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Drittes Kapitel.


Als Peter am Sonnabend nach Ostern, einen Tag früher, als er erwartet wurde, abends nach Wehlingen zurückkehrte, fand er das Schulhaus bereits verschlossen. Er machte sich bescheiden durch leises Bewegen des Drückers und durch Hüsteln bemerkbar, und wartete geduldig, bis der Alte heranschlarren und, über Störung der Nachtruhe brummend, öffnen würde. Der wohlbekannte Schlarrschritt ließ sich aber nicht hören, sondern der Riegel wurde plötzlich schnell zurückgeschoben, und es kam Peter vor, als ob drinnen schnelle Füße husch husch husch über die Diele davoneilten. Darüber wunderte er sich, und als er ins Haus trat, sah er sich auf dem Vorplatz nach allen Seiten um, entdeckte aber nichts besonderes. So stieg er leise seine knarrende Treppe hinauf, legte sich schlafen, und schlief, von der langen Wanderung und der Frühjahrsluft ermüdet, tief in den Sonntag hinein.

Endlich erwachte er mit einem starken Hungergefühl. Denn er war ja wieder einmal ohne ordentliches Abendbrot zu Bett gegangen. Er kleidete sich schnell an und ging hinunter, um zu sehen, ob die Schulmeisterin trotz des verschlafenen Morgenkaffees noch etwas für ihn hätte. Noch auf der Treppe, sah er durch die halb offene Küchentür mit Verwunderung, daß drinnen etwas Buntes, Schnelles hantierte. Ehe ihm klar wurde, was das war, ging die Tür ganz auf, und vor ihm stand ein – Mädchen. »Guten Morgen,« sagte sie munter, »den Kaffee habe ich dir warm gestellt und bringe ihn gleich, geh' man in die Stube!«

Peter tat, wie ihm geheißen. Das erste in der Wohnstube, worauf sein Blick fiel, war ein Glas gelber Osterblumen, das auf dem Tisch stand. Und auf dem Nähtischchen neben einer Handarbeit entdeckte er eins mit Weidenkätzchen. Der Frühling, an dessen ersten zarten Kindern er sich gestern auf der Wanderung erfreut hatte, war auf einmal, ganz gegen seine Gewohnheit, auch ins Schulmeisterhaus gekommen, und sogar in die dunkle Nordstube.

Die Tür ging auf. Da kam ein heller Sonnenstrahl hereingehuscht, dann erschien eine blanke Zinnkanne, in deren geputztem Metall sich auch ein wenig Frühlingssonne gefangen hatte, und die bewegte sich gerade auf Peter zu. Er rückte scheu mit dem Stuhle und sah von der Seite in ein Paar ganz nahe Augen, die waren ganz voll Frühling und Sonne. »Bist du bange vor mir?« fragten ein Paar lachende Lippen, die zu diesen Augen gehörten. »Nehee,« sagte Peter errötend und rückte mutig wieder auf seinen Platz. Das Mädchen stand jetzt ihm gegenüber, die Hand auf der Kaffeekanne, aus der sie ihm eben eingeschenkt hatte, und sah ihm unbefangen und ruhig beobachtend ins Gesicht. Peter beugte sich vor Verlegenheit zu seiner Tasse und tat schlürfend einen tiefen Zug.

»Du wunderst dich wohl, daß ich auf einmal hier bin,« sagte das Mädchen.

Peter wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, wagte es aufzublicken und sagte: »Ja, das ist mir sehr auffällig. Was willst du denn hier?«

»Mein Großvater schrieb mir, ich sollte kommen und Großmutter helfen; es würde ihr mit der Arbeit zu viel.«

»Ach soo. Denn bist du dem Schulmeister Albers in Audorf seine Tochter ...« sagte Peter. Er hatte sich jetzt von seinem Staunen erholt und fühlte sich der Situation gewachsen. »Wie heißt du denn?«

»Marie. Ich bin die ältste.«

»Wie alt bist du denn?«

»Siebzehn.«

»So alt schon? Du siehst viel jünger aus. Ich bin auch siebzehn.«

»Mehr noch nicht? Du siehst viel älter aus.«

»Soo? Meinst du? Das freut mich.«

Sie lachte plötzlich laut auf.

»Was lachst du?« fragte Peter errötend.

»Och Mensch, du bist so furchtbar komisch.«

»Was? Ich?«

»Ja, wenn du einen um was fragst, machst du gerade so'n Gesicht wie mein Großvater.«

»Soo?«

»Ja, so'n rechtes Schulmeistergesicht. Aber nun laß den Kaffee nicht ganz kalt werden, und vergiß das Essen nicht.«

Peter gehorchte. Er trank ein paar Schluck und aß einige Mundvoll dazu.

»Meine Großeltern sind zur Kirche. Großvater war böse, daß ich dich dazu nicht früh genug geweckt hatte,« sagte sie, indem sie sich an den Osterblumen zu schaffen machte.

»Och, das schadet nicht viel,« sagte Peter, »ich bin die Festtage über oft genug hingewesen. Sag' mal, bleibst du lange hier?«

»Dieses Jahr gewiß. Zu Hause bin ich über.«

»Wie viel seid ihr denn bei euch?«

»Sieben. Fünf Mädchen und zwei Jungens.«

»Sieben? Ja, das ist zu viel.«

»Zu viel

»Ja, zu viel. Als ich noch zu Hause war, waren wir fünf. Das war schon reichlich. Nun sind da auch schon wieder zwei zugekommen, und wir sind auch sieben. Das ist zu viel.«

»Bei uns war's nicht zu viel. Wie wir immer vergnügt gewesen sind, das kannst du dir gar nicht denken. Hier hatte ich die ersten Tage ordentlich Heimweh. Ist man gut, daß du gekommen bist. So ist's doch wenigstens noch einer mehr.«

Peter wurde ein wenig rot und sah zum Fenster hinaus. Dann trank er seine Tasse aus und stand auf, um nach oben zu gehen. Aber sie sagte: »Bleib' noch'n Augenblick sitzen. Ich will schnell hinauf und deine Stube zurecht machen.« Und schon war sie hinaus.

Er hörte das schnelle Knarr-knarr-knarr der Treppe, dann, wie sie oben das Fenster aufstieß und eilig hin und her ging, wie sie sein Bett klopfte. Dazu sang sie trällernd eine muntere Weise.

Was sollte bloß hieraus werden? Das ganze Haus war ja wie verwandelt. Als ob alles auf den Kopf gestellt wäre!

Bald war sie wieder unten. »So!« sagte sie lustig, »nun mach', daß du 'rauf kommst! Ich will jetzt hier zu Mittag decken, daß alles fertig ist, wenn die Großeltern aus der Kirche kommen.«

Peter stieg hinauf. Als er in seine Dachstube kam, sah er sich unwillkürlich nach den Spuren ihrer Tätigkeit um. Es kam ihm vor, als ob sein Bett weicher aufgelockert wäre als sonst. Ein Buch, das aufgeschlagen auf dem Tisch gelegen hatte – er hatte gestern abend noch eben die Nase hineingesteckt – war, schwapp, zugeklappt und in die Reihe der andern gestellt. Der Anzug, den er gestern beim Zubettgehen über den Stuhl geworfen hatte, hing fein säuberlich an seinem Haken. Was sollte das geben, was sollte das geben? –

Es wurde ihm auf seiner Dachstube bald langweilig. Ein Buch vor die Augen zu nehmen, fühlte er keine Lust. Draußen lachte die Aprilsonne. Da beschloß er, einmal durch den Garten zu spazieren.

