August Sperl
Herzkrank
August Sperl

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Viertes Kapitel

Acht Tage waren über Sprudelingen hinweggezogen. Man hatte getrunken, gebadet, gegessen, geschlafen, gehofft, gefürchtet, geklatscht und sich von Herzen gelangweilt wie alle Zeit in Sprudelingen, und jeden Morgen war die Sonne goldstrahlend emporgestiegen und hatte freundlich herniedergelacht auf das Gewimmel der leidenden Menschen da drunten.

In saftigem Grün leuchteten die weiten Rasenflächen des großen, alten Kurparkes, dichtbelaubt 72 standen noch die mächtigen Bäume. Schon aber durchzog zweimal des Tages, fast verstohlen, zur frühen Morgenstunde und in der Mittagszeit, eine kleine, mit leichten Laubbesen bewaffnete Kolonne alle die schattigen Wege und machte Jagd auf jedes gelbe Blättlein, das sich vorzeitig von seinem Zweige gelöst hatte. So tritt wohl eine alternde Kokette tagtäglich vor ihren Spiegel und fahndet mit ängstlichem Eifer nach grauen Härchen auf ihrem glänzenden Scheitel. Sie wehrt sich gegen das heranschleichende Alter; sie darf ja nicht altern. Und auch in einem Weltbade giebt es keinen Herbst, solange ihn die Direktion nur immer zu leugnen vermag, es giebt keinen. Aber der Herbst kommt doch, und das Alter kommt auch. Je nun, das ist allerdings nicht auszuhalten. Goldgelbe Bäume haben wieder ihren besonderen Reiz, und blinkweiße Haare kleiden fast immer vortrefflich – so vortrefflich, daß man zur rechten Zeit vielleicht gar nicht verschmäht, ein wenig nachzuhelfen. Warum auch nicht? Aber nur keine Uebergänge! Nur nicht dieses entsetzliche Grau unter dem teuern Hute, nur nicht dieses melancholische Gelb zwischen dem lustigen Grün an den Bäumen im Parke! –

Es war noch ziemlich früh am Nachmittage. Menschenleer dehnten sich die schattigen Pfade, 73 ohne Scheu hüpften die halbzahmen Amseln im Grase, und aus der Ferne klang gedämpft die Kurmusik.

Langsam schritt Herr von Gelling über das große Rundell des Parkes und bog in die breite Promenade ein, die an den Lawntennisplätzen entlang führt. Etliche Schritte hinter ihm kam Johann gegangen, ehrwürdig anzusehen in seinem schwarzen Leibrocke und blanken Cylinder, wie der erste Kirchendiener am Dome einer großen Stadt.

»Johann, ich setze mich hierher.« Gelling machte vor einer der leeren Bänke Halt. »Und du setzest dich neben mich; es ist mir nichts mehr zuwider, als wenn sich irgend ein Fremder neben mich lümmelt. Und mache dich recht breit; denn diese Plätze sind immer sehr gesucht.«

»Das will ich wohl thun,« grinste Johann und setzte sich so breit als möglich neben seinen Herrn. »Das is mich immer 'n liebes Theater und Amüsemang, gnä'ger Herr.«

»Wieso – Theater?«

Johann besann sich und suchte all seine Bildung zusammen, denn er saß ja nun neben seinem Herrn, als dessen guter Bekannter, und hatte die Pflicht, ihn zu unterhalten: »Sehen Sie, gnä'ger Herr, das hat die Kurdiretschon gut gemacht: da sitzen wir im Schatten, und da drin hintern Gitterzaun müssen die anderen huppen und switzen.«

74 »Müssen, Johann?« Gelling lachte. »Die jungen Herrschaften vergnügen sich mit dem Ballspiel, und wir dürfen zusehen; so ist's in Wirklichkeit.«

75 »Mit Verlöw, gnä'ger Herr,« sagte Johann, knöpfte umständlich seinen Leibrock auf und zog den roteingebundenen ›Führer durch Bad Sprudelingen‹ hervor, machte Daumen und Zeigefinger naß und begann bedächtig zu blättern. »Hier steht's!« rief er triumphierend. »Für L–a–w–e–n Lawentennis hat die Kurverwaltung vorzügliche, große Plätze eingerichtet; Zuschauerbänke sind in genügender Anzahl vorhanden.«

»Nun, das beweist doch nichts für deine Behauptung!« lachte Gelling.

