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Viertes Kapitel.


Die Sommerferien nahten. Peter hatte sich die ganzen Jahre noch nicht auf Ferien gefreut. Aber dieses Mal fürchtete er sich vor der langen, langen Zeit, die er fern von Wehlingen zubringen sollte. Er hätte etwas darum gegeben, wenn er die vier Wochen hätte ausstreichen können.

Am letzten Sonntag vor Schulschluß hatte er in Olendorf den Gottesdienst besucht und blieb den Nachmittag über bei einem Kollegen und Altersgenossen, mit dem er oberflächlich ein wenig verkehrte. Marie war seit einigen Tagen verreist, um zu Hause die Kindtaufe von Nummer acht mitzufeiern. Und den Sonntagnachmittag allein bei den sauertöpfischen Alten zu verleben, hatte er keine Lust. Ohne sie konnte er sich das Schulhaus gar nicht mehr denken.

Gegen Abend trat er den Rückweg an. Der Kollege begleitete ihn eine Strecke.

Im Kirchdorf war heute Tanzmusik, und die Straße auf und ab schlenderten Scharen geputzter junger Leute. Die Musikanten kamen eben mit ihren Instrumenten, und die Wirtshausdiele hatte ihre bekränzten Tore weit und einladend geöffnet. »Möchte auch wohl mitmachen,« sagte der andere, lüstern hineinblickend, »aber mein Küster gönnt's mir nicht. Er ist noch einer von den Altmodischen und meint, wir Schulmeister gehörten so halb und halb mit zur Geistlichkeit.«

»Die jungen Kerls,« sagte Peter, »nehmen uns Schulmeister doch nicht für voll.«

»Aber die Deerns,« sagte der andere, »wenn einer man'n rechter Kerl ist.« Er hielt sich ohne Zweifel für einen solchen und zupfte an den Härchen, die ihm auf der Oberlippe sproßten. Die waren etwas länger als Peter seine und konnten übers Jahr vielleicht schon Bekanntschaft mit dem Rasiermesser machen.

Um Peter zu beweisen, daß er kein Dummer mehr war, erzählte er dann allerhand Geschichten vom Olendorfer Jungvolk. Geschichten, wie der weltfremde Peter sie von der Wehlinger Jugend nie gehört hatte. Nachdem dieser eine Zeitlang schweigend zugehört hatte, sagte er zuletzt: »Na, Mensch, nun hör' man endlich auf mit deinen dummen Geschichten!«

Als der Begleiter umgekehrt war, ging Peter langsam durch die Heide. Es war sehr warm, und Eile hatte er ja nicht.

Nach einer Viertelstunde führte der Weg in eine Senkung, das Wendenloch, hinab. Dort sollte es nicht ganz geheuer sein, wie Peter aus einer alten Chronik wußte. Und eine alte Frau hatte ihm erzählt, hier wäre ihr einmal der Heideteller begegnet, der zur Strafe für seine Sünden bis an den jüngsten Tag die Heidekräuter zählen müßte. Und was ihre Mutter gewesen wäre, die hätte zweimal den Ohnekopf gesehen. Einmal hätte er seinen Kopf unter dem Arm getragen, das andere Mal mit ihm den Hügel hinab Kegel geschoben, und aus dem Tale habe einer, wahrscheinlich der Teufel selbst, unheimlich gerufen: Alle Neune! An diese Geschichten dachte Peter, der Volksaberglaube hatte auch über ihn einige Gewalt, und so zögerte er ein wenig, ehe er in das von dunklen Wacholdern und weißen Sandblößen durchzogene Tal hinabstieg.

Plötzlich rief es munter hinter ihm: »'n Abend, Peter!« Er flog jäh herum. Marie! –

»Wo kommst denn du auf einmal her?«

»Ich bin eben mit der Post in Olendorf angekommen. Und du? Was stehst du hier herum?«

»Och, ich habe mal den jungen Schulmeister in Olendorf besucht.«

»Den alten ekligen Flapps, der neulich bei uns war?«

»Ja. Was sollte ich mich allein zu Hause herumlangweilen?«

»Und nun gehst du auch nach Hause?«

»Ja, natürlich doch!«

»Ob wir zusammen gehen ...?«

»Och ja, das meine ich doch. Zu zweien geht's sich besser, besonders abends. Und auf diesem Wege!«

Sie wandten sich zum Gehen.

»Warum ist's denn gerade hier gut, zu zweien zu gehen?« fragte sie.

