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Sechstes Kapitel.


Ein halbes Jahr nur nahm die Ausbildung der jungen Schulmeister auf dem Seminar in Anspruch. Selbstverständlich genügte diese Zeit nicht, um das Wissen wesentlich zu erweitern oder gar die Bildung zu vertiefen. Sie diente vielmehr in der Hauptsache dazu, dem Schulwesen des Landes eine gewisse Einheitlichkeit zu geben. Manche der alten Schulmeister, die der Anzucht des Nachwuchses oblagen, gaben ihren Zöglingen allerhand persönliche Liebhabereien und Wunderlichkeiten mit, selbsterfundene Schnörkel an den Buchstaben, Rechenmethoden eigenen Gewächses, theologisierende Privatmeinungen in der Religion und ähnliches. Das alles wurde in dem halben Seminarjahre heruntergehobelt, und dann wurden die jungen Leute als fertige und selbständige Schulmeister wieder auf die Dörfer geschickt. Da mochten sie sich denn entwickeln, wie ihre Anlagen und die Verhältnisse es mit sich brachten. Die einen wurden richtige Bauern, denen die Landwirtschaft obenan stand und die Arbeit in der Schule Nebensache war. Andere wuchsen sich zu wunderlichen Pedanten oder Originalen aus, wie sie in den Witzblättern noch heutigen Tages herumspuken. Aber viele wurden auch tüchtige Menschen, die in der Schule wie in der Dorfgemeinde, wie in der eigenen Haus- und Ackerwirtschaft voll ihren Mann standen, das Nötigste die Jugend gründlich lehrten und im übrigen durch Gottesfurcht, Fleiß und Sparsamkeit Jungen wie Alten ein Vorbild waren. Manches Dorf in stiller Heide hat wohl noch heute viel von dem Besten seiner Eigenart der Saat zu verdanken, die vor fünfzig oder mehr Jahren so ein schlichter, frommer, tüchtiger Mensch mit wenig Kunst und treuem Herzen ausgesät hat.

Peters Lebensschiff begehrte ja damals, als der volle Wind in seinen Segeln stand, nach ferneren Zielen als nach der nächsten besten weltverlorenen Nebenschulmeisterei. Seit es aber im Sturm Mast und Segel verloren hatte, war es mit dem nächsten kleinen Hafen zufrieden.

Für die Aufnahme in das Seminar sollte Peter ein von einem beamteten Arzt ausgestelltes Gesundheitszeugnis beibringen. Als der Amtsphysikus des nächsten Fleckens ihn untersucht hatte, fragte er, ob seine Eltern noch lebten. Peter sagte, seine Mutter wäre seit vierzehn Jahren tot, und auf die weitere Frage des Arztes, woran sie gestorben wäre, sie hätte viel husten müssen. »Haben Sie niemals einen Schmerz in der linken Brustseite gefühlt?« fragte der Arzt weiter. »Ja,« sagte Peter, »vor ein paar Monaten habe ich einmal schrecklich laufen müssen, und da hat es hier in der Brust mir zuletzt sehr weh getan. Zuweilen fühle ich das noch an derselben Stelle.« Der Arzt überlegte einen Augenblick, mit den Fingern auf den Tisch trommelnd, dann setzte er sich hin, zu schreiben. »Sie haben,« sagte er dabei, »einen kleinen Knacks in der Lunge weg. Sie müssen sich gut ernähren und viel in die frische Luft gehen. Dann heilt das wohl wieder aus und vernarbt. Das hat man oft.«

Um dieselbe Zeit sprach der Pastor von Olendorf gelegentlich einer Amtshandlung in Wehlingen bei Schulmeister Wencke vor, der seinen Vorgesetzten mit eben so tiefen wie steifen Bücklingen empfing. »Ich muß,« sagte dieser, »ein eingehendes Zeugnis für Peter Eggers an das Seminar schicken, kenne ihn aber zu wenig und möchte mich deswegen mit Ihnen beraten. Ich mache mir gleich Notizen. Fleiß?«

»War sehr gut,« sagte Schulmeister Wencke mit Nachdruck, »er hat viele dicke Bücher durchgelesen. Meine Bücher alle zusammen, und hat sich noch welche zugeliehen.«

»Betragen?«

»Hat sich immer sehr gut betragen. Fürs Weltliche, was den jungen Leuten heutzutage mächtig im Kopfe sitzt, hatte er gar keinen Sinn.«

»Fähigkeiten und Leistungen?«

»Das ging auch an. Ich denke, dieser Zögling soll mir noch Ehre machen.«

»Wollen Sie noch ein allgemeines Urteil über seinen Charakter abgeben?«

»Jaa, das ist nun so'ne eigene Sache. Wenn ich ehrlich sein soll, es fehlt ihm wohl an Gemüt.«

»So? Ob Sie sich da nicht täuschen? Wenn ich so an die Augen des jungen Menschen denke ...«

