August Sperl
Herzkrank
August Sperl

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erstes Kapitel

Es war schon recht dämmerig. als der Arzt in den kleinen Vorplatz trat, und geschäftig rannte die Magd mit dem grellblinkenden Messingleuchter in der hocherhobenen Rechten aus der Küche.

8 »Herr Generalarzt, auf ein Wort!« flüsterte die Tochter des kranken Hauptmanns und zog hinter sich die Thüre ins Schloß.

»Hier nicht, gnädiges Fräulein!« kam ebenso leise die Antwort zurück. »Wenn es Ihnen genehm ist, besuchen Sie mich morgen während meiner Sprechstunde.«

»Herr Generalarzt, ich komme morgen – aber jetzt begleite ich Sie eine Straße weit,« bat sie flehend. –

Sie gingen langsam nebeneinander, der alte Mann und das junge Mädchen, langsam, ganz langsam.

Es war ein lauwarmer Sommerabend. Hoch über der breiten Straße glühten die Bogenlampen und übergossen die Platanen mit gleißendem Lichte. Am schwarzen Himmel blinkten die Sternlein, mit Glockenklingen rollten die Wagen der elektrischen Bahn vorüber, eine bunte Menschenmenge flutete hin und her auf den breiten Trottoiren, und aus der Ferne klang das Rauschen des Bergstromes in das Treiben der Großstadt.

»Sie sagen mir nicht alles, Herr Generalarzt. Und ich muß doch klar sehen, ja, das muß ich, ganz klar sehen, Herr Generalarzt!«

»Liebes gnädiges Fräulein« – der alte Herr blieb stehen und rieb mit der flachen Hand den 9 Elfenbeingriff seines Stockes – »klar sehen – ja, was heißt klar sehen? Wer von uns kurzsichtigen Menschen sieht denn ganz klar?«

»Sie kommen mir nicht aus, lieber väterlicher Freund,« bat Fräulein von Ostenhusen und blickte dem eisgrauen Manne voll ins Antlitz. »Mein Vater ist sehr leidend – nicht?«

»Ihr Herr Vater ist leidend und der Erholung sehr bedürftig, gnädiges Fräulein.« Der Arzt wandte sich ab und setzte den Weg fort.

»Sehr leidend, Herr Generalarzt, und Sie selbst haben nur wenig Hoffnung für ihn übrig,« sagte sie mit erzwungener Festigkeit; aber dabei vibrierte die klangvolle Stimme.

»Wenig Hoffnung – was heißt wenig Hoffnung, gnädiges Fräulein?« rief der Arzt, blieb abermals stehen und sah bekümmert in die großen, flehenden Augen. Dann murrte er Unverständliches in seinen Bart, wandte sich ab, setzte den Weg fort und stieß rauh hervor: »Ich weiß ja, weiß ja, sind 'n starkes Mädel – Vergebung, gnädiges Fräulein – eine entschlossene Natur sind Sie, kenne Sie doch von Kind auf. Nun ja, 's ist nicht zu spaßen bei der Geschichte – das Herz, nun, das Herz – wissen selber, das Herz ist eine wichtige Maschine, und das Herz Ihres Herrn Vaters, ei, das ist halt gar nicht 10 mehr so recht in Ordnung. Kann's Ihnen sagen, muß es Ihnen sogar sagen: bin wahrhaftig erschrocken vorhin bei der Untersuchung.«

»Bitte, Herr Generalarzt, sagen Sie mir alles!« kam's von schmerzlich zuckenden Lippen.

»Alles – was alles?« murrte der alte Herr.

Zwei Leutnants klirrten vorüber. »Todwund im Herzen!« lachte der eine. »Laufende Nummer – na?« schnarrte der andre. Die vergoldeten Knöpfe blinkten, die Säbel rasselten über den Asphalt, und eine rollende Hofequipage verschlang die lachende Antwort.

»Geschehen muß etwas, gnädiges Fräulein, unbedingt – sonst stehe ich für nichts. Ihr Herr Vater muß nach Sprudelingen, und zwar so bald als möglich.«

»Und was ist's also, Herr Generalarzt?« fragte sie und machte Halt.