»Die da drin sind bezahlt, un wir kieken sie zu von wegen unsre Kurtax,« beharrte Johann; »un das lass' ich mich nich nehmen, das is so. Un is 'n schönes Theater, so gut as 'n Apenkasten in 'n zologischen Garten, gnä'ger Herr. Kieken S', nu geit't all los!«

»Ich bitte dich nur eines, Johann, mach's nicht zu auffällig,« sagte Gelling und lachte vor sich hin. –

So saßen die beiden nebeneinander auf der Bank, der leidende Herr und der alte Diener, und sahen den Spielern zu. Nach und nach füllten sich die Parkwege mit geputzten Menschen, und auch die Bänke an der Promenade vor den Lawntennisplätzen waren nach kurzer Zeit alle besetzt. Manch vernichtender Blick aber streifte 76 den alten Mann, der so breitspurig dasaß und sogar noch seinen glänzenden Cylinder zwischen sich und seinen Herrn gestellt hatte.

»Die da gefällt mich, die Slanke, die kann's,« entschied endlich Johann mit Kennermiene, »die, Herr, in den kurzen Kleid! Das springt ja, daß es einen selber in die Beene krabbelt. Aber die da, die Kleene, dicke, mit 'n Sleppkleid übern Arm, die das rechte Bein immer so vorstreckt, wenn sie den Ball geslagen hat, die soll de Diretschon abdanken!«

»Johann« – Gelling hatte sein Taschentuch gezogen und lachte hinein – »Johann, ich glaube, da kommen unsre Bekannten aus dem Hotel; ich denke, denen müssen wir doch Platz anbieten.«

Vom Rundell her bewegte sich langsam der Fahrstuhl des Hauptmanns von Ostenhusen; neben ihm schritt Lore und suchte offenbar nach einem Sitzplatze.

»Je,« sagte der Bediente und machte ein vergnügtes Gesicht, »das müssen wir nu klauk anfangen.« Und damit stand er auf und legte den Ueberzieher seines Herrn säuberlich neben den Cylinder.

»Johann, mach doch keine Geschichten! Laß sie erst näher kommen!« rief Gelling ärgerlich. Aber der alte Johann steuerte schon unbeirrt 77 zwischen den promenierenden Menschen geradeswegs auf den Fahrstuhl zu. ›Sall ich ihr ansprechen oder ihm?‹ murmelte er überlegend vor sich hin. ›Ihm,‹ entschied er; ›den Sack slag' ich, und den Esel mein' ich.‹

Dann trat er dem Fahrstuhle in den Weg, machte einen schönen Diener und sprach: »Gnä'ger Herr Hauptmann, wollen Sie nich mal das Theater da hinterm Gitter ansehn? Und was mein gnädigster Herr is, den thäte das auch sehr freuen, der hält Sie den Platz inzwischen warm mit seinen eignen Ueberzieher. Aber Sie müssen sich sputen, sonst setzt sich am Ende 'n andrer zu ihm.« Lore warf einen Blick auf die Bank, wurde rot und sagte: »Papa, ich kann ja ganz gut stehen, und du sitzest ohnedies in deinem Rollstuhl.«

»Ich denke, wir nehmen mit Dank an,« entschied der Kranke. »Ich sehe dem Spiele gern zu, die Bänke sind alle besetzt, und du kannst ja doch nicht so lange stehen, das ist nichts!«

»Na, das mein' ich auch!« rief der Bediente hocherfreut. »Lassen Sie nur,« wandte er sich an die Frau des Fahrstuhles, »den schieb' ich hin, und Sie können mal in – is recht so, Herr Hauptmann? – in zwei Stunden können Sie wieder nachfragen von wegen Ihren Fahrstuhl.«

78 Der Wagen des Kranken stand am Ende der Bank, und zwischen ihm und Gelling, da, wo vorher Johann und sein Cylinder geprangt hatten, saß Lore. An ihnen vorüber promenierten die Menschen, rollten die Fahrstühle, und hinter dem Drahtgitter hüpfte die Jugend.