»Och, Herr Pastor, ich habe ihn zwei und einhalb Jahr in meinem Hause gehabt. Wenn man einen da nicht kennen lernt! Und denn so'n alter Schulmeister, der bald fünfzig Jahre Schule gehalten hat – wenn der den Menschen nicht bis auf den Grund sieht? Übrigens, bei Peter Eggers war das nicht schwer. Als wir neulich hier im Hause den traurigen Todesfall hatten, sagte mein Schwiegersohn, gleich nachdem er nur ein einziges Mal mit ihm am Tisch gesessen hatte: ›Vater‹ sagte er zu mir, ›dieser junge Mensch scheint sehr wenig Gemüt zu haben.‹ Naja, woher sollte er's auch haben, der arme Junge? Sein Vater ist ja leider Gottes sehr dem Trunk ergeben, und der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.«

»Also auch schon Neigung zur Trunkfälligkeit haben Sie bei ihm entdeckt?«

»O bewahre, Herr Pastor, sehr solide, Herr Pastor. Na, ich wollte so einem denn auch, hier bei mir im Hause! Wir haben gar keine Spirituosen im Hause, und ins Wirtshaus komme ich manchmal ein ganzes Jahr lang nicht hinein. Nur daß man sich mal ein Pfeifchen gönnt.«

»Das Rauchen ist für einen so jungen Menschen eigentlich auch noch nicht gut.«

»O bewahre, Herr Pastor, der hat noch keine Pfeife Tabak in den Mund genommen. Ich wollte ihm auch! Nee, ich wollte man sagen, daß ich alter Mann mir ab und an mal ein Pfeifchen gönne. Denn ich halte das für keine Sünde ..«

»Das Zeugnis über die einzelnen Unterrichtsfächer schicken Sie mir in den nächsten Tagen wohl zu, damit ich es beilegen kann.«

»Jawohl, Herr Pastor, gleich morgen früh sollen Sie es haben.«


Nach den Herbstferien zog Peter also in die Seminarstadt. Durch einen Marsch von einigen Stunden erreichte er die nächste Bahnstation und benutzte von hier ab die vor einigen Jahren dem Verkehr übergebene Eisenbahn. Mit einer Geschwindigkeit, die den unerfahrenen Heidjer zuerst in Angst versetzte, trug sie ihn seinem Ziel entgegen.

Die Stadt mit der Fülle ihrer für Peter neuen Eindrücke, der Seminarbetrieb, das Zusammenleben mit den Altersgenossen, alles dies wirkte zunächst erfrischend und belebend auf seinen müden Geist.

Der Direktor des Seminars war ein jüngerer Geistlicher, der die Leitung der Anstalt erst kürzlich übernommen hatte. Er stammte aus den Kreisen der kirchlichen Erweckungsbewegung und war bemüht, seine Zöglinge von der rationalistischen Betrachtungsweise der Religion, die sie meistens mitbrachten, abzuleiten. Dabei fiel über die Vernünftigkeit und Plattheit des geltenden Katechismus manches harte Wort, und Peter stimmte der Kritik innerlich meist zu. Aber was sein Lehrer an die Stelle setzen wollte, das leuchtete ihm deshalb noch nicht ein. Und selbst wenn nicht so viele harte Nüsse darin zu knacken gewesen wären, würde Peter das Gelehrte sich kaum innerlich angeeignet haben. Denn jenes zarte Vertrauensverhältnis zwischen Lehrer und Schüler, das gerade für diesen Unterricht unbedingt nötig ist, soll er nicht das gerade Gegenteil von dem wirken, was mit ihm beabsichtigt wird, kam zwischen Peter und seinem Direktor nicht zustande. Dieser, der in dem Pastoralzeugnis gelesen hatte, daß Peter wenig Gemüt zu haben scheine, mochte von vornherein ihm nicht ohne Mißtrauen begegnet sein, und Peter war so geartet, daß er einem Menschen, der ihm nicht mit vollem Vertrauen entgegenkam, einfach sein Herz verschloß. Er hatte das Gefühl, daß sowohl der alte Katechismus wie auch der junge Direktor sehr viel von Gott und göttlichen Dingen wußten, aber wer von beiden recht hatte, und ob überhaupt einer von ihnen recht hatte, blieb ihm ungewiß, und er fühlte auch keinen Zwang in sich, sich darüber zu entscheiden. Wenn die studierten Herren sich nicht einmal darüber klar und einig werden konnten, wenn, wie der Direktor sagte, auf den Universitäten auch der Kampf zwischen den Professoren über diese Fragen hin und her wogte, was sollte denn so ein armer Schulmeister machen?

Das Seminar war Internat, und Peter mußte sein Zimmer mit zwei Seminargenossen teilen. Und während des Unterrichts, in den Pausen, beim Essen, war er mit der ganzen Schar zusammen. Dies war ihm anfangs nicht unangenehm. Es riß ihn ja auch von dem Grübeln über das Vergangene und Verlorene hinweg. Dieser Verkehr verschaffte ihm auch manchen Einblick in andere Art und fremdes Leben, der ihm, dem Lebensunkundigen, wertvoll sein mußte. Aber er fühlte immer wieder, daß er ein langweiliger Geselle war, der sich selbst nicht geben konnte. Was war denn in seinem Leben, das sich andern mitteilen ließ? Die andern erzählten von zuhause. Daran dachte er am liebsten nicht einmal. Die andern machten sich über die alten Schulmeister lustig, bei denen sie in die Lehre gegangen waren. Über des alten Wencke Wunderlichkeiten Witze zu reißen, fehlte es Peter sowohl an Begabung wie an Lust. Die andern zogen hin und wieder einander mit zarten Verhältnissen auf, und es waren auch mehrere unter ihnen, von denen die Rede ging, sie wüßten genau, wen sie im nächsten Frühjahr zur Frau Schulmeisterin machen wollten. Wenn auf derartiges die Rede kam, fühlte Peter einen heißen Schmerz und stürzte am liebsten davon.

