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I.
In meiner Jugend Stadt.

Ein Stückchen Autobiographie.
(1869.)

Nach der Aussage Aller, die etwas davon verstehen, ist die Rückkehr Verstorbener zu den Stätten, wo sie im Leben geweilt, eines der melancholischsten Geschäfte. Ich kenne jetzt eines, das nicht minder melancholisch ist, und vermuthlich aus ähnlichen, vielleicht denselben Gründen. Dies Geschäft aber besteht darin: nach vierzehn, fünfzehn Jahren, als Mann, wiederzukehren zu der Stadt, in welcher man seine Jugend verlebt, aus der man damals ausgezogen ist, »den übelgemachten Helm« seiner Unerfahrenheit auf dem Kopfe, und in dem Kopfe alle die Narrenspossen, die man Andern für Lebenspläne, Zukunftsentwürfe u. dergl. ausgab und – was das Schlimmste war – selber dafür hielt.

Meine Kenntniß ist noch nicht alt, ein paar Tage erst, die paar Tage, die ich eben in meiner Jugend Stadt verträumt habe.

Ich kann nicht sagen meiner Vaterstadt, oder Heimathstadt, oder wie sonst die schönen ehrwürdigen Worte heißen. Ich bin in einer andern Stadt geboren, zu der ich – wie das bei Kindern aus dem Beduinenstamme der Beamten der Fall zu sein pflegt – so wenig ein gemüthliches Verhältniß habe, wie eine ausgewachsene Krähe zu der Eiche, in deren Zweigen das Nest hing, in welchem sie das Licht der Welt erblickte. Es hätte ja auch in der benachbarten Buche, oder eine Meile weiter in der großen Linde hangen können! In diese Stadt aber kam ich als ein Bürschchen von sechs Jahren, und blieb da in ununterbrochener Folge, bis ich in meinem achtzehnten die Universität bezog; dann bin ich abwechselnd noch bis zum 24. dort aus- und eingegangen, und dann in die Welt gewandert.

So ist sie sicher nicht meine Vaterstadt; aber meine Heimath ist sie eben so wenig. Ich habe keinen Theil an ihr und ihrem Weichbild als höchstens den precären der paar Quadratfuß Kirchhoferde, unter denen meine Eltern schon lange schlafen; kein Mensch lebt hier, dem das Mittagsessen auch nur ein wenig weniger gut schmecken würde, wenn er fünf Minuten vorher in der Zeitung gelesen hätte: Aus X. schreibt man uns, daß der Schriftsteller u. s. w. – Ja, ich bin diese Tage Straße auf, Straße ab gegangen und habe den Leuten in die Gesichter gestarrt, und Keiner hat mich erkannt, Keiner! ich hätte, ein Fremder, wieder fortgehen können, wie ich gekommen, wenn ich gewollt hätte. Eine solche Stadt, die einem eine so liebevolle Erinnerung bewahrte, kann man auch in der sentimentalsten Stimmung nicht seine Heimath nennen; aber, wie gesagt, meiner Jugend Stadt ist sie, bleibt sie; als solche wird sie dermaleinst vielleicht sogar in die Conversationslexica kommen; und, was mir wichtiger ist: ich weiß, daß dem so ist; ich weiß, daß, wenn ich keinen Theil an der alten Stadt und ihrem Weichbilde habe, sie desto größeren Theil an mir hat; ich habe es in diesen Tagen erfahren.

Da war kein Markt, keine Kirche, keine Straße, keine Straßenecke, kaum ein Haus, da war kein Weg und kein Steg in der Umgebung, die mir nicht gesagt hätten: ich stehe auch noch in deiner Erinnerung, wenn du die Güte hast, dich darauf zu besinnen; du runzelst die Stirn? und deine Augen blicken düster? diese, jene Erinnerung ist dir nicht lieb? thut mir leid, aber geschehen ist nun geschehen; und, wenn's in der Jugend geschehen, doppelt, dreifach, hundertfach; denn, siehst du, man hat sein Leben lang daran zu tragen, so oder so.

Es ist gewiß keine originelle Bemerkung, die ich da eben niedergeschrieben und sie macht auch nicht den geringsten Anspruch in dieser Beziehung; aber ich gestehe gern, daß mir die hausbackne Wahrheit doch nie in so, ich möchte sagen, greifbarer Klarheit vor der Seele gestanden, wie in diesen Tagen. Wir Menschen sind, zu welch' herrlichem Metall wir auch im Lauf der Jahre erhärten, in der Jugend weiches Wachs den Eindrücken gegenüber, welche unsere Umgebung in jeder Bedeutung des Wortes auf uns macht. Wir könnten uns dem in keiner Weise entziehen, selbst wenn wir wollten, was aber als Regel durchaus nicht der Fall ist; im Gegentheil! Wir geben uns ihnen mit dem vollen Vertrauen der Unerfahrenheit hin, ganz hin, mit Leib und Seele; und wenn wir wirklich zur Einsicht kommen, daß es besser, viel besser gewesen sein würde, wenn dies und das anders gekommen wäre, ist das Glück längst eingekehrt und das Unglück schon lange da, und wir sind, was als Kinder dieser Eltern, mit diesen Geschwistern, in dieser Umgebung, in dieser Schule, bei diesen Lehrern, unter diesen Kameraden, unter all' den tausend und aber tausend Eindrücken (wie bezeichnend das Wort ist!) werden mußten, wie das Kupfer oder Gold werden mußten, was der Stempel aus ihnen prägte. Sie gehen hernach noch durch viele Hände, der arme Dreier oder der kostbare Friedrichsd'or; und ihr Gepräge kann wohl undeutlicher, vielleicht ganz abgegriffen werden; aber ein neues Gepräge – nein – das bekommen sie in dieser Phase ihres Erdenwallens nicht mehr.

Natürlich, daß auch der ehrgeizigste Dreier es unter andern Umständen nie zu einem Friedrichsd'or gebracht hätte! Und wäre ich in Wallensteins Lager zum Dragoner geboren – ich würde wohl immer ein Stück von einem Träumer geblieben sein; aber daß hier kein Entrinnen war, für mich war; daß ich hier recta via in's Traumland auf den Wolken segeln, auf den Winden getragen werden mußte – das ist mir doch jetzt erst klar geworden.

Oder sollte es seitdem stiller in der alten Stadt geworden sein? ich glaube nicht. Zwar die zweirädrigen uralterthümlichen Karren wunderbarster Construction, auf denen die Güter – besonders das Korn – aus den Speichern nach dem Hafen oder umgekehrt geschafft wurden – Strandkarren nannte man sie, und die Leute, welche sie handhabten – es gehörten ihrer drei dazu – nannte man Strandkarrer – sie sind nicht mehr, und das will gewiß etwas sagen; denn sie waren, in Ermangelung anderer Fuhrwerke, oft die einzigen, die man an einem langen Sommertag zu sehen oder zu hören bekam und sie machten auf dem holprigen Pflaster in den abschüssigen Hafenstraßen ein erkleckliches Geräusch – aber das kann doch nicht der Grund sein, weshalb mir jetzt die alte Stadt so still, so träumerisch still erschien. Jenen, zu ihren Ahnen, den Ichthyosauren und Megatherien der Vorzeit, versammelten Strandkarren sind sicher andere Fuhrwerke gefolgt; ja, es ist mir aufgefallen, daß zu den drei oder vier Privat-Equipagen, die es damals gab, gewiß noch mindestens ein halbes Dutzend hinzu gekommen sind; und auf dem alten Markt mußte man sogar, wenn man aus dem Rathhause trat, zwischen den Köpfen von zwei Pferden hindurch, welche eine Droschke hinter sich und, wie es schien, diese höchst auffallende Vis-à-vis-Stellung nur deshalb angenommen hatten, um sich gegenseitig von der Wahrheit zu überzeugen, daß sie auf ihre alten Tage ein so sonderbares Schicksal getroffen – mit einem Worte: es war auf den Plätzen, auf den Straßen ganz entschieden ein regeres Leben, als es damals gewesen sein kann – dennoch, wie hat sich mir die Stille schier ängstlich auf's Herz gelegt! wie habe ich ein paar Mal, wenn auch nicht ein lebendes Wesen sich am hellen Tage auf einer ganzen langen Straße sehen ließ, halb und halb gefürchtet: ich sei wirklich ein Gespenst, oder auch: ich wandelte als Traumbild in einer Traumstadt, der Stadt meiner Jugend, und habe – wie man ja im Traum Alles nur halb thut – die Häuser zwar wieder in der Erinnerung aufgebaut, aber die Menschen hineinzusetzen vergessen.

Es ist ja auch gewiß eine Einbildung, aber ich habe mich während dieser ganzen drei Tage nicht von der Empfindung losmachen können, daß die Sonne hier anders als anderswo scheine – mit einem gedämpften, milden Licht; und als ob der Wind hier eine andere Stimme habe – eine articulirtere, deutlichere, dem Menschenohr faßlichere Stimme. Selbst die kleinen Wellchen plätscherten an der »Ballastkiste«, wie ich sonst nirgend das Wasser an Hafenquais habe plätschern hören: daß es ordentlich wie Menschenrede klang, oder doch wie Musik, – wie eine halb vergessene Melodie aus der Jugend Tagen.

Freilich war es gerade hier, am Hafen, wirklich stiller als es je gewesen. War es doch eigentlich gar kein Hafen mehr, nur noch so viel davon, wie der directe tägliche Verkehr mit der Insel drüben erforderte – ein auf den Altentheil gesetzter Hafen, während sein junger Nachfolger nach einer ganz andern Stelle gezogen war und sich dort äußerst stattlich und kostbar mit gewaltigen Mauern und Molen, Werften und sonstigem Apparat eingerichtet haben sollte. Ich fühlte kein Bedürfniß, dem Nachfolger meine Aufwartung zu machen; ich setzte mich zu dem Alten und plauderte mit ihm von vergangenen Tagen.

In der Stille um mich her traten sie fast greifbar, fast körperlich vor mich: die Sommertage, an welchen ich in diesem blauen, stillen Wasser – da linker Hand an dem flachen, sonnigen Strand lag noch immer die Badeanstalt – so weit hinausschwamm, daß die Zelte klein wurden wie die Häuschen in Liliput; oder noch viel weiter auf dem kleinen Boot hinausruderte, das in dem Hafen jederzeit für mich bereit lag – viel weiter! wie oft mutterseelenallein hinüber nach der Insel, in einem Schlage, ohne daß meine kräftigen jungen Arme erlahmten! Nur einmal, als ein heftiger Südwest aufsprang, hatte ich meine liebe Noth, wieder in den Hafen zu gelangen! – Und dann die Wintertage, wenn dieselbe Entfernung, die zurückzulegen eine Stunde emsigen Ruderns erforderte, auf Schlittschuhen oft in wenigen Minuten durchmessen wurde, und über der herrlichsten Lust der Abend herabsank mit all den flimmernden Sternen, und es nur immer schöner und schöner wurde, und das junge Herz und die jungen Glieder sich nicht ersättigen konnten, trotzdem es schon eine gute Zeit her war, daß der letzte Schlitten vorübergeklingelt und ich allein war auf der weiten Fläche, ganz allein.

Es war das letzte Mal für den Winter gewesen; in der Nacht war der Wind nach Süden umgesprungen und starkes Thauwetter eingetreten; die Fährleute hatten ihre liebe Mühe gehabt, hinüber und herüber zu kommen; erst noch zu Fuß mit Hülfe langer Stangen, an denen sie sich, wenn sie einbrachen, oben hielten: dann auf einem schmalen Canal, welchen sie die halbe Meile bis hinüber mit der Axt durch das Eis hauen mußten, und dann waren schon große Löcher entstanden, in denen das Wasser in kleinen Wellen an dem Eis leckte, und dann war in einer einzigen Nacht die Decke, die gestern Abend noch grau und unheimlich, so weit das Auge reichte, sich in die Dämmerung streckte, verschwunden, und im hellen Licht der Märzsonne, die von einem blauen Himmel schien, hüpften die blauen Wellen, und hier und da überschlagen sie sich so lustig, daß es eine Lust war, es mitanzusehen.

