das Schreckliche vor der Zeit heraufbeschwören.

Ich hatte noch ein ganz kleines Stück von der Saison zu sehen bekommen, und es hatte mir wohl gefallen. Das Wetter war vortrefflich gewesen. Die Morgen frisch, aber nicht zu frisch, die Mittage warm, aber nicht zu warm, die Abende wie die Morgen. Die Sonne hatte jeden Tag, manchmal den ganzen Tag lang geschienen; der Wellenschlag hatte sich bei einem gleichmäßigen Ostwinde der größten Regelmäßigkeit mit Erfolg befleißigt. Die schier endlose Promenade an dem glatten Strande zwischen dem Meere und den Dünen war an den Nachmittags- und Frühabendstunden von Menschen: Männlein und Fräulein sehr belebt gewesen, und sie hatten die offfciellen Spaziergänge bei dem schönen Wetter weiter ausgedehnt, als wohl sonst die Gewohnheit der Männlein und Fräulein gewöhnlichen Badeschlages ist. Zwischen den promenirenden Paaren und umherstehenden Gruppen hatten sich fröhliche Kinder getummelt, und, harmlos, wie sie nun einmal sind, über die unglücklichen Seesterne, Taschen- und anderen Krebse, welche die rückrollende Fluth auf dem Strande gelassen, unnennbaren Jammer gebracht. Das von der dunklen See hüben und den weißen Dünen drüben eingerahmte Strandbild mit all dem Gewimmel promenirender Menschlein hatte sich besonders bei tiefstehender Sonne hübsch ausgenommen, wenn es von dem noch nassen spiegelglatten Sande, wie von einem wirklichen Spiegel, reflectirt wurde.

Selbst der Gedanke, daß das Bild in diesem Jahre 1866. zum ersten Male seit dem Bestehen des Bades seines vorzüglichsten Schmuckes entbehrte, hatte es in meinen Augen nicht schlechter machen können. Einmal gehört das Vorhandensein des Adels zu den Bedingungen, unter welchen das Leben lebenswerth erscheint, für mich ebenso wenig, wie es zu den Lebensbedingungen des Mannes gehören kann, von dessen Hand ich an die Wand einer Badekarre mit Bleistift geschrieben fand: Als Adam grub und Eva spann, wer war denn da der Edelmann? – eine alte, aber vielleicht gerade an diesem Ort wohl aufzuwerfende Frage. Sodann wollte mir, trotz eines früheren zweijährigen Aufenthaltes in der Welfenresidenz nicht einleuchten, weshalb ich für die hannöver'sche Species eine Ausnahme von der Regel statuiren müßte; und drittens war ich zum ersten Male auf Norderney und konnte also keine Vergleiche zwischen dem Ehemals und dem Heute anstellen. Das Zeugniß derjenigen aber, welche, als alte Stamm-Badegäste, sich auf's Vergleichen legen durften und legten, hatte selbstverständlich gar keinen Werth, da sie, als Preußen, Partei und als parteiische Preußen natürlich mit dem Zustande, den sie selbst geschaffen, höchlichst zufrieden waren.

Das nun war am Ende nur in der Ordnung und folglich zu billigen. Was aber sollte man von der Loyalität dieser Insulaner denken, welche, kaum dem mütterlichen Boden des zertrümmerten Welfenreiches entrissen, in einen andern Staatsverband gepflanzt, absolut thaten, als ob das Meer noch gerade so ebbe und fluthe wie vorher, und der Wind wehe und der Regen regne und die Möven flögen und die Hämmel schrieen, als wäre nichts geschehen, als wäre nicht etwas geschehen, was nicht hätte geschehen dürfen bis an das Ende aller Dinge! Ich habe sie mit dem scharfen Auge des schlechten Gewissens beobachtet und keine Spur von Unzufriedenheit oder Verzweiflung über den fürchterlichen Zustand, in welchen sie so jählings gerathen; keinen Schatten von Haß oder Verachtung gegen ihre Unterdrücker und Peiniger entdecken können. Als ich in das polizeiliche Anmeldebuch, das in jedem Hause ausliegt, meinen Namen eingetragen, spähte ich meinem Wirth auf die Stirn, während er, sich über den Tisch beugend, bedächtig las, was für ein Thier er eingefangen. Keine Muskel in dem wettergebräunten, tief gefurchten Antlitze zuckte, kein zorniger Blitz schoß aus den wasserhellen Augen zu mir herüber; er nahm das Factum, einen Preußen, einen Menschen aus Berlin unter seinem ehrlichen Dache zu haben, mit einem Gleichmuth hin, vor dem das » Soyons amis, Cinna!«, das ich auf der Lippe hatte, scheu zum Herzen zurückkroch. Und als am Abend Stine, die Magd, mir den ersten Thee brachte, – es ist wahr, die Hand war groß und knochig; aber die größte und knochigste Hand bebt – nein! – in diesem Araber war kein Falsch Richard Löwenherz konnte den Thee ruhig trinken!

Und so liefen denn auch in den nächsten Tagen von befreundeten Berlinern, die ich vorfand, von andern Berlinern, deren Bekanntschaft ich zu machen das Glück hatte, die befriedigendsten Nachrichten ein. Kein mit Preußen – und es weilten fast nur preußische Badegäste, zumeist Berliner auf Norderney – kein mit diesen Scheusalen befrachtetes Dampfschiff von Bremen oder Emden war in unmittelbarster Nähe der Insel auf einen von ruchloser, gänzlich unbekannter Hand da versenkten Torpedo gerathen und in die Luft geflogen; kein Vergnügungsboot war in der Brandung durch einen noch nicht aufgeklärten Zufall gekentert und hatte, während die Mannschaft sich rettete, sämmtliche Vergnüglinge in die See geschüttet, aus der sie erst vierundzwanzig Stunden später, nicht mehr ganz so vergnügt, herausgefischt werden konnten; kein selbstmörderischer Preuße, war zwischen den Dünen liegend gefunden worden, todt, mit sechszehn norderneyer Schiffermessern, die er sich heimlich zu verschaffen gewußt, im Herzen; keiner war auch nur unter den Händen der Badewärter trotz aller angewandten Mühe ihn zu retten, angesichts der verzweifelten, aber hilflosen Freunde ertrunken.

Und doch wird Jeder, der einmal in Helgoland, Sylt, Norderney oder andern Nordseebädern mit regelrechtem oceanischen Wellenschlage und obligater Brandung gebadet hat, zugeben, daß dabei zu ertrinken selbst für einen sehr gewandten und rüstigen Schwimmer keine schwierige, und für Jemand, der weniger gut, vielleicht gar nicht schwimmen kann, eine verhältnißmäßig leichte Aufgabe ist. Ich spreche nicht von der Höhe der Wogen, die man, wenn sie nur einigermaßen regelmäßig heranrollen, mit Leichtigkeit hinauf- und hinabsteigt, so lange man mit voller Kraft und der nöthigen Vor- (und Rück-) sicht schwimmen kann; aber dieselbe Woge wird fürchterlich, im Augenblick, wo Du ermattest, oder die Geistesgegenwart verlierst. Sie bricht über Dir zusammen, als hätte sie nur auf diesen Moment gewartet; und indem Du Dich aus der grünen Finsterniß emporarbeitest, und den Kopf hebst, hat schon eine andere auf Dich gelauert, die einen Berg über Dich wälzt; und immer, wenn Du wieder auftauchst, ist es just der Moment, wo der Kamm der nächsten Woge, unter dem Du Dich befindest, wie eine schäumende Lawine über Dir zusammen und über Dich hereinbricht, und Dich wieder in die grünschwarze Nacht begräbt. Ich bin nie in solcher fragwürdigen Situation gewesen; aber Freunde, die es waren, versichern mich, daß man in derselben sein Leben verlieren könne, ohne es eigentlich zu wollen. Nur einmal, als ich, bereits im flachen Wasser, mich unvorsichtig gerade (anstatt gebückt, den Rücken der Fluth zugewandt) aufrichtete, traf mich eine Welle, die nicht halb so hoch war, als Dutzende, die ich eben schwimmend hinauf- und hinabgeklettert, zwischen den Schultern, daß es mir sofort schwarz vor den Augen wurde und ich vornüber taumelte, und von Glück sagen mochte, daß es nicht hintenüber, und die Ohnmacht nur momentan war, oder ich hätte dreißig Schritte vom Ufer ertrinken können.

