Karl Söhle
Musikantengeschichten
Karl Söhle

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Eroika

»Gott sei Dank, es ist so weit, endlich schlägt's zwölfe nebenan in meiner Wohnstube!« Gleich deutlich wie die bedächtigen Schläge ist auch das anhaltende unwillige Rasseln der alten Schwarzwälderin in der Schulstube zu hören. Neben dem Schulpulte, in feierlicher Haltung, die Rechte auf dem Busen zwischen den oberen Rockknöpfen eingeschoben, steht hier der junge Lehrer des Heidedörfchens.

Sehr ernst schaut Lehrer Berkebusch heute auf die Reihen flachshaariger Kinderköpfe vor sich in den Bänken, und ganz blaß und kummervoll sieht er aus, wie ein Leichenbitter. Als der zwölfte Schlag verhallt, entringt sich dem steif und starr Dastehenden noch ein halb unterdrückter Seufzer, und zugleich macht sein Kopf mit den langen und gewellten hellblonden Haaren eine leise Seitenwendung, und die Augen streifen scheu das Schulpult: »Hat sie's denn noch nicht satt, die vermaledeite Kreuzspinne, soll ich armer Schmetterling im Netze noch länger zappeln, will sie das Zupacken und Aussaugen immer noch aufschieben? Das nenn' ich grausam, das nenn' ich teuflisch!«

Nach einer Weile wagt er hüstelnd einen Schritt vorzutreten. – Nun macht er auf das Pult zu gar eine respektvolle Verbeugung, mit einiger Anstrengung, und ein paar große Schweißtropfen kommen auf seiner Stirn ins Rollen. »Deine Schulprüfung ist zu Ende – die erste 214 war's – Gott steh mir bei, ach, elend genug ist sie ausgefallen, wahrhaftig, und, um Gottes Willen, was wird er nur dazu sagen?«

Hochwürden war ja am Morgen gleich schlecht gelaunt gekommen. Die reichlich zwei Stunden öden Heidewegs vom Pfarrdorfe herüber, ja, ach Gott, die hatten höchstseine Leiblichkeit wohl von vornherein verstimmt. Und nun die Prüfung! »Vielleicht, daß dich das Singen noch herausreißt,« hatte der junge, blonde Lehrer gehofft, als beim Kopfrechnen seine besten Paradebuben, einer nach dem andern, schmählich versagt hatten. Das verfl . . . Kopfrechnen aber auch! Singen konnten die Kinder aus guten Gründen recht gut. Ja, aber, als der erste Vers von »Alle Vögel sind schon da« noch nicht mal zu Ende gewesen war, da hatte Hochwürden finster die Augbrauen gekraust, und er hatte seine Brille die Stirn hinaufgeschoben, weit hinauf, bis fast ans vorgekämmte Grauhaar, und er hatte nun statt weiter zuzuhören die Versäumungslisten und die Lehrstoffverteilung aus der Schublade sich hervorgeholt. Kritischen Blickes, daß es einen kalt überlaufen konnte, unheimlich vertieft hatte er darin herumstudiert, und seine Augbrauen, ach, die waren immer krauser geworden und unheildrohender. O weh, die Unordnung in den blauen Quartheften! –

»Wollen Sie schließen, Herr . . . re.« spricht Hochwürden endlich, langsam und silbenschwer und grausam volltönend.

Die für heute extra sauber gewaschenen und gekämmten Buben und Mädchen drängen sich eilig aus den Bänken, ja, die vordersten poltern nur so heraus und ins Freie, wie wenn man einen Sack Apfel ausschüttet. Und die 215 Väter in langschößigen Gottestischröcken, die Mütter in schwarz und lilafarbenen Busentüchern, in breitbänderigen, komplizierten Hauben, auch die erheben sich, steif und nöhlig und verlassen die Schulstube. »Adjüs ok, Herr Superdent!« Auch die würdesamen vier Schulvorsteher torkeln endlich ab. Vorher hatten sie aber erst noch eine ziemlich geheimnisvolle Besprechung mit dem hochwürdigen Herrn.

