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Siebentes Kapitel.


Als Peter das Kirchdorf hinter sich hatte, lag Solten in der Ferne auf einer mäßigen Anhöhe vor ihm. Er mußte das Dorf mit Wehlingen vergleichen. Das behäbige Bauerndorf in dem wiesen- und waldreichen Bachtale war ohne Frage viel reizvoller als diese neue Heimat auf der hohen Geest. Heide sah man von dieser Seite nur wenig. An der Straße zwischen dem Kirchdorf und Solten war alles Ackerland, das aber mit seiner losen, sandigen Ackerkrume wie mit dem hungrigen Winterkorn den Eindruck großer Magerkeit und Kargheit machte.

Bei den ersten Häusern des Dorfes griff Peter sich einen Jungen auf, um sich zum Schulhause führen zu lassen. Der Junge ging mit ihm eine Weile die ungepflasterte Dorfstraße entlang, bog dann auf ein Gehöft ab und auf ein Gebäude zu, das man zunächst für eine Scheune halten mußte. Als sie aber um dasselbe herum gingen, zeigten sich einige Fenster und eine Tür. Peter stand vor seinem neuen Heim.

Er rüttelte an der Tür, die jedoch verschlossen war. Als er sich umsah, kam aus dem Bauernhause, auf dessen Hofe das Schulhaus lag, ein Mann in Hemdsmauen mit einem Schlüssel in der Hand. Der sagte trocken »Dag« und schloß dem jungen Schulmeister sein Haus auf. Während sie miteinander die Schulstube und einen zweiten weißgetünchten Raum mit einem Fenster, in dem eine Scheibe zerbrochen war, besahen, erzählte er, bis vor wenigen Jahren hätte die Schule und Schulmeisterwohnung von Hof zu Hof gewechselt. Aber das wäre der Gemeinde schließlich lästig geworden, und so hätte sie ihm diese Scheune abgekauft und zu einer schönen Schule umgebaut. Die Fensterscheibe hätten im Winter die Jungens beim Schneeballen eingeworfen, aber er glaube sicher, daß die Gemeinde eine neue würde einsetzen lassen. Beim nächsten Bauernmal wollte er das vorbringen, und Eile hätte die Sache ja wohl nicht; denn es ginge ja auf den Sommer.

Als die beiden mit ihrer Besichtigung fertig waren und wieder ins Freie traten, sah Peter, daß sein alter Freund aus der Eisenbahn auf die Schule zugeschritten kam, den Brösel im Munde und sein pfiffigstes Lächeln im Gesicht. Peter fühlte einen Grimm gegen den Mann und überlegte sich, wie er dem Ausdruck geben sollte. Der Alte kam ihm aber zuvor: »Kiek mal an, da is he ja all, unse lütte Scholmester van de Iserbahn.« »Jawoll,« unterbrach ihn Peter, »den ji so bannig anföhrt hewwt. Dat harr ick van jo nich dacht.«

»Anföhrt?« fragte der Alte mit der unschuldigsten Miene von der Welt, indem er die Pfeife aus dem Munde nahm und behaglich ausspuckte.

»Jawoll, anföhrt! Wat is denn dat för'n Scholhus?«

»Och, so'n jungen Bengel, de keen Fro und Kinner hett, kann't genog dormit don.«

»Und de por elenden Daler, för de ener sick hier schinnen mutt.«

»O, he kriegt ja Äten und Drinken to. Wo woll he denn mit väl Geld hen? Dat hett all mannigenen up flechte Weg' brocht. Abers nu kam he man, min lüttje lewe Scholmester. Min Olsch' is bi und kakt'n Tass' Kaffee. Dorbi wöt wi uns wedder verdrägen.«

Peter wollte noch Schwierigkeiten machen, aber der Alte streckte den Arm mit der Pfeife aus und schob ihn lachend vor sich her. Da ergab er sich und ging mit.

»Spaß mutt makt weern,« begann der Bauer wieder, »aber nu lat uns dar mal vernünftig öwer snacken. Süh, wi hewwt all'n ganz Johr keenen Scholmester hatt, und de, den wi harrn, wör'n ganzen Natten. Aber unse Kinner könnt doch nicht upwassen as de armen Heiden, as dat lewe Veih. Nich wohr, dat geiht doch nich?«

»Nee, dat geiht nich,« sagte Peter. »Aber möß ick denn jüst her?«

»Och nee, min beste Minsch, harr ick'n annern in de Iserbahn drapen getroffen., de mi ebenso god gefallen harr as he, denn harr ick den nahmen.«

»Dat glöw ick,« sagte Peter lachend.

