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Erstes Kapitel.


Obgleich die Sonne noch hoch am Himmel stand, lag Familie Eggers in den Betten. Nicht Krankheit hatte sie hineingetrieben, auch Faulheit nicht, sondern die grimmige Kälte. Auf neun Grad unter Null acht Tage nach Lichtmeß waren so kleine Leute wie der Häusling Harm Eggers mit ihrem Feuerungsvorrat nicht eingerichtet. Der winzige Haufe Sprickerholz und Torf, der noch auf der Diele am Ziegenstall lag, mußte für's Kaffee- und Kartoffelkochen, also für die innere Erwärmung, gespart werden. Die äußere war nirgends billiger und gründlicher zu haben als im Bett.

In die Lehmwände der engen, unsauberen Stube, die mit ihrem gänzlichen Mangel an Schmuck und der zerbrochenen, notdürftig mit Lumpen verstopften Fensterscheibe nicht nur bei neun Grad Kälte und ungeheiztem Ofen einen frostigen Eindruck machte, waren zwei Schlafschränke, sogenannte Butzen, eingebaut. In der einen lagen Harm Eggers und seine Frau Trina. Sie strickten emsig Strümpfe aus Heidschnuckenwolle. Was fertig war, flog durch die Stube in die Fensterecke, um beim nächsten Kirchgang zusammengerafft und in Steinbeck beim Kaufmann Böcking gegen Kaffee, Zucker und Salz umgetauscht zu werden. In der Wiege vor dem Ehebett schlief ein Säugling, mit einem Bart von Milch und Schmutz um das breite Mäulchen. Der übrige Kindersegen füllte die zweite Butze. Ein zehnjähriger Junge war dabei, sich das Einmaleins in den Schädel zu rammen. Ein siebenjähriger und ein Mädchen von sechs Jahren lasen Bohnen aus. Dabei spielten sie einander allerhand Schabernack, heimlich, um sich den Eltern nicht zu verraten.

So verliefen die Winternachmittagsstunden trotz des ungeheizten Ofens behaglich, friedlich und nutzbringend. Bis es dem Siebenjährigen einfiel, dem Bruder, der eben mit geschlossenen Augen sich das schwierige Neunmalneun überhörte, eine dicke Bohne in das Gesicht zu knipsen. Dieser griff sich mit einem Au an die hart getroffene Nasenspitze, dann schlug er mit seinem Buch und stieß mit seinen Füßen um sich. Darob stimmten Bruder und Schwester, wahllos getroffen, ein Geheul an, und der jäh erwachende Säugling mischte sein Schreistimmchen auch in das geschwisterliche Konzert. Da war's um die Ruhe der Mutter beim Strickstrumpf geschehen. Sie kam aus dem Bette gefahren, schlug und stieß, ohne den Fall zu untersuchen, in die Kinderbutze hinein, bis die Ruhe wiederhergestellt war. Dann beugte sie sich über den jüngsten Schreihals und summte, sich mit der Wiege hin und her schaukelnd: Hu, huhuhu, hu. Aber der kleine Kerl schrie weiter. Da legte sie sich ins Bett, nahm den Jungen an sich, hüllte ihn warm ein und reichte ihm die Brust. Wie sie so auf das begierig trinkende Kind niederblickte, verlieh die Mutterliebe selbst diesem stumpfen, harten Gesicht für Augenblicke etwas wie einen heimlichen Adel.

Als Trina ihr Kind gestillt hatte und es eben wieder in die Wiege legte, ging die Stubentür auf, und ein etwa vierzehnjähriger Junge trat ein. Die Bücher, die er unter dem Arm trug, legte er auf den Tisch und seine Mütze auf den kalten Ofen. Also gehörte auch er hier ins Haus. Aber er war von ganz anderer Art als die andern Kinder. In deren Gesichtern bestimmten die hervortretenden Backenknochen und der breite Mund den Ausdruck. Die Stirn wich bescheiden zurück, und bei den Augen fiel nichts weiter auf, als daß sie sehr rund waren. In des Ankömmlings Gesicht dagegen hatte die Stirn die Vorherrschaft, und die Augen sahen nicht wie die der andern nach dem, was der benachbarte Mund verschlingen könnte, sondern es war, als ob sie über dieses Nächste hinwegschauten und nach etwas Fernem suchten. Es war Peter, Harms Sohn aus erster Ehe, den Trina als ziemlich hoffnungsloses älteres Mädchen bei ihrer Verheiratung mit in den Kauf hatte nehmen müssen. Er stand vor der Einsegnung und kam eben von der Konfirmandenstunde aus Steinbeck, dem anderthalb Stunden entfernten Kirchdorf, zurück.

»Süh,« sagte Trina, »dat paßt. Weeg mi dat Kind, ick will melken.« Peter stellte sich gehorsam an die Wiege, die Stiefmutter fuhr in die Holzschuhe, band sich ein Tuch um den Kopf und ging hinaus.

Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, da trat Peter dicht an die elterliche Butze, steckte den Kopf hinauf und sagte zögernd und leise: ».. Vader! ..«

Harm Eggers blickte von seinem Strumpf auf und sah dem Jungen verwundert in das Gesicht. »Wat hest du? Wat makst du för Ogen!«

»Ick ... ick schall Scholmester weern.«

»Wat? Du?«

»Ja, ick.«

»Wer seggt dat?«

»De Herr Pestohr.«

»Soo? Hett de uns wat to seggen?«

»He well darför sorgen, dat de Sak bi keenen Gröschen kosten deit.«

»Hoho, dormit is dat nich afmakt. Du hest uns mannig Stück Brod und Speck upäten. Nu mußt du mi helpen, bat ick din Bröders und Süsters ok grot krieg'.«

»O Vader, wenn ick minen Lohn as Scholmester krieg', will ick jümmer an di denken.«

»Hä, de paar Daler! De wullt du woll sülwst bruken können.«

»Och Vader, lat mi!«

»Hm ... Wenn ick ok woll, du schast man sehn, Mudder giwt't nich to ...«

»Jea, Mudder ... De gönnt mi öwerall nix .... Wenn min sel' Mudder noch an't Lewen wör, denn so ..«

Peter vollendete den Satz nicht. Er sah trüben Blickes durch die blinden Fensterscheiben in den dämmernden Abend hinaus.