Manchmal mußte er sich wundern, wie viel andere erlebt hatten, und kam sich ihnen gegenüber vor wie ein unerfahrenes, unbeholfenes Kind. Aber dann kam's ihm plötzlich wieder zum Bewußtsein, daß er viel, viel mehr durchgemacht hatte als die andern. Nur war es nicht derart, daß man davon erzählen, damit sich aufspielen, darüber Scherze machen konnte.

Einige Kameraden begegneten ihm, denen gegenüber er das Gefühl hatte, als ob aus ihnen etwas Verwandtes ihm entgegenkäme, und er versuchte, sich ihnen zu nähern. Aber zu einer wirklichen Freundschaft kam es nicht. Auch ihnen konnte er sich nicht wirklich geben, und der Boden, auf dem eine rechte Jugendfreundschaft gedeihen kann, war in ihm, der der Liebe Lust und Leid so früh und tief erfahren, wohl schon zerstört. Und das geräuschvolle, genau geregelte Anstaltsleben war dem Werden einer solchen in einem Menschen von der Veranlagung Peters ohnehin nicht günstig.

So vereinsamte er mehr und mehr unter seinen Kameraden. Die einen hielten ihn für stolz und unkameradschaftlich, andere sahen in ihm einen Kopfhänger, noch andere meinten einfach, es wäre aus ihm nicht klug zu werden. Und alle ließen ihn seiner Wege gehen und kümmerten sich nicht um ihn.

Dieses Verhältnis zwischen Peter und seinen Mitseminaristen entging auch den Lehrern nicht, welche dadurch das Urteil des mitgebrachten Zeugnisses und die eigenen Eindrücke bestätigt sahen. Als sie einmal in der Konferenz ihre Ansichten darüber austauschten, erhob sich aber doch eine Stimme des Widerspruchs. Der Jüngste des Kollegiums, der erst kürzlich von seiner Dorforgel an das Seminar versetzt war, sagte: »Ich glaube, in diesem Peter steckt mehr, als es zunächst scheint. Es fiel mir in der Gesangstunde auf, daß er musikalisch sehr begabt ist. Und da habe ich nun aus Liebhaberei angefangen, ihn im Geigenspiel privatim etwas vorzunehmen. In der Art, wie er die Geige anlegt, in dem Ausdruck seiner Augen beim Spielen liegt etwas, was mich zweifelhaft macht, ob der junge Mensch in unserm Kollegium ganz richtig beurteilt wird.« Die älteren Herren lächelten mild im Bewußtsein ihrer teils durch Universitätsstudium, teils doch durch höheres Lebensalter erworbenen überlegenen Menschenkenntnis, und der Direktor sagte, leicht verweisend: »Mein lieber junger Freund, Sie sind geneigt, die Menschen allzu sehr nach dem Verhältnis zu Ihrer geliebten Musik zu beurteilen. Peter Eggers stammt aus den gedrücktesten und unglücklichsten Familienverhältnissen, und in solchen Menschen kommt das Beste, das Herz, das Gemüt, nicht zur Entwicklung. Ich merke das besonders in der Religionsstunde. Aber den andern Herren wird das auch nicht entgangen sein.« Diese nickten, und der Jüngste schwieg. Aber er hörte nicht auf, den Vereinsamten auf sein Zimmer zu rufen – er selbst wohnte auch im Seminargebäude – und den Unterricht, den einst Schulmeister Wencke so schnell abgebrochen hatte, fortzusetzen. Er hatte an den Fortschritten seines Schülers viel Freude. Aber der Mensch blieb ihm nach wie vor rätselhaft.

Eines Abends, als über dem Geigenunterricht die Dämmerung hereingebrochen war, schloß der Lehrer das Notenheft, nahm selbst die Geige zur Hand und spielte Händels Largo. Als er den letzten Ton verklingen ließ, hörte er Peter leise schluchzen. Er legte ihm sanft den Bogen auf die Schulter und fragte teilnehmend: »Was ist dir?«

Peter schwieg.

»Willst du's mir nicht sagen?« fragte der Lehrer, indem er den Bogen auf den Tisch legte und nach Peters Hand griff.

»Ach, solche Musik wühlt alles wieder in einem auf ...«

»Was denn ...?«

Peter schwieg.

»Du hast es wohl zu Hause nicht leicht gehabt?« fragte der Lehrer mitleidig.

»Och, das ist es nicht ..« sagte Peter und schüttelte den Kopf.