Wovor der junge Lehrer Karl Berkebusch begründete Furcht hat: die Kritik beginnt. Erst mißt der geistliche Herr den Sünder mit einem langen und tiefen Blick. Sodann tut er einen Seufzer, und er schneuzt sich geräuschvoll. Endlich fällt der gelockerte Pfropfen aus dem Spundloch, und der Rede Schwall ergießt sich auf den blaß und stumm Dastehenden. »Man weiß ja, wie's zusammenhängt,« schließt Hochwürden, »ganze Tage über sitzen Sie an Ihrem Klavier, jawohl, und vernachlässigen gröblich Ihre Pflichten. Aber das muß nunmehr anders werden, von heute ab, ich meine, wenn Sie im Schulamte verbleiben wollen. Ich werde weitere Pflichtverletzungen ernstlich zu ahnden wissen. Herr . . . re, disziplinarisch, mit aller gebotenen Strenge. Merken Sie sich das. Musik, Klavierspiel, pah: brotlose Künste! Schade darum, wahrlich, um die damit vergeudete kostbare Zeit! Pädagogik und Methodik – gründlich Methodik vor allen Dingen sollten Sie statt dessen lieber treiben, mit allem sittlichen Ernst, denn fürwahr, Methodik tut Ihnen not, Verehrtester. Und nehmen Sie mir's nicht übel: Ihre Musik hier, was bedeutet denn die! Haben Sie überhaupt schon einmal etwas Rechtes gehört, ich zweifle. Konzerte meine ich, ordentliche, ernsthafte, von berühmten Leuten. Die gibt's ja nur in großen 216 Städten, hm, und Sie waren in Ihrem Leben wohl kaum einmal in einer. Wo Sie auf dem Seminare waren – na, was hört man denn in so einer kleinen Landstadt Gescheites?«

Der junge Lehrer bringt kein Wort über die Lippen. Er beißt nur fest die Zähne aufeinander, und er preßt die Hände an die Hosennaht. Und zum Überfluß muß der erzürnte Vorgesetzte ganz zuletzt auch noch mißliche Einblicke in seine Schulzucht tun. Als der junge Schulmeister seinen Herrn Vorgesetzten eine Strecke weit begleitet, anstandshalber, auf einem Richtepfad queröd durch die Heide bis an den bequem begänglichen Kirchweg, da betragen sie sich draußen, die kleinen und großen Schuljungen, im Genuß ihrer heute sauer errungenen Freiheit, daß es eine wahre Schande ist, wahrhaftig. Auch nicht einem fällt es ein, hübsch manierlich vor Hochwürden die Mütze abzunehmen. Frech und respektlos gaffen sie herüber. Sie spielen Fippsen, Schaperball, Sautreiben, und sie machen einen Heidenlärm dabei, sie jachtern, schreien, gröhlen und lachen.

Nach dem recht frostigen Abschied wendet der Schulmeister auf einem anderen Wege sich seinem Dorfe wieder zu. Freundlich scheint die Mittagssonne auf die Heide herab. Die hat noch Wintergedanken und brütet still mürrisch vor sich hin: grau in grau hält wetterfest, dabei bleibt's. Anders auf den der Heide abgerungenen Saatäckern am Wege. Hier werden die warmen Grüße der Aprilsonne verstanden und dankbarlich erwidert. Des Wanderers Augen saugen sich fest an dem frischen Grün der Saathalme. Der verflossene Winter war merkwürdig gelinde gewesen. Von Eis- und Schneenot fast völlig verschont geblieben, prangte die Erde schon zu Ostern im schönsten, 217 hochzeitlichen Maienschmuck, als sollten Ostern und Pfingsten einmal an einem Tage zusammen gefeiert werden. Im Februar bereits, als die Haselbüsche merkten, daß die Weiden ernst machten, flugs hatten auch sie Hochzeitsgedanken, und es währte nicht lange, da steckten auch die Kastanien ihre klebigen Knospen heraus, weiter und immer weiter. So war's schon im April völlig Frühling geworden. Berkebusch fühlt, wie der Frühling ihn grüßt. Von allen Seiten, wohin er blickt. Da, freudezitternden Flügelschlags erhebt sich eine Lerche, langsam aufsteigend, mit jubelndem Tirili, von einer Ackerscholle, ganz nahe vor ihm. Und darauf, nach einer Weile vernimmt er die lieblichen Strophen eines Rotkehlchens. Vom Kiekebusch herüber, dem Gemeindewalde. »Ihr lieben Frühlingsmusikanten, oh, ihr, wie habt ihr's gut! Und unsereiner dagegen! Tun müssen, was man nicht mag, nicht kann – ach, ich elend Unkraut im Garten Gottes! Die Musik, die geliebte – meine Musik: nur Spott hat man dafür. Ach, wozu nützen mir meine musikalischen Anlagen!« – Da – noch ein entzückendes Trillern, Rieseln, und das Rotkehlchen verstummt, es fliegt weg. »Könnt' ich's machen wie du. Wegfliegen. Weit weg, in die Welt, und Musik machen, immer nur Musik machen. Aber gelänge mir's denn auch: hätt' er recht, Hochwürden?«

