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Zweites Kapitel.


Als Peter die Tür des Schulhauses hinter sich schloß, öffnete sich gegenüber eine Stubentür, und es erschien ein alter Frauenkopf, der sich aber, kaum seiner ansichtig geworden, wieder zurückzog. Peter hörte, daß er gemeldet wurde: »Vadder, he is'r.« Darauf kam ein hageres, grauhaariges, bartloses Männchen angetrippelt, das den Ankömmling an der Hand nahm und in die Stube zog, mit den Worten: »Szüh, ßüh, da bist du ja. Is man gut. Wir haben schon auf dich gewartet. Na, setz dich ... Da hast du deine Sachen woll in? Die leg' da an die Erde. So, so. Bist wohl recht müde von dem langen Weg?«

»O nein,« sagte Peter, »Vater ist mitgegangen und hat meine Aussteuer getragen.

»Aussteuer? Wo hast du die denn?« fragte der Schulmeister verwundert.

Peter wies etwas unsicher auf sein Bündel.

»Aussteuer im Kissenüberzug? Hihihi, das ist gut. Mudder, hest du't hört? Dor hett he sin' Utstüer in.«

Die Schulmeisterin, die in einem Rohrlehnstuhl saß, verzog ihr faltenreiches, teilnahmloses Gesicht zu einem schwachen Lächeln. Peter war rot geworden.

»Na ja ...« begann der Schulmeister wieder, »du hast doch wohl schon gegessen? Wir sind schon eine halbe Stunde damit fertig. Wegen meinem Magen essen wir immer früh.«

Peter sagte bescheiden, er hätte erst vor zwei Stunden eine Maulschelle gegessen.

»Das ist ja man gut. Sonst, wenn du noch Hunger hättest ... Denn wollen wir gleich den Abendsegen lesen und zu Bett gehen. Denn morgen Punkt sieben Uhr geht's an die Arbeit. Langschläferei und Unpünktlichkeit dulde ich nicht. Das mußt du dir gleich heute merken.«

Mutter Wencke war aufgestanden, nahm ein Buch vom Wandbrett und legte es, bei dem Lesezeichen aufgeschlagen, vor ihren Gebieter hin. Dann holte sie das Brillenfutteral von der Fensterbank, zog die Brille mit ihren zitterigen Fingern heraus, putzte sie an der Schürze und reichte sie handgerecht dem Alten. Hier geht's anders zu zwischen Mann und Frau, als zu Hause, dachte Peter.

Nachdem der Schulmeister mit etwas tremulierender Stimme eine kurze Abendbetrachtung vorgelesen hatte, hieß er Peter sein Bündel aufnehmen und stieg mit ihm eine knarrende Holztreppe hinan. Oben angekommen, führte er ihn in eine kleine Dachkammer. »So, mein Sohn,« sagte er, »hier hast du alles. Hier steht dein Bett, und da kannst du dich waschen, und da ist auch'n Leuchter und Reißsticken, wenn du dir mal'n Licht anstechen willst. Aber damit sei vorsichtig! Du wohnst hier unterm Strohdach. So, nun mach's dir in deinem Heim recht gemütlich und schlaf' wohl!« Damit ging er und knarrte mit seinen Filzpantoffeln die Treppe hinab.

Peter sah sich in dem Stübchen um. Es war in Wirklichkeit nur ein Bretterverschlag unter dem unverkleideten Strohdach. Bett, Tisch, Stuhl, Schemel mit Waschbecken nahmen dreiviertel des Raumes ein. Wer diese Stube ein elendes Loch nannte, brauchte noch nicht anspruchsvoll zu sein. Aber dem guten Peter lagen solche Gedanken himmelfern. In ihm fand des Schulmeisters Wort ein jubelndes Echo: Dein Heim, dein Heim! Die Gefühle, die beim Klang dieses lieben Wortes in allen heimseligen deutschen Menschenkindern wach werden, waren Peter bis auf diese Stunde fremd geblieben. Die väterliche Kate, in der er die schmutzige Stube mit sechs und die dumpfe Butze mit drei Menschen hatte teilen müssen, die ihm alle innerlich fremd und zum Teil feindlich waren, war ihm niemals ein Heim gewesen. Nun hatte er auf einmal eins, und es war ihm, als hätte er damit etwas gefunden, wonach er sich lange im stillen gesehnt hatte.