»Kannst du's mir denn nicht sagen? Ich frage dich nicht als dein Lehrer, sondern als dein Freund. Einem Freunde einmal sein Herz ausschütten, das tut wohl ..« »... Als ich bei Schulmeister Wencke in Mehlingen war, .. als ich da zwei Jahre gewesen war, .. als ich letzte Ostern nach den Ferien wieder hin kam ... ich .. ich kann's Ihnen doch nicht sagen ...«

»Denn quäle dich nur nicht ... Du sagtest erst, die Musik wühle das alles wieder auf. Ja, das tut sie wohl. Aber sie bringt es auch fein sanft wieder zur Ruhe. Sie ist eine holde, freundliche Trösterin ...«

»Ja, das fühle ich wohl ...«

»Komme nicht erst in vier Tagen wieder, sondern schon morgen nachmittag. Wir wollen diese letzten Wochen bis Ostern jeden Tag ein halbes Stündchen geigen, damit du dir nachher selbst weiter helfen kannst. Willst du?«

»O Herr Seminarlehrer!« –

Peter hatte also einmal einen Menschen gefunden, der ihm mit warmem Herzen entgegenkam. Es fiel wieder einmal ein Sonnenstrahl in sein armes Leben hinein, und sogleich war's, als ob es unter dem warmen Anhauch neu aufblühen wollte. Die Kameraden wunderten sich nicht wenig, daß Peter plötzlich viel kameradschaftlicher und munterer erschien, und gingen dem Verkehr mit ihm nicht mehr so ängstlich aus dem Wege. Der Herr Direktor war erstaunt, daß Peter anfing, Antworten zu geben, die eine innere Anteilnahme verrieten. Ja, dachte er, wenn man's nur versteht, den jungen Leuten ans Herz zu kommen! In der letzten Konferenz vor der Schlußprüfung sagte er: »Über Peter Eggers habe ich mich die letzten Wochen recht gefreut. Er hat sich bei uns gut herausgemacht. Die Herren werden das auch gemerkt haben.« Die Herren nickten zustimmend, nur der Jüngste unten am Tisch nicht. Der lächelte ganz fein vor sich hin.

Peter bestand die Abgangsprüfung gut. Die halben Stunden bei dem freundlichen Manne und seiner Freundin, der Frau Musika, hatten ihm ein so frohes Lebensgefühl gegeben, daß er frisch und munter antworten konnte und in dem rechten Augenblick sich an manches erinnerte, was er einst in Wehlingen gelesen oder gelernt, aber längst vergessen geglaubt hatte. Bei der Bekanntmachung des Ergebnisses schüttelte der Direktor ihm besonders herzlich die Hand und sprach die Hoffnung aus, ihn nach einigen Jahren als Hauptseminaristen wiederzusehen.

Am Abend des Prüfungstages ging Peter zu seinem Musiklehrer, um sich von ihm zu verabschieden. Als er bei ihm eintrat, sagte dieser: »Ich habe mir gedacht, du kämst doch wohl nicht für's erste dazu, dir eine Geige anzuschaffen. Und es wäre doch schade, wenn du das Spielen unterbrechen müßtest. Ich habe nun zufällig für einen Spottpreis ein ganz gutes Instrument kaufen können und möchte dich bitten, es von mir zum Andenken und aus Liebe zu unserer gemeinsamen Freundin, der Musik, anzunehmen. Hier ist's.« Peter starrte abwechselnd seinen Lehrer und die ihm in die Hand gedrückte Geige an, und suchte nach Worten. Aber der feinfühlende Mann half ihm darüber hinweg. »Probier' man gleich mal,« sagte er munter, »oder laß uns mal zweistimmig etwas spielen. Vielleicht einen Choral? Schlag' mal einen vor! Gestimmt habe ich die Geige schon.« Peter schwieg noch immer.

»Na, was soll's sein,« fragte der andere und setzte seine eigene Geige an. Da sagte Peter hastig: »Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren,« faßte die Geige und ließ dreimal nacheinander die Saiten die jubelnde Weise jauchzen. Und der Seminarlehrer spielte ebenso freudig bewegt die zweite Stimme dazu, und dachte im stillen, indem er in Peters glückverklärte Augen sah: Das ist nun einer ohne Herz und Gemüt. O ihr klugen Menschenkenner!

Als Peter die Geige absetzte, fing er an zu stammeln: »O Herr Seminarlehrer, w ... was soll ich ... bbloß ... »Du sollst bloß den Mund halten,« sagte der lächelnd und hielt ihm den Rücken seiner Geige vor den Mund. »Was du meinst und fühlst, das hast du ja eben schon mit deiner Geige gesagt. Möge sie dir eine gute Freundin werden, die in der Freude mit dir jubelt und im Leid mit dir weint und dich durch ihr mitfühlendes Herz tröstet.«

»O Herr Seminarlehrer!« –


Am Tage darauf – es war am Sonnabend vor Palmsonntag – setzte Peter sich auf die Eisenbahn, um nach Hause zu fahren. Das gute Examen, die ihm vom Direktor gemachte Aussicht auf das Hauptseminar, die Erinnerung an den freundlichen Musiklehrer, die Geige, die in ihrem schwarzen Kasten nahe bei ihm stand, die frische Märzluft, der Sonnenschein, der in die Fenster des Wagenabteils fiel, alles wirkte zusammen, Peter in eine frohe und mutige Stimmung zu versetzen.