Kaum war er bei dem dicken Apfelbaum, da hörte er schnelle Tritte hinter sich. Und richtig, da war sie, an die er grad' eben dachte. »Halt!« rief sie lustig, »bin mit allem fertig, die Kartoffeln stehen auf dem Feuer, darf ich ein büschen mit?«

»Och jaa,« sagte Peter, »wenn du Zeit hast ...«

»Sag mal,« fragte sie, indem sie nebeneinander den Steig hinuntergingen, »kommt dir das hier in Wehlingen nicht manchmal sehr langweilig vor?«

»Langweilig? Och nee.«

»Hast du denn Freunde?«

»Freunde? Weißt du, Marie, unter den Menschen sind wenige, die einen verstehn. Meine Freunde sind die Bücher.«

Sie lachte hell auf. »Was? Die alten toten Dinger sind deine Freunde? Hast du denn Lust, zu lesen?«

»Wer etwas werden will, der muß viel lesen und lernen,« sagte er ernsthaft.

»Was liest du denn?«

»Och, alles Mögliche. Geistliches und Weltliches, Poesie und ... das andere, was so gewöhnlich geschrieben ist und sich nicht reimt, ... Naturgeschichte und Weltgeschichte und ...«

»Mensch, verstehst du das denn alles?«

»Och ja, das geht. Man muß eben seinen Verstand gebrauchen und scharf denken.«

»Junge, Junge, denn mußt du ja schrecklich klug werden.«

Peter lächelte überlegen und machte dann ein Gesicht, als ob er eben daran wäre, die letzten Fragen alles Seins denkend zu bewältigen.

»Mensch, du siehst schon ordentlich gelehrt aus, mit deinen Falten vorm Kopf.«

Er sah zur Seite und blickte in ihr lachendes Gesicht. Die grauen Augen, die Grübchen in den Wangen, der rote Mund, die weißen Zähne, alles lachte. Da mußte er auch lachen.

»Eigentlich müßtest du erst'n Bart kriegen, und dann die Falten,« meinte sie.

»Etwas kommt hier auch schon,« sagte Peter stolz und zupfte an seiner Oberlippe.

»Wirklich?« fragte sie lachend und kam ganz nahe, um sich von dem Vorhandensein der paar winzigen blonden Härchen zu überzeugen. Er fühlte ihren Hauch auf seinem Gesicht, und es wurde ihm ganz wunderlich zumute.

»Wirklich, 'ne Idee is da schon, muß aber noch tüchtig wachsen.«

Sie waren an ein Stückchen frischgegrabenen Landes gekommen. »Das habe ich gestern gemacht,« sagte sie, mit dem Fuß eine auf den Weg gefallene Erdscholle zertretend: »Ach ja, is noch 'ne schöne Arbeit, den ganzen Garten umzugraben ... Ob mir wohl einer dabei hilft?«

Sie sah Peter schelmisch an.

»Meinst du mich?« fragte er.

»Wen denn sonst?«

»Ich habe diese Jahre viel hier im Garten gearbeitet,« erklärte Peter, »aber ich hatte mir eigentlich vorgenommen, mich diesen Frühling und Sommer ganz den Büchern zu widmen. Weil ich doch im Herbst auf's Seminar komme, weißt du.«

»Ach du, mit deinen alten Büchern immer! Du tust grad' so, als ob das ganze Leben so zwischen den Pappdeckeln säße.«

»Marie, darüber mußt du nicht reden. Das verstehst du nicht,« verwies er ernstlich. »Übrigens das mit dem Graben ... ich will nicht sagen ... so'ne Viertelstunde nach dem Mittagessen mal ... oder auch mal 'ne halbe ... das ginge am Ende doch ... Die alten Lateiner hatten ein Wort, das die Gelehrten folgendermaßen übersetzen: eine gesunde Seele in einem gesunden Körper. Für die Seele sind die Bücher, und für den Körper, ja, da ist so ein Stündchen Arbeit mal ganz gut ... Ja, ich will dir wohl mit helfen ...«

»Peter, du sollst mal sehn, das wird aber gemütlich. Zu zweien arbeitet sich's viel besser als allein. Großvater und Großmutter schlafen dann; da können wir uns immer schön was erzählen. Ich muß dir so viel erzählen, von meinen kleinen Brüdern zu Hause, und von meinen Schwestern, und was wir da abends immer spielen. Und du, na du kannst mir mal was aus deinen Büchern erzählen. Aber nicht so'n langweiligen Kram, wo'n bei gähnen muß. Daß ich doch etwas von deiner Gelehrsamkeit abkriege und nicht so dumm bleibe ... Hör! Was ist das?«

Aus dem Dorf tönte plötzlich etwas herüber, wovon man zunächst nicht wissen konnte, ob es ein Schmerzensgebrüll oder eine Art von Gesang sein sollte. Wenn man genauer hinhörte, war die Melodie des Chorals: »Wie schön leucht uns der Morgenstern« herauszuhören. Es klang trotz der Entfernung grauenerregend. Und das Mädchen starrte ihren Begleiter entsetzt an, als sie fragte: »Was ist das?«

Peter sagte gleichmütig: »Och, da wohnt so'n alter Kerl, der vor'n Stücker zwanzig Jahren verrückt geworden ist. So gröhlt er jeden Sonntag Vormittag.«

»Ist das nicht der Gesang: ›Wie schön leucht uns der Morgenstern, voll Gnad und Wahrheit von dem Herrn‹?«

»Ja, der soll's ja wohl sein. Mit dem, was daran fehlt.«

»Woher weiß denn der arme Mensch, daß Sonntag ist?«

»Och, das mag er wohl daran sehen, daß die andern Leute ihr gutes Zeug anziehen und nach der Kirche gehen.«

»... Wie schön, daß der arme Mensch doch auch seinen Sonntag hat! ... Hör, jetzt kann man's auch verstehen. Er hat nach dem ersten Vers gleich den letzten angefangen. Hör': Amen – Amen – komm du schöne – Freudenkrone – bleib nicht lange, – deiner wart ich mit Verlangen ... Nun ist er still ... Wenn Gott sie ihm doch bald schenkte!«

Peter warf schnell einen erstaunten Blick auf das Mädchen, das still nach der Richtung schaute, wo eben der Gesang verstummte. Dann senkte er ein wenig den Kopf und errötete. Er schämte sich.

Auf der Höhe, über die der Kirchweg führte, wurden die ersten zurückkehrenden Kirchbesucher sichtbar. Da gingen die beiden langsam und schweigend durch den Garten zum Hause zurück.

Vor der Haustür wurde Peter stürmisch von seinem alten Freunde Phylax begrüßt, der eben von einem Frühjahrsbummel durch das Dorf zurückkam. Er tätschelte ihm zweimal mit der Hand über den Kopf und kümmerte sich dann nicht weiter um ihn. Da leckte Phylax sich verlegen ums Maul, und in seinem ehrlichen Hundegesicht war ein ähnlicher Ausdruck, wie etwa in dem eines Menschen, der sich nach langer Trennung einem alten Freunde an die Brust geworfen hat und nun plötzlich merkt, daß bei jenem die Freundschaft merklich abgekühlt ist, vielleicht weil sich inzwischen für ihn etwas Besseres gefunden hat. Phylax sah das Mädchen mit einem Blick an, als ob er sie in Verdacht hätte, ihm die Freundschaft Peters gestohlen zu haben.