Gemütlich sollte er sich's in seinem Heim machen, hatte der Alte gesagt. Gemütlich? Das Wort hatte er noch nie gehört. Aber seinem Klange lauschte er ab, was es sagen wollte. Er zog das schwarze Röckchen aus und hing es an die Wand, vertauschte die engen, staubigen Stiefel mit bequemen Holzpantoffeln, baute die Bücher auf dem Tisch auf und wusch sich die Hände. Ei, wie wurde es da gemütlich! Zuletzt zündete er das Licht an. Wie freundlich sah jetzt erst das saubere Zimmerchen aus, mit den beiden Bildern an den Wänden und dem weißen Gardinchen über dem zweischeibigen Fensterfach! Peter rieb sich die Hände, zog den Kopf zwischen die Schultern und fand sein Heim urgemütlich.

Als er eine Weile die Freude über sein gemütliches Heim ausgekostet hatte, öffnete er das Fenster und sah hinaus. Von dem Garten drunten konnte er nichts deutlich erkennen. Die Nacht war völlig hereingebrochen. Dennoch blieb er, in den engen Rahmen gezwängt, lange im Fenster liegen. In der Stille, die um ihn war, in dem Dunkel, das nach all den Eindrücken dieses Tages keine neuen mehr zu ihm ließ, mußte er über die Veränderung nachdenken, die der heutige Tag in sein Leben gebracht hatte. Das alte Leben lag hinter ihm wie ein böser Traum, und vor ihm ein neues, unbekannt, aber so verheißungsvoll, daß ihm das Herz klopfte, wenn er nur daran dachte ... Er sah über sich zum Nachthimmel empor und schärfte seine Augen. Zuletzt fingen hoch droben, in unendlicher Ferne, einige Sterne an durch die blaue Nacht zu glimmen. Und es wurde ihm, als käme aus seligen Fernen durch die weiten Räume ein stilles Grüßen gezogen. In tiefem Erschauern empfand seine Seele dieses wunderbare Grüßen und wurde darüber so weit und froh, daß er es in dem engen Fensterrahmen nicht mehr aushalten konnte. Er zog sich in sein Heim zurück, hob die Hände, dehnte die Brust, atmete selig bang, und plötzlich warf er sich auf die Knie, und ein wortloses, heißes Dankgebet entquoll seinem übervollen Herzen.

Als seine Seele sich auf diese Weise von dem Überschwang ihrer Glücksgefühle befreit hatte, fing plötzlich in ihm etwas an zu knurren. Es war der Magen. Dieser war nicht von einer so rührenden Bescheidenheit wie sein Besitzer, und mit einer halben Maulschelle für einen halben Tag und eine ganze Nacht nicht zufrieden. Zum Glück erinnerte Peter sich, daß die zweite halbe Maulschelle noch in der Tasche seines Konfirmationsrockes steckte. Er zog sie heraus, und ganz langsam aß er sie, um dem unzufriedenen Gast, der von der Freude allein nicht satt werden wollte, eine wirkliche Mahlzeit vorzutäuschen. Zwischendurch trank er einen Schluck Wasser aus dem Kruge. Ein Glas hatte er nicht.

Darauf ging er zur Ruhe. Als er sich niederlegte, warf er sich stürmisch in dem Bettkasten hin und her. Die Freiheit und Wonne, dieses tun zu können, ohne wie zu Hause sofort mit geschwisterlichen Beinen zusammen zu geraten, mußte er doch erst einmal auskosten. Dann machte er's sich auf der rechten Seite gemütlich, zog die Beine an, blinzelte behaglich mit den Augen, ehe er sie schloß, und fühlte sich so recht von Herzen heimselig.

Schlaf wohl, du junges, armes, hungriges, glückliches Schulmeisterlein! Alle Stunden, die dir unter diesem Dache kommen, werden wohl nicht so reich, nicht so glücklich sein, wie diese ersten.


Als Peter am andern Morgen erwachte, dachte er mit Schrecken daran, daß Schulmeister Wencke Langschläferei und Unpünktlichkeit nicht duldete. Ob er die Zeit nicht schon verschlafen hatte? Darüber beruhigte er sich zwar bald; denn es war noch nicht völlig hell. Da er aber eine Uhr nicht fragen konnte, weil er keine hatte, und die Sonne nicht, weil sein Fenster nach Westen lag, so hielt er es für das sicherste, sofort aufzustehen.

Beim Ankleiden betrachtete er die beiden Bilder, die durch ihr Dasein gestern abend die Gemütlichkeit seines Heims gehoben hatten, die er aber in dem schwachen Licht der Talgkerze sich noch nicht genauer angesehen hatte. Zu Häupten des Bettes hing ein rahmenloser Holzschnitt. Er mochte aus einer alten Bilderbibel stammen und war mit Schusternägeln an der Wand befestigt. Abraham, der Vater der Gläubigen, schickte sich mit bekümmertem Gesichte an, seinen Sohn Isaak zu schlachten, der ganz geduldig seinen Hals hinhielt, während im Hintergrunde der Engel des Herrn die Einhalt gebietende Rechte hoch hielt und mit der Linken einen sich gewaltig sträubenden Bock heranzerrte. Das Bild an der senkrechten Längswand war viel freundlicher. Es war dazu bunt, und hatte einen mit Fliegendenkmälern punktierten Goldrand. Eine hehre Frauengestalt, in rotem Ober- und blauem Untergewande schwebte in rosigen Wolken, rings von reizenden Engelköpfchen umgeben. Darunter stand: »Maria, die Himmelskönigin«, Dieses Bild sah Peter sich viel länger an als das andere.