Und wieder eines Tages – es war im Spätherbst und an der »Ballastkiste« ankerte Schiff neben Schiff – da wurden aus den lustig hüpfenden Wellen zornige Wogen, die in schweren Massen herangerollt kamen, eine immer höher wie die andere, daß sie zuletzt hier über die »Ballastkiste« wegfegten, wie über das Deck eines Schiffes. Und die Schiffe an der »Kiste«, die hier so sicher zu liegen geglaubt hatten wie in Abrahams Schooß, da ihnen seit Menschengedenken hier noch nie etwas passirt war, machten, daß sie von dieser Stelle kamen, die plötzlich zum Felsenriff geworden war, an welchem eine fürchterliche Brandung tobte, und suchten sich weiter draußen auf der Rhede an ihren Ankern zu halten, so gut es ging, und den Sturm durchzuwettern. Drei Schiffe aber hatten nicht fortgewollt oder nicht mehr fortgekonnt, ich weiß es nicht; jedenfalls lagen sie noch da, als der Sturm seinen Höhepunkt erreichte – oder vielmehr sie tanzten auf und nieder, wie Nußschalen, zwei große englische Schiffe, ein Barkschiff und ein Vollschiff, und hatten zwischen sich einen jener holländischen Schooner, die so tief im Wasser liegen, daß sie viel kleiner aussehen, als sie in Wirklichkeit sind; und die drei Schiffe wurden von jeder neuen Welle wie in einen Haufen zusammengeschleudert, daß die Planken krachten und die Masten gegen einander schlugen und mit der Takelage in einander geriethen, bis die nächste Welle wieder Alles aus einander riß und die nächste wieder Alles in einen Haufen auf einander schleuderte. Das war für die drei Schiffe schlimm, am schlimmsten aber für den armen Holländer, der die Schläge von beiden Seiten auszuhalten hatte und noch immer mit seinen soliden Planken aushielt, aber nicht lange mehr aushalten würde, wie die Männer sagten, neben denen ich stand. Es war mir, als in der Stadt die alten Häuser wackelten, Fensterscheiben eingedrückt wurden, Fensterläden wie Castagnetten klappten und die Ziegel haufenweise von den Dächern in die schmalen Höfe und auf die menschenleeren Straßen polterten – es war mir eingefallen, daß es am Hafen wild hergehen müsse; und so hatte ich mich auf den Weg gemacht und ein paar Minuten gebraucht, um durch das Hafenthor zu kommen, denn der Sturm wollte mich nicht durchlassen und ich mußte mich Zoll für Zoll an der rauhen Mauer hinausziehen. Dann war ich auf der Ballastkiste vorwärts geschwankt, wie auf dem Deck eines Schiffes bei rollender See, und hatte instinctiv den ersten Schutz aufgesucht, der sich darbot – einen mächtigen Haufen südlicher Hölzer – und da standen denn auch ein halbes oder ein ganzes Dutzend Seeleute und sagten, daß der Holländer es nicht lange mehr aushalten könne.

Sie sagten es aber mit den Händen an dem Mund, trotzdem sie Schulter an Schulter standen.

Auf einmal kam eine große Aufregung in die Gruppe. An Bord des gefährdeten Schiffes befand sich die Frau des Capitäns, und diese Frau war nicht in der Lage, selbst etwas zu ihrer Rettung thun zu können. Gewiß war das den Männern, zu denen ich mich gesellt, von Anfang an bekannt gewesen; aber jetzt war irgend ein Manöver, das die Schiffe auseinanderbringen sollte, mißglückt, total mißglückt, und die Gefahr größer als je, in der That so groß, daß jeder nächste Augenblick die Entscheidung bringen mußte.

Von dem, was folgt, habe ich nur eine sehr undeutliche Vorstellung. Ich erinnere mich nur, daß ich mit ein paar Dutzend Leuten – Schiffszimmerern, Matrosen, der Himmel weiß was – aus Leibeskräften an einem dicken Strick zog, und daß wir uns gegenseitig mit: ho! hioh! halt fest! noch einmal! ho! hioh! halt fest, Jungens! zur äußersten Kraftanstrengung anfeuerten, während die Brust keuchte und die Gesichter glühten und die Haut von den Händen an dem Strick sitzen blieb und von Zeit zu Zeit zur Abkühlung einige Tonnen Salzwasser über uns wegfegten. Und dann habe ich – es muß gewesen sein, während wir uns so abarbeiteten – ein flüchtiges, ganz flüchtiges Bild von einer Gruppe auf dem Deck des Holländers – einer Gruppe von Männern, die etwas trugen – und dann weiß ich nur noch, daß ich die gänzlich menschenleere Straße hinaufging, durch die noch immer der Sturm in unverminderter Wuth fegte, und auf die die Ziegel noch immer herunterklapperten und daß ich keine Ahnung davon hatte, es würde mir, was ich eben erlebt, jetzt nach fünfundzwanzig Jahren bei der Schilderung eines Sturmes in einem Romane, an dem ich eben schreibe Hammer und Amboß., trefflich zu Statten kommen. – –

So träumte ich am Hafen, der kein Hafen mehr war, und als ich aus meinen Träumereien aufblickte, erschien mir, nach den Bildern, die eben an meines Geistes Aug vorübergezogen, was ich nun wirklich sah, doppelt still und friedlich. Ein kleiner plumper Dampfer, der jetzt den Verkehr zwischen der Stadt und der Insel vermittelt, kam herangeschaufelt; man hörte ihn schon aus weiter Ferne; sonst war auf der ganzen großen Wasserfläche auch nicht ein Segel zu sehen; und auf den flachen Ufern des Festlandes und den etwas höheren der Insel lag der Sonnenschein, als sei er trotz des hellen Morgens ein wenig eingeschlafen, – so auf ein Viertelstündchen – mit offenen Augen.

Ich glaube wirklich, die Sonne hat hier nie anders geschienen – ein verschleiertes Scheinen trotz der größten Helligkeit.

Ich muß mir schon damals dieser eigenthümlichen Thatsache halb und halb bewußt gewesen sein, und daß ich meinem Schicksal, ein Träumer und – wenn die Musen wollen – Poet zu werden, unter diesen Umständen nicht entgehen könne; ich muß gefühlt haben, daß ich zum Opfer ausersehen, und daß ich für die Heerde der Gesunden nicht tauge. Welches Geschöpf, das sich im Uebrigen keiner Schuld bewußt war, hätte sonst die stille Oede und öde Stille der guten alten eingeschlafenen Stadt noch zu laut und lebhaft gefunden und die Einsamkeit noch einsamer zu machen versucht, wie ich es that! Ach! ich erinnere mich ja nur zu wohl, wie ich, wenn mir in der öden Straße ein Mensch begegnete, auf die andre Seite ging, und am liebsten umkehrte, oder in eine andre Gasse bog. Und wie ich aufathmete, wenn ich auf meinem Boote so weit auf die See hinausgerudert war, daß mich kein Mensch zurück- oder anrufen konnte! oder, wenn ich mich des Abends aus dem Thor gestohlen hatte und auf den weiten Uferwiesen umherirrte und dem Ruf der wilden Schwäne lauschte, die in dem Herbstnebel unsichtbar über meinem Haupte hinzogen; oder an schönen Sommernachmittagen auf den großen Teichen, welche die Stadt nach der Landseite umgaben, wiederum zu Boot, in die fernste Ecke floh und dort, in Schilf und Binsen verborgen, ein Buch hervorzog, vielleicht auch von den Büchern träumte, die ich einst schreiben würde.

Nicht, als ob ich damals bereits mich mit so schlimmen, menschenfeindlichen Absichten getragen hätte! ich kann beschwören, daß dies nicht der Fall gewesen, daß ich im Gegentheil die poetischen Allotria jener Jahre ohne alle und jede sträfliche Nebenabsicht, ganz »wie Essen und Trinken frei« getrieben. Ja, als ich in meinem vierundzwanzigsten Jahre wieder einmal eine Novelle schrieb, habe ich ihr keineswegs angesehen oder sie darauf hin angesehen, daß sie gedruckt werden solle, könne oder müsse, wie es denn später (drei Jahre später) wirklich geschah; sondern ich schrieb, wie ich immer geschrieben, weil es mir – ich kann nicht sagen eine Lust oder ein Schmerz – sondern einfach eine Nothwendigkeit war. So kann ich auch Niemand nur im mindesten der moralischen Mitschuld bezichtigen – Niemand hat mich aufgefordert, ermuntert, angereizt, verführt, weder direct, noch indirect. Im Gegentheil! als es sich später nicht mehr ganz verbergen ließ, was ich heimlich gesponnen, hat man über mich die Achseln gezuckt und gemeint: das komme davon, und wie man's treibe, so gehe es; und das werde nimmer gut, vielmehr noch sehr schlecht gehen; und das einzig dabei Gute sei, daß ich kein Stadtkind, sondern Gott sei Dank! mit sammt meiner Familie nur ein Eingewanderter, der auch eben so wohl eines schönen Tages wieder auswandern könne und hoffentlich werde, daß sie also keinesfalls für mich zu sorgen hätten, wenn ich verloren ginge; und mithin über Alles, was noch daraus entstehen möge, ihre Hände in Unschuld waschen könnten.

Nein, ich kann Niemand anklagen; Niemand hat mir auch nur so verstohlen mit den Augen Muth zugewinkt! ja, ist schon einmal von Verführung die Rede, so habe ich viel mehr Ursache, an meine sündige Brust zu schlagen und zu bekennen, daß ich es mindestens an Versuchen nicht habe fehlen lassen, und daß es nicht dem Mangel meines bösen Willens, sondern der angebornen Güte jener biedern Naturen zuzuschreiben, wenn ich, soweit mir bekannt, kein Unheil gestiftet, kein Aergerniß angerichtet, keinen in die böhmischen Wälder gelockt, also – objectiv gesprochen – mir keinen Mühlstein, geschweige denn Rad und Galgen um die echten Stadtkinder verdient habe.