Als die Schulmeistersleute zurückkamen, setzte die jetzt vierköpfige Familie sich sofort an den Mittagstisch.

»Peter,« begann der Schulmeister, »durch deine Langschläferei hast du dich um eine ganz wunderschöne Predigt gebracht. Der Pastor hat wirklich gut über das heutige Evangelium gepredigt: Wie der Herr unter die Jünger tritt bei verschlossenen Türen und sagt: Friede sei mit euch. Dieser schöne Gruß klang da immer wieder durch, und ging einem recht zu Herzen. Ich habe mich sehr erbaut ... Aber Marie, was hast du bloß mit dem Essen angefangen? Der Suppe fehlt das Salz, und das Fleisch hast du nicht mürbe gekriegt. Hast du denn gar nicht an meine Zähne und meinen schwachen Magen gedacht?«

Die Getadelte wollte die Zähigkeit des Fleisches mit dem Alter der Kuh entschuldigen, wurde aber zur Ruhe verwiesen. Da konnte Peter sich nicht mehr halten. Ihm hatte es die beiden Jahre noch nie so gut geschmeckt wie eben jetzt, und er sagte, ohne aufzublicken: »Ich finde im Gegenteil, es schmeckt alles sehr gut,« und hieb tapfer mit den Zähnen auf eine Sehne ein. Die Schulmeisterin hatte ihre Gabel hingelegt und sah Peter starr vor der Seite an. Der Schulmeister aber sagte, nachdem er sich von seinem Staunen erholt hatte, hämisch lächelnd: »Soo? Du hast wohl mal wieder gehörig hungern müssen, bei deinem nassen Vater und der zärtlichen Stiefmutter?« Peter wurde glutrot und beugte sich tief über den Tisch. Er schämte sich vor der neuen Hausgenossin. Als man aufstand, ging er schnell aus der Stube, ohne jemand anzusehen.

Auf seiner Dachkammer angelangt, schlug er mit der Faust dröhnend auf den altersschwachen Tisch. Seine Scham war dem Zorne gewichen. Zum ersten Male, solange er in Mehlingen war, war er auf den Schulmeister wirklich zornig. Da läuft der Kerl, dachte er, in die Kirche und erbaut sich an dem Friedensgruß des Auferstandenen; und dann kommt er wieder und verdirbt seinen Mitmenschen den schönen Sonntag; dem armen Ding da unten durch ungerechtes Mäkeln am Essen, und ihm, Peter, durch den hämischen Spott über seine häuslichen Verhältnisse, an denen er doch unschuldig war und unter denen er ohnehin genug litt. Aber so war der Mann eigentlich ja schon immer gewesen. Peter wunderte sich, daß er jetzt erst anfing, ihn zu durchschauen.

An diesem Vormittag war's ihm gewesen, als sei ein neuer Geist in das Schulhaus eingezogen. Er mußte bitter lachen, wie er jetzt daran dachte. Nein, der alte mürrische, unzufriedene, kleinliche Geist hatte nach wie vor die Herrschaft. Aber etwas anders war's doch geworden ... Wart', morgen mittag, wenn die beiden alten Ekel auf dem Ohr liegen, dann grabe ich im Garten ... Nicht allein, wie diese beiden langweiligen Jahre, sondern in Gesellschaft. Sie freut sich mächtig darauf. Wie lachten ihre Augen, als ich ihr versprach, daß ich ihr helfen wollte! Och ja, es kann ganz interessant werden. Solche Mädchen haben was Komisches an sich ... Ich soll ihr aus den Büchern erzählen ... Was nehme ich da wohl? Ich muß etwas Leichtes aussuchen. Das Schwere versteht so'n Mädchen ja doch nicht ... Daß ein Gelehrter gesagt hat, die Menschen stammten von den Affen ab, und daß es auch Menschen gibt, von denen man das beinahe glauben könnte ... daß der alte Kaiser Barbarossa unten im Kyffhäuser sitzt, und der lange weiße Bart ist ihm durch den steinernen Tisch gewachsen, und daß Deutschland vielleicht noch mal einen Kaiser wieder kriegte; einige meinten, der König von Preußen müßte es werden; aber er, Peter, hätte mal gelesen, die Preußen wären gar keine echten Deutschen, sondern halbe Russen, und er hätte mal einen Preußen gesehen und von diesem einen sehr schlechten Eindruck gewonnen ... Daß die Franzosen einmal eine große Revolution gemacht und dabei ihren König geköpft und den lieben Gott abgesetzt hätten. So wäre es aber doch nicht gegangen, und da hätten sie ihn wieder eingesetzt, das heißt nicht den richtigen, sondern nur ein »höchstes Wesen« ... Daß die Menschen einen Stoff entdeckt hätten, den sie Elektrizität nennten, und manche meinten, damit würde man noch mal Wagen ziehen können. Aber das glaubte er nicht, denn es sei schon wunderbar genug, daß der Dampf das könnte ... Daß Schiller und Goethe die größten deutschen Dichter wären, aber sie wären beide tot, und nun gäbe es gar keine Dichter mehr, die wirklich ordentlich reimen könnten ... und noch vieles mehr. Aber dies war für morgen wohl erst einmal genug.

Peter war seines geistigen Besitzes noch niemals so von Herzen froh gewesen als diesen Sonntagnachmittag, da er die Aussicht hatte, ihn am nächsten Tage auf so angenehme Weise zu verwerten.

Und dann wollte sie ihm ja auch erzählen. Ach ja, von ihren Brüdern und Schwestern! Davon versprach er sich nicht viel. Aber was sollte man sonst groß von ihr verlangen? Sie war ja nur ein Mädchen. Die lasen und lernten ja gar nichts mehr, wenn sie aus der Schule waren. Aber sie war doch wohl etwas anders als die meisten ... Sie hatte ja selbst gesagt, daß sie nicht so dumm bleiben wollte. Na, was er, Peter, dazu tun konnte, das wollte er gewiß tun.


Am nächsten Morgen trug Peter einige der für den Nachmittag vorgesehenen Unterrichtsgegenstände in der Schule vor. Er hatte sich zwar die Form, in der er's ihr bringen wollte, gestern nachmittag schon einigermaßen überlegt. Aber es konnte nicht schaden, wenn er auch den Vortrag einmal praktisch durchübte.

Beim Mittagessen sagte der Schulmeister: »Kinder, es hilft nun nichts, ihr müßt gleich beide tüchtig ans Graben. Daß wir die Frühjahrssaat in die Erde kriegen!«

Peter verbarg die Freude seines Herzens unter einer gleichgültigen Maske. Aber eine Sekunde lang zuckte es doch über sein Gesicht. Marie hatte ihn heimlich auf den Fuß getreten.