Auf einer größeren Station, wo die Lokomotive Wasser einnehmen mußte, stieg ein alter Bauer ein, musterte die drei Insassen des Wagenabteils, unsern Peter, einen Handlungsreisenden und eine Bauersfrau, und machte sich's bequem.

»Wat hollt he hier so lang?« fragte die Frau den Bauern.

»O,« sagte dieser trocken, »dat Peerd is noch jung; dat möß eben mal an'n Titt.« Die drei Fahrgäste lachten, jeder auf seine Art: Peter still, die Frau hehehe, der Handlungsjüngling hihihi.

Der Bauer klopfte mit dem Knöchel seines Mittelfingers auf Peters Geigenkasten und fragte: »Wat hett he dar in?«

»'n Vigelin'.«

»Kann he spälen?«

»'n bäten.«

»Denn späl he mal eenen up!«

»Och ...« sagte Peter zögernd.

»Man to; dar geiht de Tied bi hen,« fiel die Frau ein.

»Sain Se doch kain Frosch und tun Se's. Ain luschtiges Schtickche verkürzt die Fahrt durch de langwailige Lineburger Haide,« ermunterte der Handlungsreisende.

Peter, in der frohen Laune nach wohl bestandenem Examen, ließ sich erbitten, nahm seine Geige und fiedelte munter darauf los: Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus, den Dessauer Marsch, und was ihm sonst in die Finger kam.

Als er aufhörte, weil seine Station nahe war, fragte der alte Bauer:

»Is he Spälmann?«

»Nee.«

»Wat denn?«

»Scholmester.« »Wonem hollt he Schol?«

»Heww noch keen Schol. Kam hüt eben von't Seminar.«

»Deuker! Dat könn passen. Ick bin ut Solten. Dat liggt'n halwe Stund' van Brundörp. Wi brukt just'n Scholmester.«

»So–o?«

»Weet he wat? Ick kann god mit unsen Herrn Zupperndenten. Dar gah ick morrn vor de Karktied hen. Denn, schall he man sehn, kriggt he den Deenst.«

»Scholstellen sünd upstunns genog to hewn,« sagte Peter. »Wenn ener'n god Tügnis hett, kann he sick'n Platz utsöken. Makt jo keen' Umstänn' von min'thalwen, Vader.«

»Wenn ich m'r darf erlauben ain gut gemainte Rat,« mischte sich der Handlungsreisende ein, »ich wird' gehen nit zu de Bauern, ich wird gehen in de Schtadt zu de gebildete Lait'.«

»Di hollt keener fast,« sagte der Bauer trocken. »Dine Ort Art. könnt wi up'n Lanne nich bruken. Aber, wat ick man seggen woll,« wandte er sich wieder zu Peter, »god schall he't bi uns in Solten hewn. Wi sünd alltohopen gode Lüe.«

Der Zug pfiff, Peter mußte aussteigen.

»De Zupperndent well em woll schriewen. Und wenn he nah Solten kummt, denn frag' he man glieks nah Clas Mattens ...« rief der Alte ihm nach. »Aber deukerweg, ick weet ja noch gar nich, wat sin Nam' is, und wo he to hus is?«

Er lehnte sich aus dem Wagenfenster, und Peter rief dem Zuge, der sich schon wieder in Bewegung gesetzt hatte, seinen Namen und Wohnort nach. Dann machte er sich rüstig auf den Marsch nach Hause, wo er spät am Abend ankam. An die Begegnung in der Eisenbahn dachte er kaum wieder zurück.

Fünf Tage später bekam er ein Schreiben folgenden Wortlauts:

 

»Es gereicht mir zur Freude, Ihnen mitzuteilen, daß Ihre Bewerbung um den Schuldienst zu Solten, die durch den Bauern Claus Mattens an mich gelangt ist, von mir als dem Patron der genannten Stelle berücksichtigt worden ist. Ich habe Sie bereits gestern Hohem Königlichem Konsistorio präsentiert, und wird Ihre Anstellung zweifellos unverzüglich erfolgen. Es wird gut sein, wenn Sie gleich nach dem Feste sich mir vorstellen und mit den Schulverhältnissen bekannt machen wollen. Der Weg von Ihrer Heimat nach hier beträgt gute vier Stunden, was ja für einen gesunden jungen Mann eine Kleinigkeit ist. Sie müssen über Wiechel gehen.

Beerbohm, Superintendent.«

 

Peter machte große Augen, als er diesen Brief las. Er ärgerte sich zunächst, daß der zufällige Reisegenosse auf solche Weise in sein Schicksal und Leben eingegriffen hatte. Dazu kam, daß sein Vater und er sich am folgenden Tage das Schulhaus eines näher gelegenen Dorfes ansehen wollten, von dem viel Rühmens gemacht wurde. Aber bald gab Peter sich zufrieden. Aus dem Briefe des Superintendenten schien ihm Wohlwollen zu sprechen. Der alte Bauer in der Eisenbahn hatte ihm auch nicht übel gefallen, und allzu nahe bei Muttern zu bleiben, darauf kam es ihm ja nicht gerade an.

Am Dienstag nach Ostern machte Peter sich auf, um seinen Vorgesetzten und seine künftige Wirkungsstätte kennen zu lernen. Der Vater bestand darauf, ihn zu begleiten.