»Gnädigstes Fräulein sind schon eingewöhnt?«

»Vortrefflich, Herr von Gelling.«

»Eigentlich eine Kette von Langweiligkeiten, das Leben hier.«

Lore sah ihn groß an, dann lachte sie schelmisch: »O, mit Unterschied. Sehen Sie, mir zum Beispiel ist hier alles so neu, daß ich noch keinen Augenblick Langweile empfunden habe. Und zudem geht's meinem Vater alle Tage besser – nicht, Väterchen?«

Der Kranke nickte freundlich herüber. »Ich habe mich schon seit Monaten nicht mehr so wohl befunden.«

»Heute vor dem Bade sind wir sogar eine halbe Stunde lang spazieren gegangen, Herr von Gelling,« fuhr Lore fort. »Denken Sie, eine halbe Stunde, und Sie haben ja doch meinen Vater nach unsrer Ankunft gesehen!«

»In der That, gnädigstes Fräulein, der Fortschritt ist ganz unverkennbar!«

»Und dann, wissen Sie, Herr von Gelling, 79 wo so viele Menschen sind, kann ich gar keine Langweile haben. Menschen sind ja doch das Interessanteste. Und ich beobachte die Menschen fürs Leben gern.«

80 »Dazu haben Sie hier allerdings reichlich Gelegenheit,« meinte Gelling. »Deutsche, Engländer, Russen, Amerikaner, polnische Juden, Griechen, Perser. Aber auf die Dauer wird auch das langweilig, und überhaupt – die Menschen! Wer ihrer hundert kennt, der kennt sie alle, sagt irgend ein Nationalökonom.«

Lore sann einen Augenblick nach. Dann rief sie lebhaft: »Wer ihrer hundert kennt, der kennt sie alle? Nein, Herr von Gelling, da protestiere ich! So arm ist die Schöpfung denn doch nicht. Ich glaube im Gegenteil, die Variationen sind gar nicht auszudenken. Ist ja doch auch am Baume kein Blatt dem andern ganz gleich!«

»Mag sein, gnädigstes Fräulein.« Gelling verneigte sich lächelnd.

Lore wurde ein wenig rot: »Sie haben recht, wenn Sie lächeln, Herr von Gelling; es fehlt mir ja wohl die Erfahrung. Entscheide du, Vater!«

»Uniformiert sind sie, weiter nichts,« antwortete der alte Herr. »Und da hat Herr von Gelling gewissermaßen recht, die Uniform ist zuletzt doch der Tod der Individualität.«

»Also haben wir beide recht,« lachte Lore.

»Es ist mir nur das eine interessant,« sagte Gelling, »daß Sie als Offizier so urteilen.«

81 »Wohl gerade deswegen,« erwiderte Herr von Ostenhusen trocken. »Aber ich gestehe, was den Uniformierungstrieb anlangt, so sind uns darin die Frauen immer noch um ein gut Stück voraus. Sehen Sie nur alle diese Scharen! Was ist denn die ewig wechselnde ›Mode‹ andres als eine ewig wechselnde Uniform? Das trippelt und schreitet und tänzelt und watschelt alles in den gleich geschnittenen Kleidern einher, mag es nun im Grunde hineinpassen oder nicht, es muß eben! Heuer ist der Bleistift das Ideal, folglich kleidet sich alles à la Bleistift, mag's gehen oder nicht. Morgen wird vielleicht wieder einmal der Mehlsack Modell stehen, und alles wird einhertrippeln und schreiten und tänzeln und watscheln à la Mehlsack. Und sehen Sie nur, diese selbstgeschaffene Kalamität der Schleppe: Hängen lassen kann man sie nicht, entbehren will man sie nicht, also begiebt man sich freiwillig des ungehinderten Gebrauches der linken Hand und macht sich zum Sklaven seines Kleides. Und ist das auch nur im entferntesten hübsch – fast möcht' ich sagen anständig? Bitte, stellen Sie sich mal Juno oder meinetwegen Frau Berchta vor in einem Röckchen, das hinten in spitzem Winkel hinausstarrt? Heute früh habe ich ein Zimmermädchen über die Straße hüpfen sehen, das hatte ein ganz kurzes Kleidchen 82 an, wie sich's gehört, von Schleppe keine Spur: aber so groß ist die Macht der Mode, der Uniformierungstrieb, daß auch das Zimmermädchen sein Fähnchen genau so raffte, als wär's ein Schleppkleid.«

Der alte Herr schmunzelte behaglich und beobachtete dabei unverwandt die Spielenden hinter dem Drahtgitter: »Sogar da drinnen hüpft eine mit der Schleppe überm Arme!«

Lore lachte: »So ist's recht, Väterchen! Sie müssen nämlich wissen, Herr von Gelling, niemals befindet sich Papa wohler, als wenn er gegen unsre Mode zu Felde zieht. Und ich« – sie sah mit komischem Ernste an ihrem einfachen Kleide hinunter – »ich gebe ihm so unendlich viel Anlaß zu seinen Expektorationen!«

Gelling sah gedankenvoll auf das schöne, frohe Antlitz. Und es war ihm, als ginge ein scharfer Stich in sein Herz, und er schwieg.