»So, nun sünd wi to Hus,« sagte der Bauer und trat mit Peter in die große Missentür seines stattlichen Hauses.

Während sie über die lange Diele gingen, beobachtete er Peters Gesicht von der Seite, blieb dann plötzlich stehen und sagte: »Scholmester, hett he denn keene Ogen in sinen Kopp?«

»Wat is denn?« fragte Peter erschrocken und sah sich vor die Füße, ob er etwa dem umherlaufenden Federvieh zu nahe getreten wäre.

»Dor rechts und dor links steiht dat beste Veih in't ganze Dorp und he sleit schlägt. dor keen' Og' nah hen?«

»Och ja, dat is ok wahr ...« sagte Peter und holte das Versäumte nach. »De Koh dor mit den Blessen vor den Kopp, dat is gewiß de beste.«

»Nee, lütt' Scholmester, dat is just de ordenärste in'n ganzen Stall.«

»Ach soo ... ick verstah van so wat nich ganz väl.«

»Gor nix versteiht he; dat seh ick,« sagte Clas Mattens. Am Herde angekommen rief er: »Hier, Mudder, is he, unse Scholmester. Nu bring dinen Kaffee man rin.«

Sie gingen in die Stube und nahmen auf der Bank am gedeckten Tische Platz.

»Na Scholmester, nu segg he mal,« begann Mattens wieder, »geiht he noch wedder nah Hus oder bliewt he forns sofort. hier?«

»Forns hier bliewen? Güng dat woll?« fragte Peter lebhaft.

»'t geiht allens,« antwortete der Bauer. »Min' Peer hewwt woll mal'n Dag Tied. Denn spannt wi morrn an und halt sin Saken, Bedd, Disch und wat he süssen sonst. noch hett, und denn is't ferdig. 't schall em ok nich väl kösten.«

»Hmhm.«

»Schall ick morrn anspannen?«

»... Da is man'n Haken bi ...«

»Wat denn?«

»Ick heww keen Bedd und Disch und Stohl und wat dor süssen noch tohört ...«

»Denn mutt he sick dat köpen. Is keen annern Rat.«

»Dor is ok man wedder 'n Haken bi.«

»Wat denn?«

»To'n Köpen hört Geld.«

»Dat stimmt.«

»Und dat heww ick nich.«

»Hett denn sin Vader nix?«

»Wat de hett, dat brukt he sülwst.«

»Dat is'n verdullten Kram,« sagte Clas Mattens und kratzte sich hinter den Ohren. »Nee, dat gelt nich, erst Bodder un denn dick Honnig up. Dat smeckt bäter.« Er schob Butter und Honigteller nahe an Peter heran, und dieser war auch nicht blöde. Da er den Honig schon aufgestrichen hatte, schmierte er die Butter dazwischen.

»Dat is'n verdullten Kram ... wiederholte der Bauer nachdenklich. »Ohn' Bedd geiht't nich, und'n Disch und Stohl is ok nödig.«

Nach einer Weile sagte er entschlossen: »Scholmester, he hett seggt, ick harr em anföhrt. Dat mag wän, he harr süssen woll'n bätern Platz kriegen könnt. Aber nu hör he to: ick will dat wedder god maken. Ick will em dat Geld, wat he nödig hett, lehnen leihen., dat he sick inrichten kann. Aber denn mutt he mi dat'n bäten upschriewen, dat dat Bedd und de annern Saken mi tohört, bet he se ganz betalt hett. 't is man wegen Lewen und Starwen ... Is em dat so recht?«

»O beste Vader Mattens, daför schall he väl dusendmal bedankt wän! Up wecke Ort schall ick dat noch wedder ...«

»Nu mak he keenen langen Dröhnsnack. Dat wör afmakt. Hören deit em also nix as wat he up'n Liew hett? Wo hett he denn sin Vigelin'?«

»De is noch to Hus. Und ok süssen heww ick dar noch allerhand, wat hier her mutt, Strümp und Hemden und'n bäten Tüg und min Böker ...«

»God, denn spann ick morrn an, und wi beiden föhrt hen und halt den ganzen Kram her. Und wat wi süssen brukt, dat köpt wi uns unnerwegs.«

»Dat geiht ja schön. Aber, wat ick noch seggen woll, in min Stuw' is'n Finster twei.«

»Dat schall Discher Buck insetten. Dat well ick woll vör de Gemeen' up mi nehmen.«

»Och Vader Mattens, wat freu ick mi, dat ick jo in de Iserbahn drapen heww, und dat ick nah Solten kamen bin!« sagte Peter mit ehrlicher Freude.