»Eine Folge der Feldzüge, gnädiges Fräulein, eine Folge –«

»– mannigfacher Zurücksetzung, bitterer Lebenserfahrungen, eine Folge des Kampfes ums Dasein, ums Brot, Herr Generalarzt, jawohl, ich weiß es,« sagte sie fast grollend, »doch ich kenne eben nur die Ursachen, nicht aber die Folge, und ich muß alles wissen.«

»Was ist ein Name, gnädiges Fräulein?« 12 Der alte Herr zuckte die Achseln. »Degeneration des Herzmuskels nennen wir's.«

»Ich danke, Herr Generalarzt!« flüsterte sie, hielt dem alten Freunde die kleine, feste Hand hin und warf das Köpflein zurück: »Gute Nacht für heute!«

»Gnädiges Fräulein – Kopf oben behalten!« Der alte Herr blickte fast andächtig in die großen, dunkeln Augen und schüttelte das Händchen.

»Wie Sie sehen, lieber Freund!« Sie wollte lächeln, aber es zuckte in dem schönen Gesichte, und sie wandte sich ab. »Gute Nacht!«

»Ich begleite Sie zurück!« rief der Generalarzt. Aber da war die hohe Gestalt schon im Gewühle verschwunden.

›Prachtmädel!‹ brummte der alte Herr und ging zur nächsten Haltestelle der Elektrischen. ›Und an solchem Exemplare von Gottes Schöpfung flanieren die Herrchen hundert- und hundertweis vorüber, die Esel! – Weil sie arm ist!‹ knurrte er und stieg auf das Trittbrett.

*

Die helle Frühlingssonne ließ all den Schmuck, all das Gold und Silber und die köstlichen Steine in den riesigen Auslagen des altberühmten Juwelengeschäftes von Meier u. Co. funkeln und glitzern. Elegante Gestalten rauschten vorüber und trugen 13 den neuesten Pariser Hut zur Schau, schwere Lastwagen rollten über den Asphalt, Studenten mit bunten Mützen und großen Hunden und 14 katerhaften Gesichtern promenierten vorbei, Dienstmänner lungerten an den Straßenecken, vom Dome herab klang Glockengeläute.

»Du, Lore?« rief eine kleine junge Dame, die aus dem Hause des Juweliers getreten war.

»Ich, ja, natürlich doch!« sagte das Fräulein von Ostenhusen.

»Natürlich doch? Nein, Lore, durchaus nicht natürlich doch!« kam die Antwort von schmollenden, niedlichen Lippen. »Ist das auch eine Art, seine alten Institutsfreundinnen so zu vernachlässigen? Was könnte ich dafür, wenn mir Fräulein Lore von Ostenhusen mit der Zeit ganz in Vergessenheit geriete? Sag selbst: dreimal war ich in den zwei letzten Monaten bei dir, und du – nun –?«

»Du hast ja recht, liebe Ida, und ich fühle mich auch vollkommen schuldig, aber –«

»Nichts aber!« fiel die junge Dame mit Würde ein. »Dieses Gebaren ist – warte nur, wie sagt doch Vetter Isidor? – richtig: incommentmäßig!«

»Ich nehme alles geduldig auf mein Haupt, Ida. Nur mußt du mir – so sagen ja wohl die Juristen – mildernde Umstände zuerkennen. Weißt du, ich habe von früh bis Abend so viele Pflichten: da ist mein schwer leidender Vater, da sind meine Stundenschülerinnen, da ist meine kleine Schwester, kurzum Pflichten an allen Ecken und Enden –«

15 »O, hör auf, hör auf!« bat die Kleine und hielt sich die Ohren zu. »Pflichten – wenn ich nur das garstige Wort nimmer hörte! – Pflichten? Ich kenne nur eine Pflicht, nämlich die heilige Pflicht des Amüsements. Und wahrhaftig, sogar diese Pflichterfüllung ist anstrengend. Weißt du, Lore, was ich möchte? Walzen, immerfort, immerfort walzen, heute, morgen, alle Tage, das ganze Leben lang, bis ich zuletzt außer Atem dahinsänke!«

»Ei, dann laß dich doch unter die tanzenden Derwische anwerben,« meinte Lore mit leisem Sarkasmus; »die halten das Tanzen sogar noch für einen wohlgefälligen Gottesdienst.«