Ich sehe sie noch – so ein halbes Dutzend von ihnen etwa, und es waren noch wirkliche Kinder, oder doch kleine Knaben von zehn bis zwölf Jahren; und der eine hatte ein Stück rothes Zeug um die Schultern, der andere ein grünes und die Beinkleider in den Stiefeln, und die frischen Gesichter waren mit mächtigen Bärten von gebrannter Kohle verziert, und ein oder zwei staken sogar in Mädchenkleidern; und ich war ebenfalls, so oder so, ausstaffirt, und überdies in einer ganz fürchterlichen Aufregung, denn, wenn die Aufführung nicht besser ging, als die letzte Probe, so konnte ich überall nicht viel Ehre mit meiner großen Tragödie einlegen. Die Aufführung aber fand in meiner elterlichen Wohnung in einer nach dem Hofe hinausliegenden Parterrestube statt, welche bis zu diesem denkwürdigen Tag (und noch Jahre nachher) den imposanten Namen Kinderstube führte; die Coulissen waren aus Bettschirmen construirt und ein oder zwei ausgehobenen Thüren (um die Sache wahrscheinlicher zu machen); das Publicum war äußerst klein und bestand, wenn ich mich recht erinnere, aus ein paar Mitgliedern meiner Familie und vielleicht ebensoviel Verwandten der Knaben, welche mit mir meine Tragödie tragirten. Natürlich war es eine Räubergeschichte (ich vermuthe, mit starken Anleihen bei den Schiller'schen Räubern) und es ging ganz grausam rührend her; um so unverzeihlicher war die Heiterkeit, welche nicht von dem Gesichte der Amalia (ich fürchte, sie hieß auch Amalia) weichen wollte. Es war ein rundes Gesicht mit dicken, glänzend rothen Backen und kleinen schwarzen, blitzenden, lachlustigen Augen und, wie gesagt, diese Augen lachten lustig weiter und die dicken rothen Wangen zitterten ordentlich vor Behagen, wie es eine Räuberbraut nun und nimmer empfindet, und meine nun schon gar nicht empfand, bis ich – als Dichter, Regisseur, Souffleur und Mitspieler hinter einer jener Coulissenthüren stehend – die Qual des Widerspruchs zwischen dem thränenreichen Ideal in mir und der lachenden Verkörperung vor mir nicht länger ertragen konnte, sondern mit dem Sprunge des Tigers hervorstürzte, der mir zugewandten rothen Wange eine schallende Ohrfeige applicirte und eben so schnell in meinen Versteck zurücksprang. Armer K. v. K. – wenn du noch lebst, ich bitte dir diesen dummen Streich auf deine Kinderbacke von Herzen ab, obgleich du versichert sein kannst, daß eine uneigennützigere, ich möchte sagen objectivere Ohrfeige niemals gegeben ist und auch nicht gegeben werden kann.

Als ich mich wieder auf dem Geschäft des Finklers für die guten Vögel, meine Kameraden, ertappe, sind vier bis fünf Jahre vergangen. Wir sitzen bereits alle in Secunda, oder vielmehr in diesem Augenblicke in meinem kleinen Zimmer und einer liest aus einem Hefte vor, für dessen Inhalt er für diese Woche in jeder Beziehung – materiell und formell – verantwortlich ist. Der zweite Theil seiner Verantwortlichkeit hat ihn weniger gedrückt; er nimmt es vorläufig noch in dieser Hinsicht nicht so genau (und die Andern erst recht nicht), aber die Herbeischaffung des nöthigen Materials hat ihm schwere Sorge gemacht. Die Herren Mitarbeiter haben sich wieder einmal als gänzlich unzuverlässig bewiesen; nur ein paar kleine, ganz kleine Beiträge von durchaus fraglichem Werthe, die höchstens als Lückenbüßer dienen können, sind eingegangen; das Uebrige: die Novelle des Abends, das Hauptstück, den lyrischen Theil, das Feuilleton – er muß es Alles, Alles selber liefern.

Niemand kann zween Herren dienen, besonders wenn der eine von ihnen eine Herrin und nun gar eine von den neun Musen ist. So muß denn ein Unwohlsein, das mich drei Tage hindurch die Schule zu besuchen verhindert, zu meiner Rettung rechtzeitig sich einstellen; und mit Hilfe dieser drei Tage und einiger auf Kosten meiner jungen Nerven requirirter Nachtstunden steht am Donnerstag Abend der Herausgabe, resp. Vorlesung der fälligen Nummer nicht nur nichts im Wege, im Gegentheil: die Nummer ist um mehrere Bogen stärker, als zu welchen der Redacteur verpflichtet ist, und er hat Zeit und Mühe nicht verloren. Alles findet den wärmsten Beifall seines erleuchteten Auditoriums. Die Novelle – es ist eine historische und spielt irgendwo in Oberitalien zur Zeit der ersten Invasion Napoleon Bonapartes, so daß Franzosen, Oesterreicher, Italiener, Soldaten, Diplomaten, Briganten ein hübsch buntes Ganzes abgeben können – die Novelle ist einer jener Koh-i-noors der Literatur, über die man nicht viele Worte macht, weil sich Alles, was man darüber sagen könnte, von selbst versteht. Auch die lyrischen Beiträge sind Perlen von reinstem Wasser (und das waren sie auch!), in der Ballade aber habe ich mich wirklich übertroffen! Ich gestehe den Freunden, daß der Stoff nicht freie Erfindung, daß ich denselben wenigstens in der Hauptsache einer jüngst gelesenen Novelle im Hausfreund (so, glaube ich, hieß das Blatt) verdanke. Meine Kritiker sind in dieser Beziehung (und noch sonst sehr vielen) durchaus liberal; die Fassung sei doch mein, gehöre nur, Strophe für Strophe, Vers für Vers, Wort für Wort! Und welche Verse, welche Worte:

Wenn von dem Rodensteine der Wandrer steigt zu Thal
– Es glühn die waldigen Wipfel im letzten Abendstrahl –
Da stößt sein Fuß auf Trümmer, von Epheu dicht umringt,
Von Eichen rings umdüstert, durch die kein Lichtstrahl dringt.
Hier hausten vor alten Zeiten die Ritter von Rodenstein –
– – –

Das war Klang, das war Sang, das war echte Poesie!

Ich bin es zufrieden; aber sehr unzufrieden bin ich, ja auf's höchste erschrocken, auf's tiefste indignirt, als ein paar Tage später in der Declamationsstunde einer aus unserer Gesellschaft auf das Podium tritt, sich räuspert, und

Wenn von dem Rodensteine der Wandrer steigt zu Thal –

Heiliger Himmel! ohne mir ein Wort zu sagen, ohne mir die Gnade einer sorgfältigen Revision, ja nur eines Stoßgebets zu gewähren, in meiner Sünden Maienblüthe – vor versammelter Secunda, in Gegenwart des manchmal etwas indifferenten, doch mit Recht hochverehrten Dr. S… – ist je seit dem schnöden Mord in Helsingör eine solche grause That verübt! Und ich wußte, in dem Moment, da er den Mund öffnete, wie es kommen würde; wußte, daß er Fehler über Fehler in der heimlich genommenen Abschrift gemacht hatte, daß er Wörter ausgelassen oder hinzugefügt, und meine Verse und meine Reime verstümmelt und geschändet! und vor allem wußte ich, daß er das lange Gedicht nicht ordentlich auswendig gelernt, daß er sich nach den paar ersten Strophen auf's Rathen legen, daß er ganz stecken bleiben würde auf halbe Minuten, ganze Minuten, in welchen der gute Doctor in dem gräulichen Manuscripte nach dem abgerissenen Faden gemächlich fischte und ich glaubte, daß mir vor Scham und Gram das Herz springen werde.

Indessen, auch die schlimmste Folter muß so oder so ein Ende nehmen.

Von wem ist das Gedicht?

Irgend eine lahme Ausrede.

Nun, von wem es auch immer sei – der es gemacht, ist ein Dichter, der seine Werke vorläufig noch nicht produciren darf; aber ich glaube, er wird es einmal dürfen.

Als ich drei Jahre später zur Universität ging, benutzte ich die Gelegenheit, dem verehrten Manne den Sachverhalt zu erzählen; er erwiderte mir lächelnd, er habe keinen Augenblick gezweifelt, daß das Gedicht von mir gewesen; und er habe mir das Dichten auch gar nicht verleiden, sondern mich nur zur strengsten Selbstkritik anspornen wollen. Und, fügte er hinzu, das hat Ihnen sicher nichts geschadet.

Nein, geschadet hat mir das wohl nicht; aber der Mann hätte viel mehr für mich thun, er hätte mir positiv nützen, Unendliches nützen können: hätte mir helfen können, auf den rechten Weg zu kommen oder doch den rechten Weg leichter zu finden, hätte mir Jahre, trübe, trübste Jahre rathlosen Suchens, Umhertappens, schwersten Herzeleids, das ich mir selbst und, was schlimmer ist – Anderen bereitete, ersparen können.

Wirklich? Das sagt man denn so, und ist doch vielleicht eitel Trug, eine jener ellenhohen Socken, auf die man seinen Fuß setzt, um sich einen Zoll größer zu dünken; das Fallstaff'sche Défini: »so lag ich aus« – in das Conditionnel verwandelt: so würde ich ausgelegen, so meine Klinge geführt haben. Vielleicht!

Vielleicht auch nicht! Jedenfalls habe ich immer im späteren Leben mit Neid auf diejenigen geblickt, die von der Schule, vom elterlichen Hause jenen Schatz von Kenntnissen und Einsichten aller Art mitbrachten, den man dem Unterricht niemals, sondern immer nur dem intimen Verkehr mit hochgebildeten Menschen, der directen persönlichen Einwirkung auch nur eines solchen Menschen auf unser Denken, Fühlen, unser Studium, unsere Lectüre verdanken kann. Was unser Einer spät, manchmal gar nicht, immer aber auf langen, zeitraubenden Umwegen lernt und sich aneignet: Büchertitel, historische Data, Kenntniß der persönlichen Verhältnisse und Beziehungen in der Gelehrten-, Schriftsteller- und Künstlerwelt – jenen Glücklichen hat das Alles nichts gekostet, keine Mühe verursacht, als daß sie nur die Ohren nicht zumachten, wenn die Andern über diese Dinge sprachen; nur die Augen nicht schlossen vor der Welt, die in jenen hochbeglückten Häusern der Phantasie eines Jünglings aus Gemälden, Statuen, Büsten, Kupfer- und Bildwerken aller Art so freundlich und lockend entgegenkommt.

Es ist unglaublich, wie dürftig es nach allen diesen Seiten vor dreißig, vierzig Jahren in einer kleinen Provinzialstadt aussah, noch dazu, wenn diese Stadt auf die äußerste Peripherie der geistigen Bewegung (soweit von einer solchen damals überhaupt geredet werden konnte) schon durch die räumliche Entfernung von dem Centrum und durch die Ungunst der Verhältnisse gedrängt wurde, wie das bei der Stadt meiner Jugend der Fall war. Erst seit einem Menschenalter wiederum zum Staatsverbande gehörend, hatte man sie mit einer fast ängstlichen Pietät in dem fast unbeschränkten Besitz und Genuß ihrer berechtigten und unberechtigten Eigenthümlichkeiten gelassen. Keine Spur von dem moralischen Eroberungsfieber unserer Tage! Im Gegentheil! ein äußerst behagliches: Laissez aller und laissez faire, und kommen sie heute nicht, kommen sie morgen! Ja, man hatte ihnen das Kommen selbst in rein physischer Beziehung nicht eben erleichtert, sintemalen noch im Jahre 35 von ihrem Thore aus, bis man an die Chaussee kam, ein paar Meilen auf dem alten Landwege zurückgelegt werden mußten, den vermuthlich bereits Wallensteins Schaaren und die Reiter des großen Churfürsten gezogen waren. Es war im genannten Jahre, als wir – an einem regnerischen Maiabend – dort unsern Einzug hielten; damals sah man von der Landstraße aus links die neue Chaussee, an der sie eben eifrig bauten. Als ich jetzt nach einigen dreißig Jahren desselben Weges gefahren kam, war es auf der Eisenbahn, und rechts von derselben sah man einen alten, verlassenen, menschenleeren, mit Bäumen bepflanzten Weg sich melancholisch durch die Felder und Wiesen winden – es war die Chaussee, die neue Chaussee, an der sie damals so eifrig bauten!

In dieser, der modernen Cultur nicht unzugänglichen, aber doch nicht ohne alle Mühe zu erreichenden Stadt lebte ein ehrenfestes, alle Wege tüchtiges Geschlecht, das der übrigen Welt einigermaßen entbehren zu können glaubte, weil es – sans comparaison – in der übrigen Welt doch unzweifelhaft keine Stelle gab, die sich auch nur annähernd mit ihrer Stadt vergleichen ließ hinsichtlich der Schönheit der Lage, oder der Würdigkeit des Anblicks, oder der Leichtigkeit der Lebensbedingungen und der daraus resultirenden Annehmlichkeit des Lebens. Und sollte es wirklich, was indessen schwerlich anging, noch eine derartige Stadt geben, – wohl, so mochten die Bewohner dieser unbekannten Stadt in Frieden und mit Bewußtsein der Vortheile ihrer Lage sich erfreuen, wie sie sich der Vorzüge und Vortheile ihrer Situation in Frieden und mit Bewußtsein sich zu erfreuen gedachten bis an ihr seliges Ende.