Clas Mattens, der nach beendigtem Kaffeetrinken eben seine Pfeife wieder angesteckt hatte, schmunzelte und blies ein paar mächtige Wolken von sich.


Am nächsten Morgen spannte Mattens mit dem Frühesten an, und neben dem breitschulterigen, behäbigen Bauersmann nahm der schmale, lang aufgeschossene Schulmeister Platz. So fuhren sie langsam in den frischen Aprilmorgen hinaus.

Das Gespräch zwischen ihnen riß nicht ab. Die Führung lag in den Händen des Bauern. Er sprach von den Feldern, Heiden, Wäldern, Wiesen, Dörfern, Gehöften, Menschen und Tieren und allem andern, was in seinen Gesichtskreis gehörte, mit jener Treffsicherheit und Sachlichkeit und jenem trockenen Humor, die nur aus dem intimen Umgang mit den Dingen und der behaglichen Freude an ihnen sich ergeben. Er sprach in jener urgesunden echten Bauernart, die den nicht gar zu blasierten Kulturmenschen immer wieder überrascht, und ihn erquickt wie der frische Duft der Scholle, die nachdenkliche Menschen immer wieder zweifelhaft macht, ob unsere ganze Kultur und »Bildung« wirklich so viel wert ist, wie es uns von allen Dächern gepredigt wird, ob wir für sie nicht einen zu hohen Preis gezahlt haben; in jener Art, von der ein Bücherschreiber, der nicht raffiniert für ein raffiniertes Publikum, sondern deutsch fürs deutsche Volk schreiben möchte, immer wieder lernen muß, und um die er manchmal so einen schlichten Heide- oder Moorbauer aufrichtig beneidet. Denn ganz lernt's einer doch nicht wieder so, der leider »schrecklich viel gelesen«.

Hätte Peter vor einem Jahre mit einem Mann wie Clas Mattens eine Fahrt über die Heide gemacht, so würde er mit Kunst und Tücke das Wort an sich gerissen und belehrende Vorträge über wer weiß was für abliegende Dinge gehalten haben. Denn damals hielt er sich wegen seines bißchens Bücherweisheit für »gebildet« und verpflichtet, andere zu bilden und zu belehren. Heute aber hielt er den Mund, hörte zu und fragte. Denn er war jetzt gebildet genug, um einzusehen, daß auch ein Schulmeister, der ein gutes Abgangszeugnis vom Seminar in der Tasche hat, noch nicht alle Weisheit mit Löffeln gefressen hat, daß er noch tüchtig lernen mußte und sich auch nichts vergab, wenn er von einem Bauern lernte. Er war gebildet genug, um die Welt des gefestigten, auf seine Scholle und Arbeit stolzen Bauerntums als eine ganze und reiche Welt zu empfinden, die es durchaus nicht nötig hatte, sich vor der Welt der Bildung und Bücher, in die er selbst ein wenig hineingerochen hatte, schamhaft zu verkriechen. Und er war gebildet genug, um einzusehen, daß er an diese Welt, in der er ja auch leben sollte, wieder mehr Anschluß suchen mußte, daß neben dem, was in den Büchern stand, auch das ihn umgebende Leben Beachtung verdiente. So machte er denn während dieser Fahrt Ohren und Augen weit auf und war des Bauern lernbegieriger Schüler.