Gesenkten Kopfes, trübe vor sich hingrübelnd, geht der Schulmeister weiter. Als er in recht gedrückter Stimmung schließlich im Kruge zum Mittagessen anlangt, da ist schon abgeräumt worden, so spät hatte man ihn nicht mehr erwartet. Zwei Bauern aus dem Dorfe sitzen in der Gaststube hinter ihrem Schluck, am blankgescheuerten Tische, Jürgen Klußmann und der alte Schliephake, einer von 218 den Schulvorstehern. Beide waren in der Prüfung gewesen, und sie sind nun, auf dem Heimwege, hier eingekehrt. Ihre Höfe grenzen aneinander, jenseit der breiten, stattlichen Landstraße, die das Dorf durchschneidet. Der feiste, alte Klußmann mag den Schulmeister eigentlich wohl leiden, und oft legt er deshalb ein gutes Wort für ihn ein, wenn im Kruge, in der Spinnstube über ihn geklatscht wird. Anders freilich der alte Schliephake, und der ist so ein alter Heimlicher, so ein alter »Apportenträger«, und kein Mensch traut ihm. Die Bauern machen eigen verdutzte Gesichter, als der Schulmeister so unvermutet eintritt. Sie sprachen sicherlich von der Prüfung, und kritisch. Auch die alte Thölen, die schlumpige Wirtin, die macht ihm unter ihrer schmuddeligen Nachthaube kein freundliches Gesicht. Sie sieht aus wie eine Schleiereule. Und der sonst so gutmütige und beflissene Gerd, ein bejahrter Junggesell und Anverwandter des Hauses, der bleibt träge und einsilbig auf der Ofenbank hocken heute, und er hat nur Sinn für seinen Piepenbrösel. Sehr nachdenklich blinzelt Gerd aus seinen kleinen, rotränderigen Schlitzaugen den Ringelwölkchen seiner Pfeife nach. Er war auch in der Prüfung gewesen.

Nur wenige Löffelhappen aus dem irdenen Kump – prrr, wieder Kohlsuppe! – genügen ihm heute: als Spannhake, der Landbriefträger, kommt und das Kreisblatt ins Fenster reicht, da läßt der Schulmeister schnell seinen Kopf dahinter verschwinden.

Plötzlich aber springt er wie emporgefedert auf. Sein Gesicht glüht. Seine Hände zittern. Seine Augen sprühen. »Hin – hin, ich muß, ja, koste es, was es wolle – Hans von Bülow – Beethoven, die Sinfonia eroica219 die Meininger Hofkapelle heute da, heut' abend in der Tonhalle.«

»Na nu!« Alles schaut ganz bestürzt herüber. »Wat, is de nich ganz bi sick?« Der gute und beflissene Gerd hakt vor Überraschung sogar seine Pfeife aus ihrer Mundrinne, und er streckt das zernagte Mundstück weit von sich ab.