»Ach Lore, du bist auch immer so schrecklich ernst. Was für 'n überlegenes Gesicht du jetzt wieder machst!«

»Mache ich das?« fragte Lore und streckte der Schulfreundin herzlich die Hand entgegen. »Vergiß eben nicht, daß ich immerhin ein gutes Jahr älter bin als du –!«

»Ach was, Lore, älter! Mich dünkt, vor einem guten Jahr bist du auch nicht jünger gewesen als jetzt, nein, ganz und gar nicht.«

»Meinst du, Ida? Nun, dann wird's mir eben so bestimmt sein – ich denke, so 'n Stückchen Altjüngferlichkeit. Aber sage, kann ich deinen Herrn Vater einen Augenblick sprechen?«

16 »Du warst also auf dem Wege zu uns? Dann hast du Generalpardon,« erklärte die Kleine würdevoll. »Bitte, tritt ein, ich werde Vater sogleich rufen lassen.«

»Verzeih, Ida, ich möchte –« das Fräulein von Ostenhusen stockte, und eine glühende Röte bedeckte ihr Antlitz.

»Verlobungsringe?« Des Juweliers Töchterlein vertrat ihr den Weg und machte ein inquisitorisches Gesicht.

Lore von Ostenhusen lächelte schwach: »Nichts weniger als das, Ida.« Sie raffte sich zusammen. »Ich muß deinen Herrn Vater in einer Privatangelegenheit um Rat fragen. Magst du mich vielleicht in sein Arbeitskabinett führen?«

»Sogleich. Aber dann kommst du herauf zu mir – unweigerlich!«

»Heute nicht, Ida, bitte, heute nicht! Morgen nachmittag bestimmt.«

»Bestimmt?« forschte die Kleine. Dann lachte sie leise auf: »Weißt du's noch? Auf Ostenhusensche Parole – das war immer deine stärkste Beteuerung! Also?«

»Gut!« sagte die Große und streichelte die pfirsichrote Wange der Kleinen zärtlich, fast mütterlich.

*

17 Lore von Ostenhusen saß im Hinterstübchen des Juweliers. Es war ganz still, nur die alte Wanduhr tickte vernehmlich, und in einem Winkel 18 lag zusammengerollt auf weicher Decke ein altes, krankes Hündchen, das von Zeit zu Zeit leise aufkläffte im Traume. Der Geschäftsmann hatte sich über den Tisch gebeugt und betrachtete durch seine stählerne Brille sorgfältig prüfend einen alten Schmuck, Stück für Stück. Lore sah fast nichts von ihrem Gegenüber als eine weiße, ungeheure Glatze.

»Es ist 'n schöner Schmuck, liebes Fräuleinche, so 'n richtiges Liebhaberstück. Ich hab's Ihnen schon gesagt vor Jahren einmal, wie Sie mir auch gezeigt haben die schönen Steine in der alten Fassung – Rokoko, beste Zeit. Ist 'n schönes Familienstück, das, auf Ehre.«

»Herr Meier –« Fräulein von Ostenhusen setzte sich gerade, »– damals habe ich Ihnen den Schmuck gezeigt, weil Sie sich für solch alte Sachen interessieren –«

»Interessiere mich auch, liebes Fräuleinche, kann einer immer was lernen von den Alten, sind in vielen Stücken gescheit gewesen, die Alten, oft gescheiter, wie man denkt.«

»Also gut, Herr Meier«, fuhr Lore fort und ballte die kleine Hand auf der blanken Mahagoniplatte des Tisches, daß die Nähte des Handschuhes zu platzen drohten; »damals hat mir's Vergnügen gemacht, Ihnen den Schmuck zu bringen – heute war mir's ein saurer Gang.«

19 »Wie heißt, ein saurer Gang?« Der alte Mann sah erstaunt empor und schob die Brille hoch auf die Glatze, und die kleinen schwarzen Augen blickten forschend auf das erregte Antlitz der jungen Dame.