Eine solche Sinnesart befördert ohne Zweifel das, was der Deutsche mit dem Namen Gemüthlichkeit zu bezeichnen liebt, d. h. eine Stimmung der Nerven, die in dem Kampf des Lebens, in dem Kampf um's Dasein, in dem harten Ringen des Ehrgeizes, in dem heftigen Aufeinanderplatzen der Geister gar nicht conservirt werden kann. Sie ist überhaupt sehr conservativ, diese Gemüthlichkeit; sie conservirt, wie die trockene ägyptische Luft, Alles, was nur irgend in ihren Bereich kommt, oder petreficirt es gar, wie karlsbader Sprudel: Sitten, Gewohnheiten, Redensarten, gute Witze, schlechte Witze, Straßenpflaster, Kellerhälse, Zunftzopf und lübisches Recht, Liebe und Haß – besonders den letzteren! Ich bin in diesen Tagen einem paar solcher gemüthlichen Menschen begegnet; ich hatte ganz sicher irgend einmal etwas gegen sie gesündigt, aber die Jahre hatten längst die letzte Spur davon aus meiner Seele gebleicht und ich kam ihnen mit offener Hand und offenem Herzen entgegen; ich zog die Hand bald genug zurück und schloß mein Herz wieder zu: ich hatte nicht gewußt oder nicht bedacht, von wie zähem Gedächtnis der Haß eines gemüthlichen Menschen ist.

Selbstverständlich gedieh diese Gemüthlichkeit besonders üppig in dem autochthonischen, erbgesessenen Bürgerthum ersten, zweiten und dritten Grades, welche Grade alle, jeder in seiner Weise, nicht blos das Recht, sondern die Pflicht hatten, sich gegen den plebejischen Andrang hassenswerther oder verächtlicher Neuerungen (unlogischer Pleonasmus, als ob nicht jede Neuerung zu der einen oder der andern Kategorie und oft genug zu beiden gehörte!) ablehnend zu verhalten. Aber auch jenes Beduinenvölkchen der nomadisirenden Beamten, die heute hier ihr Zelt aufschlagen müssen und morgen an einem andern Ort, diese wackern Pioniere des modernen Staates – sie schienen den besten Theil ihres Wesens und ihrer Fähigkeiten zu verlieren, sobald sie längere Zeit in der conservativen Atmosphäre, die über der guten alten Stadt und ihrem Weichbilde lag, geathmet hatten. Selbst die oberste ihrer Fähigkeiten: die Beweglichkeit! Sie blieben, wo sie nun einmal waren, als wären sie für ein hochlöbliches Decernat der persönlichen Angelegenheiten ihres betreffenden Ministeriums in Lethes Strom versunken, sobald sie das kleine Flüßchen überschritten, welches den Regierungsbezirk gegen das übrige Vaterland abgrenzte. Wohl kam und ging einmal ein Assessor, Referendar oder Auscultator, ein Bauconducteur oder Forstcandidat – aber es waren doch nur meteorische Erscheinungen, welche die Constellation und den Anblick der Sternbilder der verschiedenen Verwaltungscollegien nicht weiter alteriren konnten. Ich erinnere mich nicht, daß einer dieser würdigen Herren: Präsidenten, Oberregierungs-, Regierungs- und sonstigen Räthe anders als durch den Tod von seiner Stellung abberufen wäre. Sie durften mit dem ersten Chor der feindlichen Brüder singen und sagen:

Wir gehorchen, aber wir bleiben stehen.

Verhängnißvolles Wort, das buchstäblich zur Wahrheit an den braven Männern wurde!

Sie gehorchten! der Himmel weiß es, und ihre Vorgesetzten, die Geheimen im Ministerium, wußten es ohne Zweifel auch, würden es auch sehr übel vermerkt haben, wenn es anders gewesen wäre. Sie gehorchten, – Einige habe ich sogar im Verdacht: mit jenem Eifer, der vor den Augen eines absoluten Monarchen selbst in der Uebertreibung noch schön ist, Andere mit einer gewissen Lässigkeit, die etwa in ihrer Natur lag; gegen seine Ueberzeugung – ich bin davon fest durchdrungen – keiner. Ich meine natürlich im Ganzen und Großen der Pflichterfüllung, wobei ja eine gelegentliche Differenz der Ansichten, die der Untergebene selbstverständlich zu tragen hat, nicht weiter in Rechnung kommt. Sonst aber dienten diese Männer mit echtester Loyalität, wie sie denn ausnahmslos ohne allen und jeden Zweifel jeder in seiner Weise vom Präsidenten bis zum Canzleisecretär Typen des ehrenfesten, fleißigen, nüchternen alten Beamtentums waren, dem unser Staat nicht zum kleinsten Theil seine jetzige Größe und Machtstellung verdankt!

Sie selbst freilich! sie wurden als Steine in das Fundament dieser Größe gemauert, und wurden nicht gefragt, ob sie sich ihr Leben einstmals anders gedacht hatten, oder heute anders wünschten. Dergleichen Gedanken und Wünsche waren für einen ordentlichen Staatsdiener überhaupt gänzlich unschicklich, und ich habe auch vollkommen den Eindruck, als ob sich die meisten von ihnen das Wünschen mittlerweile – sie hatten Zeit dazu gehabt – nach dieser Seite wenigstens so ziemlich abgewöhnt hatten, und – ich fürchte – auch das Denken. Ich schreibe das äußerst ungern hin, weil es wie schlimme Pietätlosigkeit aussieht; aber ich meine es nicht ganz so schlimm.

Ich meine nur, daß Jemand, der gezwungen ist, Jahr aus Jahr ein dieselben Themata zu bearbeiten, dieselben Aufgaben zu bewältigen, mit denselben Personen zu verkehren; dem seine Stellung und seine Verhältnisse größere Reisen, vielleicht das Reisen überhaupt verbieten, der zum Ersatz dafür keine Zeitung von außerhalb in die Hand bekommt, die nicht mindestens drei Tage alt ist (und meistens viel, viel älter!), der nach und nach – weil er nichts mehr zu schreiben hat – die in den ersten Jahren eifrig gepflegte Correspondenz mit den Freunden in Berlin und sonst in größeren, bewegteren Verhältnissen aufgibt – ein solcher Mann müßte wahrlich ein Genie sein, wenn er nicht mit der Zeit ein wenig einnicken sollte. Und wenn er ein Genie wäre, würde es ihm auch nichts helfen; er riskirte nur lüderlich oder einfach verrückt zu werden.

Diese Herren waren alle nüchterne, zum Theil sehr methodische Leute, und ich habe niemals eine leiseste Spur von Ueberspanntheit bei ihnen bemerkt. Aber freilich das Denken – man wird mich jetzt nicht mehr mißverstehen – hatten sie in einem gewissen Sinne aufgegeben.

Ich habe die schärfste Erinnerung der Gespräche, welche in der Gesellschaft dieser Männer gepflegt wurden. Dieselben waren entweder rein geschäftlicher Natur – was meistens der Fall war – oder es waren (sehr selten!) Reminiscenzen aus ihrer Jugend oder ihren jüngeren Jahren, oder jenes bunte Allerlei, das aus Jagdgeschichten (fast Alle waren Jäger), Personalien u. s. w. ununterscheidbar gemengt und gemischt ist. So war es ein Mal, wie alle Mal das ganze Jahr hindurch, alle Jahre hindurch. Ich wüßte mich nicht zu erinnern, daß unter diesen Männern, die doch sämmtlich ihre Universitäten besucht hatten, jemals ein längeres und eifriges Gespräch über Literatur oder Kunst, sei es vergangener Tage, sei es der Gegenwart geführt worden wäre – höchstens daß ein oder das andere Mal des Schauspiels und der Oper Erwähnung geschah, d. h. der Genüsse, welche der Eine oder der Andere vor Jahren einmal gehabt hatte oder gehabt zu haben glaubte. Und was gewiß noch viel auffallender scheint, es aber im Grunde gar nicht ist: das Ganze, das wir Volk, Nation nennen, und für das sie im Grunde unausgesetzt arbeiteten, hatte für sie nur ein sehr untergeordnetes Interesse; sie fühlten sich auch gar nicht eigentlich als Mitglieder des Volkes, der Nation; sie waren eben Beamte, welche das Volk, die Nation im Namen des Königs zu regieren hatten: königliche Beamte; der Begriff des Staates – so weit er nicht in dem König und Allem, was königlich war, sich darstellte – war ihnen befremdlich, unheimlich, geradezu verhaßt; und wenn Friedrich Wilhelm IV. später gelegentlich den Staat einen »Racker« nannte, sprach er damit nur die Empfindung des bei weitem größten Theils seiner alten und keineswegs schlechtesten Beamten aus. Ja, die trefflichen Männer waren nicht abgeneigt, diese Empfindung und das Wort selbst auf alle diejenigen zu übertragen und anzuwenden, welche über jenen unheimlichen Begriff auch nur als Professoren, Publicisten etc. theoretisirten; und wer nun gar die theoretisch gewonnenen und in dieser Sphäre allenfalls noch diskutabeln und erträglichen Resultate in die Praxis umsetzen wollte, war ihnen ein Tollhäusler, wenn er nicht ein Schelm war. Glücklicherweise für die Gemüthsruhe dieser braven Herren gab es damals nicht viel solcher Leute: einige hirnverbrannte Poeten, denen man ihre Reimereien schließlich nicht so hoch anrechnen wollte, und allerdings hier und da in Schlesien, am Rhein – die Ständeversammlungen – nun, der König hatte sie sehr ungnädig verabschiedet; aber es war ja auch wirklich zu arg: Preßfreiheit, Geschworenengerichte, Constitution – und diese alten Marotten wieder und immer wieder vorzubringen, Jahr aus, Jahr ein – sollte der König da nicht endlich auch die Geduld verlieren; er (Sprecher) für sein Theil habe sie schon lange verloren, und ich glaube, College, Ihnen wird es nicht anders ergangen sein.

So sprachen die Herren unter einander mit gedämpfter Stimme und ernsten Gesichtern über diese Dinge in Ausdrücken, die auf den Knaben-Jüngling den tiefsten Eindruck machten, allerdings nicht ganz den, welchen die Herren beabsichtigt haben würden, hätten sie bei dergleichen Reden in Beziehung auf uns junge Menschen überhaupt eine Absicht gehabt. Nichts aber lag ihnen ferner als der Gedanke, wir könnten neugierig den Schleier lüften wollen von Geheimnissen, an denen sie selbst mit frommem Schauder vorübergingen. Und doch war dies der Fall, wenigstens bis zu einem gewissen Grade; meine Neugier war erregt, und was daran Böses sein sollte, wenn man »eine scharfe Zunge und eine scharfe Feder« führte, konnte ich auch nicht herausfinden. Es war gewiß keine oppositionelle oder gar revolutionäre Stimmung, in die ich mich nun hineingearbeitet hätte; ganz und gar nicht; ich war viel zu unwissend, als daß ich mir eine bestimmte Vorstellung von den Dingen hätte machen können, über welche die Herren geredet; aber ich hatte doch hingehorcht, aufgehorcht, einen Eindruck empfangen, der lebhaft genug gewesen sein muß, da ich heute nach so langer Zeit mich der betreffenden Personen, des Ortes, der Stunde, des Gegenstandes dieser und jener Unterredung erinnere. Es war ein einzelnes Korn aus dem wohlverschlossenen Sack auf den Weg gefallen; vielleicht zertritt es der Fuß des nächsten Wanderers, vielleicht picken es die Vögel; vielleicht nimmt es der Wind und wirft es auf den Acker nebenan, und deckt's mit ein wenig Erdkrume zu, und dann kann man nicht wissen, was das arme Korn von diesem Umstand noch Alles für Umstände im Leben hat und Andern macht.