»Weil's da unten nicht sauber ist.«

»Nicht sauber?« lachte sie auf. »Du kluger Mensch glaubst noch an Spuken?«

»Das nicht gerade. Aber etwas anders ist's einem doch, wenn man abends allein in solche Gegend kommt. Soll ich dir erzählen, was Wohlers Mudder mir von dem Wendenloch verraten hat?«

»Ach, laß man! Glauben tu ich's doch nicht. Und was sollen wir uns mit solchen dummen Geschichten gruseln machen?« –

»Na, wie war's denn zu Hause?« fragte Peter nach einer Weile.

»Och, ganz nett ...«

»Jetzt seid ihr schon acht.«

»Ach ja ...«

»Was seufzest du? Du meintest doch Ostern, sieben, das wäre gar nicht zu viel. Acht ist doch bloß einer mehr.«

»Ach Peter, wenn man älter wird, denkt man über manche Dinge mehr nach. Acht Geschwister, das sind nicht bloß acht lustige Spielkameraden, das sind auch acht hungrige Münder, die jeden Tag satt werden wollen.«

»Das habe ich schon lange gewußt.«

»Ja, du kluger Peter du! Und denn in so'n armen Schulmeisterhause ... bei hundertundzwanzig Taler ... das hat seine liebe Not.«

»Aber du bist da nun ja heraus und hast bei uns genug zu essen.«

»Ja, aber meinst du denn, daß ich bloß an mich denke?« –

Sie gingen jetzt eine Weile schweigend.

Je tiefer sie in das enge Heidetal hinabkamen, desto heißer und dumpfer wurde die Luft.

Peter sah sich um. Sie waren zwischen den Wacholdern und Sandmulden ganz allein ...

Plötzlich fielen ihm die Geschichten ein, die ihm vorhin der Kollege erzählt hatte.

Da mußte er zur Seite blicken und sie ansehen. Aber schnell wandte er wieder den Kopf.

Nach einer halben Minute sah er wieder zur Seite und ließ die Augen langsam an ihrer Gestalt entlang gleiten.

»Was kuckst du?« fragte sie.

»Darf ich dich nicht ankucken?« Er versuchte zu lachen.

»Nein, so nicht ...«

»So nicht?« lachte Peter verlegen und heiser. Aber er zwang sich, nicht wieder hinzusehen. Nur einmal sandte er einen schnellen Blick nach ihrem Gesicht. Er wollte sehen, ob sie auch nicht böse wäre. Nein, das war sie nicht.

Der Weg führte jetzt wieder aufwärts. In dem staubfeinen Mahlsand war das Gehen schwer.

»Was für eine Hitze!« stöhnte Peter und riß sich die Mütze vom Kopf.

»Wenn wir nur erst oben wären!« sagte sie, »es ist so schrecklich schwül hier.«

»Wollen wir uns nicht einen Augenblick ausruhen?« fragte Peter.

Sie blieb stehen und sah ihn an. Dann sagte sie hastig: »Nein!« und schlug einen noch schnelleren Schritt an.

Endlich hatten sie die Höhe erreicht. Ein frischer Lufthauch wehte ihnen ins Gesicht. Sie blieben stehen und atmeten tief auf. »Ach, wie tut das wohl!« sagte das Mädchen.

»Sieh mal da,« sagte Peter lebhaft und zeigte mit dem Finger nach dem Horizont.

Sie hob die Augen und sagte: »Ja, das ist wunderschön ...«

Ein schönes, farbenkräftiges Abendrot mit tiefem Goldton war durch Höhenzüge, Wälder und Wolken so abgegrenzt, daß nur ein schmales Stück davon sichtbar war, welches in der dunklen Umrahmung aber um so wunderbarer leuchtete.

»Sieht das nicht gerade so aus wie ein Tor?« fragte Peter andächtig, als sie eine Weile schweigend hingeschaut hatten.

»Ja,« stimmte sie nachdenklich zu, »wie ein Tor von lauter Gold. Und unser Weg führt ganz grade hinein.«

»Weißt du, woran ich da denken muß?«

»Ach Peter, wie kann ich das wissen?«

»Da ist mir auf einmal eine Geschichte eingefallen.«

»Was für eine?«

»Och ... ich habe sie noch keinem Menschen erzählt.«

»Ist's denn keine gute Geschichte ...?«

»O doch. Wunderschön ist sie, oder nein, eigentlich auch sehr traurig ... Weißt du was, Marie? Ich hätte beinahe Lust, sie dir zu erzählen ...«

»Ja, Peter, ganz wie du meinst. Ich habe immer gern schöne Geschichten gehört. Wenn sie auch'n bißchen traurig sind, das schadet gar nichts.«

»Du weißt doch, daß meine rechte Mutter ganz früh gestorben ist, als ich erst drei Jahre alt war?«

Er sah sie an. Sie nickte still.