Als er mit dem Ankleiden fertig war, wollte er hinuntergehen. Oben an der Treppe blieb er aber stehen und horchte in das Haus hinab. Dort war noch alles still. Da schlich er mit größter Vorsicht die Stufen hinab. Trotzdem war die altersschwache Treppe so indiskret, jeden seiner leisen Tritte durch das hallende, morgenstille Haus zu melden. Unten angekommen, schob er den Riegel zurück und trat in den frischen Morgen hinaus.

Die Sonne ging eben auf und übergoß den Himmel mit flammendem Rot. Aber darauf achtete Peter nicht weiter. Das hatte er hundertmal gesehen, wenn die Stiefmutter ihn vor Tau und Tag aus dem Bett herausjagte. Es kam ihm heute darauf an, das Neue kennen zu lernen, das ihn hier erwartete. So ging er denn zuerst durch den Garten. Der war noch kahl und wartete auf Sonnenschein und warme Tage. Trotzdem ließ Peter sich von Bäumen und Büschen die herrlichsten Versprechungen machen. Der dicke Apfelbaum, der dem Hause zustrebte und einen Zweig bis dicht vor sein Kammerfenster sandte, der in schöner Gabelung stolz aufwärts strebende Birnbaum, die Johannis- und Stachelbeersträucher, die schon zu grünen und zu blühen angefangen hatten, – was verhießen sie nicht alles dem Gaumen des noch nicht fünfzehnjährigen, der solche Genüsse bislang fast nur vom Hörensagen kannte!

Als er den Garten kennen gelernt hatte, schlenderte er ins Dorf hinaus. Da freute er sich über die breiten, behäbigen Bauernhöfe, die hinter bemoosten Knüppelzäunen unter dicken Eichen lagen. Wo er zu Hause war, auf der hohen Heide, war das alles viel ärmlicher als in diesem bachdurchrieselten Tale, dessen Anmut ihn gestern schon erfreut hatte.

Aus einem der Häuser kam eine Junge mit einem Schulbuch in der Hand. Da drehte Peter um und ging eiligst nach Hause zurück.

Die Schulmeistersleute saßen beim Kaffee. »Wo bleibst du denn?« fragte der Schulmeister, indem seine Stirnhaut sich in Falten legte. »Ich habe bloß eben einen kleinen Spaziergang gemacht,« entschuldigte sich Peter. »Na, hör' mal, diese Morgenspaziergänge laß man unterwegs. Es ist nicht nötig, daß du uns beiden alten Leute morgens um fünf Uhr aus dem Schlaf trampelst. Ich bin zufrieden, wenn du so früh aufstehst, daß du uns vor dem Kaffee die Stiefel putzen kannst. Ich bin nämlich nicht dafür, wie es viele Schulmeister tun, in Holzschuhen zu unterrichten. Wir dürfen uns nicht so gehen lassen. Auch meine Pfeife mußt du mir immer stopfen. Die pflege ich in der Schreibstunde zu rauchen.«

Während dieser Dienstanweisung hatte die Schulmeisterin Peter eine dicke Scheibe Brot dünn mit Seimhonig bestrichen. Und jetzt machte er sich darüber her, als ob er von zwei Uhr nachts an mit nüchternem Magen in der Scheune gedroschen hätte. Gegen seine Gewohnheit faßte er das Brot wie seine Stiefbrüder zu Hause, nämlich mit beiden Händen, um tüchtig nachschieben zu können. Bis der Schulmeister sagte: »Anständige Leute essen mit einer Hand.« Da wurde er rot und legte seinem Eßungestüm Zügel an.