Ich gebe natürlich herzlich gern zu, daß, was ich hier als Norm und Regel der Denk- und Fühlweise jener Ehrenmänner hingestellt, auch seine Ausnahmen gehabt hat; aber im Ganzen der Umrisse und der Farbengebung ist das Bild sicher nach dem Leben. Wenn ich für mich selbst einer Bestätigung meines Urtheils bedürfte, so fände ich dieselbe in der Form, welche für die geselligen Vergnügungen in diesen Kreisen damals ganz allgemein acceptirt war, so allgemein, daß man durch die Beschreibung eines Frosches neunundneunzig andere Frösche nicht genauer schildern kann, als sämmtliche Abendgesellschaften einer Saison durch die Schilderung einer einzigen Abendgesellschaft.

Man versammelte sich aber zwischen sieben und acht Uhr so schnell, als die wenigen Privatequipagen, über welche die Gesellschaft verfügte, und die drei oder vier Lohnwagen, welche die Stadt aufzuweisen hatte, und sonst die Füße der Betheiligten es eben zuließen. Junges Volk wurde für gewöhnlich grundsätzlich nicht geladen; und unter »jungem Volk« Alles verstanden, was man zu dem Hauptgeschäft des Abends eben seiner Jugend wegen absolut nicht verwenden konnte, wie man denn auch mit Einladungen an ältere und alte Leute, welche, wenn auch aus andern Gründen, in die Kategorie nicht verwendbarer Gäste fielen, so sparsam wie möglich war. Bis die Gesellschaft sich vollzählig versammelt hatte, vielleicht auch noch eine halbe Stunde länger, ging und stand man, (die Herren mit den Hüten in den Händen) theetrinkend, plaudernd umher, während man den Wirth oder einen von ihm mit dem wichtigen Auftrag betrauten gewandten jüngeren Collegen oder Kameraden – Referendar oder Lieutenant – durch die plaudernden Gruppen gleiten, und Jedem – sei es Dame oder Herr – ein paar Namen in's Ohr flüstern oder etwas in die Hand drücken sah, auf welches der Gedrückte einen flüchtigen Blick warf, um es sodann seinem Nachbar oder seiner Nachbarin zu zeigen etwa mit den Worten: Werde ich heute Abend das Glück haben, Frau Oberregierungsräthin? – Bedaure sehr, lieber Herr Regierungsrath. – Sieh da, Frau Oberforstmeisterin! eine seltene Ehre! – Die Sie zu schätzen wissen werden, Herr Assessor, indem Sie heute Abend etwas besser aufpassen, als letzten Freitag bei Oberpostdirectors. – Oder gestern auf der Jagd. – O, Sie unverbesserlicher Leichtfuß; aber ich sehe, die Frau Präsidentin hat bereits Platz genommen; darf ich um Ihren Arm bitten, lieber X. Y. Z.; wo steht denn eigentlich unser Tisch? – Hoffentlich nicht da, wo Ihres Herrn Gemahls Ponto gestern unweigerlich stand. – Und das war? – Wo er nichts zu suchen hatte. – Wann werden Sie vernünftig werden! –

Die ganze Gesellschaft hat jetzt zu dreien, oder vieren – je nachdem Tarok, L'hombre, Whist oder Boston gespielt wird, an Tischen Platz genommen, die in den Nebenzimmern mit Kerzen, Lichtern, Spieltassen, Spielmarken, Spielkarten und den obligaten Stühlen arrangirt standen – fünf, sechs, sieben, zehn, zwölf oder in wie viel Theile sonst der Quotient der Gesellschaft durch drei oder vier getheilt werden kann. Es ist Niemand übrig geblieben, außer der Wirthin, die erklärt hat, nicht spielen zu wollen, sich aber endlich doch erbitten läßt, an dem einen Bostontisch, als »Strohmann« einzutreten; und dem Referendar v. B., der erst seit 14 Tagen in der Stadt ist, und gebeten hat, ihm noch ein paar Studienabende zu gönnen, und der sich nun mit discreter Haltung bald hierhin, bald dorthin an einen der Tische stellt, und während des Abends vierundzwanzig Mal (über die Schulter) mit »Jonas« angerufen wird, weil Jeder glaubt, es sei der alte Lohndiener.

Jonas hat unterdessen eine Welt von Arbeit: die Zubereitung von zwei Mal so viel Tischchen als Spieltische in den Zimmern sind, jeden mit zwei Gedecken, und je einer Flasche Wein. Jonas ist heute schlechter Laune, weil die »Müller'sch« kocht, anstatt der »Schulz'sch«, und die Müller'sch »das« Fricassée immer mit einer langen Sauce anrichtet, was einmal gar nicht fein ist, und sich ganz schlecht servirt. Im Uebrigen unterscheidet sich das Essen der Müller'sch so wenig von dem, was die Schulz'sch gekocht haben würde, daß selbst der Regierungsrath v. M. – trotz seiner notorisch und gefürchtet feinen Zunge heute Abend nicht herausbringen kann, ob es von der einen oder von der andern Künstlerin ist. Er wendet zur Entscheidung dieser wichtigen Frage den Speckhals nach der Wirthin um, die ihm dos-à-dos an dem Nachbartische sitzt, aber augenblicklich nicht antworten kann, weil sie acht grandissimo ohne Mitgang (den sie sich verbeten) angesagt hat und sich in Folge dessen in einer sehr erklärlichen Aufregung befindet.

Das Souper, das unweigerlich aus drei Gängen besteht, wird in längeren Zwischenpausen servirt, da die Spielenden keineswegs geneigt sind, das Geschäft des Abends auf mehr als höchstens ein paar Minuten zu unterbrechen, und gleichsam nur so im Vorübergehen soupiren, wie ein Pferd auf der Landstraße von dem vorüberfahrenden Heuwagen nascht. Es ist eine Kunst, die gelernt sein will; Neulingen passirt es wohl, daß sie hungriger aufstehen, als sie sich vor drei Stunden hingesetzt haben; die Erfahrenen wissen natürlich von solchen Calamitäten nichts.

Dafür wissen sie sämmtliche Hauptspiele, so an dem Abend vorgekommen, auswendig, und der Austausch dieser Merkwürdigkeiten oder die Mittheilung sonstiger besonders erfreulicher oder fataler Peripetieen des Glücks bilden den immer willkommenen sach- und zeitgemäßen Stoff der Unterhaltung für die zehn Minuten, welche man, nachdem man sich von den Spieltischen erhoben, noch in den gastlichen Räumen (die Herren wieder mit den Hüten in den Händen) stehend und umhergehend (sich die Beine zu vertreten, sagt der witzige Regierungsrath v. M.) zubringt. Dann leeren sich die Zimmer sehr schnell, und der Wirth geht von Spieltisch zu Spieltisch, das »Kartengeld« an sich nehmend, das man in dem »Pot« deponirt hat (den vollen Preis für 2 Spiele, wenn die Karten ganz neu sind, sonst à discrétion).

So, genau so habe ich Dutzende von Gesellschaften in meinem elterlichen Hause oder in den Häusern der Kollegen und Freunde meines Vaters verlaufen sehen. Was blieb im besten Falle dabei für die Conversation übrig, ohne die wir uns eine abendliche Zusammenkunft gar nicht denken können!

Daß junges Volk an solchen Abenden eingeladen wurde, war, wenn ich mich recht erinnere, eine Neuerung, die so in dem Anfang der vierziger Jahre eingetreten sein muß, als die Söhne und Töchter der befreundeten Familien (besonders die letzteren) heranwuchsen oder herangewachsen waren und – unter Assistenz eines halben oder ganzen Dutzend der Officiere der Garnison – Tanzabende, ja richtige Bälle arrangirt wurden. Es ging fast ausnahmslos sehr heiter bei diesen Gelegenheiten zu, und der Umstand, daß Jeder Jeden kannte und es eigentlich immer dieselben Personen waren, die sich zusammenfanden, schien den Genuß eher zu erhöhen als zu vermindern. Die Damen waren meistens schon zu der nächsten Gelegenheit für alle Tänze engagirt, und wenn sie einen oder den andern offen ließen, so war es, um dem Lieutenant X. oder dem Referendar v. Z. (die heute Abend nicht zugegen waren, aber am nächsten Abend da sein würden) eine Chance zu geben. Auch mir ist diese Gunst wohl zu Theil geworden trotz meiner 17 Jahre und meiner dunklen Primanerstellung; ich schließe daraus absolut nichts, als daß die jungen Damen damals in ihren Ansprüchen bescheidener gewesen sein müssen, als ihre Schwestern von heute.

Denn daß jene jungen Damen mir auf meine literarische Zukunft creditirt hätten, ist in keiner Weise anzunehmen. Einmal wäre eine derartige Zukunft, falls sie sich jemals – was ich stark bezweifle – die Möglichkeit einer solchen vorgestellt, kaum nach ihrem Geschmack oder auch nur mit ihren Ansichten von dem, was ein junger Mann von guter Familie seinen Eltern, den Freunden des Hauses, seinen eigenen Freunden (und Freundinnen) schuldig ist, vereinbar gewesen. Sodann hatte wohl die eine oder die andere auf ihrem Geburtstagstisch neben einer Blume, oder sonst bei einer passenden Gelegenheit und zu günstiger Stunde Verse gefunden und gelesen, oder gehört, die ich nirgendwoher abzuschreiben brauchte, da sie mir leichtlich in die Feder und über die Lippen kamen; man rechnete auch bei Aufführungen von Charaden oder sonstigen kleinen theatralischen Versuchen auf meine Erfindungsgabe und mein Darstellungsvermögen, als auf etwas, was sich von selbst verstand, aber ich erinnere mich nicht, daß jemals Jemand auf diese Gaben von so fraglichem Werth irgend ein Gewicht gelegt hätte, und ich wüßte auch in der That nicht, weshalb das nöthig gewesen wäre. Um so weniger, als gerade in dieser Zeit, der letzten, die ich in meiner Jugend Stadt verbrachte, der letzten überhaupt meiner eigentlichen Jugend, die Lust am Fabuliren in einer sonderbaren Weise nachließ und eigentlich auf Jahre hinaus bis zum scheinbaren Erlöschen dahinschwand.