Es kam bei diesen Gesprächen zwischen Bauer und Schulmeister zufällig heraus, daß Clas Mattens nicht schreiben und nur mangelhaft lesen konnte. Peter kannte ja viele, die statt ihres Namens drei Kreuze machten. Aber bei Mattens wunderte ihn das doch, und er sagte: »Dat harr ick nich dacht.« »Jawoll,« lachte der Alte, »ji Scholmester bild't jo jümmer in, wenn da'n düchdigen Keerl is, de in de Welt paßt und sinen Kram versteiht, denn harrt ji dat Meiste darto dan. Kinners, Kinners, 't hett all Keerls in de Welt geben, as noch keen Scholmester de Jungs de Böxen stramm tög.«

Nach einer Fahrt von vier Stunden langte das Gefährt vor Harm Eggers Häuslingskate an. Als Peter, innerlich auf alles gefaßt und gegen alles gewappnet, in die Tür trat, hörte er den Vater in der Stube laut schnarchen. Seine jüngste Schwester erzählte ihm eifrig, er wäre dun betrunken. nach Hause gekommen und hätte von Muttern schreckliche Prügel gekriegt. Sie zeigte ihm auch lachend den Stock, der in der Ecke stand. Die Mutter wäre auf der Nachbarschaft zum Waschen. Peter raffte in größter Eile seine Sachen zusammen, trug sie auf den Wagen, sprang selbst hinauf und bat Mattens, davon zu fahren.

»Wat? Nich mal'n Tass' Kaffee kakt uns din' Mudder? Dar harr ick mi bannig up spitzt.«

»Se is nich to Hus,« sagte Peter kurz.

Auf der Rückfahrt kauften sie in einem Flecken, was sie für die erste Einrichtung für nötig hielten. In ihren Ansichten darüber stimmten sie bis auf einen Punkt überein. Der Bauer meinte, Peter könnte sich wenigstens den Sommer über ganz gut draußen am Hofbrunnen waschen und brauchte kein Waschgeschirr. Aber Peter, der an diesen Luxus von Wehlingen und vom Seminar her gewöhnt war, wollte nicht gern auf ihn verzichten. Mattens meinte, die Schulmeister würden immer großartiger, und man wüßte nicht, wo das schließlich noch hinaus sollte, gab aber endlich doch nach.

Es ging bereits gegen Abend, als sie wieder zu Hause anlangten. Der Bauer half dem jungen Schulmeister, die Siebensachen abzuladen und ins Haus zu schaffen. »So,« sagte er, als sie damit fertig waren, »nu mak he sick man allens fein to Schick, und adjüs ok.« Dann hängte er die Stränge ein und zog mit seinem Gespann ab.

Peter stand in seiner Stube zwischen seinem Hausrat. Jetzt war's wirklich eine kleine Aussteuer. Da kam ihm plötzlich die Erinnerung, wie Schulmeister Wencke in Wehlingen ihn vor drei Jahren auf seine Kammer geführt und gesagt hatte: »So, nun mach's dir nur gemütlich in deinem Heim.« Wehmütig dachte er daran, mit was für einem jäh erwachenden Heimgefühl er damals von dem Dachstübchen Besitz ergriffen hatte. Von dem Glück und Jubel jener Stunden war er heute weit entfernt. So konnte er sich überhaupt nicht mehr freuen. Aber froh war er doch, daß er nun wieder ein eigenes Heim hatte. Das enge Zusammenleben mit innerlich ihm fremden Altersgenossen, wie das Seminar es mit sich gebracht hatte, war ihm zuletzt fast unerträglich geworden. Es mochte ja zuerst ganz heilsam für ihn gewesen sein. Aber im Grunde war er doch einer der Menschen, deren Bestes nur in der Stille und Einsamkeit reift, und denen es darum einfach Lebensbedürfnis ist, oft und viel allein zu sein. Das war ja nun im Soltener Schulhause wieder möglich. Und darüber freute er sich.

Er machte sich an die Einrichtung seines Zimmers. Denn gemütlich sollte es hier auch werden.

Die schwierigste Arbeit nahm er zuerst in Angriff: das Bettmachen. Da sie hierfür nur Oberbett und Kissen gekauft hatten – ein Laken hatte Frau Mattens aus ihrem Leinenschatz hergegeben und mäßig verrechnet – so brauchte Peter Stroh, um die Butze aufzufüllen, und sich eine weiche Unterlage zu bereiten. Er ging in das Bauernhaus, auf dessen Hof die Schule lag, und bat darum. Swiebertsbauer war glücklicherweise nicht zu Hause. Wahrscheinlich hätte er Peter auf das nächste Bauernmal vertröstet, wo beschlossen werden könnte, welche Höfe je ein Bund Stroh für das Bett des Schulmeisters zu liefern hätten. Die Bäuerin aber war menschenfreundlicher. Sie kommandierte ihre Magd, das nötige Stroh nach dem Schulhause hinüberzutragen und dem Schulmeister auch gleich das Bett fertig zu machen. »So'n Mannsminsch kennt dar doch nix von,« sagte sie.