Der Schulmeister blickt auf die Uhr. »Halb zwei – in fünf Stunden kann ich hinkommen in die Stadt, wenn ich scharf ausschreite. Halb acht beginnt's. Und gleich, wenn's aus ist, wandere ich zurück.«

Die Beobachter blicken starr einander an. Keiner redet ein Wort. Vater Schliephake horcht mit dummkluger Miene.

»Alles von Beethoven! – und Bülow, er spielt selber Klavier, Hans von Bülow, der große, weltberühmte Meister! Wahrhaftig, und er spielt das große Es-dur-Konzert, das wunderbare, da steht's im Programm, die zweite Nummer!«

Hastig tritt Gerd an ihn heran: »Wat – wat hewwt Sei, Herr Barkebusch, wat is los mit Sei?«

Doch Berkebusch hört und sieht nichts. »Heut' muß sich's entscheiden, muß ich mir klar werden über mich.« Und er reißt seinen Hut von der Wand und tritt in die Mitte des Zimmers. »Gott, Beethoven, Beethoven! Wie hab' ich die Sonaten studiert! Überhaupt lange schon vorm Seminar – wer konnt' es auf dem Klavier, auf der Geige mit mir aufnehmen!?« Er holt darauf seinen Beutel aus der Tasche: »75 Pfennige kostet der Galerieplatz, und noch für zwei Glas Bier: es langt zu. Mutter Thölen, bitte, wickeln Sie mir ein Stück Speck und Brot ein für unterwegs. Gerd, leihen Sie mir doch Ihren Handstock?«

»Hei makt leiwerst Musike, du, Klußmann, up sin 220 Klavezymbel, du, stats de Kinner tau liehren, unse Schaulmester, jawoll, un 't is ok woll am besten, hei gaht ganz unner de Mus'kanten, ick denk', Herr Superdent glöwt dat ok!«

Der Schulmeister blickt starr den alten Schliephake an, und er schwankt einen Augenblick. – Nun rafft er sich auf. »Bin zur Schule morgen wieder am Platz!« Und im Nu ist er verschwunden.

Darinnen aber die Bauern, was für Gesichter, wie ist man erstaunt, wie ist man überrascht – schier wie im Umfallen jäh geplatzte Kartoffelsäcke! Was für ein Kapitel für den Dorfklatsch! Der alte hämische Schliephake faßt sich zuerst. Und sogar der gute Gerd und Jürgen Klußmann heben heute Steine auf gegen den Schulmeister, wenn auch die kleinsten. »Hei hat Grappen in 'n Kopp, hei is wat verdreiht,« darüber ist man sich einig. »Nä, Kinners, un sin Speelen up sin oll dämlich Klavezymbel, wo dat ludt, keinen Lustigen nich, wo man na danzen kann, keinen Schüttenhoffmarsch –«

»Ja, äwerst,« beschwichtigt der alte Jürgen: »hei meint 't süß all gaud, unse Schaulmester. Wenn se ok nich räken (rechnen) könnt, schön singen liehrt de Kinner bi öm, dat is wohr.« Und Gerd, der währenddem ausgeschüttet und frisch wieder gestopft hat, der spuckt aus. Er spuckt zum zweiten, zum dritten Male aus, und er setzt hinten an seiner Hose einen »Rietsticken« in Brand, und endlich nickt er dem alten Jürgen beistimmend zu.

* * *

Auf der Landstraße, unter den herrlichen alten Wegbirken eilt der Schulmeister schnellen Schrittes dahin. Balsamischer 221 Südwestwind bewegt über ihm das tiefherabhängende Rutengezweig wohlig hin und her, und köstlich duften die glänzenden und wickelfaltigen jungen Blätter. Es ist die breiteste und stattlichste Landstraße weit herum in der Gegend. Napoleon habe sie angelegt, heißt es, und vor der Eisenbahn, ja, da habe es anders darauf ausgesehen. Ununterbrochen, in langen Zügen wären damals hier die dickbäuchigen Lastwagen dahingerasselt, begleitet von Fuhrleuten, in blauen Kitteln, und lustig hätten die gepfiffen und gesungen und mit der Peitsche geknallt, und sie hätten zwischendurch aber auch »ganz barbarschen« geflucht und schandiert.