Wenn ich mich heute frage, wie das möglich gewesen, so stellt sich mir eine ganze Reihe von Ursachen dar, die sicherlich alle mitgewirkt haben, ohne daß ich anzugeben wüßte, in welchem Grade oder in welcher Folge oder Vermischung. Zuerst war es wohl eine Illustration der alten Bauernregel, daß »die Hähne, die zu früh singen, nicht alt werden.« Ich hatte zu früh gesungen und – ich war erschöpft. Das klingt wunderlich genug, wenn man es von einem siebzehn-, achtzehnjährigen Jüngling in der vollsten Blüthe seiner physischen Kraft sagt, und doch vermuthe ich, daß es sich so verhielt. Seitdem mein kindisches Gehirn nur irgend die Fähigkeit dazu in sich gespürt, hatte es angefangen zu fabuliren, zu dichten, sich neben der Welt, die es percipirte und percipiren sollte, eine andre aufzubauen, in der unbegrenzter Raum und unbegrenzte Zeit für Alles war, was hier auf dieser sublunarischen Welt weder jenen noch diese finden zu können schien. Man würde diesen unwiderstehlichen Hang, von nie erlebten Dingen zu berichten, den man bei so manchen – übrigens nicht immer geistreichen – Kindern beobachtet, mit dem Worte »Lügen« sehr unstatthaft bezeichnen. Einmal ist die eigentliche Lüge immer eine Gelegenheitsdichtung, während jenes Fabuliren bei jeder Gelegenheit hervorbricht, d. h. gar keiner bedarf. Sodann fehlt dem letzteren durchaus das hauptsächliche Merkmal der Lüge: das Wissen um sich selbst, und damit der bewußte Zweck. Das fabulirende Kind wacht wie aus einem Traum auf, wenn man ihm die pragmatische Unwahrheit oder logische Unmöglichkeit seiner Träume ad oculum demonstrirt, und am allerwenigsten will es etwas damit erreichen, nicht einmal die Glorie der Heldenhaftigkeit, obgleich es natürlich immer oder doch zumeist selbst der Held seiner Geschichten ist. Das Fabuliren ist so wenig Lügen, daß es mit der tiefsten, frömmsten Wahrhaftigkeit und Wahrheitsliebe durchaus Hand in Hand gehen kann. Ich erinnere mich nur noch zu genau, daß, als die erste nackte, freche Lüge vor mich trat – ich hatte einem Knaben einen kleinen Aufsatz Wort für Wort dictirt und er behauptete Anderen und mir selbst in's Gesicht, es sei sein eigenstes Werk und ich habe keinen Theil daran – ich zuerst meinen Ohren nicht trauen wollte, und als nun doch die Gewißheit über mich kam, daß dies kein Scherz, daß diese Unmöglichkeit wirklich, daß dieses Ungeheuer mit dem Löwenkopf und dem Drachenschwanz ein sonderbares scheusäliges Leben habe – ja, da glaubte ich buchstäblich, daß die Welt aus den Fugen gehen und die Sonne sich verfinstern müsse. Nichtsdestoweniger war ich keinen Augenblick vor den Einbläsereien jenes erfinderischen Asmodeus sicher. Ein langaufgeschossener, ich glaube ziemlich einfältiger Junge, Nachbarskind und Spielkamerad, mit welchem ich auch zusammen in die Vorbereitungsschule ging, war besonders die geduldige Lederpuppe, an welcher ich meine phantastische Garderobe probirte; aber es war Niemand sicher, selbst nicht meine Eltern, daß ich sie aus meinen Vexirgläsern trinken ließ. Und wie gut die Imitation manchmal gewesen sein muß, geht daraus hervor, daß noch nach Jahren gewisse Anecdoten von mir in der Familie circulirten, die ich alles Ernstes, aber ganz vergeblich als Erfindungen darzustellen versuchte, und mir damit einen wunderlichen Beweis des Aristotelischen Satzes gab, daß die Poesie in gewissem Sinne philosophischer, d. h. wahrer ist als die Geschichte.

Und so war's fortgegangen in einem ununterbrochenen, sich nur allmälich erweiternden und vertiefenden Strom bis etwa in mein sechzehntes Jahr, das ich als die Akme, die Blüthe meiner früheren Jugend bezeichnen möchte, und an das ich noch jetzt mit wehmüthiger Freude zurückdenke. Ich war geistig und körperlich voll frischester Kraft, die sich ohne Ueberstürzung, in behaglicher Weise weniger ausgab als bethätigte. Was ich in die Hand nahm, vornahm, gelang mir, und alles wurde mir leicht; man hatte mich gern, und ich glaube, ich verdiente es; man verzog mich sogar in einer Weise, über die ich jetzt erstaune, ja erschrecke, und die mich doch nicht verdarb, nicht einmal eitel machte. Es war ein lustiges Leben und eine Lust zu leben.

Dann kommt die Periode, von der ich jetzt spreche. Wir waren wieder einmal umgezogen in ein Haus, das nach vorn auf eine unschöne, öde Straße sah, und dessen lang sich streckendes Hintergebäude (in welchem sich mein Zimmer befand) über die schon erwähnten melancholischen Teiche und weiten Wiesenflächen unmittelbar in die untergehende Sonne blickte. Das Haus, oder unsre Wohnung in diesem Hause, kommt mir jetzt wie ein Bild der unglücklichen Zeit vor, die nun für mich hereinbrach: eine leere, öde Gegenwart und eine Zukunft, die oft und oft in wunderbaren Farben zu spielen schien, nur, um mich zu äffen, nur, um mir die Gegenwart noch leerer, noch öder erscheinen zu lassen.

Nicht als ob das unweigerlich so gewesen wäre! Es kamen gewiß Tage, Wochen vielleicht, der alten Munterkeit, der alten Lebenslust und – ich darf es ja jetzt nach so viel Jahren wohl sagen – der alten Liebenswürdigkeit; aber es waren doch nur noch Lichtblicke an einem Himmel, an welchem sich ein Gewitter von allen Seiten zusammenzuziehen scheint. Ich hatte die Freude an der Arbeit verloren; ich war unzuverlässig, träge geworden zur Verwunderung meiner Lehrer, die ich daran gewöhnt hatte, auf mich mit Sicherheit rechnen zu dürfen; ich konnte mich wohl noch für diese oder jene Disciplin, für dieses oder jenes Thema erwärmen, aber es hatte keine Folge, keine Dauer; selbst die Süßigkeit einsam nächtlicher Stunden, in welcher ich jetzt zum ersten Mal Goethe las: Faust, Götz von Berlichingen, Werther – war mit Wehmuth und Schwermuth allzureichlich gemischt.

Ich weiß jetzt so deutlich, was mir fehlte, daß ich gar nicht begreifen kann, oder vielmehr, daß es mir kaum glaublich scheint, wie es nicht ein oder der andre verständige Mann, der mir Theilnahme schenkte, habe sehen müssen; und daß dieser Mann nicht Mitleid mit dem armen Jungen gehabt und ihn bei Seite genommen und zu ihm gesagt habe: Sie sind ein junger Mensch, bei dem sich eine gewisse Frühreife zeigt, wie sie oft bei Künstlernaturen vorkommt. Denn ich vermuthe, daß Sie eine solche Natur sind und eines Tages unter die Schauspieler, Maler oder Dichter gehen; ja, im Grunde bereits jetzt schon in der einen oder der andern, vielleicht in allen drei Künsten zu gleicher Zeit dilettiren. Hätten wir hier am Orte eine Akademie, oder ein gutes Theater, oder ein literarisches Leben, so würden Sie wenigstens Korn auf Ihre Mühle bekommen, die jetzt in einer melancholischen Weise leer klappert; Sie würden sehen, hören, vergleichen, herausfinden, wohin Ihr Talent neigt, vor Allem herausfinden, daß, wohin das auch sei, Sie sicherlich nicht weit kommen werden, wenn Sie nicht ernstlich gearbeitet haben. So nehmen Sie denn Leopold Schefers Wort: »die Zukunft heißt darum so, weil sie kommen wird«, und bis sie kommt und Sie zum Kampf, in den Kampf ruft, der Ihnen jetzt in allen Gliedern spukt, stählen Sie sich, rüsten Sie sich, arbeiten Sie; es bleibt Ihnen jetzt nicht nur nichts anderes, sondern, wie die Verhältnisse auch immer lägen, einem Jüngling in Ihren Jahren bleibt nichts Besseres zu thun; und seien Sie überzeugt, wenn Sie ein echtes Talent haben, und lassen wir uns annehmen, daß Sie eines haben: mit dem echten Talent ist es, wie mit dem braven Reiter und dem rechten Regen, von denen Georg im Götz von Berlichingen – den Sie da vorhin aus der Hand legten – sagt, daß sie »überall durchkommen.« Also Muth, mein junger Freund, Muth! und ein wenig Geduld, und inzwischen tüchtig, ehrlich gearbeitet! Sie glauben nicht, wie weit Sie's damit noch einmal in derselben Welt bringen können, die Ihnen jetzt ein dunkles Labyrinth scheint.

Hätte so oder ähnlich ein Mann, dem ich Vertrauen schenken durfte, mit mir gesprochen!

Es gab vielleicht nur einen in der ganzen Stadt, der es gekonnt, und vielleicht gesollt hätte, eben weil er es gekonnt hätte. Es war jener bereits oben erwähnte Lehrer, ein Mann, noch jung genug, um mit der Jugend zu sympathisiren und für ihre Leiden ein Verständniß zu haben, und Poet genug, um zu wissen, wie einem jungen Dichter, der gar nicht weiß, daß es so um ihn steht, zu Muthe ist. Auch beobachtete er mich fortwährend, oder verlor mich doch nicht aus den Augen; er hatte – ich erfuhr es Jahre später – an einem kleinen herzlichen Gedicht, das ich an eine junge Dame gerichtet, in deren Familie er verkehrte, seine innige Freude gehabt; als ich in der Stunde einmal, im Gegensatz zu der ganzen Prima, behauptete: ich fände den und den Vergleich sehr treffend und echt poetisch, sagte er mit seiner sanften Stimme und einem ruhig klaren Blick der schönen Augen, den ich nie vergessen werde: ich wußte es, daß Sie es finden würden! Dergleichen Züge habe ich noch so manche in treuem Herzen bewahrt; auch bin ich überzeugt, daß er mich persönlich lieb hatte. Es war, als ob er mir vom Gesichte ablese, ob ich etwas wüßte oder nicht; so bin ich ihm während der drei und ein halbes Jahr, die er mich in Secunda und Prima unterrichtet, nie eine Antwort schuldig geblieben, denn er hat mich nie gefragt, wenn ich es nicht wußte.

War es diese Weichheit seiner Seele, die ihn vor der Verantwortlichkeit, in das Seelenleben eines lieben Schülers energisch, vielleicht für immer bestimmend, einzugreifen, zurückschrecken ließ, – war es, daß seine Einsicht in den Fall doch nicht klar genug oder seine Kenntniß der Welt doch nicht groß genug war, um die Möglichkeiten des Falles mit mir in Erwägung ziehen zu können, – überschätze ich nachträglich in der Dankbarkeit für das, was er mir an Liebe gewährt, den unausgesprochenen, verborgenen Rest – ich weiß es nicht; ich weiß nur, daß er mich in die Irre gehen ließ, wie die Andern auch.

Hier, wo die Männer schwiegen, wäre nun für das gute, beruhigende, zurechtweisende Wort einer liebe- und geistvollen Frau so recht die Stätte gewesen. Aber jenes hohe Glück, das die Himmlischen in einer solchen Krisis schon so Manchem gewährt haben und Jedem gewähren sollten – mir ward es nicht zu Theil. Ja, wie um mich ganz zu vereinsamen, mußte das Unglück wollen, daß meine Mutter, die seit der Geburt ihres letzten Kindes – seit vierzehn Jahren beständig gekränkelt, und ihre Häuslichkeit immer mehr als ein fremdes Etwas oder gar als ein nothwendiges Uebel zu betrachten sich gewöhnt hatte, jetzt von einer geradezu krankhaften Leidenschaft für Ruhe erfaßt wurde, und in wochen- ja monatelangem Verweilen bei uns befreundeten Familien auf dem Lande die kontemplative Stille und das Behagen suchte, welche ihr die Stadt und das Leben in der eigenen Familie nicht gewähren zu können schien. Sie hätte mir nicht im eigentlichen Sinne helfen können – dazu übersah sie die einschlagenden Verhältnisse wohl nicht klar genug – aber ich hätte doch an ihr einen Halt gehabt, um so mehr als die mit den schönsten Geistesgaben ausgestattete, von der Natur mit dem heitersten Sinn und dem elastischsten Temperament reichbegabte Frau den Knaben schon durch ihr besonderes Vertrauen oft weit über seine Jahre geehrt hatte. Nun entfremdete sie sich in seltsam bizarrer Laune ihrem Gatten, ihrem Hause, ihren Kindern, und raubte mir vor Allem die Ratherin, die Freundin, welche dem frühreifen, von der Gegenwart unbefriedigten, von Ahnungen der Zukunft umdüsterten, von schweren Wolken der Sinnlichkeit wie von Gewittern, die am Sommerhimmel aufsteigen, beklemmten und geängsteten Jüngling gerade jetzt so herzlich nöthig gewesen wäre.