Der Vater fuhr sich mit den Stricksticken hinter die Ohren und machte ein verlegenes Gesicht. In seinen besten Stunden fühlte er, was er selbst und der Junge mit seiner ersten Frau verloren hatten. Und dann hatte er Peter gegenüber etwas wie ein böses Gewissen, weil er ihn nicht besser gegen die Ausnutzung und Drangsalierung durch die Stiefmutter in Schutz nahm, und schämte sich seiner Schwäche und Bequemlichkeit. Nach einer Weile fragte er: »Nix kösten schall't mi?«

»Nee, keenen roden Pennig,« versicherte Peter eifrig, »und de Herr Pestohr seggt, du schöllst em mal besöken. O, Vader, ick bidd' di, gah hen!«

Harm Eggers räusperte sich. »Hmhm, ick will mal hören, wat Mudder darto seggt.«

»Vader ..« sagte Peter leise und zögernd, ».. frag aber ok .. min rechte Mudder ..«

»Och Jung, wat snackst du mannigmal für narr'sch Tüg! De is ja dod ...«

Peter schwieg. Er ließ den Blick wieder durch das Fenster in die dämmernde Ferne irren.

»Jung', wenn du so steihst und kiekst, denn sähst du just so ut as din Mudder selig.«

Langsam wandte Peter sich dem Vater zu. »Is dat wahr?« fragte er.

Der Vater nickte stumm, seufzte leise und ließ die Stricksticken wieder klirren, wie um sich auf andere Gedanken zu bringen. Die stille, heimliche Freude, die auf Peters Gesicht lag, sah er nicht.

Bald darauf kam Trina Eggers vom Melken zurück. In der Tür wischte sie sich mit dem Jackenärmel über den Mund. Denn sie hatte eben einen tüchtigen Trunk warmer Ziegenmilch getan. Nach einem Blick in die Wiege sagte sie: »Clas slöppt. Mak Füer an und sett Water up!«

Peter ging hinaus. Nachdem er den berußten Kessel mit Wasser gefüllt und an den Haken über der offenen Feuerstelle gehängt hatte, kniete er nieder, rakte die Asche von den fast erloschenen Kohlen, blies mit vollen Backen hinein und legte trockenes Reisig auf. Knisternd umsprangen ihn die Funken, und eine weißliche Rauchwolke kletterte an den Zacken des schwarzglänzenden Kesselhakens in die Höhe. Peter ließ sich von der hellen Lohe Gesicht und Hände wärmen und schaute nachdenklich in die prasselnden, in buntem Farbenspiel durcheinander schießenden Gluten des von zusammengesuchtem Holzwerk genährten Herdfeuers. Die letzten Worte des Vaters gingen ihm im Kopf rundum. Also er hatte Ähnlichkeit mit seiner seligen Mutter? Sie war gestorben, als er kaum drei Jahre alt war, und ihr Bild war seiner Vorstellung entschwunden. Nun versuchte er, seine Züge ins Weibliche und ins Mütterliche zu übersetzen. Ein deutliches Bild gewann er damit ja nicht. Aber er freute sich, daß er ihr Gesicht haben sollte. Denn er hatte sie noch immer lieb und dachte oft an sie.

Der Kessel fing an zu singen. Das hörte Peter gern. Dabei ließ sich so schön sinnen und träumen. Aber plötzlich fuhr er auf. Aus der Stube klang ein Wortwechsel in das Kesselsingen und das Funkenknistern hinein. Was gesprochen wurde, konnte er nicht verstehen, aber er wußte sofort, daß es sich um ihn und seine Zukunft handelte. Es ging sehr lebhaft dabei zu ... Nun hat die Stiefmutter das Wort ... Noch immer .. Ob sie gar nicht wieder aufhören will? Endlich!.. Aber, Gott sei Dank, der Vater ist noch nicht zum Schweigen gebracht. Ruhig und bestimmt scheint er seine Meinung zu sagen ... Nun sie wieder. Was für eine schrille Stimme sie hat!.. Jetzt beide durcheinander, in höchster Erregung .. Peter sitzt mit stürmisch klopfendem Herzen am Feuer, zwischen Furcht und Hoffnung hin und hergeworfen.

Da fliegt die Stubentür auf, und der Vater kommt herausgeschritten, mit einer Entschlossenheit in Haltung und Miene, die ihm sonst fremd ist. »Peter!« ruft er laut über die Diele.

Peter springt wie eine Feder vom Herde in die Höhe. »Hier bin ick.«

»Peter, ick heww din Mudder selig up ehren Dodenbedd in de Hand toseggt, dat ick jümmer god für di sorgen wull. Morrn gah ick to'n Pestohr.«

»Und ick segg ..«, kreischt Trina, die ihrem Mann auf dem Fuße gefolgt ist, aber er unterbricht sie hart: »Trina, ick segg di't in Goden, hol nu din Mul!« Und wirklich, sie schwieg. Der Ton, mit dem er dies sagte, und der Ausdruck seiner Augen, in denen ein flackernder Widerschein des Herdfeuers war, verrieten ihr, daß sein Inneres nahe am Siedepunkt war. Wenn man ihn dann noch weiter reizte, fing er an zu rasen. Das hatte sie einmal erlebt, und seitdem ließ sie es so weit nicht mehr kommen. Lieber nahm sie eine kleine Niederlage hin und wartete auf eine Gelegenheit, sie auszuwetzen.