Als die Magd nach Ausführung ihres Auftrages gegangen war, fuhr Peter mit dem Einrichten fort. Die Geige, sein wertvollstes Besitztum, stellte er auf den niedrigen Beilegerofen, dessen Eisenplatten zweimal mit dem »Fräuwlein von Samaria« und einmal mit Christi Taufe geschmückt waren. Den gekauften Tisch stellte er an die Längswand und baute seine Bücher an dieser auf. Die Wände waren gänzlich kahl, und gerade über dem Tische war ein Stück Bewurf abgefallen. Aber Peter besaß ein Mittel, diesen Schönheitsfehler zu verdecken und der kahlen Fläche einigen Schmuck zu verleihen. In der Seminarstadt hatte er sich einmal bei einem Althändler für wenige Groschen ein paar ungerahmte Bilderblätter gekauft. Die brachte er mit kleinen Nägeln über seinem Tische an. Das eine Blatt zeigte das Bild eines alten Mannes mit tiefgefurchten Zügen und wallendem Barte, der einsam auf seinem Lager saß und das Haupt auf eine vor ihm stehende Harfe gestützt hielt, auf deren Saiten seine welken Finger leise Töne zu greifen schienen. Darunter standen die Worte:

Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.

Wegen dieser Worte vor allem, die er zum erstenmal an jenem glücklichsten Tage seines Lebens gelesen hatte, als seine Seele eben mit Goethes Mailied gejubelt hatte, war ihm dieses Bild in dem Fenster des Antiquars so lieb geworden, daß er es sich endlich kaufen mußte. Und da hatte der Mann ihm gleich ein anderes Bild gezeigt, das dazu gehöre, und er hatte sich dieses auch gekauft. Da stand ein Mädchen in langem, weißem Kleide, halb Kind, halb Jungfrau, an eine Säule gelehnt und schaute mit schmerzlich sehnsüchtigem Blicke in die Weite. Darunter stand:

So laßt mich scheinen, bis ich werde;
Zieht mir das weiße Kleid nicht aus!
Ich eile von der schönen Erde
Hinab in jenes feste Haus.

Als Peter mit dem Einräumen seines Zimmers fertig war, setzte er sich an seinen Tisch, stützte den Kopf in die Hände, sah gerade vor sich aus seine Bilder und ihre Verse, und verfiel in tiefes Sinnen.

Tränenbrot und durchweinte, kummervolle Nächte ... ja ... er selbst kannte sie auch, so jung er war gegen den Alten auf dem Bilde ..

Der alte Harfenspieler hatte durch sie die himmlischen Mächte kennen gelernt. Konnte er das auch von sich sagen? ... Nein. Im Gegenteil. Vorher hatte er von Gott – so setzte er stillschweigend für die himmlischen Mächte ein – gewußt und ohne Bedenken und Zweifel, aber freilich, auch ohne sich viele Gedanken zu machen, über ihn gelehrt. Das war so leicht gewesen. Es stand ja alles fertig im Katechismus und in der Bibel. Dann hatte er in jener Verzweiflungsnacht zu Gott geschrieen und keine Antwort bekommen, keine Erhörung gefunden. Seitdem fühlte er im Unterricht manchmal etwas wie ein böses Gewissen, wenn er von ihm lehrte. Aber er beruhigte sich: Wir Schulmeister müssen's alle, es steht einmal in den alten Büchern so drin, und Religion ist immer gewesen und muß auch sein.