Anfangs gingen sie schweigsam nebeneinander. Aber bald kam es Peter vor, als ob der Vater etwas Besonderes auf dem Herzen hätte. Er räusperte viel und spuckte übermäßig oft aus. Endlich machte er Anstalt, damit herauszukommen.

»Peter, ick mutt di mal wat seggen.«

»Man to, Vader.«

»Weeßt du, wat Mudder und ick uns dacht hewwt?«

»Nee.«

»Wi wollen woll mit di trecken ziehen.

»Mit mi? Nah Solten?«

»Ja, min Jung. Süh, dat is bäter för di. Denn mak ick di fein dat Land to Schick in Ordnung.. Du kriegst da doch nix van torecht. Bist ja de starkste nich, din sel' Mudder wör't ok nich. Und Trina, de kakt kocht. di denn wat ... Dat du dine Uppassung Aufwartung. hest ... Süh, 'n Fro kannst du di noch nich nehmen. Da bist du to jung to ... Wat makst du för'n Gesicht? ... Is Trina de lesten Johren nich jümmer ganz god mit di wän?«

»Och ja, bat güng woll ...«

»Süh, uns well dat in dat ole Hüsselhus gar nicht mehr recht gefallen. De Bur lett us bat Dack so rein öwer'n Kopp tohopen fallen. Und Land hewwt wi ok nich genog to Katuffeln for de välen Kinner.«

»Und de schöt denn ok alle mit nah Solten?«

»Alle nich. De beiden öllsten könnt wi all verme'en vermieten.

»Denn sünd dat noch veer ...«

»Nee, fief.«

»Is dat nich'n bäten väl för so'n Scholhus?«

»Och nee. Wenn de in so'n Hüsselhus ünnerkreepen unterkriechen. könnt, hewwt se in so'n grot Scholhus Platz mehr als to väl.«

»Meenst du ..?«

»Hm, füh, bat wör doch schön, wenn du dine lütten Bröers und Süsters Brüder und Schwestern. sülfst as Scholmester lehren künnst.«

»Och, ... dat will ick just nich seggen. Und wenn se mal wecke verdeent hewwt und ick hau' jüm, wat seggt ehre Mudder denn?«

»Dar is se god van stellt damit ist sie sehr zufrieden.. Up't Hauen hollt Trina grote Stücke.«

»Dar hest du recht. Aber wenn ick ehr Fleesch und Blod hauen do, dat well ehr doch woll nich passen.«

»Och, Peter, dat well so slimm woll nich wän. Und dat se di fleit, da brukst du nich bange vör to wän. Se fat't di nich mehr an.«

»Is dankenswert. Dar harr ick ok keene rechte Lust mehr to.«

»Du bist also davon tofreden, dat wi mit di treckt ..?«

»Och Vader, da mutt ick mi erst up besinnen. Wi möt ok erst tosehn, wenn dat in Solten mit dat Hus und dat Annere passen deit.«

»Da hest du recht; deshalw bin ick ok hüt mit di gahn.«

Als sie in Brundorf bei der Kirche anlangten, trennten sich ihre Wege. Der Sohn ging nach rechts zur Superintendentur, der Vater nach links in ein Wirtshaus, um seine Rückkehr zu erwarten.

Peter wurde von einem älteren, sehr behäbigen Herren freundlich aufgenommen, wegen des guten Zeugnisses, das eben angekommen war, beglückwünscht und in das Sofa genötigt.

Darauf belehrte der Superintendent ihn über die Schulverhältnisse, die er in Solten vorfinden würde. Die Schule wäre ein Jahr lang bei dem großen Lehrermangel unbesetzt geblieben. Da würde viel nachzuholen sein. Und eine frische, junge Kraft sei da gerade am Platze.

Peter versprach, er werde sein Bestes tun.

»Welches ist Ihre religiöse Stellung?« fragte der geistliche Herr plötzlich und unvermittelt, und sein joviales Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an.

Peter sah ihn verdutzt an. Danach hatte ihn in seinem ganzen Leben noch kein Mensch gefragt. »Meine religiöse Stellung?« wiederholte er langsam, um Zeit zu gewinnen, sich die Antwort zu überlegen.

»Ich wollte wissen, ob Sie etwa Pietist sind,« erklärte der Superintendent seine Frage näher.

»Pietist?« fragte Peter zögernd. Die Spitznamen, mit denen die verschiedenen kirchlichen Richtungen einander belegten, waren ihm nicht geläufig.