»Ganz von der Mode emanzipierst du dich auch nicht, Lore!« brummte der Hauptmann.

»Aber fällt mir doch auch gar nicht ein, Väterchen! Oder soll deine Tochter sich lächerlich machen?«

»Lächerlich?« fragte der Hauptmann.

»Wer sich ganz von der Mode emanzipiert, der fällt aus, und was in dieser Beziehung 83 ausfällt, ist doch meist lächerlich,« beharrte das Fräulein von Ostenhusen. »Herr von Gelling, wissen Sie, was mir das größte Vergnügen macht, wenn ich so wie jetzt an der Promenade sitze? Die fremden Gesichter zu studieren und mir zu den Gesichtern die Geschichten auszudenken.«

»Dabei könnte aber doch zuweilen gerade die Uniform hinderlich sein,« meinte Gelling.

»Ich bitte Sie, die Gesichter sind doch nicht auch uniformiert!«

»Warum nicht?« fragte der Hauptmann und lächelte sarkastisch.

»Für den ersten Blick, mag sein. Für längere Beobachtung – nein!« beharrte Lore.

»Gnädigstes Fräulein, mich dünkt aber, Sie sind bei solcher Beobachtung doch immer mehr oder weniger Idealistin. Möge Ihnen im Leben niemals die Enttäuschung begegnen!«

»Schnickschnack, Lore. 's giebt Menschengesichter und Menschengeschichten, in die kannst du dich gar nicht hineindenken – also!«

»Es wäre mir auch ein entsetzlicher Gedanke, wenn ich von jedem, der mir begegnet, immer zunächst schlecht denken sollte,« lachte Lore. »Sehen Sie, Herr von Gelling, da kommt gerade die jüngste Geschichte meiner Phantasie – rechts, rechts, Herr von Gelling, dort die wunderschöne 84 Frau neben dem offenbar sehr leidenden, noch jungen Manne im Rollstuhle.«

Gelling folgte der gewiesenen Richtung, und sein Antlitz wurde starr und finster.

»Ist's nicht eine ganz wundervolle Schönheit, Herr von Gelling?« flüsterte das Mädchen begeistert und blickte schüchtern der Gruppe entgegen, die sich langsam, Schritt vor Schritt näherte.

Er sprach kein Wort.

»Und sehen Sie, mir ist's nun, als wüßte ich die ganze Geschichte dieser Menschen,« flüsterte sie eifrig.

»So?« kam es heiser von Gellings Lippen.

»Die beiden waren schon verlobt miteinander, da wurde der arme Mann sehr leidend. Er wandte sich im Verlaufe seiner Krankheit mit der bestimmten Frage an den Arzt, ob er unter diesen Umständen seine Braut an sich fesseln dürfe. Der Arzt gab ihm eine ausweichende Antwort, aber mit dem feinen Instinkte des Kranken fühlte der Mann –« Lore flüsterte ganz leise – »kurz, er gab ihr das Wort zurück, sie aber sprach ein entschiedenes ›niemals‹, und so ist sie nun seine hingebende Pflegerin geworden.«

»Eine rührende Geschichte!« brummte der Hauptmann.

85 Die Gruppe war inzwischen ganz nahe herangekommen. Und Lore hatte recht, die Frau neben dem Fahrstuhl war eine vollendete Schönheit. 86 Das sahen wohl auch andre Leute, die ihre Hälse reckten und stehen blieben.

Da fuhren die glitzernden Blicke der Schönen über die Bank am Wege. Lore bemerkte, wie das Antlitz der Frau verblaßte, und zu ihrer größten Ueberraschung erhob sich Herr von Gelling ein wenig von seinem Sitze und lüpfte den Hut. Ein leises Nicken als Gegengruß, und die Gruppe war vorbeigezogen.

»Schön ist sie,« sagte der Hauptmann, der nichts weiter gesehen hatte; »aber mich genieren die drei Herrchen, die den beiden so ungeniert auf dem Fuße folgen.«

»Sie kennen die Dame?« flüsterte Lore.

»Sie ist aus meiner Gegend,« kam die Antwort in gleichgültigem Tone zurück. »Ein Herr von Sollenhausen, Rittergutsbesitzer, und seine Frau.«

»Was für 'n ernstes Gesicht Sie nun machen, Herr von Gelling! Stimmt meine Vermutung nicht?« fragte Lore betreten.