Harm Eggers machte sich hinten auf der Diele zu schaffen und pfiff munter vor sich hin. Die häusliche Szene hatte nach der langen Bettruhe sein Blut angenehm in Wallung gebracht. Dazu kam das Hochgefühl des Siegers, und vor allem das Bewußtsein der erfüllten Vaterpflicht. Trina dagegen war in ihrer schlimmsten Laune. Sie schlug die Türen, stieß mit dem Geschirr und hetzte den Stiefsohn von einer Arbeit zur andern.

Nach dem Abendbrot ging die Familie bald zur Ruhe. Peter aber mußte vorerst das Jüngste in Schlaf wiegen.

Der Trankrüsel wurde gelöscht – Öllampen waren auf dem Lande noch nicht in Gebrauch –, aus den Butzen kamen bald die ruhigen Atemzüge der Schlafenden, leise knirschte die Wiege auf dem Sande des Lehmbodens. Da gehörte Peter sich selbst und seinen Gedanken.

Er saß nicht weit vom Fenster und blickte hinaus. Das war so seine Art. Er sah mehr aus dem Fenster, als seine vier Geschwister zusammen. Denn unbewußt suchten seine Augen und seine Seele in der Ferne etwas, was die Nähe und Enge nicht gab. Wie er jetzt so in Gedanken versunken hinausschaute, sah er die klare Winternacht mit unzähligen Sternen geschmückt. Da dachte er an seine Mutter, wie er öfters tat, wenn er zu den Sternen aufschaute. Das hing mit einer frühen Kindheitserinnerung zusammen. Die Mutter hatte so viel gehustet und gestöhnt und gar nicht schlafen können. Nun lag sie auf einmal still mit weißem, feierlichem Gesicht und schlief so friedlich. Da freute sich der kleine Peter und ging auf den Zehen und spielte ganz leise, um die Mutter nicht zu wecken. Am Morgen des dritten Tages aber holte die Großmutter des Bauernhauses, zu dem des Vaters Kate gehörte, ihn ab, schenkte ihm drei Stück Zucker und einen dicken Apfel, und den ganzen Nachmittag spielte er sehr vergnügt mit den Kindern des Bauern. Am Abend brachte die freundliche alte Frau ihn wieder nach Hause. Da suchte er die Mutter, fand sie aber nicht, in ihrem Bette und im ganzen Hause nicht. Und er fragte die alte Frau, wo sie geblieben wäre. Da nahm die ihn auf den Arm und zeigte ihm durch das Fenster – es war dasselbe, an dem er jetzt eben saß – den dunklen Himmel mit all den hellen Sternen. Dort oben wohne die Mutter nun. Und aus einem der vielen Kucklöcher kucke sie herab, ob ihr Peter auch artig und lieb sei. Da hatte er die Augen angestrengt, ob er sie nicht sehen könnte. Und als er ihr liebes, weißes Gesicht nicht fand, da hatte er geweint. Aber bald hatte er sich getröstet und sich vorgenommen, immer artig und lieb zu sein, damit die Mutter droben an ihrem goldenen Himmelsfenster eine Freude hätte. Als kleiner Junge hatte er dann noch oft ihr Gesicht dort oben gesucht. Als großer Junge und Konfirmand tat er das nicht mehr. Aber wenn er die Himmelsfenster seines ersten Kinderglaubens sah, dachte er an sie. Und wie sollte er diesen Abend ihrer nicht gedenken? Heute hatte sie in sein Leben eingegriffen, hatte ihrem Kinde den Weg frei gemacht. – Nun lag eine Zukunft vor ihm. Eine Zukunft, wie der arme Häuslingsjunge sie sich nie hatte träumen lassen. Dicke Bücher, merkwürdiger, wunderbarer Dinge voll; ein sauberes Häuschen im Garten mit Blumen vor den Fenstern; Kinderscharen, deren Augen an seinem Munde hingen. Ja, zuletzt sah er sich in einer hohen, alten Kirche auf der Orgelbank sitzen, und all die Pfeifen und Flöten gehorchten ihm. Er ließ sie brausen wie Sturmesbrausen, und dann wieder ganz lieblich singen, wie das Rotkehlchen singt im Busch ...

Diese schönen Zukunftsträume wurden durch einen Kälteschauder gestört, der ihm plötzlich über den Rücken lief, und zugleich flogen seine Zähne klappernd aufeinander. Da stand er auf, entkleidete sich schnell, packte den siebenjährigen Bruder, der sich in der Kinderbutze quer gelegt hatte, in die richtige Lage, kroch hinein, wurde in dem gut vorgewärmten Nest schnell warm und war ebenso schnell eingeschlafen.


Am nächsten Morgen zog Harm Eggers seinen Sonntagsrock an, umwand Kopf und Hals mit einem roten Schaltuch, so, daß die etwas kopfscheuen Ohren an den Kopf gedrückt und vorm Erfrieren geschützt waren und nur Augen und Nase in die kalte Welt hinauslugten, nahm seinen Eichheister in die Faust und machte sich auf den Weg, seine Vaterpflicht zu erfüllen und seines Erstgeborenen Zukunft mit dem Steinbecker Pfarrherrn zu beraten. »Middag bin ick wedder 'rin,« war sein letztes Wort, als er schon die Türklinke in der Hand hatte.