»Denn kommt,« sagte der Schulmeister, »daß ich euch anweise.«

Sie holten schnell ihre Spaten aus der Scheune und folgten dem Alten. Der führte sie an die Ostgrenze des Gartens und sagte: »So, Peter, hier gräbst du. Und du, Marie, fährst dort im Westen fort, wo du angefangen hast. Jeder für sich! Daß ihr mir nicht die kostbare Zeit mit Schnacken vertrödelt!«

»Och Großvater, dürfen wir nicht zusammen arbeiten? Wir wollen auch tüchtig fleißig sein,« sagte Marie.

»Nein, Kind,« sagte der Alte bestimmt, »das hält euch nur auf. Und das schickt sich auch nicht für so'n großen Jungen und so'n großes Mädchen.«

»Das schickt sich nicht?« fragte Peter, und sah den Schulmeister fast herausfordernd an.

»Nein. Ihr seid beide keine Kinder mehr. Steh nicht, Marie, und gaff! Mach, daß du an deine Arbeit kommst!«

Sie nahm ihre Schaufel und entfernte sich, zögernd und widerwillig. Der Schulmeister ging langsam durch den Garten ins Haus zurück.

Peter hatte die Zähne aufeinander gebissen und sah ihm voll Wut nach. Nicht mal eine kleine Unterhaltung gönnte ihm der bei der Arbeit? War er, Peter, denn sein Sklave? Man sollte dem ekligen Kerl die Schaufel vor die Füße werfen und keinen Stich mehr für ihn tun.

Er sah nach dem entgegengesetzten Ende des Gartens hinüber. Marie hatte auch noch nicht angefangen, zu graben. Sie blickte nach ihm herüber. Den Ausdruck ihres Gesichts konnte er bei der Entfernung nicht erkennen. Aber er sah, daß sie ärgerlich mit dem Fuß aufstampfte.

Ach was! dachte Peter, der Alte schläft. Geh einfach hin und grabe mit ihr! Aber ... »das schickt sich nicht.«

Was schickt sich nicht?

Daß er sie, die Belehrung verlangte, belehrte? Daß er ihren engen Gesichtskreis erweiterte? Warum sollte sich das nicht schicken?

Er nahm seine Schaufel und tat ein paar Schritte. Aber es stand eine unsichtbare Mauer zwischen ihm und ihr: »Es schickt sich nicht.«

Dem Befehl des Schulmeisters hätte er heute mit gutem Gewissen getrotzt. Aber über dieses dumme Wort kam er nicht hinweg.

Und dem Mädchen drüben ging es ebenso. Auch sie dachte daran, dem Großvater zu trotzen und zu Peter hinüber zu gehen. Aber ... »es schickt sich nicht.« Warum nicht? »Ihr seid keine Kinder mehr.« Nachdenklich sah sie vor sich hin, eine feine Röte legte sich auf ihr Gesicht; dann nahm sie die Schaufel und fing langsam an, das Erdreich herumzuwerfen.

Peter stieß plötzlich seine Schaufel in die Erde und ging mit kurzen, trotzigen Schritten ins Haus. Als er die knarrende Treppe hinanstieg, gab er sich keine Mühe, leise zu gehen. Der Alte sollte es hören und sich darüber ärgern, daß er nicht für ihn graben wollte.

Voll Grimm riß er ein Buch aus der Reihe und fing an zu lesen. Aber bald irrten seine Blicke über die Zeilen hinweg. Er war mit seinen Gedanken im Garten. Da fiel ihm plötzlich ein, wenn er sich tüchtig ans Graben machte, müßten sie ja doch bald zusammentreffen. Und nach einer Weile stieg er trotzig die Treppe wieder hinab und kehrte in den Garten zurück. Und fing an zu graben, wobei er sich immer wieder beteuerte, der alte Schulmeister wäre es nicht wert, daß man auch nur einen Finger für ihn rührte.

Als er sich endlich zwang, nicht mehr an ihn zu denken, fingen all die schönen Sachen, die er bei ihr hatte anbringen wollen, an, ihn sehr zu drücken. Aber je mehr er in Schweiß geriet, desto leichter und klarer wurde ihm der Kopf. Er grub nicht nur das halbe Stündchen, das er gestern allenfalls den Büchern entziehen zu dürfen gemeint hatte, sondern den ganzen Nachmittag. Wenn er einmal inne hielt, schielte er unter dem Baumgezweige und über dem Beerengesträuch weg nach der Westseite des Gartens. Und es traf sich fast immer, daß Maries Arbeitspausen mit den seinigen zusammenfielen. Dann schaute sie zu ihm herüber. So waren sie, obgleich der ganze Garten und das »Es schickt sich nicht« des Schulmeisters zwischen ihnen lag, doch Arbeitsgenossen, wenn sie sich auch nichts aus den Büchern und aus dem Leben erzählen konnten. Dem brummigen Alter gegenüber, das im Hause bei geschlossenen Fensterläden durch ein Mittagsschläfchen im Bett verbunden war, fühlte die Jugend im Garten, über dem der wunderliche April bald lachte, bald weinte, sich durch die gleiche Arbeit verbunden.

So wiederholte es sich in den nächsten Tagen. Peter wurde seinen Büchern fast untreu. Auch wenn er auf seiner Stube saß, widmete er sich ihnen nicht mit dem gleichen Eifer wie sonst. Sie schienen ihm so viele völlig gleichgültige Dinge zu enthalten. Er nahm sich aber fest vor, nach der Frühjahrsbestellung wollte er alles, was er jetzt versäumte, nachholen.

Der April vergaß in diesem Jahre früher als gewöhnlich seine wunderlichen Launen und brachte die schönsten Sonnentage. Die kleinen Vögel kamen zurück, jagten sich durch Busch und Baum in frohem Liebesspiel, suchten Halme und Federn zum Nestbau und sangen den beiden fleißigen jungen Menschenkindern zu ihrer Arbeit. Wenn die herzfrohe Grasmücke im Fliederbusch es so recht jubelnd machte, standen diese, von der Arbeit ausruhend, sahen nach dem Vöglein und sahen dann einander froh an. Denn so nahe hatten sie sich schon zusammengearbeitet, daß sie das konnten.

Zuweilen, auf dem Wege von und zu der Arbeit, und auch wohl einmal zwischendurch, sprachen sie auch miteinander. Aber die Harmlosigkeit jenes ersten Sonntagmorgens war nicht mehr. Das Gespräch wollte gar nicht so recht in Gang kommen. Peter, der sonst immer so weise und weitläufig hatte reden können und vorher immer ganz genau wußte, was er sagen wollte, war in den paar kurzen günstigen Augenblicken jedesmal wie auf den Mund geschlagen. Aber er tröstete sich. Er meinte, das würde sich schon wieder machen, wenn sie nur erst zusammen auf einem Stücke arbeiteten. Die Stunde kam ja mit jedem Spatenstich näher.

Am Abend vor diesem langersehnten Tage saß Peter auf seiner Dachstube und überlegte sich noch einmal, was er ihr denn morgen eigentlich erzählen wollte. Da hielt er es für gut, zwischen den Dingen, die er vor zehn Tagen sich vorgenommen hatte, zu sichten. Die Affengeschichte und die Politik schied er aus. Dafür schob er ein Gedicht von Schiller ein, das er auswendig gelernt hatte, weil es ihm so sehr gefiel:

In einem Tal bei armen Hirten
Erschien mit jedem jungen Jahr,
Sobald die ersten Lerchen schwirrten,
Ein Mädchen schön und wunderbar.