»Als sie meine Mutter nach dem Kirchhof getragen hatten, und ich das nicht wußte und die Leute fragte, wo sie geblieben wäre, zeigte mir eine ganz alte, weiße Frau den dunklen Himmel mit seinen Sternen und sagte, da oben im Himmel wäre meine Mutter nun, und die Sterne wären lauter Fenster, da könnte sie herauskucken. Ich glaubte das natürlich, denn ich war damals noch ein Kind. Als ich nun wohl so fünf Jahre alt war, spielte ich eines Abends nicht weit von unserm Hause am Waldrande. Es war ziemlich dunkel, und die Fledermäuse flogen schon. Wie ich da so zufällig den Weg entlang durch den Wald sehe, ist's da auf einmal ganz hell, und über dem Hellen steht ein großer goldener Stern, gar nicht hoch über der Erde. Da denke ich, heute abend ist die goldene Himmelstür offen, und wenn du schnell läufst, kannst du hinkommen, ehe sie wieder zugemacht wird. Und dann findest du da wohl eine Treppe, die zu dem hellen Fenster hinaufführt, und findest da wohl deine Mutter. Ich lief also in den Wald hinein. Da war's so still, daß ich mich fast fürchtete, und ich dachte: Wenn du bloß einen hättest, der mitginge! Aber ich lief doch weiter. Da plötzlich rauschte etwas Schreckliches dicht über mir und rief: Uhuh, Uhuh – ich glaube jetzt wohl, es ist ein Uhu gewesen. Da duckte ich mich schnell in den Graben am Wege und weinte laut und war schrecklich bange, weil ich ganz allein war. Zuletzt kam ein Mann auf dem Wege daher, hob mich auf und fragte, wie ich so spät noch in den Wald käme. Ich wollte in den Himmel, sagte ich, und zeigte ihm das goldene Tor. Da schüttelte er den Kopf und sagte, der Weg wäre viel zu weit, dahin könnte ich allein nicht gehen. Und nahm mich auf den Arm und trug mich nach Hause, und da erzählte er, wie er mich gefunden hätte. Und meinem Vater seine neue Frau gab mir eine tüchtige Tracht Schläge und sagte, sie wäre nun meine Mutter, und ich müßte sie lieb haben. Aber wenn ich auch die Schläge gekriegt habe, an die goldene Himmelstür habe ich doch noch oft denken müssen ... Und habe sie auch noch oft gesehen ... Und habe immer gedacht, wenn du doch bloß einen hättest, der mit dir gehen könnte. Aber ich konnte keinen finden, den ich darum bitten mochte. Sie sahen alle aus, als ob sie dazu keine Lust hätten ... Ich bin beinahe immer allein gewesen als kleiner Junge ... Und bin immer allein geblieben ... das ganze Leben durch ... Erst zu Hause ... und dann bei deinen Großeltern auch .. Aber, oh, Marie, seit Ostern ist mir's, als ob ich zum ersten Male in meinem Leben nicht allein wäre ... Wir beide haben ja zusammen im Garten gegraben. Wir haben zusammen die Bohnenstangen eingesteckt. O wie war das schön! Und nun gehen wir hier miteinander. Hier ist der Weg. Und da ist das goldene Tor wieder. Sieh, wie es leuchtet und lockt! Ich glaube ... wenn wir beide zusammenblieben, dann kämen wir hin ...«

»Och Peter ...« sagte sie und sah ihn mit großen, weitoffenen Augen an, »... wenn wir dahin wollen, wo deine Mutter ist, dann müssen wir doch vorher erst – sterben.«