Als Peter am Mittag aus der Schule kam, war der Vater noch nicht zu Hause. Eine Stunde wartete man auf ihn, und Peter lief immer wieder vor die Tür und sah den Weg entlang nach ihm aus. Endlich setzten sie sich an den Tisch. »Wo Vader woll so lange bliwt?« fragte das kleine Mädchen. »Bi'n Branntwien!« antwortete Trina rauh. Dann sah sie Peter von der Seite an und sagte: »Und wovon kummt dat? Von dine verdammten Scholmestergrappen! He ward sick wedder schön enen ansupen, de ole Swinegel de!« Peter zuckte zusammen und schwieg. Was seine Stiefmutter so brutal aussprach, das hatte er im stillen auch schon gefürchtet.

Harm Eggers war ein Gelegenheitstrinker. Da die Leute ihn für einen guten, anständigen Kerl hielten, seine Trina aber und ihre Sippe nicht leiden konnten, so schrieben sie diesen »lütten Fehler« auf die Rechnung des bösen Weibes. Damit trafen sie auch wohl ziemlich das Richtige. Aber heute betrank Harm Eggers, der wirklich, während man zu Hause auf ihn wartete, in einer behaglich durchwärmten Schenkstube des Kirchdorfs saß, sich nicht aus ehelichem Kummer, sondern aus Freude und Vaterstolz. Er hatte ja vom Pastor so viel Gutes über seinen Peter gehört, daß sein Vaterherz der Freude und des Stolzes voll war. Und all das Schmeichelhafte konnte er unmöglich für sich behalten. Und seine Frau daheim konnte er doch nicht damit erfreuen. So mußten es denn die in der Gaststube einkehrenden Bauern, Viehtreiber und Fuhrleute hören, was Peter Eggers, Harm Eggers' Sohn aus erster Ehe, für ein begabter Junge war, und daß der Pastor ihn durchaus zum Schulmeister und Küster machen wollte, und dem Vater fiele es zwar schwer, bei den vielen kleinen Kindern, aber er wollte dem Jungen doch nicht im Wege sein, und wenn er selbst trocken Brot essen sollte. Zwischendurch kam dann wohl der Seufzer: »Wenn dat min sel' Fru noch belewt harr!« Dann trat ihm das Nasse in die Augen, und er suchte es durch das Nasse in dem Glase, das nimmer leer blieb, zu vertreiben.

Peter sah indessen immer wieder nach dem Vater aus. Je weiter die Stunden vorrückten, umsomehr graute ihm vor der Rückkehr. Er merkte deutlich, welch eine Wut sich den Nachmittag über in seiner Stiefmutter ansammelte. Gegen ihn war sie fast freundlich, aber er wußte wohl, diese Freundlichkeit war der falsche, stechende Sonnenschein vor dem Losbruch eines schrecklichen Gewitters.

Es wurde dunkel, es wurde Abendbrotzeit. Harms Eggers war immer noch nicht zurückgekehrt. Um acht Uhr schickte die Mutter die Kinder ins Bett, verriegelte die Türen und löschte das Licht. Sie selbst legte sich angekleidet in ihre Butze.

Lange Zeit lag Peter mit wachen Augen und horchte. An sich und seine Zukunft dachte er nicht. Mit Angst dachte er nur an das, was die nächsten Stunden bringen würden. Zuletzt fiel er doch in leichten Schlaf. Ein Geräusch weckte ihn. An der Haustür wurde gerüttelt. Leise erhob er sich und wollte durch die Stube schleichen, um zu öffnen. Da befahl die Mutter: »Gah in din Bedd!« Einen Augenblick schwankte er, ob er nicht ihrem Befehl trotzen sollte. Einen Augenblick drängte es ihn, an ihr Bett zu gehen und Vergebung für den Vater zu erbitten. Aber er tat nichts von beidem und legte sich wieder. Schritte kamen um das Haus herum. Es klopfte an die Fensterscheiben. »Trina, mak up!« Keine Antwort. Es pocht stärker. Die Fensterscheiben sind in Gefahr. »He sleit de Finster twei! Mak em up!« schreit die Stiefmutter mit heiserer Stimme. Peter springt auf, läuft barfüßig und im Hemde durch die Stube, über die Diele, und schiebt den Riegel zurück. Die Tür fliegt auf, ein eisiger Lufthauch, mit widerwärtigem Fuselgeruch gemischt, weht ihm entgegen, er fühlt sich von zwei Armen umschlungen, feuchte Lippen küssen seinen Mund und lallen: Jaja, min Hartensjung, freu di, Scholmester wardst du.« Entsetzt und angeekelt entwindet Peter sich der Umklammerung und läuft in die Stube. Der Vater taumelt ihm nach. In der Tür stellt er sich steif hin, stoßt mit dem Eichheister auf die Schwelle und lallt: »Ick bin de Herr, und ick bin de Vader, und Scholmester ward de ...« Weiter kommt er nicht. Die Frau ist wie eine Furie auf ihn los gefahren, Peter springt wie von Sinnen in seine Butze; indem er die Tür hinter sich zustößt, sieht er noch, wie sie dem Trunkenen den Stock aus den Händen reißt, er vergräbt sich tief in das Bett, kauert sich zusammen und preßt die Fäuste vor die Ohren.

So lag er lange, lange, und fühlte wie noch nie den ganzen Jammer seiner freudlosen, gedrückten Kinderzeit, das ganze Elend seines Elternhauses, das durch Trunk und Brutalität zu einer Hölle geworden war. Wenn doch die Eltern mit dem Eichenknüppel kämen und ihn totschlügen! Er wollte sich ganz gewiß nicht wehren.

Endlich, – nach seinem Empfinden mußte wenigstens eine Stunde vergangen sein, und die Luft in dem Bett war so verbraucht, daß ihm der Atem still stehen wollte – hob er ein klein wenig die Decke, atmete tief auf und horchte.