Nicht als ob ich mir aus dieser Zeit irgend etwas Schlimmes vorzuwerfen hätte, oder doch sicher nichts Schlimmeres, als was ein kluger Mentor, der die menschliche Natur kennt und weiß, »was unsres Fleisches Erbtheil«, ganz gewiß an seinem Telemach tadeln, aber nicht minder gewiß in seinem Herzen verzeihen würde. Vor gröberen Abwegen bewahrte mich schon mein inniges Verhältniß zur Natur, mein inniger Verkehr mit der Natur. Meine einsamen Streifereien in die Umgegend der Stadt, die Wiesen, Felder und Wälder, auf das Meer hinaus nahmen nun größere Dimensionen an in dem Maße, als ich für die Unruhe, die immer wilder in mir wühlte, eines immer größeren Gegengewichts bedurfte, und mein junger starker Körper jeder Anstrengung gewachsen und eigentlich nicht zu ermüden war. Die Freude, die Lust am Sport: am Schlittschuhlaufen, Rudern, Segeln, Reiten, Jagen wurde zur Leidenschaft. Ich brachte es in allen diesen Künsten bald zu einer Art von Virtuosität, und das war erklärlich genug, da mir eine entschiedene Begabung innewohnte und es überdies an Gelegenheit, mein Talent zu üben, meinen Eifer zu bethätigen, in keiner Weise fehlte.

Ich verdankte das der Stellung meines Vaters, welcher als oberster Beamter in seinem Fach alle Bauten des Regierungsbezirkes, sowohl die Land- als die Wasserbauten, zu leiten und zu überwachen hatte, und in Folge dessen sich fast ein Viertel des Jahres auf Dienstreisen befand. Diese Reisen erstreckten sich auch in einem ziemlich regelmäßigen Turnus über sämmtliche Domänen, an welchen der Regierungsbezirk ganz besonders reich war und bis auf den heutigen Tag ist. Nun hatte der Vater, als ein geselliger Mann, der in seiner Weise sehr an seinen Kindern hing, von jeher die Gewohnheit gehabt, eines oder das andere, oder auch ein paar mitzunehmen, vor allem auf den Seefahrten, aber auch über Land, wenn es sich bequem einrichten ließ. Und es ließ sich oft bequem einrichten, da er mit eigenem Geschirr fuhr, und von den Herren Domänenpächtern im Laufe der Jahre so mancher ihm befreundet worden war, und Familienbesuche hinüber und herüber sich von selbst verstanden. Die Herren Domänenpächter waren freilich meistens nebenbei auch Rittergutsbesitzer, oder umgekehrt; jedenfalls waren sie alle substantielle, gastfreie, joviale Männer und selbstverständlich tüchtige Jäger. Das ließ sie in den Augen meines Vaters nicht schlechter erscheinen, der selbst ein großer Jäger vor dem Herrn und sowohl mit der Büchse, vorzüglich aber mit dem Doppelgewehr einer der besten Schützen war, die ich je gesehen. Sein Vater, mein Großvater, war Forstmann gewesen; er hatte es auch werden wollen und war erst später zum Baufach übergegangen. Ich hatte das Jägerblut von Vater und Großvater und sehr wahrscheinlich noch verschiedenen Ahnen in direct aufsteigender Linie geerbt, nur daß irgendwie jenes »Tröpfchen Fegefeuer« hineingemischt war, welches den damit Behafteten im Grunde keine Wahl läßt, sonst wüßte ich nicht, weshalb ich nicht die Jägerei gewählt haben sollte. So hatte ich mich denn begnügt, wann immer es die Schulpflichten erlaubten (und ich fürchte, ein oder das andere Mal, wo sie es nicht erlaubten) den Vater mit nimmer müden Beinen auf die Jagd zu begleiten; und jetzt hatte ich längst meine Lehrlingszeit hinter mir, und durfte mich, wie so ziemlich nach allen Seiten, so auch nach dieser vollkommen frei bewegen. Das wurde mir wesentlich durch einen Umstand erleichtert, der in dieser Periode meines Lebens von keiner untergeordneten Bedeutung ist. Ich besaß ein Reitpferd, oder durfte wenigstens das, welches mein Vater neben den beiden Wagenpferden, die er ex officio halten mußte, aus Liebhaberei hielt, als mein eigenes betrachten. Es war von einem ungeschickten Reitmeister total verritten worden und hatte meinen Vater gleich bei dem ersten Versuch in nicht ungefährlicher Weise abgeworfen. Er mochte es nicht wieder besteigen und wollte es verkaufen, bis es meinen Bitten gelang, ihn davon abzubringen und mir die Erlaubniß auszuwirken, einen Versuch zu machen, ob ich mit dem Braunen nicht zurecht kommen könnte. Der Versuch war glänzend gelungen; ich hatte dem durchaus gut gearteten Pferde alle schlechten Sitten, die ihm von dem Herrn Reitmeister mühsam beigebracht waren, wieder abgewöhnt; es scheute nicht mehr; es nahm breite Gräben und ansehnliche Hecken mit einer spielenden Leichtigkeit, die auf einigen kleinen Parforcejagden mir das schmeichelhafteste Lob meiner Centaurenfreunde eintrug. Ich verdanke dem schönen, treuen Thiere herrliche Stunden. Wie oft saß ich am Sonnabend Mittag eine Viertelstunde nach Schulschluß im Sattel und war fünf Minuten später zwischen den sonneüberglänzten Wiesen und Feldern auf dem Wege nach einem benachbarten Gute, wobei die Nachbarschaft nach Meilen gemessen wurde; wie oft bin ich des Montags in der Morgenfrühe durch die nebligen Wiesen und Felder denselben Weg zurückgejagt, um zur rechten Zeit wieder auf meinem Platz auf der Schulbank zu sein. Es war aber glücklicherweise nicht immer solche Eile nöthig. Die Ferien kamen: Pfingst-, Hundstags-, Michaelis-Ferien; und nachdem Wäsche und sonstiger Bedarf durch eine der vielen »Gelegenheiten« voraus geschickt war, folgte ich auf meinem Braunen, frei und leicht und – in solchen Stunden – glücklich, so glücklich, daß ich noch jetzt nicht ohne Wehmuth daran zurückdenken kann. Ein seliger Müßiggang, der doch keiner war. Wenn mir früher und jetzt wegen der Wärme und Treue meiner Naturschilderungen viel Liebes und Freundliches gesagt wurde und wird, wenn einer oder der andere meiner Kritiker findet, daß ich nach dieser Richtung hin nicht nur mein Bestes leiste, sondern es überhaupt das einzige Gute und Löbliche an meinen Dichtungen sei – nun, ich verdanke es unter anderm auch diesen Streifereien, die ich zu jeder Jahres-, zu jeder Tages-, ja, zu jeder Nachtzeit – denn ich bin oft genug in stockfinsterer Nacht geritten – durch das Land unternahm.

Ich verdanke ihnen und so den andern Ausflügen zu Lande und zu Wasser freilich auch noch mehr: daß ich – ganz abgesehen von der Gesellschaft der Stadt – so ziemlich alle Stände: den Fischer und den Schiffer, vom Capitän bis zum Matrosen, den Landmann, vom großen adligen Gutsbesitzer bis zum elenden Häusler, und die lange Liste der Existenzen, die sich so als Lootsen, Baggermeister, Schiffbauer, Jäger, Gärtner, Händler, Handwerker, kleine Beamte, Feldmesser, Aufseher, Chausseewärter etc. etc. zwischendurch bewegen, kennen gelernt habe – nicht im Vorüberfliegen, sondern in tage-, wochen-, monatelangem intimsten Verkehr.

Und sie kennen gelernt habe in diesen jungen Jahren, in denen der durch die spätere überwältigende Menge der Eindrücke noch nicht geschwächte Blick mit solcher Schärfe und Klarheit jeden Umriß nachzeichnet und jede feinste Nüance des Ausdrucks, jeden bedeutenden Zug, jede Abweichung bemerkt und festhält, ohne es zu wollen, weil er muß, spielend selbst da, wo schon eine Art von Absicht durchzuschimmern scheint. So erinnere ich mich, daß ich als kleiner Knabe eine lange Liste sämmtlicher Personen, welche gesellschaftlich in meinem elterlichen Hause verkehrten, angefertigt hatte, auf der einer jeden eine besonders charakteristische Aeußerung in den Mund gelegt war, und daß ich diese Sentenzen, Phrasen, gelegentliche Bemerkungen in dem Ton und mit dem Ausdruck der Originale wiederzugeben wußte.

Und wenn ich später keine Listen weiter über meine Erfahrungen und Entdeckungen führte, so geschah es wohl deshalb nicht, weil ich mich auf mein Gedächtniß glaubte verlassen zu dürfen, und wirklich verlassen durfte.

Ich habe es in diesen Tagen auf die Probe stellen können, auf eine strenge Probe – vierzehn Jahre sind eine lange Zeit; der ununterbrochen daherrauschende Strom der Eindrücke verändert und erweitert das alte Bett, welches sich die Eindrücke der Jugend in unserm Denken und Empfinden gegraben hatten und verwischt die Bilder, die scheinbar keine Bedeutung und also auch kein Interesse mehr für uns haben. Ich sage scheinbar, denn in Wirklichkeit ist es nie der Fall. Selbst der am weitesten Gewanderte oder Herumgeschleuderte, selbst der am höchsten Gestiegene oder Höchstgeborene – sie werden trotz ihres Ueberblickes und erhabenen Standpunktes sich immer wieder darauf ertappen (oder könnten sich doch ertappen), wie sie ihre große Welt an der kleinen ihrer Kinder- und Jugendjahre messen, wie sie die neuen Menschen fortwährend nach einigen wenigen Kategorien rubriciren und diese Kategorien sich auf gewisse Typen basiren, die ihnen als normativ erscheinen, und diese Typen, die ihnen so gleichsam zu Repräsentanten der Menschheit geworden, eben die paar oder doch verhältnißmäßig wenigen Menschen sind, die – so oder so – in ihr junges Leben bestimmend eingriffen oder doch hineinblickten.

Aber wie hat man auch den Blick dieser Menschen erwidert! Es ging mir in diesen Tagen wie dem Zigeunerweib in der Goethe'schen Ballade: »Ich kannte sie all', ich kannte sie wohl …« trotz der Veränderungen, welche die Zeit mit ihnen vorgenommen. Manchmal waren diese Veränderungen zum Vortheil der Betreffenden ausgefallen, wenn z. B. ein täppischer Junge in einen kräftigen jungen Mann; oder ein kleines Mädchen, das immer eine schmutzige Nase hatte, in eine sehr reinliche, hübsche junge Dame umgewandelt war; für gewöhnlich und als Regel aber hatte sich die Zeit mit den Gestalten und Gesichtern Dinge erlaubt, welche die Betroffenen, hätten sie sie (oder sich) im rechten Lichte gesehen, keineswegs für Scherze gehalten haben würden, obgleich sie mir anfänglich so erschienen. Aber auch nur anfänglich. Dann fand ich sehr bald, daß diese Scherze im Grunde einen bittern, sehr bittern Geschmack hatten, und dieser Geschmack liegt mir noch, indem ich diese Zeilen schreibe, auf der Zunge.