Und doch waren auch wieder Stunden in seinem Leben, in denen er das Gefühl gehabt hatte, als ob er jetzt, nachdem er den Gott seiner kindlichen Vorstellungen verloren, erst auf dem Wege wäre, Gott von ferne zu ahnen, ihn vielleicht einmal zu kennen; als ob er sein Liebesglück und Liebesleid, seine Jubelstunden und seine durchweinten Nächte einbeziehen könnte, ja müßte, in einen verborgenen Liebeswillen, der geheimnisvoll über seinem Leben waltete. Selten waren solche Stunden, und es waren auch dann nur Ahnungen, die ganz leise und heimlich durch seine Seele zogen. Die entgegengesetzte Stimmung, daß er mit einem blinden, grausamen Geschick haderte, daß er sich dumpf und stumpf unter etwas Unabänderliches zu beugen suchte, hatte die Vorherrschaft ... Der Harfenspieler war ein alter Mann. Vielleicht hatte der auch nicht immer so an seine Leiden und Schmerzensnächte gedacht, so voll stiller Ergebung, ja voll Dankbarkeit für das, was solche Zeiten ihm gegeben. Das kam vielleicht erst mit den Jahren ....

Peter ließ seine Augen auf dem zweiten Bilde ruhen. Von dessen Versen hatte er bislang überhaupt nichts verstanden. Es war ihm lieb geworden, weil das weiße Kleid des Kindes und ein leiser Zug in ihrem Gesicht ihn an seine Tote erinnerte. Und bei dem festen Hause hatte er ganz unbestimmt an das goldene Tor gedacht. Wie er nun so in stillem Sinnen hinschaute, haftete sein Auge an einem kleinen Wörtlein: So laßt mich scheinen, bis ich werde .... Werden ... Werden ... Was werden? Das stand da nicht ... Nur: werden ... Wie er darüber nachdachte, wollte es ihm plötzlich scheinen, als sei in diesem schlichten Wörtlein sein ganzes Jugendsehnen auf das kürzeste und treffendste ausgedrückt. Nicht, was so an der Oberfläche getrieben hatte: Hauptseminar und Küsterstelle usw., sondern das, was in der Tiefe geströmt und jene Wünsche getragen hatte. Und es kam ihm die Erinnerung an eine Frühlingszeit seines Lebens, da er dieses Werdens mit seligen Schauern selber inne geworden war. Aber dann waren ja wieder Zeiten gekommen, in denen er die Empfindung hatte, als ob alles in ihm tot und still läge. Nun stand dieses Wort vom Werden über seinem Schreibtisch, und er wollte es als eine freundliche Verheißung nehmen, daß das Werden doch noch nicht aufgehört habe, daß die alte Sehnsucht doch noch Erfüllung finden könnte ...

Die beiden Bilder hingen nebeneinander. Und der Antiquar hatte ihm beim Kauf gesagt, daß sie eng zusammen gehörten. Er hatte auch irgend eine Geschichte erzählt, die das beweisen sollte. Die war ihm aber entfallen, wenn er sie überhaupt recht aufgefaßt hatte.

Ja, vielleicht gehörte, auch ohne diese besondere Geschichte, überhaupt im Leben, alles dieses zusammen: Die kummervollen Nächte und das Tränenbrot und das Werden, die schöne Erde und das feste Haus und das goldene Tor; das Suchen und Sehnen, das Weinen und Verzweifeln, das Wachsen und Werden, und ... Gott ...

Es war etwas in ihm, was sich nach Aussprache sehnte. Da nahm er seine Geige. Den Blick auf den Harfenspieler gerichtet, begann er zu spielen, schmerzvoll klagende Weisen mit einem leisen Unterton der Ergebung, wie sie der Alte einst seiner Harfe entlockt haben mochte. Dann wandte er sich dem andern Bilde zu und zog lange, süße, innige Töne. Tränen füllten seine Augen, und mit den umflorten Blicken sah er in Mignons Bild das Bild seiner teuren Toten. Da packte ihn ein wilder Schmerz, und schrill und scharf zog er mit dem Bogen über die Saiten. Dann schaute er wieder auf den zum Frieden gekommenen Alten, strich allmählich ruhiger, und ging zuletzt in Händels Largo über, das ihm von allen Tonstücken, die er kannte, das liebste war. Er stand jetzt vor dem Fenster, und sein Blick flog zu dem Stückchen Himmel auf, das zwischen der Schule und dem nahen Bauernhause sichtbar war.


Am nächsten Tage fing Peter an, sich in Solten herumzuessen. Das Dorf zählte sieben Halbhöfe, und jeder hatte die Verpflichtung, einen Tag der Woche den Schulmeister zu Mittag und Abend zu beköstigen. Den Morgenimbiß nahm er zu Hause ein, und traf mit einer benachbarten Häuslingsfrau, der er auch die Wartung seines Zimmers übergab, das Abkommen, daß sie ihm durch eins ihrer Kinder dazu einen Becher frischgemolkener Ziegenmilch herüberschickte.