Das Entsetzliche war vorüber. Nur ein leises Stöhnen kam von drüben. Dazu weinte der Säugling. Da sich niemand um ihn kümmerte, ging das Weinen allmählich in ein Wimmern über, das nach und nach auch erstarb ... Vorsichtig schob er die Tür seiner Butze zurück und sah in die Stube. Da lag ein umgestürzter Stuhl. Die Scherben eines zerbrochenen Tellers bedeckten den Fußboden. Durch das Fenster leuchteten die Sterne, ruhig, klar und schön. Aber heute kamen ihm bei ihrem Anblick keine lichten, warmen Gedanken.

Er ließ sich in die Kissen zurückfallen und verfiel aufs neue ins Grübeln. Mit grausamer Wollust wühlte er in der Erinnerung an häßliche Szenen, die er hier in seinem Elternhause erlebt hatte. Je länger er lag, desto mehr füllte seine Seele sich mit Bitterkeit. An den Vater dachte er mit Verachtung, und beim Gedanken an die Stiefmutter ballte er die Fäuste und knirschte mit den Zähnen und fühlte einen heißen Haß in sich aufsteigen. Aber, Gott sei Dank, der Tag war ja nicht mehr fern, an dem er den beiden aus den Händen laufen konnte. Der Pastor hatte ihm gesagt, wenn er Schulmeister werden sollte, würde er gleich nach den Osterferien bei einem alten Schulmeister in die Lehre treten. Er rechnete aus, wie lange es bis dahin noch wäre. Ostern fiel früh: sieben Wochen und fünf Tage! Dann schlägt die Stunde der Erlösung. Dann ade, du enges, schmutziges, dumpfes, zank- und haßerfülltes Elternhaus!


Es war Gründonnerstag. In der Steinbecker Kirche wurden die Kinder konfirmiert.

Der Pastor war heute nicht die steile Kanzeltreppe hinaufgeklettert, sondern stand vor dem Altar, inmitten der jungen, festlich geschmückten Schar. Die Mädchen trugen schwarze Kappen, die vorn mit einem weißen, fein gefältelten Strich versehen waren, und hielten über den funkelnagelneuen Gesangbüchern zusammengefaltete weiße Tücher. Die ärmeren Jungens steckten zum Teil in Abendmahlsröcken, die ihnen offenbar nicht persönlich auf den Leib geschneidert waren. Denn kleine Leute, die den Pfennig umdrehen mußten, hielten einen Rock von mittleren Maßen für ihre ganze Jungensschar auf Lager. Peter aber, der ärmste von allen, trug seinen eigenen Anzug. Dafür hatte seine Mutter kurz vor ihrem Tode einer zuverlässigen Frau eine kleine, sauer ersparte Summe übergeben. Als Peter an diesem Morgen den Rock angezogen hatte, war ihm eine große, blanke Träne daran hinunter gelaufen.

Der Pastor war einer jener gutmütigen Menschen, die des Lebens harte und häßliche Wirklichkeit nicht sehen und allen ihren Mitmenschen das Beste zutrauen. Herzbeweglich schilderte er die ungezählten und unverdienten Wohltaten, die jene Eltern dort im Schiff der Kirche an diesen ihren Kindern um den Altar im Leiblichen und im Geistlichen getan hätten. Sie hätten für sie gearbeitet, gewacht, gesorgt, gehungert, gebetet, hätten den Trieb zur Tugend in die jungen Seelen gepflanzt, wären mit gutem Beispiel vorangegangen usw. Da weinten die Mütter reichliche Tränen der Rührung über ihre so lebhaft und öffentlich anerkannte Gutheit, und ihre Tränentüchlein gingen eifrig zwischen Schoß und Augen hin und her. Zur Ehre von Trina Eggers muß aber gesagt werden, daß ihr Tuch auf dem Gesangbuch liegen blieb, und daß sie bei dieser Schilderung sich aufopfernder Mutterliebe ein leises Unbehagen empfand.

Peter dachte währenddessen nur an seine rechte Mutter. Er hatte ja seinen Konfirmandenanzug als einen Beweis ihrer treuen Fürsorge vor Augen, und zweifelte nicht daran, sie würde, wenn sie bei ihm geblieben wäre, alles das an ihm getan haben, was der Pastor, mit seinem starken Glauben an die Menschen, den Vätern und Müttern seiner Gemeinde insgesamt zutraute.

Als der Gottesdienst beendigt war, ging Trina Eggers in einen Bäckerladen und kaufte für fünf Silbergroschen Butterkuchen. Bei den letzten Häusern des Dorfes langte sie in die Tute, sagte: »Da!« und reichte Peter ein tüchtiges Stück. Und zu Hause, als sie den Kuchen unter ihre Kinder verteilte, bekam er noch einmal eins, und zwar das größte, auf dem noch dazu der Zuckerguß sich am besten gehalten hatte. Die Stiefgeschwister machten neidische Gesichter, und der Siebenjährige heulte über die mütterliche Ungerechtigkeit. Aber von Peter bekam Trina einen dankbaren Blick, und den kleinen unbequemen Stachel, den die Konfirmationsrede doch in ihr zurückgelassen hatte, war sie glücklich wieder los.