Und dann die Gewalt der Strömung bei rasch steigender Fluth oder eintretender Ebbe – eine Gewalt, die man erst schaudernd kennen lernt, wenn man nach dem Ufer zurückschwimmt und wahrnimmt, wie der Punkt den man in Aussicht genommen – sagen wir die sechste Badekarre – nach links oder rechts rückt, wie's nun eben ist; und immer mehr nach links oder rechts, trotz unserer äußersten Anstrengung; und man sich sagen muß, daß man in dem Kampfe mit der Strömung, in die man offenbar gerathen, so viel Chancen hat, oder unter Umständen haben würde, wie eine Maus, auf die ein Elephant seinen Fuß setzt. Nur daß die Umstände diesmal günstig sind, und Dich der Strom nicht dahin, wohin Du gewollt, aber wo es auch trocken ist, auf den Ufersand trägt.

Die Folge dieses überraschenden Mißverhältnisses zwischen der Menschenkraft einer- und der Gewalt des Oceans andererseits ist, daß nur immer solche Leute beim Baden ertrinken, die sich auf sich selbst verlassen zu können glauben; jene bescheidenen Seelen aber, die Leib und Seele geduldig in die Hände der Bademänner resp. Badefrauen Die Namen dieser Huldinnen sind nach den Mittheilungen mir befreundeter Damen ganz ihrem Liebreiz entsprechend. Oder wem sollte die tiefe Poesie entgehen, die in Namen liegt, wie: Klaske, Jeske, Jesine, Nantje, Jantje, Jate, Tate u. s. w. empfehlen, ausnahmlos gerettet werden.

Nur Einer hätte beinahe eine Ausnahme gemacht; freilich war es ein Löwe – der Königssproß, auf dessen beiden Augen die Zukunft des Welfenhauses stand, steht und bis an das Ende aller Dinge stehen wird. Aber diese Zukunft stand nicht nur auf zwei Augen, sondern auch auf zwei Füßen, und dazu sehr schwachen, und eines schönen Tages, als die Zukunft des Welfenhauses (bis an das Ende aller Dinge) in dem Strande von Norderney unter den Händen erfahrener Männer gebadet wurde, stand sie nicht mehr auf diesen Füßen, sondern plötzlich auf dem Kopf, und auf den Füßen wieder nur, um abermals auf dem Kopf zu stehen, und so abwechselnd, bis die erfahrenen Männer sich mit den kundigen Augen zuwinkten: nun ist es genug.

Und sie thaten, wie sie sich zugewinkt, und gingen hin und sagten es dem Welfensohne, der mittlerweile wieder zu sich und in trockne Kleider gekommen und – so erzählt man – anfangs an das Wunder der Rettung gar nicht glauben wollte, sondern (o ahnungsvolles Gemüth!) behauptete, es sei ja Alles dummes Zeug: die Leute hätten ihn in Ruhe lassen sollen, wie er ihnen fortwährend (so oft er den Kopf aus dem Wasser gehabt) zugerufen, und von einer Lebensgefahr sei keine Rede; bis er in sich ging und den Finger der Vorsehung erkannte, der hier so sichtbarlich gewaltet. Die Männer aber schritten fürbaß und thaten es auch dem Könige kund, der alsbald nicht blos den Finger, sondern die ganze Hand sah, mit welcher die Gerechtigkeit des Himmels den schwankenden Welfenthron wieder auf seinen rocher de bronze stabilirt. Und Alle, die um ihn waren, gläubeten ebenfalls, und es lief wie ein Feuer durch die Lande, und wo nur Kirchenglocken hingen von der Nordsee bis zum Harz, da läuteten sie Freude, und wo nur Hoflieferanten wohnten von der Ems bis zur Elbe, da illuminirten sie ihre Fenster und sich selber. An dem Orte aber, wo das Wunder geschehen, in Norderney – nicht am Strande, wo es die Fluth hätte fortspülen können, sondern mitten auf der Insel, damit es dort im Schutz der Dünen dauern möge bis an das Ende aller Dinge – errichteten sie ein Mal aus Stein und umfriedeten es mit einem Gitterlein aus Eisen und – die Comödie war aus und die humoristischen Bademänner zählten in ihren harten Händen das rothe Gold, mit welchem der dankbare König und Vater ihre rauhe Tugend belohnt, und sahen sich einander in die Augen und – lachten nicht.

Denn dies Geschlecht nordischer Männer ist nicht, wie die Kinder des Südens, die weinen oder lachen müssen, wenn es ihnen weinerlich oder lächerlich um's Herz ist. Sie sind Philosophen, denen das Spinoza'sche: man solle die menschlichen Dinge verstehen lernen und damit basta! eingeboren ist, nur daß sie noch die Vorsicht brauchen, den Kreis der menschlichen Dinge, die überall für sie vorhanden sind, möglichst klein zu ziehen und wesentlich auf »die Werke des Meeres«, wie Homer sagt, zu beschränken. Diese Menschen repräsentiren nach einer Seite das Ideal meines braven Lehrers in Oberquarta, welcher das Plaudern für der Sünden größte zu halten schien, und Plaudern dahin definirte, daß es »sprechen sei, ohne gefragt zu sein.« So würden denn diese Menschen niemals plaudern; aber freilich – und das ist die andere Seite der Medaille, Herr Doctor! – sie sprechen auch manchmal nicht, wenn sie gefragt sind, und ganz gewiß nicht, wo sie mit einer Geste, Geberde, einem Augenwink, durch ein Thun, durch irgend etwas, das nur um Himmelswillen nicht mit Hülfe von Zähnen, Zunge, Gaumen zu Stande kommt, die erbetene Auskunft geben, die fragliche Situation aufklären können.

Sie leisten nach dieser Seite das Außerordentlichste, Wunderbarste, im Vergleich womit die stolze Unerschrockenheit des horazischen Gerechten, dem der Himmel auf den Kopf fällt, und die Furchtlosigkeit Graf Richard's von der Normandie und was und wer noch sonst mustergiltig ist für echte Lebensweisheit und soliden Stoicismus, in tiefen Schatten tritt. Nie werde ich die Scene vergessen, die auch wohl Allen, die sie miterlebt, unvergeßlich sein wird.

Wir hatten eine Vergnügungsfahrt vor und standen am Ufer, um eingeschifft zu werden. Das war aber eben hier und heute (wie überall und immer in Norderney) so einfach nicht; denn das große Boot lag mindestens fünfhundert Schritt weit vom Strande in dem tieferen Wasser, und selbst die kleine flache Jolle, mit der die Leute uns zu holen kamen, lief schon hundert Schritte vorher auf; und unsere Damen sahen uns an und fragten: was nun? Aber sie fragten nichts mehr und ihre Augen wurden starr, als jetzt einer von den Männern in der Jolle, nachdem er sich seiner Jacke entledigt, in das Wasser stieg, das ihm bis über's Knie reichte und, seine weiten Beinkleider aufstreifend, zu den Unterschenkeln im Wasser ein paar Oberschenkel im Licht der Sonne präsentirte, die das Entzücken eines Bildhauers gewesen sein würden, der ein Modell für einen Meleager, oder anderen Heros braucht. So kam er langen, langsamen Schrittes durch das seichte, spiegelglatte Wasser auf die Gruppe am Strande zu, sie mit den hellen blauen Augen ruhig musternd, während er sich näherte; und jetzt blieben diese hellen blauen Augen auf einer unsrer Damen haften, die starr und stumm dem seltsamen Schauspiel zusah; und jetzt trat er, der heiligen Salzfluth entsteigend, unmittelbar vor sie hin, und – meine Feder sträubt sich, es niederzuschreiben – ohne ein Wort, ja nur einen Blick der Verständigung nahm er sie, sich ein wenig beugend, in seine starken Arme, in der Weise, wie man ein Kind auf den Arm nimmt, und trug sie in das Boot. Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß die junge Dame eine von denen war, welchen sich im gewöhnlichen Leben jeder fühlende Mann nur mit über der Brust gekreuzten Armen und mit einer kaum widerstehlichen Neigung, den Boden vorher dreimal mit der Stirn zu berühren, naht. Nun, Gott sei Dank, sie hat den Schrecken überlebt; aber das Merkwürdigste ist, daß der Mann es überlebt hat, daß er nicht, wenn auch nicht auf der Stelle, so doch hinterher vor Schreck gestorben ist, wie »der Reiter auf dem Bodensee.«

So haben denn auch jene schweigsamen Humoristen die Geschichte vom geretteten Königssohn gewiß nicht ausgeplaudert; und ich kann die Wahrheit derselben auch in keiner Weise verbürgen, aber man erzählte sie überall in den Kreisen der Badegäste, welche freilich fast ausnahmlos, als treulose, verlogene Preußen, keinen Glauben verdienten und verdienen, wenn sie auch einen herkulischen Gesellen unter den Bademännern als denjenigen bezeichneten, der in dem Scherz als erster Acteur beschäftigt gewesen war.