Nach einer Weile läuft die Landstraße am Kiekebusch hin, an dessen schönster Seite, eine gute Strecke weit, da, wo über den Erlen und Weiden am Rande die großen alten Eichen so stolz aufragen und wo auch der einsame Pfad bis nahe ans Schulhaus hinauf in ihn mündet. Berkebusch liebt den Kiekebusch, er liebt ihn wie sein Leben. Täglich verweilt er in ihm. Heute aber hat er keinen Blick für seinen Kiekebusch übrig.

Fast zwei Stunden ist er so dahin gewandert, da kommt er durch ein größeres Nachbardorf, und hier muß er am Schulhause vorüber. Darinnen beim alten Kantor Mügge nicht vorzusprechen, das hätte er für ein Verbrechen gehalten zu jeder anderen Zeit. Heute dagegen trachtet er, seinen Gang beschleunigend, unbemerkt vorüber zu kommen. Aber o Schicksal: im Garten steht des Kantors braunäugiges Töchterlein, und Schön Elsbeth ruft ins Haus hinein: »Herr Berkebusch ging vorbei, er will nichts von uns wissen.«

Die Stadt ist schneller erreicht, als der Schulmeister sich dessen versah. Und er erkundigt sich nach dem kürzesten 222 Weg zur Tonhalle. An einem Zaun sieht er ein großmächtiges Plakat kleben: »Tonhalle – größtes Etablissement Nordwestdeutschlands – Beethovenabend – Bülow – Preise der Plätze.« – Also kein Zweifel, es hat seine Richtigkeit damit.

So wie er ankommt, eilt der Schulmeister gleich dahin, abgemattet, bestäubt, schwitzend. Der Wirt der Tonhalle, ein beleibtes Männchen, etwas verwachsen, sehr elegant gekleidet, die großen Füße in modisch spitzigen Schuhen, der tritt zufällig im Flur ihm entgegen. Hell und schlau, doch auch menschenfreundlich schaut er aus den Augen. Er mustert den Ankömmling. »So schüchtern, so absonderlich – ohne Zweifel ein Dorfschulmeister. Womit kann ich dienen?«

»Ich komm' vom Lande herein, aus der Heide – bin fünf Stunden gelaufen – und ich möcht das Beethovenkonzert heut' abend hören, das möcht' ich – mein Name ist Berkebusch, Lehrer.«

»Ei, mein Lieber, da können Se mir aberst leid tun, alle Karten sind schon seit gestern vergriffen, total vergriffen.«

Niedergedonnert steht der Schulmeister da. Er hebt endlich die Hände mechanisch.

»Herrgott, i wie fangen wir denn dat an? Nee, nee, mein Lieber, Ihnen muß geholfen werden, dat dauerte mich denn doch zu sehr.«

Ein Kellner kommt, und laut ruft der Wirt ihm zu. »Halt, Franz. fragen Se doch mal den Oberkellner. ob's nich möglich wär' – de lütje Kabine oben links überm Orschester – ob man rinn kann, ob de Versatzstücke un ob de Kisten un Weinkörbe da nu endlich ausgeräumt wären?« 223

Der Oberkellner selber hatte den Chef sprechen hören. Er trug gerade nebenan im Kontor ins Hauptbuch ein. Aus der nur angelehnten Tür hört man ihn rufen: »Allens in Ordnung, Herr!«