Die ersehnte, mit vielen tausend Spatenstichen und manchem Schweißtropfen verdiente Stunde war gekommen! Aber o weh! Die Ärmsten! Schulmeister Wencke fühlte sich diesen Tag so frisch und fand die Frühlingsluft so köstlich, daß er auf das gewohnte Mittagsschläfchen verzichtete und nahe der Arbeitsstätte von Peter und Marie Bohnen legte. So gruben denn die beiden ihre letzten Reihen stumm und verdrossen und waren so ärgerlich, daß sie auch einander nicht einmal einen freundlichen Blick gönnten.

Was hatte Peter sich nicht alles von dieser gemeinsamen Arbeit versprochen! Und wie war das alles zu Wasser geworden! Aber schön war's doch gewesen. Jetzt, wo die Arbeit vollendet war, fehlte ihm etwas. Er suchte Ersatz in seinen Büchern. Aber die wollten ihn gar nicht recht fesseln. Immer wieder irrte sein Blick durch das kleine Fenster der Dachkammer in das Grün des Apfelbaumzweiges, und darüber hinaus ins Blaue.


Die Bohnen, die Schulmeister Wenckes zitterige Hand unter Peters stillen Verwünschungen in die Erde gesteckt hatte, hielten es dort unten im Dunkeln nicht lange aus. Es dauerte nur wenige Tage, so schickten sie grüne Blättchen ans Licht empor. Und bald angelten grüne Ränkchen nach einem Halt, um noch höher aufzusteigen ins goldene Licht.

»Marie,« sagte da eines Mittags der Schulmeister, »die Bohnenstangen müssen eingesteckt werden. Peter kann dir dabei helfen. Ich will mich lieber hinlegen, habe so Rheumatismus in der rechten Schulter. Wißt ihr, wie das gemacht wird?«

»Ja,« sagten Peter und Marie wie aus einem Munde.

Peter wollte just vor Freude Marie auf den Fuß treten. Da fiel's ihm plötzlich ein: »Das schickt sich nicht für so'n großen Jungen und ihr seid keine Kinder mehr.« Und er zog den schon ausgestreckten Fuß zurück.

Marie mußte nach dem Essen zunächst das Geschirr aufwaschen. Denn auch Mutter Wencke fühlte sich nicht ganz wohl. Peter aber sprang auf den Hausboden, wo nicht weit von seiner Dachkammer die Bohnenstangen überwintert hatten, stieß die von staubigem Spinnegewebe umsponnene Luke auf, und warf die Schächte hinaus. Dann sprang er, immer zwei Absätze überschlagend, die Treppe hinunter und schleppte sie, jedesmal ein gutes halbes Dutzend auf die Schulter legend, zum Bohnenfelde. Als er sie alle an Ort und Stelle hatte, setzte er sich erhitzt auf den Stangenhaufen, trocknete den Schweiß und sah erwartungsvoll nach dem Hause ...

Horch, da quiekt die alte Gartentür. Und da leuchtet ihr Schleierhut zwischen dem lichten Maiengrün. Aber! Was ist das? Da soll doch der ...! Zehn Schritte hinter ihr der alte Kerl. Ist der mit seinem Rheumatismus nicht längst im Bette?! Peter biß ingrimmig die Zähne aufeinander und wünschte dem Schulmeister den Rheumatismus in beide Beine.

»Ich bin doch bange, daß ihr mir die Sache nicht recht macht,« sagte der Schulmeister, als er bei den Bohnen angekommen war. »Die Wurzeln müssen geschont werden, und die Stangen müssen fest in die Erde, daß der Wind mir nachher den ganzen Kram nicht umreißt, und auskommen müssen wir auch mit dem Haufen auf den beiden Feldern; denn neue sind so schnell nicht zu kriegen.« Dann nahm er eine Stange, um sie in die Erde zu stoßen. »Au!« schrie er plötzlich mit schmerzlich verzogenem Gesicht, ließ die Stange los und griff sich nach der rechten Schulter. »Nein, Kinder, es ist doch zu doll. Ihr müßt's allein tun. Macht's so, wie ich gesagt habe, schont mir die Wurzeln, nicht zu dicht an die Pflanzen mit den Stangen, aber tief in die Erde und gut durch Querstangen verbunden, und seht, daß ihr auskommt!« Damit ging er, die wehe Schulter schmerzlich haltend. Peter sah ihm nicht ohne Schadenfreude nach, und als er in Mariens Schleierhut blickte, entdeckte er da auch nicht gerade Mitgefühl. »Wollen hoffen, daß er sehr schön schläft,« sagte er lachend, »das ist für so alte Leute das beste.« Da nickte sie und lachte auch.

Und nun machten sie sich an die Arbeit. Peter riß den Haufen der Stangen auseinander, und mit Sorgfalt suchten sie jedesmal zwei Stangen aus, die nach Länge und Stärke zu einander paßten. Dann nahm er die eine und sie die andere, und sie stellten sich, das Bohnenbeet zwischen sich, einander gegenüber, und jedes stieß seine Stange mit der jungen Kraft seiner siebenzehn Jahre in den lockern Erdboden, erst mit der Muskelkraft der Arme, dann das ganze Körpergewicht einen Augenblick mit einem Ruck daran hängend. Bald fanden sie heraus, daß sich auf Kommando besser arbeiten ließ, und sie kamen überein, bei jeder Stange abwechselnd das Rucken und Nachstoßen zu kommandieren. »Eins, zwei, drei, Ruck, eins, zwei, drei, Ruck!« kommandierte Peter mit seiner rauhen, unreinen Stimme, die im Wechseln begriffen war. Und eins, zwei, drei, eins, zwei, drei! kommandierte mit heller, reiner Stimme Marie. Zwischendurch rüttelte Peter einmal prüfend an seiner Stange und an Marie ihrer: sie saßen beide gleich fest in der Erde.

An seine Wissenschaft, die er so lange für Marie mit sich herumgetragen hatte, dachte Peter mit keinem Gedanken. Er hatte völlig genug an den Bohnenstangen, an dem Schleierhut mit dem rosig überschatteten, lieblichen Gesicht darin, an der jungen Gestalt, die sich kraftvoll und zierlich zugleich vor seinen verwunderten Augen bewegte. Wenn er in dieser Stunde einen Wunsch hätte äußern dürfen, wie der Mann im Märchen, so wäre es sicher der gewesen, bis an sein Ende bei der warmen Maiensonne im grünen Garten unter Grasmückengesang mit Marie Bohnenstangen einstecken zu dürfen.

Aber solcher Wunsch wurde ihm von keiner gütigen Fee gewährt, und bald staken die Schächte alle in der Erde. Es blieb nur noch übrig, die Verbindungsstangen über die Kreuzungsstellen zu legen und festzubinden. In stillschweigender Übereinkunft machten sie das so, daß jeder eine um die andere Kreuzungsstelle verband, so daß sie, immer wieder vor einander vorübergehend, die ganze Stangenreihe entlang beieinander blieben. Peter band richtige Knoten, Marie Schleifen, aber fest saßen die Schleifen wie die Knoten.