»Och Marie,« sagte Peter erschrocken, »sprich nicht solch ein Wort und mache nicht solche Augen! Hör' zu, ich will dir sagen, wie ich jetzt, wo ich groß bin, das mit dem goldenen Tor verstehe. Sieh, ich bin ja jetzt noch ein armer, dummer Junge. Aber das möchte ich nicht bleiben. Und ich möchte auch nicht so'n Schulmeister werden, der in einem halben Jahr auf dem Seminar so das Allernotdürftigste gelernt hat und selbst nicht mehr weiß, als was er die Kinder lehren muß. Nein, ich möchte nachher auf das Hauptseminar und da noch ein paar Jahre tüchtig lernen und studieren, damit ich von den Dingen den Grund zu wissen kriege. Und das Orgelspiel möchte ich gründlich lernen. Ich mag furchtbar gern Musik hören und habe noch mehr Lust, selbst welche zu machen. Dein Großvater hat mir schon einmal etwas Geigenstunden gegeben, und ich konnte das auch ziemlich gut begreifen. Aber bald hatte er keine Lust mehr und hat's wieder aufgegeben. Und dann möchte ich Küster werden, irgendwo, wo eine große, schöne Orgel ist. Und dann möchte ich lange Jahre gesund wirken und schaffen. Und auch tüchtig Geld verdienen. Denn ein Arbeiter ist seines Lohnes wert. Daß ich gemütlich leben kann in einem freundlichen Heim. Und mir auch mal was Schönes kaufen kann ... eine schöne alte Geige; denn die alten sind die besten, hat dein Großvater mir mal gesagt ... und gute Bücher auch. Daß ich lesen kann, was die größten und besten Menschen gedichtet und gedacht haben. Denn, Marie, es gibt nicht bloß diese Welt, die wir mit unsern Augen vor uns sehen. Es gibt auch eine Welt, die wir nicht sehen können. Die Musik ist eine Pforte dazu, und gute Bücher führen uns auch hinein. In diese wunderbare Welt habe ich bis jetzt nur ein paar Mal einen schnellen Blick getan, aber ich möchte so recht darin zuhause werden ... Und dann, ganz zuletzt ... ja, dann möchte ich auch dahin, wohin ich als Kind schon laufen wollte, durch das goldene Tor dahin, wo meine Mutter nun schon so lange ist ...«

»Peter, das ist aber nicht wenig, was du dir da alles vorgenommen hast. Und du meinst, daß du dieses alles erreichen wirst?«

»Ja, Marie; denn es ist so viel Sehnsucht in mir. Ich habe sie schon immer gehabt, aber nun hast du sie erst recht geweckt.«

»Ich!?«

»Ja, du. Und ich werde alles erreichen .. wenn du mit mir gehst.«

»Aber Peter, ich kann doch nicht mit dir auf das Seminar und Hauptseminar gehen ..«

»Brauchst du auch nicht. Ich muß bloß wissen, daß wir beide, die wir hier jetzt auf diesem Wege zusammen gehen, für unser ganzes Leben zusammen gehören. Sagst du ja, gut, dann erreiche ich auch, was ich will, und wonach ich mich sehne. Seit dem Nachmittag, wo wir zusammen die Bohnenstangen eingesteckt haben, bin ich ein ganz anderer Mensch geworden. Ich kann viel besser unterrichten jetzt, und verstehe auch viel mehr von dem, was in den Büchern steht. Wenn du ja sagst, dann erreiche ich, was ich will, das fühle ich ganz deutlich in mir. Und dann wirst du einmal Küsterfrau, und wenn deine Eltern für die vielen Kinder nicht genug zu essen haben, können wir gern eins oder zwei zu uns nehmen. Aber, Marie, daran mußt du jetzt nicht denken. Auch daran nicht, daß ich gern möchte, daß du ja sagst. Du mußt ganz tief hinabsteigen, bis in dein innerstes Herz, und das mußt du fragen. Denn nur ein Ja, das da heraus kommt, kann mir was helfen ... Du brauchst dich gar nicht zu übereilen. Wir haben noch beinahe eine Viertelstunde bis nach Hause ...«

»Oh Peter ...« begann sie, brach aber schnell ab.

Schweigend stiegen sie in das Tal hinab. Nur einmal sagte Peter: »Sieh' dir das goldene Tor noch einmal an, ehe die große Wolke es zuschließt!« Da blieben sie eine Weile stehen, sahen schweigend zu, wie die Nachtwolken das letzte Abendglühen verhüllten, und gingen dann langsam weiter.

Als sie am Schulgarten ankamen, – das Haus war von dieser Seite das erste im Dorf – fühlte Peter, daß ihre leichte Hand sich unter seinen Arm schob, sein Herz fing an stürmisch zu Klopfen, und er hörte, wie sie leise sagte: »Mein lieber Peter, ja, ich gehe mit dir.«

Da blieb er stehen, faßte ihre beiden Hände und fragte: »Marie, ist das ganz gewiß? So furchtbar gewiß, als du hier vor mir stehst? Kann ich mich darauf verlassen, heute und alle Tage, im Leben und im Sterben?«

»Peter, warum fragst du das so furchtbar ernst?« fragte sie erschrocken.

»Weil bis jetzt in meinem Leben das Glück und das Gute immer nur ein paar Stunden gedauert hat. Wenn ich eben anfangen wollte, mich darüber zu freuen, war's wieder weg.