Daß Peter Schulmeister werden sollte, dabei war es geblieben, obgleich Trina seit jener Nacht wieder die Oberhand hatte. Der Pastor hatte, nachdem Harm Eggers seine väterliche Zustimmung gegeben, gleich das Nötige in die Wege geleitet. Ein älterer Schulmeister der Nachbargemeinde Olendorf, Wencke in Wehlingen, der etwas schwächlich war und eine große Schule hatte, war bereit, Peter nach den Osterferien in sein Haus aufzunehmen und ihn die Schulmeisterei zu lehren. Präparandenanstalten gabs noch nicht, für die große Masse der Landlehrer beschränkte sich der Seminarbesuch auf ein halbes Jahr und fand erst statt, nachdem die jungen Leute einige Jahre praktisch mit ihren Konfirmandenkenntnissen in der Schule gearbeitet hatten. Die Schul- und Lehrerverhältnisse waren also von den heutigen, sehr fortgeschrittenen, himmelweit verschieden. Deshalb wollen wir in dieser Geschichte unserm guten Peter, seinem Lehrmeister und seinen Kollegen auch getrost den heute außer Gebrauch gekommenen und verpönten Titel »Schulmeister« geben. So nannten sie sich selbst, so nannten die Leute sie, und so schrieb der Pastor ins Kirchenbuch. Der Titel »Lehrer« klingt für diese Leutchen, bei denen die Großeltern des heutigen Geschlechts den Landeskatechismus, das Einmaleins und ein wenig Lesen und Schreiben lernten, zu feierlich und anspruchsvoll.

Am Tage nach Ostern ging Peter nach Steinbeck, um seinem Pastor einen Abschiedsbesuch zu machen. Stolz schritt er in seinem Konfirmandenrock durch die Straßen des Kirchdorfs. Wenn ihm Leute begegneten, suchte er auf ihren Gesichtern zu lesen, ob sie ihn, der vor zwei Wochen in der Konfirmandenprüfung vor der ganzen Gemeinde mit den besten Antworten geglänzt und ein besonderes Lob erhalten hatte, wiedererkannten.

Nun stand er vor der großen, grünen Tür des Pfarrhauses, das er von vorne noch nie betreten hatte. Ob er anklopfen mußte? Darüber war er nicht belehrt worden, aber er hatte einen Spruch gelernt: Wer anklopfet, dem wird aufgetan. Er klopfte also an, aber ihm wurde nicht aufgetan. Da schielte er verstohlen durch das Fenster neben der Haustür auf den Vorplatz, und da er niemanden sah, wagte er es, die Tür selbst vorsichtig zu öffnen. »Klinglinglingling« lärmte die Hausglocke. Peter erschrak, als ob er auf einer bösen Tat ertappt wäre. Das Dienstmädchen kam und sah ihn fragend an. »Is He inne?« fragte Peter. »Jawohl, der Herr Pastor ist in seiner Stube,« sagte in belehrendem und verweisendem Tone das Mädchen. »Aber, Junge, nimm wenigstens deine Mütze vom Kopfe, wenn du zu uns kommst!« fügte sie hinzu. Blitzartig riß Peter die Kopfbedeckung herunter und stand rotübergossen da. Das Mädchen lächelte im Hochgefühl ihrer überlegenen Bildung und wies ihn gnädig die Treppe hinauf.

Indem Peter die Stufen hinanstieg, biß er sich auf die Lippen und ärgerte sich über sich selbst. Daß man in fremden Häusern die Mütze abnahm, hatte er doch in der Schule gelernt. Und nun hatte er's doch vergessen!

Nun stand er vor der Tür mit dem Namensschild des Pastors. Nachdem er sich die Füße auf der Strohmatte gereinigt hatte, klopfte er an. Ganz bescheiden, mit den Fingerspitzen. Wie man anklopfte, darüber hatte er keinen Spruch gelernt. Als keine Antwort kam, faßte er sich ein Herz und ging ungerufen hinein. Der Geistliche saß an seinem Schreibtisch vorm Fenster und blickte verwundert auf. »Mein Sohn,« sagte er, »wenn man zu einem Menschen in die Stube will, dann klopft man gefälligst an.« »Herr Ppestohr,« stamerte Peter, »ich ... ich habe angeklopft.« »Ach so, ja, da kratzte was; ich meinte, das wäre mein kleiner Polli. Na, setz dich!« Peter setzte sich tief errötend auf einen Stuhl. Die Mütze hielt er mit beiden Händen gegen die Brust gepreßt.

»Freust du dich, Schulmeister zu werden?« fragte der Pastor.

»Ja.«

»Ist deine Aussteuer schon fertig?«

Peter machte ein verwundertes Gesicht. Aussteuer kriegten doch nur die Mädchen mit, wenn sie freiten.

»Ich meinte, ob du gehörig mit Zeug und Wäsche ausgerüstet bist.«

»Jaa.«

»Wenn du man bloß nicht Heimweh nach Muttern kriegst!«

»Nee!«

»Nana! Nicht so kühn, mein Jüngschen! Aber du kennst ja das schöne Lied: ›Es ist bestimmt in Gottes Rat, daß man vom Liebsten, was man hat, muß scheiden.‹ Und: ›Wenn Menschen auseinandergehn, dann sagen sie: Auf Wiedersehn.‹«

»Ich ... ich habe bloß noch eine Stiefmutter ...« »Ach so, daran hatte ich nicht gedacht. Aber hmhm, ich habe Stiefmütter gekannt, die hatten die angenommenen Kinder eben so lieb, wie ihre eigenen ... Hm, ich wollte nur sagen, in sechs Wochen ist schon Pfingsten. Dann kannst du schon mal nach Hause hinüberspringen. Und dann kommen ja auch bald die großen Ferien ...«

Die Pastorin steckte den Kopf in die Tür und rief ihren Mann heraus.