Noch ein zweiter Ureinwohner wurde genannt und gelegentlich gezeigt, als der einzige auf ganz Norderney, der sich noch immer, nach nun beinahe drei Monaten, mit der preußischen Herrschaft nicht ausgesöhnt habe. Es war der Nachtwächter. Er hatte sich, in einer schönen Julinacht ruhig seinem Berufe nachgehend, plötzlich von einer Schaar bewaffneter Männer überfallen und festgehalten gesehen. Es waren Preußen von einer Kriegsschaluppe, die dem flüchtig gewordenen Welfenschatze, der sich nach Norderney geworfen haben sollte, scharf nachsetzte, und sie hatten sich den Wächter als Führer und Wegweiser durch die ambrosische Nacht aufgegriffen zu dem Hort, der übrigens längst von den klugen Zwergen, so ihn bewachten, in die Sicherheit der feuer- und preußenfesten Gewölbe der englischen Bank geschleppt war. Der Wächter der Nacht sicherte sich ebenfalls, indem er mit einem ungeheuren Aufwand von Schlauheit den Händen seiner Mörder entfloh, die, nachdem sie das Nest leer gefunden, nicht das mindeste Interesse mehr daran hatten, den Mann festzuhalten. Der Mann aber lebte noch bis auf diesen Tag des Glaubens – in welchem er von seinen scherzhaften Landsleuten bestärkt wurde – daß die Preußen in jener Nacht nur seinethalben gekommen seien und, da er ihnen mit solcher Schlauheit entwischt, eines schönen Tages wiederkommen würden.

Ich will auch die Wahrheit dieser Geschichte nicht verbürgen; sie schmeckt zu auffallend nach einer Erfindung müssiger preußischer Badegäste, die sich mit der Grausamkeit ihrer Rasse an den patriotischen Qualen ihrer Schlachtopfer werden.

Ach! die Reihen der preußischen Badegäste waren in den letzten Tagen gar sehr gelichtet! schon konnte man bei der Tafel in dem von den Blechtönen der Courcapelle durchdröhnten Speisesaal die Zahl der bekannten Gesichter zählen; immer seltener tappte und tastete man des Abends in den sackfinsteren Sandgassen Norderney's auf den schmalen Ziegelsteintrottoirs nach seiner Wohnung, denn es gab kaum noch einen abendlichen Theetisch, den man hätte besuchen können; immer kleiner wurde die Gruppe der Herren, die sich des Morgens, schaudernd vor dem kalten Wind und dem sprühenden Regen und der Erwartung des eisigen Bades, zusammenfanden, um dem Unvermeidlichen mit vereinten Kräften ruhiger entgegenzugehen; und eines schönen Morgens war der liebenswürdige Dr. P., der letzte der näheren Bekannten, sammt Regenschirm, Galoschen, Photographiealbum und Augenspiegel auch abgereist. Ich war allein.

Und es war nicht eines schönen Morgens gewesen; wir hatten schon seit einer Woche oder so keinen schönen Morgen mehr gehabt; und einen schönen Abend auch nicht; überhaupt keine schöne Stunde, geschweige denn einen schönen Tag. Es regnete nicht gerade fortwährend, aber gerade oft genug, daß es schwer hielt, noch einen ganzen trockenen Anzug aus seiner Garderobe zusammenzustellen. Dabei wehte der Wind unausgesetzt aus Nord-West mit einer gleichmäßigen Heftigkeit, daß der Sand, welchen er vom Strande auffegte und in die Dünen trieb, sich niemals über einen Fuß erheben konnte. Innerhalb dieser Region war er denn dafür so dicht, daß man seine eigenen Füße kaum und die Jemandes, der zehn Schritt vor einem ging, gar nicht mehr sah. Das gab denn der überdies schon verödeten Strandpromenade einen noch unheimlicheren Charakter; man glaubte die Gespenster der Schiffbrüchigen zu sehen, deren tobte Leiber die Stürme früher und später an diesen Strand gewälzt und die nun darüber hinglitten, vorübergebeugten Hauptes nach ihren Angehörigen, nach ihren Schätzen suchend.

Dabei nahm das Meer selbst von Tag zu Tag einen finstereren, drohenderen Ausdruck an. Ernst ist es ja immer, dieses Nordlandsmeer, selbst in seinen sonnigsten Augenblicken, wenn die Wogen gleichmäßig hineinrollen und sich überschlagen und schließlich auf dem sonnigen Sande in unendlichem Schaumguß zerfließen. Aber es ist doch dann ein milder Ernst, ein Ernst, der freilich bei Leibe nicht mehr lachen, aber doch lächeln kann, wenn auch nicht ohne einen Beigeschmack von Schwermuth, wie sie einem alten Meer ziemt, das sein etwas monotones Geschäft des Wogenrollens nun schon so sehr lange treibt, und es bei demselben für sich selbst auch nicht eben weit gebracht, und bei andern Leuten ebenfalls nicht viel Erbauliches, aber desto mehr Mühe und Arbeit und Todesnoth und Verzweiflung beobachtet hat. Ja, ernst und ernsthaft ist es immer, das Meer des Nordens; das weiß man ja, und verlangt es nicht anders, so wenig wie man von einem Löwen verlangt, daß er einen mit den Augen des Rehs anblicken soll. Aber wenn er sich erhebt und mit gesträubter Mähne und zornig gesenkten Augen und sich die Weichen mit dem Schweife peitschend in seinem Käfig auf- und abgeht und nun zu brüllen anfängt, daß einem das Herz im Leibe bebt, so ist das gewiß sehr majestätisch, erst recht majestätisch; aber es kommt uns dabei doch der Gedanke, daß seine Majestät im Grunde eine gräuliche Bestie ist, und wir werfen einen prüfenden Blick auf die Eisenstangen des Gitters, ob sie wohl hinreichend stark sind und die Thür gut schließt.

So ist es denn auch erfreulich für den verspäteten Norderneyer Badegast, daß der Strand, welcher noch vor zwei Wochen von eleganten Damen und Herren und spielenden Kindern gewimmelt hat, heute, wo er, so weit das Auge reicht, der einzige Repräsentant des Menschengeschlechts ist, sich noch eben so sicher breit streckt, als damals; und die Weiße Düne für ihn allein noch immer auf demselben Platze liegt, wie in den Tagen, wo sich einige Dutzend Gesellschaften bei der Tafel (wenn die Blechmusik sie zu Wort kommen läßt) darüber unterhalten, ob sie nun endlich am Nachmittage »die Partie« machen sollen, und wenn, ob zu Esel oder zu Fuß oder zu Wagen. Heute, wo sie hinauf- und hinab Niemand auf dem unendlichen Strande erblickt, außer mir, – und wie leicht kann sie den kleinen schwarzen Punkt übersehen, besonders, wenn er, in der Nähe der Brandung, die dunklen berghohen Wogen zum Hintergrund hat – heute hatte die Riesin ihr zahmes unschuld-weißes Saisonkleid abgelegt und sich ein schwefelgelbes Gewand umgethan, das ihrem ganz höllenhaftes Aussehen giebt, um so mehr, als der Himmel in dicken blauschwarzen Wolken herabhängt, die hier und da an den Rändern mit schmutzigem Roth gefärbt sind, – dem melancholischen Wiederschein des melancholischen Feuers einer Sonne, die untergeht, nicht wie ein Held, sondern wie einer, dem die Sache über den Kopf wächst, und der froh ist, daß die Geschichte, so oder so, ein Ende nimmt.