Ja, bitter ist nicht einmal das rechte Wort; es war manchmal ordentlich unheimlich und gespenstisch, in Gesichter zu blicken, in die ein feiner oder grober Pinsel mitleidslos Linien und Striche hineingezeichnet und Farben hineingemalt, die diese Menschen wie Caricaturen ihres einstigen Menschen erscheinen ließen – Caricaturen, welche die Sache ganz ernsthaft nahmen, von denen keine lachte, keine an den Papierzöpfen und Korkbärten, welche ihnen die Zeit angesteckt und angemalt, irgend etwas Auffallendes fand. Es war schauerlich.

Und doch wieder höchst ergötzlich, wenn ich sah, wie ein Bäcker-, Fleischer- oder Schusterjunge sich in einen Bäcker-, Fleischer-, Schustermeister travestirt hatte, und scheinbar ganz ernsthaft verlangte, daß man das ernsthaft nehmen sollte; oder ein junges, schlankes, braunes Ding von einem sechzehnjährigen Mädchen in eine stattliche Matrone, die nur noch Augen für ihre Kinder zu haben schien; und was denn dergleichen Possen mehr waren. Am tollsten wurde die Maskerade natürlich in dem Kreise meiner Schulkameraden, die jetzt als Polizeidirectoren, Senatoren, Rechtsanwälte, Doctoren u. s. w. das Wohl und Wehe der guten alten Stadt, ihrer Vaterstadt – denn sie waren ausnahmslos Stadtkinder – in unnahbaren Händen hielten, wenn man aus der Beflissenheit und Ehrfurcht, mit welcher man ihnen allerseits begegnete, einen Schluß auf ihren Werth und ihre Würde machen durfte. Ich erwartete jeden Augenblick, daß sie Scepter und Krone zu Boden schleudern und den Purpurmantel von den Schultern reißen würden; aber nichts der Art geschah; sie dirigirten, debattirten, consulirten, curirten, ohne eine Miene zu verziehen, und – was noch viel wunderlicher war: die Andern verzogen auch keine Miene.

Dann machten sich einige dieser ernsthaften Männer mit mir noch einen besonderen Scherz. Sie gingen mit mir durch die Straßen, über die Plätze, um die Wälle, an den Hafen, alle die bekannten Wege, von denen ich jeden Tritt und Schritt im Dunkeln machen könnte; und lenkten – immer ohne eine Miene zu verziehen – meine Aufmerksamkeit auf die großen, bedeutenden, einschneidenden Veränderungen, welche während dieser Zeit die Stadt zu ihrem Heile erfahren; ja sie schienen zu erwarten, daß ich mich gar nicht mehr oder doch nur mit Mühe »auskennen« würde, wie der Wiener sagt. Sie zeigten auch die Rinnsteine, die jetzt hübsch ordentlich an den Seiten der Straße und nicht wie früher in der Mitte liefen; sie stießen mit ihren Stöcken auf das schmale Trottoir, das an Stelle der beseitigten langen Kellerhälse entstanden; sie blieben vor einem neuen Hause stehen und ihre Blicke fragten: wie findest du das? und dann der Hafen, der verlegte, und der Bahnhof, der neu angelegte, und so noch ein Dutzend (wenn das reichte) neue Anlagen, oder Anlagen, die so gut wie neu waren. Es war erstaunlich.

Nur nicht für mich; ich wußte es besser.

An dem einen der beiden Märkte hatten wir in einem Hause, das der Kirche gehörte, welche den weiten Platz beherrscht, die ersten fünf oder sechs Jahre unseres Aufenthalts in der Stadt verlebt. Das Haus gehörte nicht nur der Kirche, es lag auch im Schatten der Kirche, in des Wortes ernstester und für das betreffende Haus und dessen Bewohner unvortheilhaftester Bedeutung. Mit der Sonne hatten wir nur im Hochsommer ein vertrauteres Verhältniß; in den übrigen Jahreszeiten standen wir mit ihr nur auf dem Grüßfuß; im Winter sahen wir sie oft wochenlang nicht; in den nach dem Markt, d. h. streng nach Norden gelegenen Vorderräumen hatte sie natürlich nichts zu suchen, und die nach Süden gelegenen konnte sie, Dank dem berghohen Kirchdach, nicht finden; so herrschte vorn und hinten eine ewige graue Dämmerung. Es war im Sommer folglich angenehm kühl in dem Hause und im Winter unangenehm kalt; dazu kam, daß sich zu dieser gemäßigten Temperatur noch eine gewisse Feuchtigkeit gesellte, welche eine Folge des Grundwassers war, das von den hart hinter der Kirche gelegenen großen Teichen immer reichlich genährt wurde und in unsern Kellern oft ellenhoch stieg. Mit einem Worte: das Haus war nicht so gesund, als es im Interesse der Betheiligten wünschenswerth war, und, Alles in Allem, mit seinen mancherlei Nebengebäuden: Holzschuppen, Waschschuppen, Pferdestall, Wagenremise, seinem Hof und verhältnißmäßig großen Garten nebst Gartenhaus ein so sonderbares, unschönes, uncomfortables, dunkles, feuchtes, für Menschen gänzlich ungeeignetes Anwesen, wie man es nur in alten Städten findet, in denen sich nie etwas verändert, so lange man in ihnen lebt, und die sich, wenn man den Autochthonen glaubt, auf den Kopf stellen, sobald man den Rücken wendet.

Nun, das alte Haus stand noch auf den Füßen und so stand die hohe, aus ungehobelten, mit brauner Theerfarbe angestrichenen Brettern gezimmerte Gartenwand, deren eine Seite in einer Linie mit der Front des Hauses gegen den Platz liegt. In der Hausfront war allerdings eine Veränderung eingetreten. Die Hausthür war verschwunden und hatte einem Fenster Platz gemacht. Das ließ auf bedeutendere Veränderungen im Innern des Hauses schließen, und raubte mir den Muth näher zu treten. Sollte ich gerade hier mich überzeugen, daß vierzehn Jahre kein Kinderspiel selbst für den Ort sind, wo man seine Kinderspiele gespielt hat!

Freilich, es handelte sich hier nicht sowohl um vierzehn, als um beinahe achtundzwanzig Jahre, denn wir waren bereits so um das Jahr 40 aus dem Hause gezogen, das dann, glaube ich, eine Zeit lang leer stand, und schließlich einem würdigen Geistlichen, dem Vater eines meiner Schulkameraden, zur Amtswohnung überwiesen wurde, der viele Jahre nach uns hier gewohnt und im vorigen Jahre gestorben war. Jetzt schaltete nur ein Castellan darin.

Ich war an die Gartenwand getreten; und hatte durch die Spalten zwischen den einzelnen Brettern – sie waren während der Zeit nicht schmaler geworden – durchgeblickt. Was ich sah, hob meinen Muth wieder in etwas: es standen von den alten Bäumen noch einige, und wenn andre fehlten: ich wußte, daß sie schon damals morsch gewesen und Bäume können doch auch nicht ewig vorhalten. Und dann: der alte Bretterzaun mit seiner Theerfarbe roch noch genau so, wie er damals gerochen. Das entschied; ich ging um das Haus herum nach der Westseite – das Haus liegt frei – klingelte an der neuen Hausthür und nannte der öffnenden Magd oder wer das junge Ding sein mochte, meinen Namen, der keinen Eindruck auf sie hervorbrachte und mein Anliegen, welches sie einigermaßen zu befremden schien. Ich sagte ihr, daß ich sie nicht lange aufhalten wollte; ich möchte nur eben einen Blick auf den Hof, in den Garten werfen.

Mein Aussehen, mein Betragen, die paar erläuternden Worte, die ich in unvergessenem Platt hinzugefügt, hatten das gute Kind durchaus beruhigt; sie öffnete mir die Thür, die jetzt »aus der Kinderstube« – früher war ein Fenster an der Stelle gewesen – auf den Hof führte und ließ mich allein.

Und wie ich nun in dem stillen, schattigen Hofe mich umschaute, und außer der neuen Thür, der ich den Rücken wandte, Alles, Alles fand, wie es vor meiner Seele diese langen Jahre gestanden und immer stehen wird: da, der hohe Bretterzaun, der den Hof von dem Garten trennte, und über welchen der Apfelbaum seine halbkahlen Zweige streckte – es waren erbärmliche Aepfel, die nie reif wurden und wie sollten sie auch! – vor mir der höhere Giebel des Pferdestalles mit dem Heuboden, daneben der Wasch- und der Holzschuppen, die unter einem Dach lagen, zwischen dessen großen braunen Ziegeln dunkelgrünes Moos in dicken Büscheln wuchs, darüber weg die Kirche mit der fensterdurchbrochenen Wand ihres Längsschiffes und dem ungeheuren Dach, wie ein Gebirge aufragend – es wurde mir sonderbar zu Muthe in dieser kühlen, sonnelosen Herbstabendstunde, während ich so allein auf dem alten grasübersponnenen Hofe weilte und kein Laut sich vernehmen ließ, als ein gelegentliches Krächzen der Krähen, die da oben um die Thürme flatterten und schrieen – gerade wie in den alten Tagen.

Ich hob die Klinke an der Gartenthür und blickte hinein; ich hatte nicht den Muth weiter zu gehen; ich ließ die Klinke – sie wackelte, wie sie immer gewackelt – leise wieder sinken.

Vor dem Pferdestall war – aber bereits unter demselben Dache – eine Art Vorraum, in welchem verschiedene kleine Gelasse angebracht waren. Geradeaus ein hölzerner Verschlag für die Hühner. Wie oft hatte ich vor dem Thürchen gelauscht und durch das Gitterchen gesehen, ob sie auch recht behaglich auf den Stangen saßen, die ich aus schierer Liebe für das gackernde Volk, sobald es etwas kalt wurde, mit Stroh sorgsam umwickelte. Mit den Enten nahm ich es weniger genau, obgleich ich auch ihnen meine Sorgfalt keineswegs entzog. Im Gegentheil! ich sorgte, daß sie zu ihrem Futter und daß sie des Abends regelmäßig in ihr Ställchen kamen, welches ebenfalls in diesem Raume lag, und an dem ich eines Tages, als die Thür aus den alten, total verrosteten Angeln gegangen war –

Großer Gott, ist es möglich! Ich traute meinen Augen nicht; ich glaubte, die Phantasie, die von den Bildern der Vergangenheit zum Ueberfließen volle, spiele mir einen Streich – da, an der viereckigen, dem schrägen Verschlage aufliegenden Thür – die beiden breiten Streifen von dickem ungegerbten Leder, die ich da sah, – es konnten doch unmöglich die Streifen sein, die ich mir von Friedrich, unsrem Kutscher, hatte geben lassen, um sie anstatt der verrosteten Haspen und Angeln nicht ohne einige Mühe an die Thür zu nageln – das war ja vor jetzt mindestens achtundzwanzig Jahren geschehen, vor einem Menschenalter fast! mit diesen meinen Händen, die damals kleine eifrige Kinderhände waren –

Es wurde mir dunkel vor den Augen, und dann verließ ich still das stille Haus; und als am Abend bei einem alten Schulkameraden, der mir wirklich eine freundliche Gesinnung bewahrt hatte, über der Flasche die Rede wieder auf die großen Veränderungen kam, die in der guten alten Stadt seit den letzten zwei, drei Decennien vor sich gegangen, da sah ich wieder die Entenstallthür mit den ledernen Scharnieren und ich sagte nichts, aber dachte mir mein Theil.

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