Der Geistliche machte eine ungeduldige Handbewegung. »Dann muß ich mich deutlicher aussprechen. Der neue Seminardirektor ist so einer von den neumodischen Pietisten, die die Welt um zweihundert Jahre zurückschrauben und den Leuten die Köpfe verdrehen möchten. Ich wollte gern wissen, ob er das bei Ihnen auch fertig gebracht hat.«

»Der Herr Seminardirektor,« sagte Peter, »lehrte in vielen Stücken anders als unser Landeskatechismus, den wir in der Schule gelernt haben. Ob aber seine Lehre so viel besser war, wie er immer behauptete, das kann ich nicht entscheiden.«

»Es freut mich sehr, mein lieber junger Freund,« sagte der alte Herr sichtlich erleichtert und klopfte dem jungen Schulmeister auf die Knie, »daß Sie sich nicht haben einfangen lassen, daß Sie sich Ihre geistige Freiheit und Selbständigkeit bewahrt haben. Ich begreife gar nicht, was diese Menschen darin finden, uns immer wieder mit ihren alten unklaren, mystischen Geschichten zu kommen. Gott, Tugend, Unsterblichkeit, diese drei Größen stehen fest. Der Philosoph Kant hat sie ein für allemal als Postulate der praktischen Vernunft nachgewiesen. Was darüber ist, das ist vom Übel.«

»Ja,« sagte Peter nachdenklich, »diese Dinge sind sehr schwer.«

»Was? Schwer?« fragte der andere verwundert. »Absolut nicht schwer. Man muß nur seinen gesunden Menschenverstand gebrauchen. Dann ist alles ganz klar. Daß ein höheres Wesen diese wunderschöne Welt geschaffen haben muß, daß wir Menschen ohne Tugend nicht menschenwürdig leben können, und daß für die vielen Ungerechtigkeiten dieses Lebens einmal eine ausgleichende Gerechtigkeit eintreten muß, das werden Sie doch nicht leugnen wollen?«

»Gewiß nicht, Herr Superintendent, ich will gar nichts leugnen,« sagte Peter.

»Es freut mich wirklich,« nahm der andere wieder das Wort, »erst einmal die Gewißheit zu haben, daß Sie kein Pietist sind. Einen solchen könnte ich in Solten auch nicht gebrauchen. Die Verhältnisse sind nämlich in dieser Beziehung dort etwas verwickelt. Freilich, der Kern der Bevölkerung besteht aus vernünftigen Leuten. Die Tätigkeit meines Amtsvorgängers, und meine eigene – das darf ich in aller Bescheidenheit sagen – haben in der Gemeinde sehr aufklärend gewirkt und die alten verstaubten Spinngewebe zum größten Teil aus den Köpfen herausgebracht. Nun ist aber gerade in Solten mir vor einer Reihe von Jahren der Wolf in die Herde gebrochen. Ein fremder Schuster, aus der Rheingegend zugewandert, ist dort hängen geblieben und hat sich eine Anbauerstelle erheiratet. Der hält wenig auf die Kirche, ist ein echter Pietist und Okkultist, und sucht in Solten Anhang zu gewinnen. Und, wie ich leider sagen muß, nicht ganz ohne Erfolg. Es gibt ja immer urteilslose Menschen, die so einem nachlaufen. Ich hoffe nun, daß Sie dort dem verderblichen Treiben dieses Mannes entgegenarbeiten und nicht nur in der Schule, sondern auch außerhalb derselben aufklärend wirken werden ... Übrigens, ich habe gleich von vornherein die besten Hoffnungen auf Sie gesetzt. Unser alter prächtiger Claus Mattens, der Sie neulich in der Eisenbahn für uns eingefangen hat, hat mir erzählt, wie Sie da im Zuge frank und frei Ihre Geige aus dem Kasten genommen und eins nach dem andern gefiedelt haben. Solche frischen, lustigen jungen Leute, die das Leben genießen, natürlich in Züchten und Ehren, die habe ich für mein Leben gern. Denn ich bin auch einmal jung gewesen. Da dachte ich gleich: Der ist kein Kopfhänger, und heute habe ich ja darüber Gewißheit bekommen. Na, wie denken Sie sich denn nun einzurichten?«

»Das weiß ich noch nicht gewiß,« sagte Peter. »Meine Eltern denken halb und halb daran, mit mir zu ziehen.«

»Ach du meine Güte! Aber das Schulhaus hat ja nur eine einzige Stube außer dem Schulzimmer, und Sie haben Reihetisch bei den Bauern.«

»Soo?«

»Ja, hat Ihnen das denn der alte Claus Mattens nicht gesagt?«

»Nein.«

»Und Sie haben sich danach nicht erkundigt?«

»Nein, dazu war keine Zeit; ich mußte aussteigen.«

»Und dann bewerben Sie sich um die Stelle?«

»Herr Superintendent, ich habe mich nicht beworben. Der Mann sagte, ich müßte in Solten Schulmeister werden. Ich hielt das für Spaß, und habe gar nicht wieder daran gedacht, bis ich dann auf einmal Ihren Brief kriegte.«

Der alte Herr schlug die Hände zusammen und schüttelte sich vor Lachen. »Dieser alte Schlauberger! Darum kam er so pfiffig an und sagte: ›Herr Zupperndent, ick heww uns'n Scholmester infungen, 'n ganzen nüdlichen frischen Jungkeerl.‹ Aber schön war das nicht von dem Alten, Sie so hinters Licht zu führen. Aber schließlich, was soll man dazu sagen? Jeder ist sich selbst der nächste. Für sein Dorf hat der Alte gut gesorgt. Ich fürchtete schon, die Stelle müßte wieder unbesetzt bleiben. Und ein paar Jährchen werden Sie es da schon aushalten. Nur, daß Sie Ihre lieben Eltern mitbringen, das ist unmöglich, so leid es mir tut.«