Uebrigens fehlte noch über eine Stunde an Sonnenuntergang und das war mir lieb; ich wollte ziemlich weit über die Weiße Düne hinaus an den östlichsten Theil der Insel einen letzten Versuch zu machen, ob sich ein paar alte überständige Hasen, die ich dort wiederholt aufgestoßen, wirklich nicht sprechen ließen.

Es ist ein sonderbares Terrain, der östlichste Theil der langgestreckten Insel. Während sonst Alles: die lange, wie mit einem Lineale gezogene Nordseite, die Westseite, die sich bald in die dem Festlande zugekehrten, von demselben nur durch das schmale, seichte Wattenmeer getrennten Südseite herumschwingt, und ebenso der innere Theil der Insel den Dünen gehört, so herrscht hier die Fläche, allerdings auch noch eine ondulirende, im Anfang wenigstens, wo unzählige mit struppigem Strandgras und stachligem Strandhafer besetzte kleine Inseln aus dem Sande hervorragen. Dann aber kommt bald ein Terrain, wo das Wasser von der Feste weniger scharf und manchmal gar nicht mehr geschieden ist: ein unheimlicher Bereich von superfeinem Sand, welcher dem Wanderer unter dem einen Fuße weggleitet, während der andre bereits in einem grünen Sumpf versinkt, den man für ein Stück Wiesenland gehalten hat. Und dann zischelt es in den Binsen, zwischen die man plötzlich, man weiß nicht wie, gerathen ist; und die Binsen haben ein schmutziges, klebriges Ansehen, als ob sie alle schon einmal in ihrem Leben ertrunken gewesen wären; und das sind sie auch und öfter als einmal, denn das Meer ergießt sich bei Springfluthen über das ganze Gebiet, wie eine Boa Constrictor sich erst ihr Opfer zurechtleckt, bevor sie es verschlingt.

Ich hatte mich natürlich – da mir mein jung frisch Leben denn doch zu lieb war – weislich gehütet, allzugenau zu untersuchen, wie weit man hier vordringen könne, obgleich die zahllosen Seevögel, welche dort hinaus, wo die eigentliche Brandung aufschäumt, beständig ziehen und flattern, den leidenschaftlichen Jäger oft genug gelockt hatten. Ich that es auch heute nicht, sondern suchte das Sandterrain mit den Strandhaferinseln nach meinen beiden Hasen ab. Ich fand auch wirklich den einen und er hielt sogar überraschend gut; aber der rechte Lauf versagte, und als Meister Lampe aus einer Terrainfalte, in welcher er verschwunden, wieder zum Vorschein kam und ich ihm mit dem linken ein Wort nachrufen konnte, schüttelte er nur mit den Ohren, und that, als ob er es nicht verstanden. In demselben Augenblick hüpfte Frau Lampe, die, drei Schritt von mir entfernt, sich ruhig die Affaire angesehen, mit einem eleganten Pas aus einem Boskete Strandhafer auf und chassirte ihrem Gatten nach, ohne in ihrer Wohlerzogenheit oder ihrem berechtigten Unwillen auch nur einen Blick nach dem fremden Herrn zurückzuwerfen. Ich bemühte aus guten Gründen den rechten Lauf nicht noch einmal.

Mein Gewehr war nämlich ein uralter Vorderlader schlechtester Construction und trotzdem das weitaus beste Exemplar unter sechs, welche von einem Norderneyer Schmied, in dessen öder Schmiede ich nie ein Feuer gesehen, an selbstmörderische Badegäste vermiethet wurden. Denn man konnte niemals wissen, ob der Pfeil nicht auf den Schützen zurückspringen, mit andern Worten: ob das Ding, wenn es losging, einem nicht um den Kopf fliegen werde. Die Gefahr wurde bei meinem Gewehr allerdings wesentlich dadurch verringert, daß der rechte Hahn an einem chronischen Rheumatismus litt, der ihn entweder zu gänzlicher Unthätigkeit verurtheilte, oder ihn zwang, in ganz kurzen Schritten sich zu bewegen – aus einer Ruh in die andere – und wenn er wirklich einmal in einem Zuge bis auf das Piston kam, so war seine Kraft von der übergroßen Anstrengung viel zu erschöpft, als daß es ihm möglich gewesen wäre, auch noch das Zündhütchen zu zertrümmern. Der linke hatte von Haus aus eine kräftigere Constitution gehabt, als sein rheumatischer Bruder, oder das Leben hatte ihn nicht so mitgenommen – jedenfalls hatte er sich eine anerkennenswerthe Frische des Temperaments bewahrt, und das Einzige, wovor er sich hüten mußte, war eine gewisse Nervosität und Rastlosigkeit, die ihn manchmal, ohne daß der Abzug berührt worden wäre, aus seiner Ruhe aufschreckte, so daß der Schütze von Glück sagen konnte, wenn er die Ladung nicht in die Hand bekam, durch die Schulter, in's Gesicht, oder wohin sie sonst nicht eigentlich gehörte.

Ich hatte dies so überaus ingeniöse und nützliche Instrument wieder in seine beste Verfassung gebracht und saß bereits seit einer halben Stunde, ein gut Theil weiter in das Innere hinein, mitten zwischen den Dünen, gut gedeckt, zwanzig Schritt vor dem Ausgang eines Kaninchenbaues, mit höchst unfreundlichen Absichten für die harmlosen Bewohner. Doch schien es heute nicht, daß ich die Küche meiner Wirthin mit einem hochwillkommenen Sonntagsbraten bereichern würde. Hatten die klugen Thiere trotz aller meiner Vorsicht Wind von mir bekommen, war ihnen das Wetter zu schlecht – es ließ sich keines blicken, trotzdem ich das schwarze Loch auf der halben Höhe der weißen Dünenwand so scharf im Auge behielt, daß es einmal wie ein Tintenfleck erschien, und in der nächsten Minute wie das Portal eines Palastes. Dann saß ein Kaninchen, das ich nicht hatte kommen sehen, sechs Schritt rechts, und machte Männchen, bis ich entdeckte, daß es derselbe Busch Strandgras war, den ich schon dreimal auf dem Korn gehabt; und dann spielte dieselbe Geschichte sechs Schritt links von dem Eingang, nur daß es diesmal zwei Kaninchen zu sein schienen; und dann entdeckte ich, daß ich den Lauf meines Gewehres nicht mehr halb zu Ende sehen konnte, und daß es die allerhöchste Zeit sei, nach Hause zu gehen.

Natürlich blieb ich dann noch ein Viertelstündchen, damit die Wolken, welche sich bereits seit einer Stunde wieder langsam zusammenzuschieben begonnen hatten, doch ja Zeit gewönnen, die letzte helle Stelle auszufüllen und einen Guß herabzuschütten, der mich vollkommen durchnäßte, bevor es mir gelang, unter einer etwas überhängenden Düne eine Art von Schutz zu finden. Viel war es freilich nicht – ein drei Fuß tiefes Sandloch; aber man nimmt im Nothfall auch damit vorlieb; und so stand ich denn – das treue Gewehr im Arm – und hörte den Sturm über mich weg heulen in langgezogenen schauerlichen Tönen, während der Regen, der auf den harten Sand klatschte, zusammen mit den zischelnden Gräsern und dem raschelnden Strandhafer in einem die Empfindung hervorbrachten, als werde im nächsten Augenblick Alles um einen her zu Wasser werden.

Glücklicherweise hatte das Unwetter sich bald ausgerast, und es regnete nur noch in gleichmäßiger, streng geschäftlicher Weise. Ich würde mir daraus absolut nichts gemacht haben, wenn die Dunkelheit nicht schon ohne dies dicht genug gewesen wäre, und sich mit jedem Augenblicke tiefer in ihre Schleier verwickelt hätte. Und es waren schwarze Schleier, so wenig durchsichtig, daß selbst der Dünensand, der in der Sonne wie eitel Schnee leuchtet, kaum noch einen schwächsten Schimmer behielt. Ich hatte nie geglaubt, daß es hier bis zu diesem Grade dunkel werden könne.