Draußen auf dem Hof sammelten sich die Kinder. Einige klapperten schon mit ihren Holzschuhen in die nahe Schulstube. Die Zeiger der blumenbemalten Wanduhr zeigten fünf Minuten vor sieben. Da sagte Schulmeister Wencke: »Heute brauchst du noch nicht zu unterrichten. Du wirst vielmehr meinem Unterrichte beiwohnen. Wir wollen in den einzelnen Fächern Wiederholungen anstellen. Du wirst da sehen, was geleistet ist, und was in einer ordentlichen Schule geleistet werden muß. Die Kinder werden ja immerhin in den Osterferien mancherlei vergessen haben, und meine besten Schüler sind jetzt gerade konfirmiert. Das mußt du bedenken, wo mal etwas nicht klappt. Für zehn Uhr habe ich mir dann die Abc-Schützen bestellt. Komm! Bring dir einen Stuhl mit!«

Hinter dem alten Schulmeister trat der junge in die Schulstube, wobei er in dem Bewußtsein, daß aller Augen auf ihm ruhten, seinem weichen Jungensgesicht einen ernsten und strengen Ausdruck zu geben suchte. Mit Würde ließ er sich angesichts der Klasse auf seinem Stuhl nieder und legte die Beine lässig übereinander.

Nach einem Gesangvers und Gebet führte Wencke dem jungen Schüler und Kollegen seine Schule vor. Der Dausend! Wie das klappte! Biblische Geschichten, Katechismusstücke, Sprüche kamen nur so angeflogen, beim Lesen wurden die Sätze förmlich verschlungen, die Lösungen der Rechenexempel folgten reflexartig. Peter sah verdutzt bald die Schule, bald den Lehrer an, und kam aus dem Verwundern gar nicht heraus.

Hinter das Geheimnis dieser großartigen Unterrichtserfolge ist der gute, ehrliche Peter nie recht gekommen. Sein Vorgänger aber, der gerissener war als er, hatte es schon mit einem halben Jahre herausgehabt. Schulmeister Wencke hielt für seinen Vorgesetzten, den Pastor von Olendorf, der bei Schulprüfungen die ihm sehr sympathische Gewohnheit hatte, niemals selbst die Kinder zu fragen und die Wahl der zu behandelnden Gegenstände dem Lehrer zu überlassen, in allen Unterrichtsfächern einige Paradestücke auf Lager, die im Sommer und Winter, vor und nach den Ferien, gleich gut gingen. So war er in den Ruf eines tüchtigen Pädagogen gekommen und erhielt deshalb auch Präparanden zur Ausbildung zugewiesen. Diese Paradestücke hatte er eben Peter vorgeführt und in diesem wieder einmal das Gefühl des eigenen Nichts wachgerufen, zugleich aber auch den heiligen Entschluß, daß er unermüdlich arbeiten wollte, bis er würdig wäre, seinem Meister wenigstens die Schuhriemen aufzulösen.

Um zehn Uhr kamen dann die Kleinen, von den Müttern an der Hand geführt. Sie kamen mit bangen Gesichtern, und ein kleiner Bengel schrie so mörderlich und sperrte sich so sehr, daß er auf dem Arm hergetragen werden mußte. Die erzieherische Weisheit der Eltern hatte nämlich für gut befunden, von frühester Jugend an den Kindern mit dem Schulmeister als dem leibhaftigen Buhmann zu drohen, um sie dadurch zur Tugendhaftigkeit zu schrecken. Diese seine kleine hagere Person umschwebenden Schrecken mußte Herr Wencke also zuerst zerstreuen. Sein süßestes Gesicht, das er aufsteckte, genügte dazu nicht, und freundliche Worte mit Backenstreicheln und Kitzeln unter dem Kinn taten es auch nicht. Das wußten die Eltern und brachten im Handkorb Tuten voll süßer Anlockungsmittel herbei, die sie dem Schulmeister im Hause heimlich vor den draußen ängstlich umherstehenden Kindern überreichten. Die Körbe enthielten aber auch noch andere Schätze: Präsente für den Mann, dem die teuersten Schätze nun auf Jahre zur Vorbereitung für dieses und jenes Leben anvertraut werden sollten, und der bei seinem kargen Gehalt einige Schinken und Würste gut gebrauchen konnte. Solche schöne Sitte half diesem zugleich, die Rangordnung der Kleinen richtig zu bestimmen. Wenn er sie nach der Güte der elterlichen Gaben setzte, war er sicher, daß seine kleine Schulgemeinde ein getreues Abbild der großen Dorfgemeinde wurde, die in Bauern, Anbauern und Häuslinge sozial scharf gegliedert war. So wurde denn Heini Renken, dessen Mutter einen mittleren Schinken und eine armlange Mettwurst mitbrachte und zugleich andeutete, sie würden nächstens ein fettes Kalb schlachten, Erster, und Jürgen Brammer mit seiner verschimmelten Leberwurst gebührte der letzte Platz.