»Och,« sagte Peter, »das schadet am Ende nicht ganz viel.«

»Es sollte mich freuen,« versetzte der andere, »wenn diese Enttäuschung nicht gar zu groß für Sie wäre ... Um aber noch einmal auf die eigentümlichen Verhältnisse in Solten zurückzukommen, ich möchte Sie bitten, sich den Pietistenschuster vom Leibe zu halten und ihn überhaupt nicht zu besuchen. Er wird's natürlich probieren, Sie für seine überspannten Gedanken zu kapern und durch Sie Einfluß auf die Jugend zu gewinnen. Denn wer die hat, hat ja die Zukunft. Also hüten Sie sich vor ihm, gehen Sie ihm aus dem Wege! Junge Leute von Ihrem Alter sind noch nicht innerlich gefestigt genug, um solchen Einflüssen, wenn sie ihnen Zutritt zu sich gestatten, den nötigen inneren Widerstand entgegenzusetzen. Und dann noch eins, aber im Vertrauen. Wir haben einen sehr vernünftigen Amtshauptmann, der durchaus nicht gewillt ist, solches Konventikelwesen der Dunkelmänner in seinem Bezirk um sich greifen zu lassen. Der würde uns ganz gern einmal seinen Landjäger zur Verfügung stellen. Also, wenn Sie etwas merken von polizeiwidrigen Abendversammlungen und Zusammenrottungen in den Häusern, so machen Sie mir gefälligst Meldung. Ich habe auch schon einigen zuverlässigen Bauern einen leisen Wink in dieser Richtung gegeben. Aber es ist nun einmal so, gegen die Geistlichkeit hält diese Gesellschaft immer zusammen, und den Landjäger sehen sie nicht gern in ihrem Dorf. Also ich verlasse mich auf Sie. Ich würde Ihnen nun raten, sich heute gleich Ihren künftigen Wirkungskreis und Ihr Häuschen anzusehen. Und dann treten Sie Anfang nächster Woche frisch und fröhlich Ihren Dienst an.«

Peter war aufgestanden, machte den tiefen und steifen Bückling, den er Schulmeister Wencke abgesehen hatte, und bekam von seinem freundlichen Vorgesetzten einen warmen Händedruck zum Abschied.

Als er in die Gaststube des benachbarten Wirtshauses trat, um seinen Vater abzuholen, blickte dieser, hinter einem Schnapsglas sitzend, mit gerötetem Gesicht ihn höhnisch an und sagte, unbekümmert um die Anwesenheit einiger Gäste: »Du bist doch'n Döskopp und bliwst'n Döskopp.«

Peter war starr mitten im Zimmer stehen geblieben und fragte aufs höchste erstaunt: »Wat is denn?«

»Läßt di dor de slechste Scholstelle in't ganze Land uphangen, läßt di von so'n olen Glattsnacker in de Iserbahn so anfleiten, dat de nu in alle Wirtschaften vertellen kann, wat ick for'n Dämelklas van Jungen heww. Hähähähä.«

»Aber Vader, besinn' di doch!«

»Ick? Ne besinn' du di! Wer hett domals, as em dat verlöwt würd, Scholmester to weern, sinen Vader verspraken, bat he em helpen wull, de lütten Kinder grot to kriegen?«

»Vader!«

»Wer harr dat grote Wort, dat he sin' olen Öllern, de so väl Godes an em dan hewwt, to sick nehmen woll?«

»Vader,« sagte Peter, sich mühsam beherrschend, »ick gah nu nah Solten, wullt du mit?«

»Ick? Hähähä. Ick? Wat heww ick da to söken? In dat ole Muslock, wo nich mal een Morgen Land to hört, hä! Gah man alleen und kiek di dine Dummheit an! Hüt abend kummst du hier wedder för und halst mi aff. Weertsmann, schenk mi noch'n Lütten in! Wenn ener as Vader so'n Dämelklas van Jungen hett ...«

»Affhalen do ick di nich,« sagte Peter hart und bestimmt, »ick kann god ahn' di hensinnen wo ick hen will.«

Der Vater stürzte eben hastig sein Glas hinunter.

»So is't recht,« fuhr Peter voll Bitterkeit fort, »sup di man düchdig enen an, dat de Lüe glieks Bescheed weten, wat de nee Scholmester för'n Vader hett. Adjüs.«

»Du verdammte Jung,« keuchte Harm Eggers und sprang in voller Wut auf. Aber er wurde von zwei Männern, die mit ihm am Tische saßen, festgehalten. Und Peter ging aufrecht und die Füße hart aufsetzend hinaus. Draußen hörte er noch, wie der Vater drinnen lärmte und fluchte, und mit schnellen Schritten eilte er davon.

Es kam ihm zwar für einen Augenblick ein leises Gefühl der Reue, daß er mit solchem pietätlosen Wort von seinem Vater geschieden war. Aber ein inneres Kindesverhältnis zu dem Manne, der in den letzten Jahren durch den Trunk immer mehr heruntergekommen war, hatte er eigentlich doch nicht mehr gehabt. Dann war es ja schließlich zu ertragen, wenn das äußerliche lose Band nun auch durchgerissen war. Und das Neue, dem er entgegenging, brachte ihn schnell über solche Gedanken hinweg.


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