Nun stand das Stangengerüst, aufrecht, gleichmäßig und fest. Noch einmal prüften sie das Ganze mit derbem Ruck. Das Gebäude gab nicht nach. »Das haben wir gut gemacht,« sagte er stolz und froh, »ja, ja, wir beide zusammen, das gibt was.«

Ein Fink kam angeflogen, setzte sich auf die höchste der Stangen und schmetterte seinen Vers herunter.

»Kuck da, Marie,« sagte Peter, »der freut sich auch über unser Werk.«

Marie sagte verwundert: »Mensch, heute sollte man gar nicht denken, daß du ein Schulmeister bist.«

»Ein Schulmeister?« fragte Peter lustig, »das bin ich heute auch nicht. Heute Nachmittag bin ich mal ein Mensch. Meinst du denn, daß unsereiner immer ein weises, feierliches Gesicht machen muß?«

»Och nee,« lachte sie, »das habe ich noch niemals gemeint. Aber nun sind wir fertig. Nun kannst du wieder an deine Bücher gehen.«

»An meine Bücher? Och Menschenkind, schnack doch nicht so'n dummes Zeug! Die Bücher? Die sind ganz gut für den Winter. Aber an solchem Maitag wie heute? Am liebsten möchte ich in einem fort jubeln und singen.«

»Denn sing doch!« sagte sie. »Ich hab' dich noch niemals singen hören.«

»Och nein, zum Singen ist's doch viel zu schön ... Fliegen möchte ich, so hoch wie die Schwalben, und noch viel höher; so hoch wie die Sonne da steht, und noch tausendmal so hoch.«

»Menschenkind! Was hast du bloß? Du bist ja ganz aus dem Häuschen.«

»Oh, Marie ... es ist heute so wunderschönes Wetter. Das dringt einem ins Herz und ins Geblüt. Wer heute nicht anders ist als sonst, weißt du, was der verdient?«

»Na?«

»Ordentlich welche hinten vor!« sagte Peter übermütig, hielt die rechte Hand schlagbereit, und sah sich um, als ob er jemand suchte, an dem er diese Strafe vollziehen könnte.

Marie lachte hell auf. »Nun bist du ja auf einmal doch wieder Schulmeister,« sagte sie und sah ihm lustig in die Augen.

»Kuck mal den kleinen Vogel da zwischen den Kartoffeln,« sagte Peter eifrig, indem er mit dem Finger hinzeigte.

»Das ist ja ein Wippsteert,« sagte sie froh. »Ei kuck doch mal, wie zierlich er da hüpft und wippt ... Die kleinen Vögel kommen mir immer vor wie lebendige Blumen ...«

»Ei ja,« sagte Peter verwundert, »das hast du dir fein ausgedacht ...«

»Wie hat der liebe Gott das doch alles so schön gemacht in der Welt!«

»Ja,« sagte Peter nachdenklich und froh.

Das Vöglein erhob sich plötzlich und flog mit lautem Angstgeschrei dem Hause zu. Die beiden sahen ihm nach. Da kam von dort eine Krähe geflogen, die lautlos über die Baumkronen dahinstrich und von zwei kleinen Vögeln unter schrillen Klagetönen verfolgt wurde.

»Die armen Wippsteerte!« sagte Marie traurig, »da hat ihnen die scheußliche Krähe ein Kind geraubt.«

»Und eben saß das kleine Tier hier so seelenvergnügt vor uns und wippte mit dem Schwanz,« sagte Peter ernst. »Ja, so geht es oft ... im Leben .. auch im Menschenleben ..«

Sie schwiegen beide. Marie bückte sich und legte eine in der Luft schwankende Bohnenranke an die nächste Stange. Peter folgte ihrem Beispiel, und so boten sie allen Pflanzen, die sich schon nach einem Halt sehnten, hülfreiche Hand. Zu einem zarten Ränkchen, das sich widerspenstig zeigte, sagte Peter, und die alte Fröhlichkeit war wieder in seiner Stimme: »So halte dich doch, du eigensinniges Ding! Und wachse tüchtig drauf los! Im August wollen wir Bohnen essen. Magst du gern Bohnen, Marie?«

»Und wie! Und wenn wir sie vor uns auf dem Tische haben, dann denken wir immer an diesen schönen Nachmittag. Nicht?«

»Ja, das ist gewiß,« sagte Peter mit frohen Augen.

Wieder ertönte das Jammergeschrei des Bachstelzenpärchens. Die Krähe holte sich eben das zweite Junge für ihre Brut.

Peter hatte einen Stein aufgegriffen und warf grimmig hinter dem Räuber her.

»Dabei kann man ja gar nicht wieder fröhlich werden, wenn man das immer sehen und hören muß,« sagte Marie noch trauriger als vorhin.

»Ach, Tiere trösten sich bald,« sagte Peter.

»Da hast du wohl recht ... aber wenn ich daran denke, wie damals mein kleiner Bruder starb ...«

»Und wie damals meine Mutter starb ...« fügte Peter noch leiser hinzu. Nach einer Weile sagte er: »Du, das Sterben müßte überhaupt nicht sein. Oder die Menschen müßten doch erst sterben, wenn sie alt und lebenssatt sind. Meinst du nicht auch?«

»... Ich weiß nicht ... Als mein kleiner Bruder starb, da fingen wir andern Geschwister an, uns viel mehr lieb zu haben als früher. Und ich glaube beinahe, unsere Eltern hatten uns von da an auch viel lieber. Und ob das gerade immer das beste ist, wenn man so sehr alt wird, weiß ich auch nicht.«

Sie bückten sich schweigend zu den Bohnenranken. Nach einer Weile fragte Marie: »Du, sag mal, magst du eigentlich meine Großeltern gern leiden?«

»Gern leiden?« wiederholte Peter. »Weißt du, Marie, die sind beide alt, und ich bin jung. Und du bist auch jung.«

»Jaa ... davon mag das wohl kommen.«

»Was?«

»Och ... ich meinte man ...«

»Ja, Marie, davon kommt das. Wenn wir alt sind, sind wir auch anders. Aber jetzt sind wir jung. O Marie, was ist das schön, daß wir jung sind! Zwei Alte und ein Junger im Hause, das war manchmal nicht schön. Aber nun, zwei Alte und zwei Junge, das geht wunderschön. Meinst du nicht auch, Marie?«

»Och ja, Peter ... ich war das ja auch von Hause so gewohnt, wo wir die vielen Geschwister waren.«

Die Gartentür ging. »Großvater,« sagte Marie erschrocken. »Sei man nicht bange,« sagte Peter zuversichtlich, »du kannst sicher sein, daß er diesmal zufrieden ist. Was mit so viel Lust und Liebe gemacht ist ...«

Der Schulmeister kam, prüfte das Werk der beiden, erst mit den Augen auf das Aussehen, dann mit der Hand auf seine Festigkeit, und sagte dann: »Das habt ihr sehr gut gemacht, Kinder. Ich muß euch loben. Kommt, nun sollt ihr auch Kaffee haben!«

Er wandte sich, und die beiden warfen sich einen frohen Blick zu und gingen als gute Gesellen nebeneinander hinter dem Alten her.

Zum dritten Male erklang das Wehgeschrei der Vogeleltern und Peter und Marie sahen sich erschrocken an. Der Schulmeister aber hob den Kopf und fragte: »Was sind das for welche?«

»Wippsteerte,« sagte Peter hinter ihm.