Da Peter jetzt des Willens war, die Welt, in der er lebte, und das ihn umgebende Leben kennen zu lernen, so war ihm der Reihetisch ganz lieb. Denn dazu bot er ja die beste Gelegenheit, die sich nur denken ließ. Wenn er des Mittags mit hungrigem Magen auszog, kam er sich fast wie ein Entdeckungsreisender vor und hielt Augen und Ohren offen. Er versuchte von dem Aussehen der Häuser auf ihre Bewohner, von dem Vieh auf die Menschen, von den Menschen auf das Vieh, von den Eltern auf die Kinder, von den Kindern auf die Eltern zu schließen, er verglich, stellte Betrachtungen an, kurz, er studierte das Leben und die Menschen. Was die Hofbesitzer betraf, so fand er bald heraus, daß er gleich am ersten Tage die größten Gegensätze kennen gelernt hatte: den wortkargen, stumpfen, geizigen Swiebertsbauern, und den humoristischen, klugen, noblen Mattensbauern. Frauen gab's, wie überall, ordentliche und schlampige, heitere und mürrische, gut aussehende und häßliche, mütterliche und stiefmutterähnliche. Von den Altenteilern hatten die einen etwas Patriarchalisches in ihrem Wesen, die andern hatte das Leben, Arbeit und Sorge müde und stumpf gemacht. Peter packte das Leben mit wachen Sinnen, und wo er's packte, da wurde es ihm interessant. Während er die Menschen beobachtete, beobachteten die Menschen ihn, und schon am Ende der Woche stand das Urteil über ihn ziemlich fest: »Wi hewwt'n lütten schönen Scholmester krägen. He is gar nich stolz, itt wat up'n Disch kummt und hett Ogen in'n Kopp.« Nur die Schulkinder, die ja demnächst am meisten mit ihm zu tun haben sollten, hielten ihr Urteil in der Schwebe. Die wollten doch lieber erst sehen, wie er sich in der Schule machen würde.

Am Sonntag ging Peter nach Brundorf zur Kirche. Er setzte sich auf den Orgelchor, woselbst der Organist ihm schlimmes Herzeleid antat. Er hatte seine Orgel schlecht in Stimmung und griff und trat mehr als einmal böse daneben. Denn er dachte: Was verstehen die dummen Bauern von Musik? Wenn's ihnen man tüchtig in die Ohren braust! Peter drehte sich einige Male herum und bearbeitete den breiten Rücken des Kollegen mit empörten Blicken. Aus dem Stadium, in dem ein Tongeräusch wie Schulmeister Wenckes Geigenkratzen Musik für ihn gewesen war, war er jetzt heraus, und die gute und gut gespielte Orgel der Hauptkirche der Seminarstadt hatte ihn verwöhnt.

Als der Superintendent auf der Kanzel erschien und seine Predigt begann, hörte Peter aufmerksam zu. Viel aufmerksamer und angestrengter, als je früher in Steinbeck und Olendorf. Denn es war nun einmal der Trieb in ihm erwacht, das Leben und die Menschen, wo und wie sie sich ihm boten, kennen zu lernen. Da hatte er nun bald das Gefühl, solche Predigt könnte nur ein Mann halten, der mit Gott und der Welt, vor allem aber mit sich selbst auf das schönste zufrieden ist. Er beneidete den geistlichen Herrn und alle, die wie er das Leben im hellsten Sonnenschein liegen sahen, verklärt von der Güte eines alliebenden Vaters und von einer allgemeinen, die Welt – wenigstens mit Worten – umspannenden Menschenliebe. Indem er dann aber tiefer darüber nachdachte, fand er doch, die wirkliche Welt und das wirkliche Leben zu erkennen und zu verstehen, das hatte doch auch seine Vorzüge, wenn dabei auch mancher schöne Traum zerrann, und so schöne Phrasen, wie sie von der Kanzel herunterpurzelten, unmöglich wurden. Die Erkenntnis des Wirklichen empfand der junge Schulmeister, wenn er auch erst eben angefangen hatte, die Augen und Ohren aufzumachen, doch schon als eine Bereicherung des eigenen Lebens.