»Du armer Junge du.«

»Kann ich mich darauf verlassen?« fragte Peter noch einmal.

Sie machte leise ihre Hände los, und plötzlich umschlang sie ihn und drückte ihm einen Kuß auf den Mund.

Ehe Peter, der, von dem Gefühl des Ernstes dieser Stunde völlig durchdrungen, auf so etwas nicht im mindesten gefaßt war, zu sich kam, war sie ihm entschlüpft. Jetzt wollte er hinter ihr drein. Aber sie gebot ihm mit aufgehobenem Finger Halt und flüsterte, er möchte draußen noch etwas warten und dann erst auf sein Zimmer hinaufgehen. Die Großeltern hätten einen so leisen Schlaf. Dann verschwand sie in der Haustür.

Peter schlich durch eine Zaunlücke in den Garten und setzte sich in die Jelängerjelieberlaube. Vor ihm lag die dunkle Masse des Hauses. Nun blinkte dort ein Lichtschein auf, und eine schlanke Gestalt trat vor das Fenster, sich gegen das in der Tiefe des Zimmers brennende Licht abhebend. Peter legte die Hand auf sein klopfendes Herz und sagte zu sich: Die gehört nun mir, durch Wort und Kuß mir verbunden. Da habe ich nun endlich gefunden, was ich so lange gesucht habe, ein Menschenkind, das mich lieb hat, das mit mir gehen will, all den Zielen entgegen, von denen ich so lange geträumt habe. Und wie an jenem ersten Abend in Mehlingen, als er von seiner Dachstube Besitz ergriff, so kam auch jetzt wieder, wo er ein viel größeres Gut errungen hatte, ein heißes, tiefes Dankgefühl über ihn. Die Blüten der Laube dufteten stark und süß, Nachtschmetterlinge flatterten und surrten zwischen den Blättern, und drinnen saß ein junges Menschenkind mit gefaltet um die Kniee geschlungenen Händen vor dem Schöpfer seines Lebens, wortlosen Dankes und tiefen Glückes voll. –

Hinter dem zugezogenen Fenster und niedergelassenen Vorhang war der Lichtschein längst erloschen, als Peter endlich aufstand und dem Hause zuschritt. Nachdem er leise den Schlüssel hinter sich umgedreht hatte, zog er die Stiefel aus und schlich auf Socken die Treppe zu seiner Dachkammer hinauf.

Am andern Morgen in der ersten Unterrichtsstunde wiederholte er mit den Kindern biblische Geschichten. Ein Junge erzählte, wie Jakob des Nachts von der Himmelsleiter träumte. Wie träumend schaute Peter zum Fenster hinaus. »Setz dich,« sagte er dann mechanisch, »Stina Blom, fahre fort!« Stina Blom war das feinste, zarteste Mädchen der Schule, und die erzählte nun in ihrer stillen, feinen Art: »Als er noch mit den Hirten redete, kam Rahel mit den Schafen ihres Vaters. Und er wälzte den Stein von dem Loch des Brunnens und tränkte ihre Schafe; und küssete Rahel und weinte laut. Und Jakob blieb bei Laban und dienete ihm. Und nach einem Mond sagte Laban: Du sollst mir nicht umsonst dienen. Sage an, was soll dein Lohn sein. Laban aber hatte zwo Töchter: die älteste hieß Lea, und die jüngste Rahel. Aber Lea hatte ein blödes Gesicht, Rahel war hübsch und schön. Und Jakob gewann die Rahel lieb, und sprach: Ich will dir sieben Jahr um Rahel, deine jüngste Tochter, dienen. Laban antwortete: Es ist besser, ich gebe sie dir, denn einem andern; bleibe bei mir. Also dienete Jakob um Rahel sieben Jahre, und däuchten ihn, als wären's einzelne Tage, so lieb hatte er sie.«

»Halt!« rief Peter, »bis dahin. Das hast du wunderschön erzählt, Stina, setz dich!« »Also dienete,« wiederholte er langsam, »Jakob um Rahel ... sieben Jahre, und däuchten ihn, als wären's einzelne Tage, ... so lieb hatte er sie ... Ja ja, das war gut, Stina. Also warum kamen die sieben Jahre Jakob so kurz vor, Stina?«

Stina stand wieder auf und sagte: »Weil er Rahel so schrecklich lieb hatte.«


Zwei Tage später zog Peter in die Sommerferien. Als er in die Küche kam, um seiner Marie für vier lange Wochen Lebewohl zu sagen, griff sie hinter sich in den Schrank und brachte ein sauber eingewickeltes Butterbrot zum Vorschein. »Steck's weg! Zum Andenken,« sagte sie, und Peter ließ es in seiner Tasche verschwinden. Tief gerührt von solcher zarten Aufmerksamkeit – bisher hatte noch niemand daran gedacht, ihm für die dreistündige Wanderung einen Imbiß mitzugeben – suchte er nach Worten des Dankes. Aber da kam Mutter Wencke in die Küche und machte diese unmöglich, und überhaupt der Abschiedsszene ein Ende.