Nachdem Schulmeister Wencke angesichts der offenen Körbe über die Rangordnung sich schlüssig geworden war, überließ er die Mütter seiner Frau zur Bewirtung mit einer Tasse Kaffee und machte sich mit seinem Gehilfen daran, die auf dem Hof herumstehenden Kinder für die geordnete menschliche Gesellschaft einzufangen. Mit Hilfe der vorgehaltenen Köder ging das ziemlich leicht. Nur Jürgen Brammer, der vorhin so geheult hatte, traute der Sache noch immer nicht, und Peter mußte ihn auf dem Arm in die Schulstube tragen und sich auf einen Wink des Schulmeisters auch weiter diesem offenbar schwierigsten Charakter des Jahrgangs widmen. Er hatte mit seinen ersten Erziehungsversuchen den schönsten Erfolg. Als der kleine Kerl merkte, daß er es nicht mit dem leibhaftigen Buhmann zu tun hatte, sondern mit einem Jungen, der so gar nichts Menschenfresserisches an sich hatte, hörte er auf zu weinen, wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und nahm einen roten Bonbon aus der ihm hingehaltenen Tute. Als er eine Weile daran gelutscht hatte, nahm er das klebrige Ding aus dem Munde und bot es Peter an. Fast hätte der zugegriffen, denn Süßigkeiten aß er gern. Er besann sich aber zur rechten Zeit, daß sich dies mit seiner Würde als Schulmeister nicht vertrug und sagte: »Nee, nee, behol' man!« Da Jürn auf diese Weise den roten Bonbon nicht los werden konnte, steckte er ihn in die Tute, um einen grünen zu probieren.

Mit der Nahrung des Geistes verschonte Wencke heute die Kleinen noch. Er ließ sie schmausen, holte aus jedem mit viel pädagogischem Geschick den Namen heraus, scherzte plattdeutsch mit ihnen, ermahnte sie, immer fleißig zur Schule zu kommen, zeigte eine Papptafel, auf der ein braunes Hottehüh daher trabte, und ließ sie laufen.

So verlief der erste Schultag für alle Beteiligten sehr erfreulich. Die Kinder konnten den ganzen Tag in Süßigkeiten schwelgen, sofern nicht die Eltern grausamer waren als der liebe Schulmeister und dessen großmütige Geschenke an sich nahmen. Unter des letzteren Wiemen sah es aus, als ob ein Schweinchen hätte dran glauben müssen. Und Peter war froh, die erste Aufgabe, die ihm in seinem Lebensberuf gestellt war, glatt gelöst zu haben.

Beim Mittagessen ließ der Schulmeister sich über die Familien aus, die heute ihre Kinder ihm anvertraut hatten. Peter lernte auf diese Weise einen Teil der Schulgemeinde kennen. Freilich nur in der Hinsicht, ob einer viel oder wenig hatte, filzig war oder gern herausrückte.

Außerdem lernte Peter beim Mittagessen den Luxus des Lebens kennen. Der Tisch war mit einem weißen Leintuch gedeckt, und jeder Esser hatte seinen eigenen Teller, über letzteren freute Peter sich aus demselben Grunde, wie er sich über das eigene Bett freute. War er zu Hause im Bett mit den geschwisterlichen Beinen in Kampf geraten, so am gemeinsamen Eßnapf mit ihren Holzlöffeln. Und nirgends waren Trinas Sprößlinge selbstsüchtiger und unangenehmer als am Eßtröglein. Schnell sah der Junge, der bislang nur Holzschleef und Naturgabel gebraucht hatte, seinen Lehrmeistern ab, wie man die Eßgerätschaften einer höheren Kultur handhabte, und schlug eine wackere Klinge. Das Honigbrot vom Morgenkaffee hatte seinen Magen noch immer nicht wegen des ausgefallenen Abendbrotes beruhigt, und Frühstück gab's nicht. »Von wegen meinem Magen,« hatte der Schulmeister erklärt.

Als die Messer und Gabeln ruhten, nahm der Schulmeister wieder das Wort. »Ein lateinischer Schriftsteller,« begann er, »hat einmal ein Wort gesprochen, das die Gelehrten so übersetzen: Eine gesunde Seele in einem gesunden Körper. Wir Schulmeister, das ist klar, haben für unsern schweren Beruf eine gesunde Seele nötig. Die können wir aber nur haben, wenn unser Leib gesund bleibt. Um ihn gesund zu erhalten, müssen wir neben der Arbeit des Geistes, die wir an der lieben Jugend betreiben, auch unsern Körper arbeiten lassen. So habe ich's immer gehalten. Es waren meine besten Tage, wenn ich im Schweiß meines Angesichts mein Brot aß, wie es uns ja auch schon in der Bibel verheißen ist. Abgesehen davon, daß die Schulmeisterei einen mit der Familie allein nicht ernährt. Und da habe ich immer gefunden, die gesündeste Arbeit ist das Graben. Ich wäre nicht so alt geworden, wenn ich nicht viel gegraben hätte. Für dich wird das auch gut sein. Komm, ich will dich anweisen.«

Er führte Peter in den Garten und zeigte ihm ein Stück Land. »Kannst du dieses wohl bis zum Kaffee umgegraben haben? Wir wollten gern Erbsen legen.«

Peter versprach, sein Bestes zu tun.