Und diese Dunkelheit war mehr als blos unbequem. Ich war kaum zehn Minuten gegangen (wenn man auf allen Vieren eine Düne erklimmen und auf der andern Seite herunterrutschen, Gehen nennen kann), als ich zu bemerken glaubte, daß es nicht mehr die richtigen Dünen waren, an denen ich meine Turnübungen anstellte. Ich sage: glaubte, denn von Wissen könnte gar keine Rede mehr sein; jedes Zeichen, nach welchem ich mich die vielen Male, die ich bereits hier gewesen war, gerichtet hatte, und man sich überhaupt hätte richten können: eine besondere Formation dieser und jener Düne, der Stand der Sonne, u. s. w. das war jetzt Alles verschwunden, als gäbe es dergleichen gar nicht; kein einziger Stern – nichts, absolut nichts, als eine kaum merkliche Gradation in der Dunkelheit, je nachdem man sich in der Tiefe eines der Kessel, welche die Dünen zwischen sich bilden, oder auf der Höhe einer Düne befand.

Man thut in solchen Fällen am besten, wenn man sich seiner stolzen, nun durchaus nutzlosen Vernunft möglichst entäußert, um sich ganz dem zu überlassen, was von dem Instinct des Thieres noch etwa in uns ist. Ich war die ersten zehn Minuten ganz gewiß in der rechten Richtung vorwärts gekommen; nun, da ich zu denken angefangen, hatte ich offenbar vorwärts zu kommen aufgehört. In spätestens einer halben Stunde hätte ich aus den Dünen heraus und auf einem etwas freieren Plan sein müssen, von welchem man die Lichter aus den östlichsten Häusern von Norderney sehen konnte; jetzt war ich nach meiner Berechnung mindestens eine Stunde geklettert und gerutscht, und befand mich, wie es schien, noch eben so tief zwischen den Dünen als je vorher.

Die Situation fing an, einigermaßen bedenklich zu werden. Am Himmel wollte sich auch nicht das kleinste Fleckchen Helligkeit entdecken lassen; es regnete ganz gleichmäßig weiter und konnte so noch stundenlang, die ganze Nacht hindurch regnen. Die ganze Nacht hindurch aber hier zwischen den Dünen ausharren zu müssen, von der Nässe und der Kälte durchschauert, ohne einen Bissen Brot, ohne einen Schluck Wein oder Branntwein in der Jagdtasche, ohne die Möglichkeit eines andern Schutzes, als zwischen sich und den Wind eine Dünenwand zu bringen – das war eine Aussicht, die für Niemand unter den Menschen, die ich kenne, erfreulich, für einige schier ängstlich gewesen sein würde.

Ich gehörte nicht zu den Letzteren, schon deshalb nicht, weil ich die Hoffnung, heute Abend noch ein oder zwei Glas steifen Grogs zu trinken, bevor ich mich zu Bett legte, keineswegs aufgegeben. Weshalb sollte ich auch? ich fühlte mich noch ganz frisch, oder doch keineswegs erschöpft, und dann hatte ich auch offenbar die Sache falsch angefangen. Ich hatte fortwährend in der Längenrichtung der Insel, d. h. von Ost nach West durch das Dünenterrain zu kommen gesucht; ich mußte in der Queraxe gehen, die viel kürzer war, und auf der ich bald entweder auf der Nord- oder Südseite an's Meer gelangen mußte, wo auf dem glatten Strand das Fortkommen keine Schwierigkeit hatte. Allerdings war dann noch immer die Frage, ob es der Nordstrand oder der Südstrand war, d. h. ob ich von dem Augenblick an mich rechts oder links halten mußte; aber mit diesem Problem, wenn es mir erst einmal vorläge, glaubte ich mit Hilfe des Windes fertig werden zu können.

Schon ein paar Mal während meines Umherirrens hatte ich die Brandung zu hören gemeint; ich zweifelte nicht, daß ich sie bald wieder hören würde, um dann darauf loszugehen, wie die marschirende Truppe auf den Donner der Kanonen. So strengte ich nun mein Ohr an, wie vorhin mein Auge, und gerieth dabei vom Regen unter die Traufe. Denn es hatte eben eigentlich nichts zu sehen gegeben und so hatte man sich im Grunde dem Zufall und ich weiß nicht welchen wunderlichen Terrain-Phantasieen überlassen; aber zu hören gab es genug: eine Welt von Tönen. Allerdings eine sehr unheimliche. Ich bin nicht eigentlich musikalisch; mein Ohr ist nur scharf im gemeinen Sinne des leisen Hörens; aber ich meine: auch das feinste Ohr, das Lage und Höhe und Tiefe einer Stimme und Tonart eines Musikstückes und die einzelnen Instrumente eines Orchesters mit Leichtigkeit unterscheidet, würde sich seine Unzulänglichkeit eingestehen müssen gegenüber dem Durcheinander einer stürmischen Regennacht zwischen den Dünen von Norderney. Wie das in langgezogenen Tönen heult und stöhnt und seufzt und wimmert und zwischendurch poltert wie in einem Schlot und im nächsten Moment pfeift, wie durch die Takelage eines Schiffes, und zischt und rauscht, wie das Wasser um den Kiel eines großen Fahrzeugs! Und jetzt hörte ich deutlich durch das Chaos hindurch einen gleichmäßig dumpfen Ton, wie die discrete Begleitung der Bässe zu dem ausschweifenden Spiel der Geigen und Flöten, – es mußte die Brandung sein, die ich jetzt so eifrig suchte. Dann aber verschwand dieser Ton wieder; und als er abermals und zwar plötzlich viel lauter als vorhin an mein Ohr schlug, kam er von einer ganz andern Seite, und dann bemerkte ich, daß ich die Dünen hinter mir hatte. Also war ich doch in die rechte Richtung gekommen, und der Umweg am Strande hin war mir erspart, denn der Nord- oder Südstrand konnte es nicht sein, dazu war die Brandung nicht nahe und stark genug, und überdies ging es nicht eben fort; ich befand mich zweifellos auf der Strecke zwischen den Dünen und Norderney, und mochte mich nur in Acht nehmen, daß ich im Dunkeln nicht gegen das Prinzen-Rettungs-Denkmal rannte, das hier mitten auf dem Sande steht.

Ich machte ungefähr hundert Schritte; dann fiel mir auf, daß ich noch immer keine Lichter sah, die ich hier doch wohl hätte sehen müssen und kein Blöken eines Hammels hörte, das ich hier doch wohl hätte hören müssen. Dafür wurde die Brandung mit jeder Secunde stärker, obgleich doch da vor mir das Meer gar nicht sein konnte, und dann hatte ich den Wind im Rücken und halb von links, während ich ihn doch eigentlich von vorn und halb von rechts haben mußte, und trotzdem hatte ich durchaus die Empfindung, daß ich keine hohen Gegenstände, wie Dünen oder Häuser, vor mir habe, sondern nur eine grenzenlose Fläche, über die der Wind, ohne Widerstand zu finden, heransauste; und plötzlich zischelte und raschelte es um mich her und mein linker Fuß versank in Sumpfschlamm.

Ich fuhr zurück, als hätte ich auf eine Schlange getreten, aber blieb sofort stehen, als ich festen Grund unter beiden Füßen fühlte. Die Situation war mir mit einem Schlage klar: ich hatte das Gesicht nicht gegen Westen und Norderney, sondern gegen Osten und das Meer; und was da vor mir lag, waren nicht die sandigen Felder, die sich zwischen den Dünen und dem Ort hinziehen, sondern das Marsch- und Sumpfland, das zuletzt unterschiedslos in's Meer übergeht, und an dessen Rande ich vor zwei Stunden nach den Hasen gejagt.

Ich gestehe, daß mir sehr ernst zu Muthe wurde. Ich empfand keinen Schrecken, denn ich hatte in dieser letzten Stunde Zeit gehabt, meine Nerven zu stählen; noch viel weniger überkam mich Verzweiflung, denn ich verzweifelte keineswegs an meiner Rettung; ich fürchtete mich auch nicht; ich fürchtete nur gewisse Möglichkeiten, und zwischen sich-fürchten und etwas fürchten, das man sich klar zu machen sucht, ist ein großer Unterschied. Ich fürchtete aber vor allem, bereits so tief in den Sumpf gerathen zu sein, daß an ein Herauskommen bei der Dunkelheit nicht zu denken, und ich mithin verurtheilt war, die Nacht hier auf diesem Flecke zuzubringen. Denn wie durfte ich hoffen, den vielleicht ganz schmalen Pfad, den ich eben gekommen, wieder zu treffen (von Finden war ja so wie so keine Rede!), und daß ein Schritt zu weit vorwärts oder rechts oder links mich in's Verderben bringen könne, hatte ich eben erst erfahren. Also ausharren! die Stelle, auf der ich stand, war schierer Sand und also sicher, und schien auch groß genug, um eine bescheidene Motion zu ermöglichen, falls die Kälte zu arg wurde.