Peter nahm seinen Stock und ging. An der Straßenbiegung, wo das Schulhaus seinen Blicken entschwinden mußte, sah er sich um. Ob sie ihm nachblickte? Er suchte mit den Augen Haus und Garten ab, fand ihr Köpfchen aber nirgends. Darüber fühlte er eine leichte Enttäuschung. Aber er tröstete sich schnell. Sie hatte ihm ja das Butterbrot gegeben ... und Sonntag abend noch viel was Schöneres. Und froh wanderte er seines Weges, in den goldigen Sommertag hinein, durch reifende Kornfelder im Tale und dann durch die weite, braune Heide. Bald singend, dann summend, dann pfeifend, und endlich wieder schweigend, zog er seine Straße.

Als er anderthalb Stunden gewandert war, lockte ein gluckerndes Bächlein ihn vom Wege. Er legte sich in die Blumen, die es umsäumten, und zog sein Brot aus der Tasche. Andächtig faltete er das Papier auf seinen Knieen auseinander. Da lagen zwei belegte Butterbröte vor ihm. Dünn das Brot, dick die Butter, und noch dicker die Mettwurst. Marie, Marie, was bist du gut! Lange erfreute er sich an dem Anblick. »Zum Andenken,« hatte sie gesagt. War's nicht schade, solche Andenken aufzuessen? Aber schließlich sagte er sich doch, dies würde die vernünftigste Verwendung sein, und auch ganz im Sinne der Spenderin, wenn er dabei nur mit Liebe an sie dachte. So begann er denn, in warmen Gedanken an sie, die Butterbröte zu verzehren. Solche hatte er all seine Lebtage noch nicht gegessen; Stiefmutter und Mutter Wencke hatten beim Butterbrotmachen einen andern Schnitt und Strich. Von Zeit zu Zeit führte er die hohle Hand zum Bach hinab und schöpfte sich einen kühlen Trunk. So hielt er sein Wanderfrühstück, umsummt von Hummeln und Bienen, die in den Blumen am Wasser und in der schon erblühten Moorheide Honig suchten. Als er die Andenken sich einverleibt hatte, nahm er das Einwickelpapier von der Erde auf. Das wollte er als wirkliches Andenken an diese schönste Wanderung seines Lebens und die besten Butterbröte, die er je gegessen, mit sich nehmen. Es waren zwei aus einem gefüllten Schreibheft gerissene Blätter. Das eine war von oben bis unten sorgfältig mit der Wahrheit bemalt: »Köln ist eine Stadt am Rhein,« das andere mit der ebenso zweifellosen Tatsache: »Der Löwe frißt gern Fleisch.« Dazu zeigten beide schöne, runde Butterflecken. Peter betrachtete die Blätter genau und andächtig, dann faltete er sie zusammen und schob sie in seine Rocktasche.

Als er weiter ging, überlegte er sich, wie er diese Wohltat wieder gut machen sollte. Er beschloß, demnächst den Markt in Steinbeck zu besuchen und Mutter Bollermann aus Lüneburg das größte Kuchenherz abzukaufen, das sie hatte, und seiner Marie dieses nach den Ferien mitzubringen.


Peter hatte sich vor den langen Sommerferien im Vaterhause gefürchtet. Jetzt fand er sie viel weniger schlimm, als sie ihm vorgeschwebt hatten. Die Lebensfreudigkeit, zu der sein gedrücktes Wesen in dieser glücklichen Zeit aufgeblüht war, war durch die elenden häuslichen Verhältnisse nicht tot zu kriegen. Und sein Humor auch nicht. Was? Peter Eggers und Humor? Wer hätte je gedacht, daß diese beiden sich finden würden? Der junge Schulmeister, der alle Dinge gleich ernsthaft nahm und von jeder Widerwärtigkeit tief verstimmt wurde, und der leise und heimlich lächelnde Lebensvergolder und Lebensüberwinder Humor? Aber es war so, Peter hatte auf einmal Humor. Wenn die Stiefgeschwister sich wie eine kleine Ferkelschar um das Eßtröglein drängten und eine Viertelstunde nichts waren als kauendes und schmatzendes Behagen, konnte Peter lächeln. Nicht so erhaben, wie früher, daß die Stiefmutter erbost auf ihn losfuhr und rief: »Du ole uppgepuste Scholmester du,« sondern so ganz fein, so ganz von innen heraus, daß ein anderer es nur eben sehen konnte und Trina ihn freundlich ansah und sagte: »Ja, Peter, 't is'ne gesunde Art, freten könnt se as de lütten Swin'.«