»Ich will den Schmuck verkaufen, Herr Meier – das heißt, besser gesagt, ich muß ihn verkaufen, Herr Meier, und dazu sollen Sie mir helfen und raten.«

»Will – muß? Aber, liebes Fräuleinche, so 'n alten Familienschmuck, den giebt man doch nicht her, den hebt man auf, den legt man an bei festlichen Gelegenheiten, den vererbt man weiter zu seiner Zeit, aber den will man nicht hergeben, und den muß man nicht hergeben!«

»So ist's auch bei uns bisher immer gehalten worden, Herr Meier,« antwortete Lore und kämpfte mit dem Weinen, »aber –«

»O nicht, nicht weinen, liebes Fräuleinche! Mir können Sie alles getrost sagen, was Sie wollen, und brauchen aber auch nicht zu sagen, was Sie nicht wollen sagen!« tröstete der alte Mann.

»Es giebt eben Lagen im Leben, wo alles andre zu nichts wird vor einer einzigen großen Notwendigkeit.« Sie stieß mit dem Zeigefinger hart an das breite Collier, daß es leise klirrte. 20 »Lagen, wo einem der Edelstein zum Kiesel und Gold zu Blech wird.«

»Da haben Sie recht, Fräuleinche,« sagte der alte Mann seufzend und fuhr mit der runzeligen, knochigen Hand über sein ausrasiertes Kinn; »das hab' ich auch erlebt vor zwei Jahren, wo ich das schwere Unglück gehabt hab' mit meinem Arthur.«

»Herr Meier, ich muß den Schmuck verkaufen, und ich muß ihn möglichst hoch verkaufen. Und ich will Ihnen auch erzählen, warum!«


Eleonore von Ostenhusen hatte geendet. Der alte Herr nahm seine Brille von der Stirne, guckte angelegentlich hindurch, hauchte die Gläser an, zog sein großes, brennrotes Taschentuch aus dem Schlafrock und begann zu putzen.

»Das erste Wort, liebes Fräuleinche, das erste Wort, was ich hör', daß es so steht um Ihren Herrn Vater. Ei, ei! Und wenn einem nur auch das Idchen ebbes saget', ei, ei!« Er steckte das Tuch umständlich ein. »Und da merk' ich eben erst, daß ich da sitz' vor Ihnen in dem schlechten Rock, liebes Fräuleinche! Aber Sie werden mir's ja nicht verargen, es ist mir immer so kalt die Beine herauf. Ei, ei!« – Plötzlich 21 streckte er die Hand über die Tischplatte: »Fräulein Lorche, sie sind 'n gutes Kind, eine brave Tochter.«

»Und nun das Geschäftliche, Herr Meier!« sagte Lore errötend und drückte die dargebotene Hand.

»Was – geschäftlich!« murrte der alte Herr. »Wenn ich red' von Familiensachen, so red' ich nicht von Geschäften, und wenn da vor mir 'n Familienschmuck liegt, und wenn ich kenn' von klein auf, die ihn ausgebreitet hat vor mir auf den Tisch, dann will ich nichts wissen von Geschäften.«

»Aber verzeihen Sie mir doch, Herr Meier, ich hab' es wirklich nicht böse gemeint!« rief Lore erschrocken.

»Was – böse gemeint? Freilich haben Sie's nicht böse gemeint,« brummte der alte Mann, setzte seine Brille auf die Nase, zog die buschigen weißen Brauen in die Höhe und betrachtete angelegentlich das kunstvolle Armband.

Stille war's, nur die Uhr tickte, und leise winselte das Hündchen im Schlafe.

»Ich will Ihnen was sagen, Fräuleinche; weiß Gott, ich schätze Sie aufrichtig, also hören Sie, den Schmuck verkaufen Sie nicht!«

»Aber ich muß, Herr Meier!«

22 »Hören Sie, was ich Ihnen werd' sagen: der Schmuck hat 'n großen Wert, und der Schmuck hat kein'n großen Wert. Er hat seinen Wert, sag' ich, er hat ihn für Sie, er hat ihn für 'n Liebhaber von Altertümern – da hat er 'n großen Wert. Ich sag's Ihnen, wie's ist. Aber wo können Sie gleich einen finden, der Ihnen auch zahlt den Liebhaberwert? Und sonst? Ja, wer trägt denn heutzutag noch so 'n altmodischen Schmuck, wenn er nicht grade 'n Erbstück ist? Also, Sie verkaufen ihn nicht, den Schmuck, Fräuleinche, ich rat' Ihnen gut!«