»Schade,« sagte der Schulmeister, »der Wippsteert gehört auch zu den nützlichen Vogelarten.« –

»Was ist das für ein herrlicher Tag heute!« sagte sich reckend Schulmeister Wencke, als sie am Kaffeetisch saßen, auf den die Sonne bunte Kringel malte. »Man sieht's euch ordentlich an, Kinder, wie die Arbeit euch gut getan hat. Jaja, die Arbeit. Und wenn man jung ist. Wenn unsereiner nur nicht das vermuckte Reißen in den Knochen hätte. Aber etwas besser ist's auch schon, als heute mittag.«

»Drinkt man düchdig Kaffee,« mahnte Mutter Wencke, die das Mittagsschläfchen gestärkt und der sonnige Maientag und die gute Laune ihres Gebieters aufgeheitert hatten. »Wenn de Putt leddig leer. is, geet gieße. ick frischen up.« Sie sprach immer plattdeutsch.

Peter dachte, solch ein Maientag könnte doch beinahe alte, grämliche Schulmeistersleute wieder jung und lustig machen. Heute ging im Schulhause wirklich ein anderer Geist um.

Als sie vom Tisch aufstanden, taumelte er glücklich seine knarrende Bodentreppe hinan. Was sollte er nun bloß diesen Nachmittag anfangen?

Da standen seine Bücher und sagten: »Wir sind auch noch da.«

Er stellte sich ans Fenster – zum Sitzen hatte er noch keine Ruhe – und nahm ein Buch vor die Augen. Aber die Sonne lachte auf die Blätter, und die Buchstaben tanzten. Sie wollten sich nicht zu Wörtern zusammenfinden, und zu vernünftigen Sätzen erst recht nicht.

Er legte das Buch hinter sich und nahm ein anderes. Es war dieselbe Geschichte. Der Geist, der in diesen beiden Büchern wohnte, war nicht stark genug, seinen vor Freude außer Rand und Band geratenen Geist zu fesseln.

Da nahm er ein drittes Buch. Es war eigentlich nur ein schmales Heftchen, das er sich von einem Kollegen im Kirchdorf geliehen hatte. Darauf war zu lesen: Goethe, Ausgewählte Gedichte.

Peter hatte mehrfach darin geblättert. Er schätzte Goethe im allgemeinen nicht. In dem Heft standen manche Dinger, die Gedichte sein sollten, aber sich durchaus nicht reimten. Ja, in einigen waren nicht einmal die Verse gleich lang. Um so ungereimtes, unegales Zeug zu schreiben, dachte Peter, brauchte einer doch kein großer Dichter zu sein. Aber anderes reimte sich gut, und er fand es auch sonst ganz nett.

Als er das Büchlein durchblätterte, fiel ihm ein Gedicht in die Augen, das war überschrieben: Mailied. Die Maisonne lag auf dem Garten und blinkte in den Blättern des Apfelbaumes vor seinem Fenster. Das kann passen, dachte Peter, das Lied wollte er lesen. Und die Buchstaben hörten auf zu tanzen und standen ganz klar vor ihm.

Wie herrlich leuchtet
Mir die Natur!
Wie glänzt die Sonne!
Wie lacht die Flur!

Es dringen Blüten
Aus jedem Zweig
Und tausend Stimmen
Aus dem Gesträuch.

Der Kuckuck! dachte Peter. Das ist ja garnicht zusammen gedichtet! Das ist ja wirklich so. Er überzeugte sich noch einmal davon, indem er in den blühenden Garten hinabblickte und den Vogelstimmen lauschte, die so süß heraustönten.

Und Freud' und Wonne
Aus jeder Brust,
O Erd', o Sonne!
O Glück, o Lust!

Er griff sich an seine glückdurchbebte Brust und las die herrlichen Worte noch einmal, sie leise vor sich hinsprechend und jedes einzeln durchkostend.

O Lieb', o Liebe!
So golden schön,
Wie Morgenwolken
Auf jenen Höh'n!

Du segnest herrlich
Das frische Feld,
Im Blütendampfe
Die volle Welt.

Er atmete tief auf und schlug das Blatt um:

O Mädchen, Mädchen ...

Er erschrak und las hastig weiter, mit angehaltenem Atem:

Wie lieb ich dich!
Wie blinkt dein Auge!
Wie liebst du mich!

So liebt die Lerche
Gesang und Luft,
Und Morgenblumen
Den Himmelsduft,

Wie ich dich liebe
Mit warmem Blut,
Die du mir Jugend
Und Freud und Mut

Zu neuen Liedern
Und Tänzen gibst,
Sei ewig glücklich,
Wie du mich liebst!

Er warf das Buch hin, streckte die Arme von sich, sah mit weitoffenen Augen in die Sonne und fühlte das warme Blut und neue Jugend und Kraft und Mut durch seine Adern rinnen. Ja, ja, das war's: O Mädchen, Mädchen, wie lieb ich dich! ...

Der gute Peter! Seine jungen siebenzehn Jahre hat er unter dem Druck und in der Kälte gestanden. Elternliebe, Geschwisterliebe, Freundschaft – bis auf die mit dem Hund – sind ihm fremd geblieben. Einsam und verprügelt daheim, einsam und gedrückt hier im Schulhause. Nun ist's auf einmal über ihn gekommen. Nun ist seine junge Seele plötzlich erglüht und weiß sich nicht zu helfen und zu fassen vor übergroßem Glück.

Plötzlich, mitten in seiner jubelnden Freude, mußte er an die armen Wippsteerte denken. Da kam eine tiefe Traurigkeit über ihn. Er redete sich ein, Wippsteerte gäbe es ja so viele, und auf ein Nest voll käme es doch nicht an. Aber die Traurigkeit wollte nicht weichen. Und er merkte, daß er gar nicht über die Wippsteerte traurig war. Aber worüber denn? Das wußte er selbst nicht. Er blätterte gedankenlos in seinem Goethe. Da fiel sein Blick auf die Verse:

Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte!

Bis hierher war er gekommen, da rief's unter dem Fenster: »Peter!« Da ist alle Traurigkeit mit einem Schlage verschwunden. Es ist ihre liebe, helle Stimme. O Mädchen, Mädchen, wie lieb' ich dich! –

Mit zitternden Knien stieg Peter seine Treppe hinunter. Als er in die Wohnstube trat, wehte es ihm wie Eisesluft entgegen. Bei den Alten war der Maientag schon wieder dahin. Grämlich hockten sie auf ihren Stühlen ...

Aber da kommt ja der Frühling. Wie ihre Augen leuchten! Wie sie das viele Geschirr sicher und zierlich zu tragen weiß! Aber da! Eine Untertasse fängt an zu wackeln, bekommt das Übergewicht, Peter springt hinzu, zu spät! Mit lautem Krach fliegen die Scherben auseinander. Die Alte bekommt vor Schreck einen nervösen Zufall, dem Schulmeister fährt's in die kranke Schulter, beide schimpfen, Marie weint, und Peter sitzt da voll Wut, Liebe und Mitleid und denkt unwillkürlich an die Worte, die er eben gelesen: »Wer nie sein Brot mit Tränen aß ...« Nur diese waren ihm im Gedächtnis geblieben.