Peter merkte bald, daß man, wie in der Schule, so auch hier im Hause ihm anders begegnete, wie früher. Die Stiefgeschwister zeigten einigen Respekt, und auch Trina behandelte ihn nicht mehr einfach als dummen Jungen. Er merkte auch hier, daß die Schulmädchen recht hatten mit ihrem Flüstern: »He is'n Keerl worrn.« Da er sich in einem Holzverschlag am Ziegenstall eine eigene Schlafgelegenheit einrichten durfte, hatte der durch die Dachstube im Schulhause Verwöhnte auch in seinen äußern Lebensverhältnissen einigermaßen seine Gemütlichkeit.

Eines Sonntagnachmittags nahm Vater Eggers seinen Erstgeborenen heimlich bei Seite und sagte vertraulich: »Kumm, Jung, wöt mal'n bäten utgahn.« Peter wußte gleich, wohin die Reise gehen sollte, und machte Schwierigkeiten. Aber diese neue Anerkennung seiner Männlichkeit schmeichelte ihm, und er ließ sich bereden. Und in der Kneipe angekommen, trank er tapfer aus, was der Vater ihm einschenken ließ. Am andern Morgen erwachte er mit greulichem Kopfweh, und Trina fragte ihn freundlich: »Wullt du ok so'n Süper weern as din Vader?« Da gelobte er sich, auf solche Proben seiner Männlichkeit ein für alle mal zu verzichten.

Einmal besuchte Peter auch seinen Pastor, gegen den er ein Gefühl der Dankbarkeit behalten hatte, weil dieser ihm die Wege zu seinem Beruf geebnet hatte. Der alte Herr machte große Augen und sagte verwundert: »Sieh mal an, Peter, wie du dich herausgemacht hast. Es gefällt dir wohl gut in Mehlingen?« »Jawohl, Herr Pastor, es könnte mir in der ganzen Welt nirgends besser gefallen,« sagte Peter mit leuchtenden Augen. »Ja ja,« meinte der Pastor, »der alte Wencke hat als Schulmann einen sehr guten Ruf,« worauf Peter nichts sagte. Der Pastor fragte ihn dann noch dies und das, und hatte an seinem ungezwungenen Wesen und seinen frischen Antworten eine solche Freude, daß er ihn zum Kaffeetrinken einlud. Die Pastorin machte zwar erst ein etwas krauses Gesicht. Aber nachher meinte sie, und ihre sehr kritisch veranlagten ältlichen Töchter stimmten zu, man sollte gar nicht glauben, daß der alte Saufaus Eggers einen so manierlichen und netten Sohn haben könnte.

Er arbeitete viel in diesen Wochen; denn Michaelis sollte er ja nun auf das Seminar. Als die Ferien halb herum waren, wollte er die Weltgeschichte vornehmen. Da merkte er zu seinem Schrecken, daß er den Leitfaden in Mehlingen vergessen hatte. Aber der Schreck verwandelte sich schnell in Freude. Er mußte nun ja hin und das Buch holen. Die nächste Nacht schlief er unruhig, und in aller Herrgottsfrühe machte er sich auf den Weg.

Bislang hatte er für die Wanderung nach Mehlingen immer drei Stunden und länger gebraucht. Heute legte er den Weg in kaum zwei und einer halben zurück. Als er jene Höhe erreichte, von der das Dorf im Grunde sichtbar wird, wirbelte er den Stock um den Kopf und sprang in langen Sätzen ins Tal hinab.

Nun stand er mit klopfendem Herzen vor dem Schulhause und streckte die zitternde Hand aus, die Tür zu öffnen ... Was ist das? Sie ist verschlossen. Er geht um das Haus herum zur Gartentür. Auch verschlossen. Wie er ratlos steht und umhersteht, kommt eine Nachbarsfrau mit dem Schlüssel und erzählt ihm, die Schulmeistersleute wären heute morgen alle drei verreist, zum Besuch bei dem verheirateten Sohne. Da wäre was Lüttjes angekommen. Sie müßte das Haus bewachen und das Vieh versorgen. Peter machte ein sehr langes Gesicht, und als die Frau ihm aufgeschlossen hatte, stieg er sehr langsam die knarrende Treppe hinauf. Lange saß er an seinem Tisch und ärgerte sich, daß er nicht einen Tag früher auf den Gedanken gekommen wäre, Weltgeschichte zu arbeiten. Beinahe hätte er aber den Leitfaden, um dessentwillen er die weite Reise gemacht hatte, noch einmal vergessen, als er seine Dachstube verließ.