»Aber Herr Meier –!«

»Lassen Sie mich ausreden, was ich Ihnen will sagen. Sie verkaufen ihn nicht, Sie versetzen mir den Schmuck. Still, Fräuleinche! Ich geb' mich zwar meintage nicht ab mit solcher Art von Geschäften, aber bei Ihnen mach' ich eine Ausnahme. Still, Fräuleinche, ganz still, jetzt red' ich geschäftlich! Was wird's kosten, das Bad für Ihren Herrn Vater und Sie in einem guten Hotel, wo Sie sich nichts abgehen lassen 'e Wochene fünf, sechs?«

»Aber Herr Meier –«

»Still, Fräuleinche – was kost't's?«

»Nach meiner Berechnung tausend Mark mindestens, Herr Meier – aber –«

23 »Nix aber, Fräuleinche! Ich will Ihnen sagen, was recht ist: Sie lassen mir den Schmuck da, ich sperr' ihn dort in den eisernen Kasten, da kann er liegen, zwei, fünf, sechs Jahr, und ich zahl' Ihnen gegen Schein fünfzehnhundert Mark.«

Er stand auf, ging an den Geldschrank, nahm eine Handvoll blauer Banknoten und begann sie auf den Tisch zu zählen. »Nix aber, Fräuleinche, ich schätze Sie wahrlich von Herzen, und ich thu's auch nicht umsonst – nee, da kennen Sie den alten Meier schlecht. Womit Sie mir dienen können? Warten Sie, Sie werden's erfahren. – Jetzt schreiben wir noch den Schein – so!«

»Recht ist's – Eleonore von Ostenhusen –« las der Juwelier. »Was Sie für eine hübsche Handschrift haben! So, und da ist 'n Couvert, und warten Sie, ich werd' Ihnen die Banknoten hineinstecken, und verlieren Sie mir's nicht – giebt nix Dümmeres auf der weiten Welt als so 'ne Frauenzimmerrocktasche – nicht?«

Das graue Männlein stand in dem langen schäbigen Schlafrocke vor dem Fräulein von Ostenhusen, hatte das kahle Haupt gesenkt und die Hände in den weiten Taschen verborgen.

24 In Lores Gesicht zuckte es, und sie stieß hervor: »Wie soll ich Ihnen danken, Herr Meier! Ich weiß sehr wohl, Sie bringen mir ein Opfer, und –«

»Ganz still, Fräuleinche! Ich thu's nicht umsonst, ich hab's Ihnen schon gesagt.« Er begann auf und ab zu gehen in dem engen Gemache. »Sehen Sie, ich kenn' Sie, liebes Fräuleinche, wie Sie waren so klein!« Er bückte sich und gab ihre Größe mit der ausgestreckten Hand an. »Wie Sie getragen haben e Flügelkleidche, Sie und mein Idche. Und ich hab' Sie sehen aufwachsen, immer größer, und auf einmal ist der Tag gekommen, wo ich gesagt hab' zu meiner verstorbenen Frau, hab' ich gesagt: ›Das Lorche ist mir wahrhaftig übern Kopf gewachsen, und sie trägt doch noch kurze Kleidche!‹ Und sehen Sie, liebes Fräuleinche, ich hab's gern gehabt, daß Sie Freundschaft gehalten haben mit mei'm Idche alle die Schuljahr durch, denn ich hab' Sie immer geschätzt. Und wenn ich gewußt hab', das Lorche ist droben in der Wohnstube, und das Lorche und das Idche machen ihre Aufgaben, dann war mir's recht. Und wenn ich gefragt hab', wo ist denn das Idche, und sie haben mir gesagt, es ist gegangen, das Lorche besuchen, so bin ich ruhig gewesen. Liebes Fräuleinche –« Der alte Mann 25 blieb stehen und sah Lore traurig an – »liebes Fräuleinche, eine ehrliche Frage verdient eine ehrliche Antwort: warum kommen Sie nimmer auf Besuch zu meinem Idche? Und das Idche könnte Sie doch so gut brauchen!«

Lore wurde rot. »Herr Meier, ich hab's Ihrer Tochter vorhin versprochen, ich komme gewiß morgen nachmittag zu ihr.«

»Das ist lieb von Ihnen, und das ist gut,« sagte der alte Mann; »aber es ist mir nicht genug, ich muß es wissen, warum Sie nimmer gekommen sind. Hochmut ist es nicht gewesen, das weiß ich. Also, was ist's?«

»Lieber Herr Meier –« Lore stockte – »es kommt doch so häufig vor, daß sich Institutsfreundschaften im Laufe der Jahre etwas lockern.«

»Ich will aber nicht, daß sie sich lockert, diese Freundschaft!« sagte der Juwelier ärgerlich.