»Dein Vorgänger,« sagte der Schulmeister wieder, »warf so ein Stück Land im Handumdrehen herum. Na, er war aber auch einen guten Kopf größer als du. Sieh zu, wie weit du kommst, grabe nicht zu flach, und verteile den Dünger gut!« Damit ging er, um seinerseits des Leibes Gesundheit durch ein Mittagsschläfchen zu pflegen.

Peter machte sich munter ans Werk. Er war froh, daß ihm eine Arbeit gegeben war, die er beherrschte, bei der er nicht ängstlich zu tasten brauchte. An so etwas hatte die Stiefmutter ihn tüchtig herangekriegt. Er tummelte sich, um hinter seinem großen Vorgänger nicht allzu weit zurückzubleiben. Und wirklich, er warf das Stück herum, ehe er zum Kaffeetrinken gerufen wurde. Ja, vom nächsten auch noch zwei Reihen! Als der Schulmeister nach seinem Mittagsschläfchen die Arbeit prüfte, zollte er ihr vollen Beifall, und am Kaffeetisch warf er in Peters Tasse ein Stück Zucker, mit den Worten: »Ein Arbeiter ist seines Lohnes wert.« Peter war sehr froh. Er hatte einmal das angenehme Gefühl, ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft zu sein. Dazu hatte die Stiefmutter es trotz all seiner sauren Arbeit im Hause und auf dem Felde nie kommen lassen. Nach dem Kaffeetrinken half er seinem Lehrherrn Erbsen legen. Und bald legte er sie allein. Denn als der Schulmeister seinen Diensteifer bemerkte, schmunzelte er stillvergnügt und beschränkte die eigene Arbeit darauf, mit der Pfeife im Munde Anweisungen zu geben.

Als sie mit dem Abendessen fertig waren und noch am Tisch saßen, konnte Peter seine Wißbegier nicht mehr bezwingen. An der Wand hing ein länglicher Kasten mit einem Stiel, an dem einige Bindfäden her liefen. Das Ding hatte ihn schon bei allen Mahlzeiten des Tages so merkwürdig angesehen, als ob es mehr wäre als ein Kasten zur Aufbewahrung von Garnknäueln oder Rauchtabak oder dergleichen. Er fragte also den Schulmeister, was es mit dem zweifelhaften Kasten auf sich hätte. Der lächelte weise und gab dann ernsthaft die Erklärung: »Was du da siehst, mein Sohn, ist nicht ein Kasten, sondern eine Geige. Gewöhnliche Leute nennen sie auch Vigeline. Dieselbige ist ein musikalisches Instrument. Sie besteht aus einem dünnen Holzkasten, der als Rosonanzboden dient. Derselbe ist nicht mit Bindfäden bespannt, sondern mit Saiten, die aus Tierdärmen gewonnen werden. Mit jenem Bogen, der jenseits des Ofens hängt, wird der Ton erzeugt. Wart', ich will dir mal ein Stückchen spielen.«

Mit großen Augen sah Peter den Vorbereitungen zu, dem Spannen und Stimmen der Saiten, dem Ansetzen des Bogens, der Bewegung der Finger. Als der Schulmeister dann eine schlichte Volksweise zu spielen begann, legte er die Arme ineinander und schloß die Augen.

Vater Wencke war ein herzlich schlechter Musikante. Er hatte einen harten, kratzenden Strich, und auch mit dem Abstimmen der Saiten nahm er es nicht eben genau. Dennoch, kaum hatte er angefangen, so war sein Zuhörer in einer andern Welt. Denn der gehörte von Haus aus zu den Menschen, welche die Seele voll heimlicher innerer Musik haben, und diese zum Singen und Klingen zu bringen, dazu bedurfte es keines künstlerisch vorgetragenen Meisterwerks. Dazu hatte sonst das mäßige Orgelspiel auf der mangelhaften Kirchenorgel in Steinbeck genügt. Dazu genügte jetzt auch die einfache, wehmütige Volksweise, von Schulmeister Wencke auf schlecht gestimmter Geige gekratzt.