Das war nämlich meine zweite Sorge. Es sagt sich so leicht: eine Nacht draußen zubringen! aber nur von denen, die nie in meiner, oder in einer der meinigen ähnlichen Lage gewesen sind. Und doch, so lange die Möglichkeit und die Kraft, sich zu bewegen, vorwärts zu kommen, nach einem Ziele zu marschiren, vorhanden ist, hat es keine wirkliche Noth; die beginnt erst, wenn man nicht mehr vorwärts kommen kann, wenn man zum Stillstehen, Stillliegen verurtheilt ist, wenn man die Stunden, die Minuten, die Secunden zu zählen beginnt; wenn man die Kälte Linie um Linie tiefer dringen, sich in unsern Körper hineinarbeiten, hineinbohren fühlt, wie einen Minirer, der sicher ist, über lang oder kurz an sein Ziel zu kommen – und dieses Ziel unser eigenes Herz ist.

Mir lief ein Schauder nach dem andern über den Leib; und das begreift sich, wenn man bedenkt, daß ich seit Stunden vollkommen durchnäßt, und jetzt beinahe regungslos dem Wind ausgesetzt war, der, als gehörte die Welt ihm, nicht blos für diese Nacht, sondern für immer, wie ein Erzengel der Finsterniß auf meilenweiten Schwingen unaufhaltsam, unwiderstehlich herangerauscht kam. Und dieser Erzengel war der böse Feind, mein Feind, der es auf mich abgesehen, der nur aus seinen verdammten Backen blies, um mir das Fleisch auf den Knochen zusammenzurollen, wie Teig, und mir das Blut in den Adern und die Eingeweide zu Eis erstarren zu machen und schließlich die Seele aus dem zerbröckelnden Leibe zu blasen.

Da plötzlich war alle Kälte von mir gewichen, als wäre ich in ein Bad mit heißem Wasser getaucht worden; ich spürte nichts mehr von dem eisigen Winde, von dem Regen nichts mehr, der seit einigen Minuten wieder eingesetzt hatte; mein ganzes Wesen, all' meine Sinne waren im Ohr concentrirt, wach- und zusammengerufen von einem sonderbaren Geräusch, das von Secunde zu Secunde an Stärke zunahm und auf mich zukam: ein Geräusch, wie wenn eine Riesenschlange, – was sage ich! ein Heer von Riesenschlangen, Alles unter sich niederdrückend, aus tausend Rachen mit tausend Zungen zischend, sich durch die Nacht auf mich einwälzte, so daß ich den kalten Athem, der vor ihnen herging, deutlich fühlte; und da schoß es durch die raschelnden Binsen zischend bis dicht an meine Füße, um meine Füße; und ich – lief davon, so schnell mich meine Füße tragen wollten, ohne zu fragen, ohne nur daran zu denken, was mir noch eine Secunde vorher so schweres Bedenken gemacht; ohne mich um die Richtung zu kümmern, vorausgesetzt, daß ich nur aus dem Bereich jenes zischenden, raschelnden, züngelnden Ungeheuers kam, aus dem Bereiche der Fluth kam, die sich in die Marsch, an deren Rande ich stand, hereinwälzte.

Allerdings behauptete mein Wirth, mit welchem ich am nächsten Tage den Schauplatz meines nächtlichen Abenteuers suchte: bis dahin, wo ich nach meiner Beschreibung gestanden haben müsse, könne die Fluth nicht gekommen sein; und in der That war das Meer, trotzdem es wieder Hochfluth war, noch tausend Schritt etwa entfernt. Ich kann nur sagen: dann habe ich eben wo anders gestanden; auf keinen Fall hat mir meine Phantasie einen Streich gespielt, wie mein Wirth durch sein hartnäckiges Schweigen andeuten zu wollen schien, während wir von der fraglichen Stelle aus quer über die Insel nach der Ostseite der Weißen Düne den Weg schritten, den ich nun gemacht haben muß. Wenigstens gelangte ich nach einer Flucht von ich kann nicht mehr angeben wie langer Dauer schließlich bis an den Fuß der Weißen Düne.

Ob diese ungeheure, 70-80 Fuß hohe pyramidale Masse feinkörnigen Sandes das geringe Licht, das überhaupt noch vorhanden war, so energisch auffing und reflectirte; ob die Nacht mittlerweile ein wenig heller geworden, wüßte ich nicht zu sagen. Doch möchte ich fast das Letztere annehmen; wenigstens wußte ich sofort, daß dieses bleiche Gespenst, welches sich mir da in den Weg stellte, die Weiße Düne sei.

Aber es flößte mir keine Furcht ein – ich begrüßte es wie einen rettenden Engel des Lichts aus dieser Nacht der Finsterniß. Jetzt konnte ich nicht mehr fehlen, wenn auch der Weg nach Hause noch lang, sehr lang war. Was that das! ich war auf jeden Fall gerettet!

Ich weiß nicht, ob ich mir dieses Factum auf der Stelle wirklich ganz klar machte; ich glaube es aber kaum; ich begriff eigentlich erst am nächsten Tage, welcher Gefahr, oder besser: welchen Gefahren ich entgangen; aber jenes instinctive Gefühl der Creatur, das sein Dasein wieder einmal für eine Spanne Zeit zugesichert erhält, empfand ich doch; weshalb wäre ich sonst, ohne eine Spur von Erschöpfung nach dem rasenden Lauf, die ganze hohe Dünenpyramide hinaufgestürmt, und hätte, oben angelangt, mein Gewehr abgeschossen?

Wie es möglich gewesen, kann ich nicht sagen: aber sicher ist, daß beide Läufe à tempo losknallten.

Das Wort ist nicht richtig: es war kein Knall; es war nicht einmal ein Geräusch, oder doch gewiß nicht mehr, als wenn man eine Weinflasche öffnet, deren Propfen möglichst lose sitzt.

Aber was war auch dieser Tropfen Geräusch in dem Meer von Donner, in dem donnernden Meer, das da unter mir wogte! Ich habe nie vorher Und auch nicht nachher. Anm. des Verf. etwas Aehnliches erlebt. Das war keine einzelne Bestie mehr, die brüllte; das war eine Welt von brüllenden Scheusalen, eine scheusälige brüllende Welt, die mit der Welt der Ordnung und des Lichts, in welcher Menschen athmen und leben können, nichts gemein hat, ihr diametral entgegengesetzt, ihr feindlich ist bis zur Vernichtung, sie mit Stumpf und Stiel verderben, ausrotten, ertränken, ersticken würde, wenn sie nur an sie könnte! Wird sie es einmal können? Wird Arihman siegen oder Ormuzd?