Von der schnellen Wanderung erhitzt und durstig geworden, ging er in die Küche, um sich ein Gefäß zum Wasserschöpfen zu holen. Da sah er eine Schürze an der Wand hängen, blau mit weißen Tupfen. Er erkannte sie sofort wieder. Die hatte sie getragen, als sie ihm die Butterbrote gab. Mit Rührung und Dankbarkeit betrachtete er das unschuldige Stück Zeug. Dann nahm er die Schöpfkelle, hob sich auf dem Hof einen Eimer voll Wasser aus dem Brunnen, und tat einen hastigen und langen Zug. Indem er trank, hatte er das Gefühl, als sei das Wasser für seinen erhitzten Zustand eigentlich zu kalt, aber er achtete nicht weiter darauf. Darnach ging er in den Garten, geraden Weges zum Bohnenfelde. Hier dachte er mit stiller Freude des sonnigen Maientages, da sie zusammen die Stangen eingesteckt hatten. Jetzt waren sie von den Bohnen grün umwunden und mit tausend roten Blüten bedeckt. Ach, was hatte seit jenen Stunden auch in ihm alles zu grünen und zu blühen angefangen! – Einige Saudisteln, die sich unpassender Weise auf diesem für ihn geheiligten Boden angesiedelt hatten, riß er aus und warf sie über den Zaun.

Endlich trat er den Rückweg an. Er ging sehr langsam. Fetzt wirkte ja keine heimliche Kraft mehr, die ihn zog. Bald fühlte er sich ermüdet, und der Weg wurde ihm sauer. Ein Schmerzgefühl stellte sich ein, und er kam auf den Gedanken, dieses möchte von dem hastigen kalten Trunk kommen. Aber er tröstete sich, es würde schon wieder vorübergehen.

Die nächsten Tage fühlte er sich nicht recht wohl. Er lag nicht zu Bett und war nicht eigentlich krank, aber es war doch nicht mit ihm, wie es sein sollte. Da kamen ihm allerhand trübe Gedanken. Ob sein Glück Bestand haben würde? Konnte nicht irgend etwas Ungeahntes kommen und es grausam zerstören? Sein Lebensglaube, der eben angefangen hatte, sich von dem jahrelangen Druck zu erholen, wollte in diesen Tagen körperlichen Übelbefindens wieder wankend werden.

Einmal wachte er in der Nacht plötzlich auf, stieß einen Schreckensschrei aus, sah starr um sich, fühlte sein Herz bis in die Halsschlagader hinein klopfen und hatte das deutliche Gefühl, daß etwas Schreckliches geschehen sein mußte. Es dauerte lange, bis er ganz zu sich kam und sich mit dem Gedanken trösten konnte, daß er in sechs Tagen wieder zu ihr kommen sollte, die ihm Wort und Kuß darauf gegeben hatte, daß sie immer und ewig treu zu ihm halten wollte. Trotzdem dauerte es lange, bis er wieder einschlief.

Die letzten Ferientage ging es ihm wieder besser, und er konnte den Steinbecker Sommermarkt besuchen. Er paßte einen Augenblick ab, wo nur Kinder den Stand der Lüneburger Kuchentante umringten, und brachte bescheiden sein Anliegen vor. Mutter Bollermann lächelte verständnisinnig, und brachte aus einer besonderen Kiste ein rot bemaltes, mit weißem Guß verziertes Riesen-Kuchenherz zum Vorschein. »So eins hat dem Redbauern sein Willem seiner Braut auch geschenkt,« sagte sie, »ist's Ihnen so recht, junger Herr?« Peter errötete tief und fragte leise nach dem Preise. Die sechs Silbergroschen, die verlangt wurden, konnte er gerade aufwenden. Denn er hatte einige Tage für den erkrankten Schäfer des Bauern, dem die väterliche Kate gehörte, die Schafe gehütet.

So nahten die Ferienwochen ihrem Ende. Es war doch nicht ganz so, daß die Jahre ihn gedäucht hätten, als wären es Tage. Nicht einmal von den Wochen konnte er das sagen. Ja, sogar die Tage und Stunden konnten ihm lang genug werden, so lieb er seine Rahel hatte.


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