»Nicht so ganz, gnädigstes Fräulein. Wenigstens war Herr von Sollenhausen, soviel ich weiß, gesund, als er vor drei Jahren diese Frau in das Haus seiner Väter führte.«

»Also fehlgeschossen, Lore!« lachte der Hauptmann.

87 »Was das Drum und Dran betrifft, mag sein. In der Hauptsache habe ich gewiß recht,« beharrte Lore. »Ich beobachte die beiden nun seit etlichen Tagen auf der Promenade – welch ein Kontrast! Sie stets gleichmäßig freundlich, sorgsam bemüht um den Kranken, die Sanftmut selber. Und er –! Nein, Väterchen, da bist du schon ein andrer Patient im Vergleiche mit diesem Herrn von – wie sagten Sie? – von Sollenhausen. Dieser böse Zug in dem kranken Gesichte!«

Gelling schwieg und blickte angelegentlich hinüber auf die Spielenden. Nachdenklich zog Lore ihre Häkelarbeit aus der Tasche. –

So saßen die drei plaudernd und schauend und im Grunde doch jeder mit den eignen Gedanken beschäftigt unter den hohen, schattigen Bäumen, und langsam rückte die Zeit vor.

»Mußt du nicht dein Glas Milch trinken, Lore?« fragte der Hauptmann.

»Schon so spät?« rief sie und zog die Uhr. »Fünfe vorbei!«

»Du kannst ja den kurzen Weg zum Milchhäuschen allein machen, ich warte hier auf dich in der angenehmsten Gesellschaft – nicht wahr, Herr von Gelling? Oder wollen Sie schon aufbrechen?«

»Ist mir nur lieb, Herr Hauptmann!« beeilte 88 sich Gelling zu sagen, und Lore steckte ihre Arbeit in die Tasche.

»Also, auf Wiedersehen in einem Viertelstündchen!« – – – – – – – – – –

»Wenn ich nur eigentlich wüßte, was mir fehlt und was ich zu erwarten habe,« begann der Hauptmann nach einer Weile.

»Ich denke, das Wichtigste ist, daß Sie sich besser fühlen, Herr von Ostenhusen,« meinte Gelling und rückte näher heran.

»Besser fühlen – gewiß, Herr von Gelling, doch ›besser fühlen‹ ist eben nichts als ein relativer Begriff. Und wenn der Mensch sich vordem nur mit Anstrengung noch bewegen konnte, dann freut er sich ja, wenn ihm das Krabbeln wieder einigermaßen gelingt.« Der Hauptmann starrte trübselig vor sich hin. »Und wissen Sie, Herr von Gelling, was das Traurigste für einen Schwerkranken ist? Wenn er sich im Grunde seiner Seele und angesichts seiner Kinder sagen muß: du selbst bist schuld daran.«

»Aber Herr Hauptmann, ich glaube die Sache doch besser zu wissen!« fiel Gelling lebhaft ein. »Sie haben zwei Kriege mitgemacht – die Strapazen sind schuld an Ihrem Leiden. Was denn sonst?«

»Ja, ja, das sagt man so, das sagt man sich und den andern zum Troste und glaubt's zuletzt beinahe selbst. Im Grunde der Seele aber summt 89 das fort und fort: nur du, nur du! Zum Henker, wenn einer vernünftig gelebt hat, dann wird er doch wohl noch 'n paar Campagnen mitmachen können? Aber darin liegt's, vernünftig gelebt haben! Sehen Sie, Herr von Gelling, ich kam als blutjunger Mensch zum Militär und war bald, kann's wohl sagen, Soldat mit Leib und Seele. Und ich kam zum Militär, von meinen Eltern zu einem sehr einfachen und mäßigen Leben erzogen. Braunbier z. B. wurde bei uns nur ganz selten getrunken. Und nun geriet ich sogleich in eine Gesellschaft von Kameraden, die unter dem Vorsitze eines ehemaligen Studenten das Trinken als Sport betrieben. Ich weiß nicht, ob Sie auch Student gewesen sind, Herr von Gelling?«

»Gewiß, Herr Hauptmann; ich bin absolvierter Jurist.«

»Ei, dann wissen Sie auch, was es für eine Bewandtnis hat mit dem verdammten Biercomment!«

»Aus eigner Erfahrung nicht, Herr Hauptmann. Bei uns in der Burschenschaft – ich habe in Erlangen studiert – war jeder Trinkzwang verpönt.«