Schulmeister Wenckes rheumatische Schulter behielt, wie immer, Recht. Es wurde ander Wetter. Die schönen Sonnentage waren dahin, und graue Regenwolken ließen alle die Herrlichkeit, die jene hervorgezaubert hatten, in einem viel nüchternerem Licht erscheinen.

Und mit Peters Maienglück ging's ähnlich. Die abendliche Szene, die ihn aus seinen Himmeln in die rauhe Wirklichkeit des Wehlinger Schulhauses herabriß, machte den Anfang, und die folgenden Tage mit Schulplackerei und unwirscher Stimmung im Hause und Regen draußen arbeiteten weiter, ihn einigermaßen wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Und das war auch gut. Wie hätte ein Junge, dem die Buchstaben vor den Augen tanzten, die Wehlinger Schuljugend das Lesen lehren können? Deshalb war es gut, daß sie bald wieder leidlich vernünftig und ehrbar vor seinen Augen einhermarschierten.

Mit dem Einstecken der Bohnenstangen hatte die Gartenarbeit einstweilen ihren Abschluß gefunden. Das war Peter freilich nicht angenehm. Aber vielleicht war auch das ganz gut.

Aber, obgleich Wolken und Regen die Maienherrlichkeit verhüllten und die Menschen ihre Arbeit einstellten, es war im Garten doch alles lebendig und wuchs und kam vorwärts. Und obgleich Peter wieder mehr Schulmeister und Büchermensch war und keine Bohnenstangen mehr einsteckte, den Frühling hatte er doch in sich, und der wirkte und schaffte in ihm an allen Enden. Er wuchs und kam vorwärts.

Unter den großen Schulkindern, denen er auch in einigen Fächern Unterricht gab, hatte er einen langen Jungen, der ebenso begabt wie frech war. Es war Peter immer schwer geworden, ihm gegenüber sein Ansehen als Lehrer zu wahren. Im Wissen konnte jener es mit ihm ja nicht aufnehmen, aber im übrigen fühlte der von Kindheit an gedrückte, arme Häuslingsjunge nicht selten die Überlegenheit des körperlich und geistig gesunden Sprößlings bester Bauernrasse. Als der Schlingel sich nun wieder einmal eine Ungezogenheit erlaubte und den aufmerksam gewordenen jungen Schulmeister kameradschaftlich herausfordernd ansah, fühlte dieser sich plötzlich überlegen. Er ging mit festem, dröhnendem Schritt auf seinen Gegner los und sagte ihm mit jetzt völlig gewechselter Stimme, er möchte die Ungezogenheit nur noch einmal wiederholen, dann sollte er mal was erleben. Der Junge sah Peter verdutzt in die Augen, merkte, daß aus ihnen eine Kraft und Entschlossenheit sprach, mit der nicht zu spaßen war, und ärgerte ihn fortan wie ein Schüler seinen Lehrer, aber nicht mehr auf kameradschaftlichem Fuße. Zu seiner großen Genugtuung hörte Peter am Schluß der Stunde, wie die großen Mädchen sich zuflüsterten: »Kinners, Kinners, de lüttje Scholmester is nu aber'n Keerl worrn!«

Peter machte sich jetzt, nachdem die Gartenarbeit zur Ruhe gekommen war, auch wieder mit wirklichem Eifer an seine Bücher. Damit erging's ihm auch merkwürdig. Früher meinte er, ein Buch wäre ein Buch und hätte als solches Anspruch darauf, von der ersten bis zur letzten Seite durchgelesen zu werden. Jetzt klappte er manche Bücher nach ein paar Seiten zu, und in andern las er nur einzelne Abschnitte, die er sich selbst auswählte. Früher hatte er wahllos alles zu behalten gesucht, was ihm unter die Augen kam. Jetzt verbot er seinem Gedächtnis oft geradezu, sich mit irgend welchen gleichgültigen Dingen zu belasten. Manchmal machte er sich im stillen Fragezeichen, obgleich die Sache da schwarz auf weiß vor ihm stand. Der Glaube an die Unfehlbarkeit der Druckerschwärze wurde ihm wankend.

Einmal bekam er zwei Bücher geliehen, von denen das eine eine »wahre Geschichte«, das andere ein »Roman« sein wollte. Er nahm die »wahre Geschichte« mit gutem Vertrauen zur Hand, aber bald legte er sie mit dem Gefühl zur Seite, daß in dem Buche alles unwahr und verlogen wäre. Dann machte er sich mit großem Mißtrauen an den »Roman«. Dieses Fremdwort übersetzte er sich nämlich mit »Lügengeschichte«. Aber schon auf der zweiten Seite wurde ihm, als ob aus den Zeilen ein stilles, ernstes Menschenauge ihn anschaute, und bald klopfte ihm ein Menschenherz entgegen, und sein Herz klopfte mit. Bald mußte er vor Behagen lächeln, dann wieder mußte er sich die Tränen trocknen. Als er das Buch zu Ende gelesen hatte, fing er gleich wieder von vorne an. Und nach vier Wochen las er es zum dritten Male. Dann konnte er das Buch ruhig wieder zurückgeben. Denn die Menschen, von denen es erzählte, lebten jetzt mit ihm und waren ihm gute Freunde geworden. Von da an suchte er nach solchen Büchern, fand ihrer aber nur wenige. In den meisten, die sich auch Romane nannten, waren die Menschen ebensolche mit allerlei zweifelhafter Weisheit ausgestopfte und mit fadenscheinigem Tand behängte tote Puppen wie in der »wahren Geschichte«.

Als Peter so angefangen hatte, beim Lesen auszuwählen, abzulehnen, Fragezeichen zu machen, zu vergleichen, Verbindungslinien zu ziehen, das Lebendige zu suchen, kurz, als er angefangen hatte, nicht mehr als Schulmeister, sondern als Mensch zu lesen, hatte er an seinen Büchern eigene tiefe Freude und brauchte nicht mehr nach Abnehmern für seine jeweilig neueste Weisheit zu suchen. Er wußte auch gar nicht mehr so viel, was er andern hätte erzählen können, und wenn der frühere Eifer, zu belehren, ihn noch einmal packte, sagte er sich: Vielleicht wissen sie's auch ohne dich, und wenn sie's nicht wissen, dann schadet's auch nicht viel.

Wenn er einmal darüber nachdachte, wann und wie die große Wandlung über ihn gekommen wäre, mußte er immer wieder an das Bohnenstangenstecken und an Marie denken. Und wenn er so recht von Herzen an sie dachte, tanzten die Buchstaben wieder, und die lebendigsten Bücher waren tot. Aber das schadete nichts. Nachher waren sie dann wieder um so lebendiger, und aus den Buchstaben schaute mit helleren Augen eine Welt, in die einzudringen ihm von Tag zu Tag mehr Freude machte.

Ja, ja, der Frühling schaffte an allen Enden. Unten in des Schulmeisters Obst- und Gemüsegarten, und oben in der engen Dachstube, wo ein junges Menschenherz ihn erlebt hatte, endlich, nachdem es lange unter der Eisdecke des Winters in Erstarrung gelegen hatte.

Und auch in einem andern jungen Herzen schaffte er wohl, trotz der Nähe der beiden alten Eisklumpen, die er nicht mehr schmelzen konnte. Wo etwas werden und wachsen will, dahin hat er ja noch immer den Weg gefunden.


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