Wie seine Augen so auf dem glattrasierten, runden, strahlenden Gesicht des Geistlichen ruhten, sah er plötzlich neben diesem den abgehärmten, von langem weißen Bart umwallten Kopf seines alten Harfenspielers. Da mußte er die beiden nach ihrem Aussehen und nach ihren Worten vergleichen und von diesen Äußerungen aus auf das dahinter liegende Wesen schließen. Der eine sprach mit vielen Worten von Glück und Genuß, von einem Leben im Sonnenschein, der andere von Tränen und kummervollen Nächten, mit wenigen, aber unmittelbar ans Herz packenden Worten. Der eine redete des langen und breiten von der Güte und Liebe eines großen Vaters über dem Sternenzelt. Der andere sprach bescheiden, fast scheu, von himmlischen Mächten. Der Mann auf der Kanzel redete von sich und seinem fröhlichen Glauben und legte dabei beteuernd vor der ganzen Gemeinde die Hand auf die breite Brust. Der alte Harfner saß allein in einer engen Zelle, auf die Harfe gestützt, und sprach, ganz für sich, wie von einem Dritten, aber in Worten, in denen des eigenen schwergeprüften Herzens Schlag zitterte ... Da fühlte der junge Schulmeister sich dem Manne auf der Kanzel fremd und fremder, und dem alten Harfenspieler immer verwandter.

Als von der Kanzel ein Ausfall gegen die Feinde des Lichts und der Aufklärung kam, mußte er an den Schuster denken, vor dem er so eindringlich gewarnt war. In Solten hatte er sonst noch nichts über den Mann gehört, als daß er gute und billige Ware liefere. Jetzt, wo der Superintendent gegen Leute seiner Art zu Felde zog, fühlte Peter beinahe etwas wie Sympathie für ihn und beschloß, trotz aller Warnung vor der damit verbundenen Gefahr seine Bekanntschaft zu machen.

Als Peter nach beendigtem Gottesdienst sich auf den Heimweg machte, beschäftigten ihn die Gedanken, die ihm während der Predigt gekommen waren, noch immer. Dieser Superintendent gehörte ohne Zweifel zu den Menschen, die der Seminardirektor als »öde, platte, geistlose Rationalisten und Totengräber der Kirche« bezeichnet hatte. Und der letztere war ja von ersterem als »Pietist und Dunkelmann« gebrandmarkt worden. »Und welches ist Ihre religiöse Stellung?« hatte der Superintendent ihn gefragt. Peter lachte, als ihm die wunderliche Frage einfiel. Aber sofort wurde er wieder ernst. Er gestand sich, daß er jetzt, nachdem der Trieb, das Wirkliche zu erkennen, in ihm erwacht war, den Wunsch verspürte, auch über diese schweren, schwersten Fragen, die in der Schule täglich vorkamen, Klarheit zu gewinnen. Aber wie? Aus Büchern? Zu ihnen hatte er in dieser Sache wenig Vertrauen, seitdem er wußte, wie die hochstudierten Herren, die sie schrieben, einander widersprachen. Da dachte er wieder an seinen alten Harfenspieler. Der wußte von den tiefen verborgenen Kräften, die der Menschen Leben gestalten, tragen und segnen, wohl mehr als jene hochgelehrten Herren. Wo hatte er das gelernt? In der Schule des Lebens ... In der Schule der Leiden ... Ja, in der Schule der Leiden, vielleicht war da das Letzte und Tiefste und Größte zu lernen ...

»Na, lütte Scholmester,« rief hinter ihm Clas Mattens muntere Stimme, »he hollt den Kopp ja so dal, niedrig. he is woll ganz deepdenksch schwermütig. vandag?«

Peter blieb stehen und erwartete den herankommenden Bauern.

»Hewwt wi nich'n schönen Zupperndenten?« fragte dieser, nachdem er Peter eingeholt hatte.

»Och ja,« meinte der Schulmeister, »he kann bannige Wö'r Worte. maken.«

»Blot eenen Fehler hett he,« sagte Mattens, »he makt to väl Wöer. He künn datsülwige in de halwe Tied seggen. Aber dat hört woll to de Gelehrsamkeit van de groten Herrns, dat se sick nich so kort befaten könnt as'n dummen Buersmann. Ick hol't mit den Spruch: 'n lange Wost und'n korte Predigt, dorbi kann'n dat Winderdag und Sommerdag utholen.«


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