Wenn Jemand zufällig nicht begreifen sollte, wie Nationen, Zeitalter dazu kommen, den Krieg zwischen Licht und Finsterniß, Schaffen und Zerstören, Gut und Bös, den wir täglich, stündlich beobachten, in den wir selbst beständig verwickelt sind, in einem gewaltigen Bilde zusammenzufassen, und für immer zu fixiren – so bemühe er sich in einer stürmischen rabenschwarzen Septembernacht auf die weiße Düne von Norderney; ich stehe ihm dafür, daß ihm »Alles klar wird, was ihm vorher dunkel war.«

Er wird dann auch vielleicht nicht lachen, wenn er hört, daß das Atom, da oben in der Finsterniß verloren, – dies Atom, Mensch genannt, mit den zuckenden Gehirnfiebern und dem pochenden Herzen, – dem Teufel da unten, dessen kalte Faust ihm nur eben noch im Nacken gesessen, zornige Worte, Verwünschungen, Schmähungen entgegenschleuderte, und in dem fahlen Licht, das, so weit das Auge rechts und links reichte, in einem breiten Streifen über der Brandung zitterte, und hier und da mitten aus dem brüllenden Chaos heraus aufdämmerte, nichts sah als Widerschein eitel höllischen Feuers. –

Meeresleuchten! ein schönes Wort für das bleiche Lachen auf den wuthschäumenden Teufelslippen und auf dem schwarzen Antlitz Seiner höllischen Majestät – –

Wie lange ich zu der Strecke von der Weißen Düne bis nach Norderney, die man sonst in 1½ bis 2 Stunden zurücklegt, gebraucht habe, weiß ich nicht genau anzugeben. Ich erinnere mich nur, daß ich zwischen der ununterbrochenen Kette der Dünen links, und der ununterbrochenen Linie der Brandung rechts hinschwankte; daß die Dünen manchmal wie mondüberflimmerte Gräber aus dem Dunkel auftauchten und wieder im Dunkel verschwanden, und daß das furchtbare unaufhörliche Gebrüll der Brandung mich fast rasend machte; ich erinnere mich, daß mehr als einmal meine Kräfte und mein Muth mich verlassen wollten; und daß ich mich immer wieder aufraffte, und weiter Schritt für Schritt gegen den sturmartigen Wind hinaufkämpfte, und dabei immerfort durch die Zähne murmelte: ihr sollt mich doch nicht kriegen!

Sie haben mich wirklich nicht gekriegt; aber ganz gewiß war es fast aus mit mir, als ich in meiner Wohnung anlangte, wo ich meine Wirthsleute noch auf, d. h. in größter Sorge um mein langes Ausbleiben fand, obgleich sie jetzt, nachdem ich lebendig wieder da war, ihren etwaigen Empfindungen einen besonderen Ausdruck zu geben nicht für nöthig hielten.

Ich ging in den folgenden Tagen nicht wieder auf die Jagd; ich ging überhaupt nur noch selten aus: nur die nothwendigen Wege: des Morgens zum Baden, des Mittags zum Essen, des Abends zum Thee in das Kurhaus. Am ersten Morgen waren noch sechs Karren an's Wasser gezogen; am zweiten nur noch vier, am dritten nur noch drei. Ein paar Herren mit blauen Nasen und Lippen, die sich an den Karren oder unterwegs begegneten, hatten nicht mehr den Muth, sich anzusehen, weil jeder in dem Blick des Andern die Frage fürchten mochte: sollten Sie wohl ein wenig verrückt sein, Hochgeschätzter? Und wenn man, in seiner Karre kauernd und am ganzen Leibe vor Frost zitternd, des Momentes harrte, wo man »hinreichend abgekühlt sein würde,« und plötzlich in nächster Nähe einen markerschütternden Schrei hörte, und, an die Thür stürzend, ein blau und roth angelaufenes menschenähnliches Geschöpf durch die ersten flacheren Wellen mit hocherhobenen Knieen und emporgestreckten Armen in die tieferen Wellen laufen sah, so fragte man nichts mehr, sondern sagte mit einem häßlichen schadenfrohen Grinsen durch die klappernden Zähne: die reine Verrücktheit, der absolute Wahnsinn.

Bei Tisch wurde es still und stiller; die Kapelle mit den schauerlichen Blechinstrumenten war verschwunden, wie die aus Don Juans Speisesaal nach dem Trapp! Trapp! des Comthurs. Jeder schien in den Genuß der Speisen versunken, obgleich unser »Herr Koch seines Gleichen« wohl schon finden konnte, und Mancher ganz gewiß zur selbigen Stunde »bessern Pudding speiste,« ohne gerade »König« zu sein. Der Commerzienrath aus Berlin, der im Wasser, wenn er seine Perrücke abgelegt hatte, zum Verwechseln einem ausgezeichneten Exemplar derjenigen Thiergattung glich, von welcher sich eine so bedeutende Partie in das galiläische Meer stürzte, und außerhalb des Wassers, mit der Perrücke auf dem flachen Schädel, trotz seiner Ordensbänder im Knopfloch wie ein Großhändler mit eben jener nützlichen Thiergattung aussah, – er trank jetzt anstatt seiner sonstigen zwei Flaschen drei, und kam trotzdem in eine weinerliche Stimmung; der junge Literat, welchem bei Nachod der Arm entzwei geschossen war und der die herausgelösten Knochensplitter zum Desert in einer Pappschachtel herumzuzeigen pflegte, – er hatte die Reliquien nicht wieder producirt; der Opernsänger, welcher uns vor Tisch in dem Musiksaal neben dem Speisesaal Schubert'sche und Schumann'sche Lieder vorzusingen pflegte – er behauptete, daß bei dem –wetter man wohl heulen, aber nimmermehr singen könne. So war das Mittagsmahl nicht eben heiter.

Desto heiterer waren die abendlichen Zusammenkünfte; wenigstens wenn man aus den unbändigen Quantitäten Grog, welche consumirt wurden, einen Schluß auf die Gemüthsstimmung der Consumenten machen durfte. Im Uebrigen war die Heiterkeit jedenfalls eine sehr stille und die Gesellschaft glich ihrer Physiognomie nach mehr einer Bande Falschmünzer, welche entdeckt zu sein fürchtet, und, die Köpfe zusammensteckend, die Mittel zur Flucht beräth. Dennoch sprach keiner von Flucht, im Gegentheil! Der Tenorist sagte, es sei – wetter, aber gesund sei es, und härte einen Mann teufelmäßig ab, und er werde bis zum ersten October aushalten als Sänger und Mann; der Literat hatte einen Lehrer gehabt, der Jahr aus Jahr ein bis zum Tage der Schlacht bei Leipzig, 18. Oktober, kalt badete; der Commerzienrath badete den ganzen Winter hindurch in der Spree, und ließ sich, wenn es sein mußte, Löcher in das Eis hauen. Von Fortgehen vor dem ersten Oktober könne nicht die Rede sein; – darüber herrschte nur eine Stimme; man deutete an und sprach es aus, daß der bloße Gedanke daran Felonie und Hochverrath. Der morgen früh nach Bremen fällige Dampfer könne sich die Fahrt sparen, wenn er sie nicht zu seinem Privatvergnügen machen wolle.

Am nächsten Mittag fehlten von den Vierundzwanzig nicht weniger als zwölf, die auf dem Dampfer bereits halbwegs nach Bremen waren – unter ihnen der Commerzienrath.

Die übrigen Zwölf mußten nun freilich bleiben. Auch nach Emden ging vor Freitag kein Dampfer, und wer möchte sich dem Seelenverkäufer anvertrauen! Und was den Uebergang durch die »Watten« per Post anbelangte, den man ja allerdings jeden Tag haben konnte, – nun, es solle wirklich Menschen geben, die es fertig brächten, eine oder anderthalb Stunden bis an die Wagenthür im Wasser Schritt für Schritt zu fahren; aber eine curiose Sorte Menschen müsse es allerdings sein.

Am nächsten Mittag fehlten von den Zwölfen sechs, unter ihnen der Literat; man sagte, die Post habe zum ersten Mal seit Jahr und Tag einen Beiwagen gehabt.

Die übrig Gebliebenen, so schmählich Verrathenen überließen sich einer dumpfen Verzweiflung. Sie hatten ein Recht dazu: es war zum Verzweifeln.

Die zehntausend Wetterfahnen von Norderney zeigten seit meinem Abenteuer nach Nord-Ost, als ob sie angenagelt wären, es regnete unaufhörlich; auf ganz Norderney gab es nichts Trockenes mehr; ich begriff nicht, wie die Insel, auf die es Tag und Nacht in Strömen goß, nicht auseinanderlief, wie das halbe Pfund Stückenzucker, das ich vor drei Wochen bei meiner Ankunft in einen aus starkem Tannenholz gefertigten Schrank in meiner Stube gelegt, und jetzt als Zuckerbrei wiederfand, ohne daß ein Tropfen Wasser direct hätte in den wohlgefugten, gut verschlossenen Schrank gelangen können.

Ich machte diese wunderbare Entdeckung aber, als ich am Mittwoch meine Sachen zusammenzulegen anfing, im Falle ich mich doch entschließen sollte, am Freitag mit dem Emdener. Schiff –

Es war Verrath! Freitag war der achtundzwanzigste; wir hatten geschworen, nicht vor Montag, dem ersten October – mit dem Bremer Schiff –

Aber wie gegen die Dämonen des Regens, der Nässe, der Kälte, der Dunkelheit, der Langenweile Stand halten noch so drei Tage, von denen jede Stunde eine Ewigkeit war!