Dieser bemerkte die tiefe Bewegung, die seinen Zuhörer ergriffen hatte, und spielte die Melodie dreimal hintereinander. Beim dritten Mal gab er sich wirklich Mühe, seiner Geige lange, süße Töne zu entlocken. Als er sie dann absetzte und Peter tief aufatmend die Augen öffnete, sagte er freundlich: »Wenn wir erst etwas weiter sind, und du bleibst so folgsam und fleißig, wie du heute warst, werden wir sehen, ob du auch genügend musikalische Begabung hast, um das Geigenspiel zu lernen.« Für diese Worte bekam er einen Blick, wie er ihn dankbarer in seiner ganzen Schulmeisterpraxis wohl nicht geerntet hat. Peter sah den ganzen Abend den Himmel voller Geigen hängen.

Bald darauf stieg er in sein stilles Reich hinauf. Auch diesen Abend war er der glücklichste Mensch im ganzen Dorf. Nicht so stürmisch kam das Gefühl seines Glücks über ihn, als gestern abend, da er in seinem Fenster lag. Aber er freute sich desselben als eines stillen, ruhigen Besitzes, in dem er, der arme Stiefsohn Trinas, sich unendlich reich fühlte. Daß es nicht leicht war, als Schulmeister das zu leisten, was nach dem ihm heute gezeigten Vorbild geleistet werden mußte, fühlte er auch wohl. Aber er spürte die Freudigkeit in sich, seine ganze Kraft einzusetzen. Und dann mußte es ja gehen.


Das war Peters erster Tag im Schulhause zu Wehlingen. Wie er, ins Wasser hineingeworfen, zwar nicht regelrecht schwimmen, aber doch durch Paddeln sich leidlich oben zu halten lernte, was für Dummheiten er machte und wie er die allergröbsten allmählich zu meiden begann, wie der Kinderherzen gewann und Kinderhöschen stramm zog, das alles wollen wir hier nun nicht weitläufig erzählen. Denn uns interessiert weniger Peter der Schulmeister, als Peter der Mensch. Nicht das wollen wir vor allem wissen, wie Peter mit den kleinen Wehlinger Bauernjungens und -deerns fertig wurde, sondern, wie er mit sich selbst, mit der Welt, mit dem Leben fertig wurde. Und darüber ist aus den nächsten beiden Jahren nur weniges summarisch zu berichten.

So glückliche Abende wie die beiden ersten hat Peter während dieses Zeitraumes in seiner Dachkammer nicht wieder erlebt. Wie der Mensch sich an alles gewöhnt, so gewöhnte er sich auch daran, daß er eine eigene Stube und ein eigenes Bett hatte. Nur wenn er aus den Ferien, aus den elenden Verhältnissen seines Vaterhauses, zurückkam, fühlte er anfangs annähernd wieder das Glück jener ersten Abende.

Zu jenen glücklichen Stunden hatte die junge Seele, die einem engen, dumpfen Käfig entronnen war, sich frei gewähnt und jubelnd ihre Flügel geregt, um aufzufliegen. Aber bald genug mußte sie merken, daß sie nur den Käfig getauscht hatte. Mochte der neue Käfig auch nicht ganz so eng und drückend sein wie der alte, das freie Flügelregen und Fliegen verbot er doch auch.

Schulmeister Wencke war ein kleinlicher Mensch, der seine Präparanden im Schul- und Wirtschaftsbetrieb ausnutzte, aber unfähig war, ihnen für ihren Beruf wirklich etwas zu geben. Als Peter ihm eines Tages ehrlich klagte, er könne mit den Kindern das nicht erreichen, was ihm am ersten Tage als erreichbar gezeigt wäre, da sah der Schulmeister ihn groß an und sagte: »Du dummer Junge, du willst in ein paar Wochen das können, wozu ich mein ganzes langes Leben gebraucht habe?« Wenn Peter sich einmal in irgend einer Schwierigkeit Rat holen wollte, hieß es meist nur: »Junge, das weißt du nicht? Denk doch man bloß ordentlich nach! Ist ja ganz leicht. Schlau genug bist du dazu.« Die früheren Präparanden hatten ausnahmslos mit der Zeit einen förmlichen Haß gegen den Mann gefaßt. Dazu kam es bei Peter nicht. Wenn er einmal böse auf ihn werden wollte, verglich er ihn schnell mit seiner Stiefmutter, und dann fand er den selbstsüchtigen Mann ganz erträglich. Er hatte eben in harter Schule gelernt, gar keine Ansprüche an die Menschen zu stellen und schon zufrieden zu sein, wenn sie ihn nur leben ließen. – Einige Wochen lang hatte er den Schulmeister beinahe lieb. Das war während der Zeit, als dieser ihm Geigenstunden gab. Aber bald sagte eine Saite Knax, und nach ein paar Tagen eine zweite. Da hängte der Alte die Geige an die Wand und meinte, nun müßten sie's erst mal aufstecken. Wenn er mal in den Flecken käme, wollte er sich frische Saiten mitbringen. Er kam zwar öfters in den Flecken, und brachte sich Tabak mit, aber Saiten nicht. Es schnitt Peter manchmal ins Herz, wenn die Verstummte mit ihren schrägliegenden Augen ihn von ihrem alten Ruheplatz so traurig anschaute. Wenn er zufällig allein in der Stube war, trat er wohl einmal an sie heran und zupfte an der gebliebenen Baßseite. Dann brummle die alte Freundin, zornig und wehmütig zugleich.