Peter, der bislang steif auf dem Stuhl gesessen und dem alten Herrn unverwandt auf den Mund gesehen hatte, wie in der Kinderlehre, atmete freier auf und sah sich in der Studierstube um. Da bekam er einen großen Schreck. Was für eine Menge Bücher! Und wie dicke dabei! Am längsten und mit der größten Verwunderung haftete sein Blick an der Reihe der mächtigen Kirchenbücher. Was mußte so ein geistlicher Herr für ein gelehrter Mann sein! Natürlich nahm er an, daß dieser in seiner großen Bibliothek ebenso gut Bescheid wußte, wie er in seiner kleinen, die aus vier schmalleibigen Schulbüchern bestand. Er war manchmal stolz gewesen, daß er mehr wußte, als die andern in der Schule und Kinderlehre. Die letzten Wochen, seit er am Palmsonntag vor der ganzen Gemeinde mit seinem Wissen geglänzt hatte, war ihm dieses Hochgefühl fast immer gegenwärtig geblieben. Aber diese in Schweinsleder und Pappe gebändigte Gelehrsamkeit, die ihn hier zugleich mit einem Duft feinen Tabaks umgab, verwirrte ihn und machte ihn ganz klein.

Als der Pastor wieder in die Stube trat, flog Peter in die Höhe, wie er's von der Konfirmandenstunde her gewöhnt war, nur mit noch größerem Respekt, wegen der neu entdeckten Gelehrsamkeit des stattlichen Herrn. Er wurde nicht wieder zum Sitzen genötigt, bekam einige gute Lehren und Wünsche mit auf den Weg und konnte gehen. Leise schlich er die Treppe hinab und war froh, als er unbemerkt die Haustür erreicht hatte, ohne noch einmal von dem Mädchen, vor dem er sich vorhin so blamiert hatte, gesehen zu sein.

Den Kopf trug er jetzt nicht so hoch als vorhin. Bescheiden und demütig ging er seines Weges.


Am Abend des Sonntags nach Ostern sollte Peter in Wehlingen antreten. Das Dorf war drei Stunden von seiner Heimat entfernt.

Sein Vater begleitete ihn und trug auch die in einen buntgewürfelten Kissenüberzug gestopfte »Aussteuer«. Das geistige Rüstzeug, seine Bibliothek, hatte Peter selbst unter dem Arm. Vater und Sohn sprachen kaum miteinander. Von Haus aus waren sie beide schweigsam, und heute, angesichts der Abschiedsstunde, schloß ihnen auch eine gewisse Verlegenheit den Mund. Der Weg führte durch Steinbeck, und an Harm Eggers' liebstem Wirtshaus vorbei. Hier bog er zur Seite, und als Peter zögerte, ihm zu folgen, sagte er freundlich und ein wenig verlegen: »Kumm, Jung', wöt uns erst'n bäten verhalen.« Da ging Peter mit ihm hinein.

Harm bestellte zwei »lüttje Klare«. Als der Wirt das Gläschen vor Peter hinstellte, sagte der Vater: »He is ja nu ok'n mündigen Christenminschen,« worauf jener nickte und lachte. Peter hob das Glas vorsichtig, nippte daran, schüttelte sich und setzte es wieder hin. »Smeckt he nich?« fragte der Vater leise. Peter zog ein krauses Gesicht und schüttelte den Kopf. »Töw' man,« Warte nur. flüsterte Harm, mit den Augen zwinkernd. Als der Wirt den Rücken gewandt hatte und sich an dem Schenktisch zu schaffen machte, nahm er schnell das Glas, trank es aus und stellte es leer wieder vor Peter hin, froh darüber, daß er seinem Fleisch und Blut eine schwere Blamage erspart hatte. Darauf kaufte er ihm eine dick mit Zucker bestreute Maulschelle. Als Peter anfing, die eine Hälfte des trocknen, noch von Ostern übrig gebliebenen Gebäcks hinunterzuwürgen, sagte der Vater: »Christoffer, up een Been kann'n nich stahn« und ließ sich das Glas aufs neue füllen. Da aber stand der Junge entschlossen auf, packte die andere Hälfte der Maulschelle in die Tasche und drängte den Vater, schnell auszutrinken und mit ihm aufzubrechen.

Unter der Wirkung des Alkohols wurde Harm gesprächiger. Und der nahe Abschied von seinem Jungen trug dazu bei, daß er sentimental wurde, während sonst diese Stimmung erst etwa nach dem siebenten Glas sich einzustellen pflegte.

Er schluckte einige Male trocken nieder, seufzte, und sagte endlich:

»Ach ja, Peter ... din' Mudder ...«

Peter sah den Vater erwartungsvoll an.

»... 't sünd nu all meist twolf Jahr, dat se in de Eer Erde. liggt. Ach ja, wenn ick an de Tied torüg denk ...«

»Vader,« fragte Peter leise, »wat hett Muddern egentlich fehlt?«

»Hoßen Husten., Kind, slimmen Hoßen ... Wör hier in de Bost Brust. nicht echt ... Lungensük ... ehr Mudder is dar ok an storwen ... ehr Süster ok ... Min Familje is so karnig und gesund ... Grotvader is achunachzig Jahr old worrn und hett all sin Tähnen mit in't Sarg krägen ... Aber ehre Familje ... keen goden Karn is da nich in ... sünd in de Bost nich echt ... Ach ja, wenn dat dar eenmal so instickt ... Junge, wenn du man echt bist!«

Er sah Peter prüfend und besorgt von der Seite an.

»Aber Vader,« sagte der Junge überrascht, »ick bin doch ganz gesund.«

»Ach ja, dat wör bin Mudder ok ... Aber de Karn wör nich god, dat wör hier in de Bost keen echten Kram ... Wat mi bange makt, du sühst ehr gar to ähnlich, du hest gar to väl van ehr afkrägen. Wenn du mehr van mi harrst, dat wör bäter für di ... Wi Eggers sünd alle so gesund.«

Peter betrachtete heimlich das Gesicht des Vaters. Im stillen war er doch froh, daß er mehr von der Mutter hatte.

»Dat Starwen is dine Mudder bannig swar worrn,« begann der Vater wieder.

»Harr se väle Kälen Qualen.?« fragte Peter.