»Es ist gewiß keine Ausrede, Herr Meier, wenn ich mich auf meine sehr beschränkte Zeit berufe. Ich habe viel zu thun mit der Pflege des Vaters, ich muß für mein Schwesterchen sorgen und ich gebe achtzehn Privatstunden in der Woche – also –«

»Achtzehn Stunden an die boshaften, nixnutzigen Kinder von fremde Leut'?« fuhr der Alte 26 empor. »Es ist 'n Jammer, es ist eine Sünde, sag' ich!«

»O ich habe meinen Beruf sehr lieb gewonnen, Herr Meier, und danke Gott, wenn ich ihm ungestört obliegen kann. Aber Sie werden einsehen, daß mir dabei nicht allzuviel Zeit übrig bleibt –«

»Da haben Sie recht, das ist wahr, und was wahr ist, muß man sagen. Aber doch – wissen Sie was, können Sie meinem Kind nicht auch Privatstunden geben? – Wissen Sie, worin ich meine? In der kindlichen Lieb'! – Nee, nee, liebes Fräuleinche, ich weiß wohl, ich kann mir's denken, ganz gut kann ich mir's denken – Sie haben Ihre Gedanken, und mein Kind hat seine Gedanken. Sie haben Ihre Gedanken gerichtet auf Pflegen und Stundengeben, und mein Kind hat seine Gedanken gerichtet auf schöne Kleider und auf Bälle und auf Theater, und da kommen Sie nimmer so recht zusammen mit den verschiedenen Gedanken. Hab' ich recht, oder hab' ich nicht recht?«

Lore schwieg.

»Aber, liebes Fräuleinche, thun Sie's für 'n alten Mann, der Ihnen darum bittet. Sehen Sie, das Idche ist 'n leichtsinniges Kind und macht mir oft viel Kummer und Sorge. 27 Aber an Ihne hängt's noch immer gar sehr. Thun Sie's einem alten Mann zuliebe, besuchen Sie einander und gehen Sie spazieren miteinander und trinken Sie miteinander Kaffee.«

Er streckte dem Fräulein von Ostenhusen die Hand hin, und diese schlug herzlich ein. »Und jetzt reisen Sie mit Gott und lassen Sie Ihren Herrn Vater wieder ganz gesund werden, und dann, wenn Sie heimkommen, dann lösen Sie mir Ihr Versprechen ein. Freilich –« er trat zurück und blickte zweifelnd auf das schöne Antlitz – »wer kann sagen, was sein wird in sechs, acht Wochen mit so einem guten Kinde? Müßten ja doch keine Augen im Kopfe haben, die Herrchen heutzutage –«

»Damit hat's gute Weile, Herr Meier,« lachte Lore.

»Na, wer weiß, wer weiß!« murmelte der Alte. Dann sagte er plötzlich: »Fräuleinche, also für Herzkranke ist Sprudelingen gut? Sehr gut, meinen Sie? – Nu, sagen Sie, wenn es gut ist gegen allerhand Herzkrankheiten, sagen Sie, hilft's auch gegen ein leichtsinniges, flatterhaftes Herz – nu, Fräuleinche? Wissen Sie was, dann gäb' ich Ihnen auf der Stelle mein Idche mit. – Aber 's wird nichts helfen,« setzte er traurig 28 hinzu. – »Also, liebes Fräuleinche, auf Wiedersehen, und kommen Sie gesund zurück mit Ihrem gesunden Herrn Vater! Und dann besuchen Sie auch mein Idche recht fleißig und gehen spazieren zusammen – nicht wahr?« 29

 

 


 << zurück weiter >>