»Nun, dann beneide ich Sie! Also, ich habe das Quantitätentrinken nicht unter den Studenten, sondern bei den Soldaten gelernt; aber ein Student, wenn auch nur ein ehemaliger, war doch schuld daran. Anfangs empfand ich starken Ekel, und 90 so wird's wohl noch jedem ergangen sein; aber allmählich gewöhnte ich mich derart an die Geschichte, daß mir's zuletzt keiner mehr zuvorthat. Ich besaß, was man so sagt, eine bombenfeste Gesundheit. Daß ich sie frühzeitig verlor, ist meine Schuld. Freilich, die Strapazen der beiden Feldzüge waren nicht gering, aber ein gesunder Leib hätte sich gewißlich spielend durchgerungen; der durch Alkohol geschwächte Leib unterlag. Alkohol!« stieß er heftig hervor. »Mit vierzig Jahren war ich dienstuntauglich und mußte meinen Abschied nehmen. Das Trinken hatte ich freilich schon längst aufgesteckt, aber es war doch viel zu spät gewesen. Ein gleichaltriger Kamerad, der nie was andres als Milch trinkt und einst von uns Thoren viel verspottet wurde, ist vor wenigen Wochen Divisionär geworden. Ich sitze hier in Sprudelingen und kann philosophieren über meine vergeudete Jugend. Aber es ist ja wahr, das Sprüchlein des alten Döllinger: ›Die Menschen sterben nicht, sie bringen sich um.‹ – Und ich sage Ihnen, Herr von Gelling, im Haushalte der Natur herrscht eine grausig strenge Ordnung, da wird jeder Posten ausgeschrieben und eingefordert zu seiner Zeit. Und wenn wir uns die Natur als letzte Richterin über unsre Verirrungen zu denken hätten, wir müßten verzweifeln!« – – – – – – – – –

92 Lore von Ostenhusen saß in den schattigen Anlagen des Milchhäuschens und schlürfte den köstlichen Trank. Vor ihr stand eine hübsche Frau in Schweizertracht und ließ das Geldstück in die Ledertasche gleiten.

»Mit zwei Kühen, sagen Sie?«

»Vor fünfzehn Jahren haben wir mit zwei Kühen angefangen, und jetzt haben wir zwanzig im Stalle, gnädiges Fräulein. Aber alles echt schweizerisch!«

»Bis auf das Futter!« lachte Lore und zerbrach ein Stückchen Zwieback.

»Bitte, gnädiges Fräulein, sogar das beziehen wir waggonweise aus der Heimat.«

In diesem Augenblick ertönte seitwärts aus dem Gebüsche, vom nächsten Tischchen herüber, eine scharfe Frauenstimme: »Heda, Bedienung!«

»Gleich!« rief die Schweizerin dienstfertig und eilte im Bogen um das trennende Gesträuch.

Lore wandte den Kopf ein wenig und stutzte: Richtig, da saß ja die schöne Dame mit dem mürrischen Kranken. Der Fahrstuhl war an das Tischlein geschoben, die junge Frau hatte gegenüber Platz genommen, abseits wartete mit gleichgültigem Gesicht der Wagenschieber.

Lore wandte sich weg und nahm einen Schluck.

93 »Gnädige Frau befehlen?« hörte sie nebenan die Schweizerin fragen.

»Ein großes Glas Milch!« erklang aufs neue die harte Stimme. Der Kies knirschte. Dann war alles ganz still.

»Avez-vous bien dormi?« schlug es wieder, diesmal in spöttischem Tone, an ihr Ohr.

»Du weißt so gut wie ich, daß ich nicht geschlafen habe,« kam die müde Antwort zurück.

Ein häßliches, kurzes Auflachen; dann war alles still. –

»Und ich will nicht, daß die Herren uns immerfort begleiten!« sagte der Kranke gereizt.

Wieder das häßliche, kurze Auflachen. »Ce n'est pas pour vos beaux yeux!«

Lore von Ostenhusen hatte ihr Glas ausgetrunken und erhob sich. Ein tiefer Seufzer schlug an ihr Ohr. Dann war alles totenstill hinter dem grünen Gebüsche.

Das junge Mädchen entfernte sich. ›Doch nicht so ganz, gnädigstes Fräulein!‹ murmelte es nachdenklich vor sich hin und bog in den Hauptweg ein. –

Herr von Ostenhusen hatte recht: es wird alles gebucht und alles eingefordert zu seiner Zeit. 94

 


 


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