»Och nee, de könn se god drägen. Se harr di so öwer alle Maten lew ...«

Dem Jungen lief es heiß über den Rücken.

»›Dat Kind, dat arme Kind! ... Wat schall ut Peter weern?‹ So güng dat jümmer wedder ... Ick möß ehr verspräken, ... dat ick jümmer god für di sorgen woll. De Hand heww ick ehr darup geben möst ... Da könn se starwen ... Ach Gott ja, twolf Jahr is dat nu all her ... Wenn'n so trügdenkt ... mannigmal ... ick woll man seggen ... ick harr mannigmal woll bäter för di sorgen könnt ... Ja, dat harr ick ... jawoll, jawoll ... aber glöw mi, ick harr't sülwst nich licht ... Trina is so ganz anners as din' sel' Mudder ... Wenn ick de beholen harr ... Djunge, Djunge! ... Du kennst de Welt noch nich, du weeßt nich, wat so'n Frugensminsch 'n Keerl ruptrecken kann, wenn se darnah is, und wat se em rünnerrieten kann in'n Dreck ...«

Er blieb plötzlich stehen. Sie hatten eine Höhe erreicht. Vor ihnen im Tale lag ein Dorf. »Dat is Wehlen, nu sinnst du woll hen, ick will ümkehren, abjes,« sagte der Vater hastig, gab dem Jungen unbeholfen die Hand, ohne ihn anzusehen, setzte das Bündel nieder, wandte sich um und ging mit langen, steifen Schritten den Hügel hinab.

Peter stand verwundert und sah ihm nach. Unter den Worten des Vaters hatte er mit Liebe seiner Mutter gedacht. Nun fühlte er auf einmal ein warmes Gefühl auch gegen den Vater in sich aufsteigen. Ja, der Mann, der dort hinabschritt, und er, der ihm nachblickte, sie gehörten doch zusammen, trotz allem. Der hatte seine Mutter auch lieb gehabt. Und wenn sie bei ihm geblieben wäre ...? Im stillen bat Peter dem Vater ab, wenn er einmal Gedanken der Verachtung und Auflehnung gegen ihn gehabt hatte.

Der Vater war unten im Tale stehen geblieben und hatte sich umgewandt. Mit der Hand die Augen schirmend, schaute er zurück. Und Peter stand noch immer auf der Höhe und sah ihm nach. Sie winkten einander nicht zu, aber doch flog zwischen Vater und Kind ein leises, wehes Abschiedsgrüßen hinüber und herüber.

Nun verschwand des Vaters Gestalt in einem Fuhrengehölz. Da wischte Peter sich schnell über die Augen und wandte sich entschlossen herum. Da lag es vor ihm, das Tal, in dessen Schoß ein Stück seiner Zukunft ruhte. Was er dort sah, gefiel ihm wohl. Das Dorf lag an einem Flüßchen, in Wiesen eingebettet. Rechts zogen sich ansehnliche Wälder hin, Tannen und auch etwas Laubwald. Peter, dessen Geburtsort auf einer trockenen, kargen Wasserscheide lag, war von der lieblichen Anmut der Gegend überrascht. Wenn die Menschen nur darnach waren, sollte es ihm dort unten schon gefallen. So nahm er denn seine Siebensachen und machte sich munter auf den Weg. Die grünen Spitzen der Gräser wagten sich eben hervor, die Weidenkätzchen steckten vorsichtig die Sammetpfötchen heraus, Krähenscharen lärmten in der Luft, eine Amsel flötete von der Spitze einer Tanne ihr sehnsüchtiges Vorfrühlingslied. Alles ahnte an diesem kühlen, lichten Sonntagabend, daß ein Neues, Herrliches werden wollte, und nicht zum mindesten der junge Schulmeister, der mit langen, frohen Schritten in das Tal hinabstieg.

Nicht weit vom Dorfe begegnete ihm ein kleines Mädchen, dessen Alter er auf sieben Jahre schätzte. Da gab Peter sich einen Ruck und fühlte sich zum ersten Mal als Schulmeister. Er machte sich recht grade, um möglichst groß zu erscheinen, zupfte noch schnell sein Röckchen zurecht, hielt sein Bündel mehr hinter sich und redete das Kind an, freundlich und ein ganz klein wenig väterlich, erst hochdeutsch, dann platt. Aber er bekam aus dem kleinen Ding nichts heraus, weder dessen Namen noch Auskunft über die Lage des Schulhauses. Nach wiederholten Versuchen ging er kopfschüttelnd weiter. Wenn die Kinder hier alle so schwer von Begriff waren, würde er noch seine Last haben.

Bei den ersten Häusern sagte ihm eine Frau, zur Schule müßte er durch den ganzen Ort gehen.

Aufrecht und fest schritt er die Dorfstraße dahin, gehoben von dem Gefühl, in diesen Minuten für ein ganzes Dorf der Gegenstand der Aufmerksamkeit zu sein. Die Kinder, die auf den Höfen spielten, hielten inne, und er grüßte sie wohlwollend. Die Erwachsenen vor den Haustüren nickten ihm zu, und er grüßte sie freundlich und höflich. Als ihm ein Koppel halbwüchsiger Burschen begegnete, versuchte er, seinem Gruß einen kameradschaftlichen Ton zu geben. Aber die dummen Bengel, mit der diesem Alter eigenen Verachtung alles dessen, was irgend mit der Schule zusammenhängt, musterten ihn von oben herab und lachten ihm dreist ins Gesicht. Aber er hatte keine Zeit, sich darüber zu ärgern. Denn schon grüßte ihn über einem Hause die Inschrift: »Hier lehret man die Jugend, zu Gottesfurcht und Tugend,« und mit Herzklopfen faßte er den Türdrücker des Hauses, unter dessen Dach er fortan lernen, lehren und leben sollte.


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