Es wäre dem armen Jungen zu wünschen gewesen, daß er nach seiner elenden Jugendzeit in mütterliche Hände gekommen wäre. Wo diese sehnsüchtige Kindesseele nur ein wenig Verständnis, ein ganz klein wenig Liebe gefunden hätte, da hätte sie sich dankbar aufgeschlossen, wie das Marienblümchen in der ersten spärlichen Märzsonne. In den rechten Händen wäre Peter weich wie Wachs gewesen. Aber von mütterlicher Art, die dem armen Jungen das zuerst mit so inbrünstiger Liebe als Heim umfaßte Schulhaus zu einer wirklichen Heimat hätte machen können, hatte die Schulmeisterin auch gar nichts. Seit ihre erwachsenen Kinder das Haus verlassen hatten, lebte sie nur noch für ihren Mann. An dem sah sie wie an einem Halbgott hinauf und diente ihm wie eine treue Magd. Zu Peter hatte sie kein anderes Verhältnis, als daß sie für seines Leibes Nahrung und Notdurft leidlich sorgte.

Peter las viel. Als Wenckes Bücher ihm nichts mehr zu sagen hatten, wußte er sich solche hier und da bei den Lehrern der Nachbarschaft zu leihen. Er las, was ihm gerade unter die Finger kam, und bei seinem guten Gedächtnis behielt er auch manches von dem Gelesenen. Aber, da er zu unreif war, um eine Auswahl zu treffen und die Einzelheiten einzuordnen und geistig zu verbinden, so hatte er selbst keine rechte, tiefe Freude daran. Deshalb suchte er andern Freude damit zu machen. Aber damit hatte er auch kein rechtes Glück. Die Leute schätzten seine Belehrungen nicht, zumal er von Schulmeister Wencke die Kunst gelernt hatte, die einfachsten Dinge mit vielen Worten breit zu treten. Als er merkte, daß die Menschen seine Weisheit verachteten, bedauerte er sie aufrichtig und fing an, sich als einen jener »Unverstandenen« zu fühlen, die mitleidig auf das Leben und die Menschen herabblicken und wunder meinen, was die Welt in ihnen verkennt.

Es war schlimm, daß es ihm an Menschen fehlte, an denen er hinaufsehen mußte, von denen er sich Maßstäbe zu richtiger Selbsteinschätzung hätte holen können. Für die wirkliche Lebenstüchtigkeit mancher Bauersleute seines Dorfes hatte der kleine Büchermensch natürlich kein Auge. So kam der grüne Junge nach und nach in einen Hochmut hinein, der ihn um so unangenehmer machte, als er zu seinem eigentlichen Wesen gar nicht paßte.

Wenn kein Mensch Peter in diesen Jahren recht leiden konnte, so hatte er dennoch einen wahren und treuen Freund. Das war des Schulmeisters Phylax, der aus einer angesehenen Schäferhundefamilie stammte. Wenn er mit diesem an den Sonntagnachmittagen in der Heide, fernab von den Blicken der Menschen, herumtollte, hatte er den Gelehrten und Schulmeister ganz ausgezogen und war nichts als der gute, große Junge, der mit lachenden Augen über die Heide sprang. Aber wenn er mit ihm durch das Dorf nach dem Schulhause zurückkehrte, war er wieder der Herr Schulmeister, und auch Phylax mußte dieser Würde seines Freundes durch gesittetes Benehmen Rechnung tragen.

Vielleicht war dieser zweite Käfig, das Schulmeisterhaus in Mehlingen, noch gefährlicher für Peter als der erste, die stiefmütterliche Kate. Denn jetzt stand er in den Jahren, wo es sich entscheiden mußte, ob er ein aufrechter, tüchtiger Mensch werden oder als eine aus Mangel an Wärme, Licht und Luft verkrüppelte und verkümmerte Existenz am Boden dahinvegetieren sollte. Das letztere erschien nachgerade als das Wahrscheinlichere.

Da, am Anfang des dritten Jahres bei Schulmeister Wencke, trat ein Neues in sein Leben hinein.


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