Und dann die Hämmel! Daß Dante sie nicht gekannt hat! Was ist eine Hölle, giebt es eine Hölle ohne Hämmel! oder, wenn es, wie nach des großen Florentiners grauser Aussage unzweifelhaft, eine giebt – kann man vor solcher Hölle Respect haben?

Ich muß es nach meinen Erfahrungen auf Norderney im Herbstmonat dieses Jahres 1866 in Abrede stellen.

Die Hölle fängt erst da an und endigt da, wo Du an Deinem Schreibtische sitzst und zur Nachhilfe für Dein Gedächtniß und zur Schärfung Deiner Beobachtung die Erlebnisse, Eindrücke des Tages in Dein Scizzenbuch einträgst, und Dir der Odem in der Brust, und der Gedanke im Gehirn und die Tinte in der Feder stockt vor einer Erwartung, die sich, wie eine Laokoonschlange, fest und fester um Dein Herz legt: jetzt hebt er bereits den Kopf, der riesige Bursche, der gestern seinen triumphirenden Einzug in des Nachbars Garten gehalten hat; jetzt drückt er die Augen ein – noch eine halbe Zeile, noch ein Wort, noch ein Buchstab – jetzt –

Unseliger Laut, wie ihn nur eine unselige Seele äußern kann! so aller Hoffnung auf ein Glück hienieden und in dem Jenseits baar! und doch wieder so ganz erfüllt von einem salbungsvollen Bewußtsein des eignen, vom Schicksal verkannten Werthes, wie eines Pastors, der sich auf eine fette Pfründe Rechnung gemacht hat, die ihm schließlich ein Bruder in Christo, an den er gar nicht gedacht, vor den fromm-gierigen Augen wegschnappt –

Und wenn der bleierne Tag nun glücklich zu Ende und Du auf Deiner harten Matratze aus Norderneyer Seegras, die mit der Unendlichkeit ihrer Hebungen und Senkungen ein Bild von Norderney selbst ist, Vergessenheit Deiner Leiden suchst und hoffst – da schreckt Dich das satanische Gebrüll aus Deinem ersten Dämmerungsschlummer, und nun liegst Du Stunden und Stunden wach, und zählst an Deinem fiebernden Pulse die Sekunden, die erfahrungsmäßig verlaufen müssen, bis – da! und an der Gerechtigkeit des Himmels verzweifelnd und bereit, Dich dem Bösen für eine Stunde ungestörter Ruhe in alle Ewigkeit zu verschreiben, birgst Du Dein Haupt in die Kissen.

Und in den Pausen das Klappern des Regens gegen die Scheiben des Fensters, das beinahe bis an den Boden reicht, das Klatschen des Gusses gegen die Wand, an der Du liegst, das Gurgeln und Gluchsen in der blechernen Rinne, welche direct in den Sand mündet, auf welchem das Haus steht. Du fragst mit einem sardonischen Lächeln, weshalb nicht direct in Deine Stube, weshalb nicht in Dein Bett – es gehe eben Alles so in Einem hin; wenn man die Unvorsichtigkeit begangen, seine Wohnung in einem Schwamm zu nehmen, der sich bis in die letzte Pore voll Wasser gesogen, habe man kein Recht sich zu wundern, wenn auch selbst in der Geldtasche des Portemonnaie ein grünlicher Schimmel offenbar schon seit Tagen behaglich ansetzt.

Es wurde nicht mehr aus Morgen und Abend ein anderer Tag; es wurde nur am Morgen etwas weniger dunkel, als es die Stunden vorher gewesen war.

Und das aushalten sollen bis zum Montag! es aushalten müssen! oder Treubruch begehen an fünf unglücklichen Menschenbrüdern, die sich auf Deine Rechtlichkeit, auf Deine Standhaftigkeit verlassen –

So bleiben ja immer noch fünf –

Und am Freitag Morgen uni vier Uhr hielt vor einem Hause in dem »Damenpfade« ein Leiterwagen mit thurmhohen Rädern, auf welchem einige Minuten später, gehüllt in die Finsterniß der Nacht und die Schwärze seiner Verrätherseele, ein Mann durch den sprühenden Regen bis zum Strande und vom Strande noch ein gut Stück in die Brandung bis zu einem auf den Wellen tanzenden Boote fuhr, das ihn und seine Koffer aufnahm, und nach einer Viertelstunde mühseligsten Ruderns an einen Kutter ablieferte, der auf den Wellen tanzte, wie vorhin das Boot, welcher Kutter ihn, nachdem er eine halbe Stunde gegen den Südwest gekreuzt, an Bord eines kleinen Dampfschiffes brachte, das auf den Wellen tanzte, wie der Kutter.

Dieser kleine Dampfer war das Emdener Schiff und der Mann, der sich bei Nacht und Nebel von Norderney weggestohlen, war ich.

Auf dem Verdeck, das bald nach Steuer- bald nach Leebord in einem Winkel von 45 Grad gegen den Horizont stand, und über das jetzt der Regen, jetzt das Spülwasser und jetzt der Regen und das Spülwasser zusammen fegten, war keine Menschenseele zu erblicken.

Schmach und Gram! ich war der einzige Verräther!

Aber das war kein Grund, auf dem schwankenden Verdeck ein Opfer der Nässe und Kälte zu werden.

Als ich die steile Treppe zur Cajüte hinunterstolperte, hörte ich eine Stimme, die ich zu kennen glaubte, rufen: Steward, einen Rum!

Auch mir, auch mir! riefen vier andere Stimmen.

Bringen Sie gleich sechs! sagte ich, in der Thür stehend und meine fünf Freunde überblickend, die in der Cajüte durcheinandertaumelnd, ihre Habseligkeiten beistauten.

Sie waren schon um 3 Uhr aufgebrochen, aus Furcht, das Schiff, das gegen 5 Uhr absegeln sollte, könnte ohne sie gehen.

Ich schweige von den Schaudern dieser Wasserfahrt. Die des Dampfschiffs endeten in Emden; aber wir schwammen auf der Eisenbahn noch bis Hannover und weiter, bis wir in der Nähe von Cassel den Fuß auf das Trockene setzten.

In Cassel trennte ich mich von dem letzten Reisegefährten, dem Opernsänger; er hatte ein Engagement irgendwo in Süddeutschland; aber der Contract, sagte er, sei ein werthloses Blatt Papier: er könne nach dem Grausen der letzten Tage wohl noch Dienste an Bord des Fliegenden Holländers nehmen, aber den Fliegenden Holländer singen – daran sei für ihn in diesem Leben nicht mehr zu denken.

Ich eilte, so schnell Eisenbahn und Post es verstatteten, nach Thüringen, wo meine Familie weilte und sich nicht erklären konnte, weshalb ich bei dem Wiedersehen so ungewöhnlich gerührt war.

Noch acht Tage später hingen in Elgersburg auf einer einsamen, den milden Strahlen der Herbstsonne den ganzen Tag lang ausgesetzten Halde am Rande des Waldes dicht hinter einem Hause (das von einer Familie aus Berlin bewohnt war) sämmtliche Stücke einer Herrengarderobe: Kleider, Wäsche, Stiefel, Stiefelknecht – Alles auf der Leine.

Erfahrene Frauen aus dem Dorfe constatirten, daß der Trocknungsproceß noch kaum begonnen habe.

Man gab noch acht Tage zu.

Die weisen Frauen sagten, daß mindestens noch weitere acht Tage nöthig sein würden.

Die Familie konnte so lange nicht warten.

Glücklicherweise war der Wirth ein Bäcker.

Er erbot sich, heute Nacht einige Buchenkloben extra auflegen zu lassen, und wenn die letzten Semmeln aus dem Ofen seien –

Vierundzwanzig Stunden später konnte die Familie reisen.

Sie wird dem Bäcker nie seine Menschenfreundlichkeit vergessen, ebensowenig wie ich die wonnige Empfindung, als ich nach Wochen zum ersten Male wieder trockene Kleider an mir spürte.

*


 << zurück weiter >>