»Nu denn, Herr Berkebusch – ich mach' mir 'n Vergnügen daaus –: so wär' Ihnen ja geholfen! Na, un nu sein Se man nich weiter betrübt, kommen Se, ich lass' Sie da oben rein! Da können Se den ganzen Saal übersehen. Nee, wat de mick all Knöp kost hat! Den Deuker, da war doch Neujahr 'n Wasserrohr geplatzt, jawoll, oben an de Decke. Au die Überschwemmung, der Schaden! De ganze schöne Vergoldung, – hin war se. 'ne Schann' wert, wohrhaftig! Un da baben antaukamen! Verdamigte Geschicht'! Seh'n Se, mein Lieber, der Kram hat mich bare zweihundert Daler gekost – bare tweehundert Daler, segg ick! Un von da oben können Se unsen Oberbürgermeister sehen, heut abend, un den reichen Fahlenkamp – neun Häuser hat er am Bürgerpark, un unsen Beigeordneten Dörgeloh können Se da sehen, un Mehlhose, ja, un Wichsefabrikant Pook, un de hat nu ok all sine Million up 'n Drögen. Haben's anzufangen gewußt. Man muß 's anzufangen wissen, mein Lieber. Na, kommen Se man, Herr Berkebusch, kommen Se, schnell, woll'n gleich mal in 'n Saal, will Se gleich selwer mal rumführen. I watt, nicks tau danken, kamen Se man.«

Ehe Berkebusch zur Besinnung kommt, steht er inmitten des Saales. Zum ersten Male in seinem Leben sieht er einen großstädtischen Konzertsaal. Seine Blicke irren ängstlich in dem mächtigen Hohlraume umher. So ein großer, leerer Saal, wie ist er öde und unbehaglich, im kaltkritischen Licht des Tages! So kalkig grob kriechen sie an den 224 Wänden herum, die Mäander, Rosetten, Girlanden, und die Farben, wie sind sie grell und gemein! Und die erloschenen, toten Lampen des großen Kronleuchters oben!

Die Hausdiener haben noch mit der Numerierung der Stühle zu tun. Ihr eilig Hantieren, Poltern, Anstoßen durchhallt das ganze Haus. Auf dem Podium sind die Pulte bereits ordnungsmäßig aufgestellt. Ein mürrisches, dienendes Wesen legt just die Stimmen auf. »Fagotto II, Corno I, Tromba II, Trombone basso,« vermag Karl Berkebusch auf einzelnen grauen Heften zu entziffern. Ihm wird eigen dabei zumute.

Mit sichtlicher Befriedigung nimmt der Wirt das rundäugige Staunen seines Schützlings wahr, und die gutmütigen Grübchen auf seinen breiten Backen vertiefen sich halb ironisch. »Macht der Augen! Sehen Se, da oben in der Ecke, wo's frisch gemalt is – wie gesagt, mein Lieber, bare zweihundert –«

Da ruft der Oberkellner in den Saal hinein: »Herr, de Reisende van de Firma Segelke is da van wegen de Wienbestellung!«

»Komm' sofort. Ei Sapperlot, das tut mir aberst leid! Da mudd ick furns sülwer henn, 't gaht süß allens verquer. Nich vor ungut, mein Lieber. Seh'n Se sich man allens ornlich an.«

Der Schulmeister tritt dem Podium näher. Hinter ihm die hemdärmligen Hausdiener, die lassen sich in ihrer Arbeit nicht stören. – Nun bemerkt unter ihnen einer, wie der Fremde, weit vorgebeugt, die Notenhefte anstarrt: »Nä, kiek doch einer, wat de Minsche för Ogen makt.«

Karl Berkebusch jedoch, der hört nicht das rohe Lachen. In die offenstehende Tür des Künstlerzimmers schaut er hinein. Da steht ein mächtiger Kontrabaß, schräg 225 an der Wand, wie ein aufrechter brauner Bär. Schneeweiß schimmert der Kolophoniumstaub an der Strichstelle der dicken Brummsaiten. Das Fugato im Scherzo der C-moll-Symphonie rasselt dem Schulmeister im Ohr. Magnetisch zieht's ihn hin. Ihm ist, als bewegten geheimnisvolle ungeheure Augen im spiegeligen Lack der gewölbten Decke langsam die Lider. Noch ein paar Schritte weiter hinein ins Künstlerzimmer, und der Schulmeister steht mitten unter den Orchesterinstrumenten. Die Musiker haben sie von der letzten Probe am Nachmittag neben den Kästen und Futteralen so liegen lassen, zum Einstimmen für den Abend gleich in Bereitschaft. Zum ersten Male sieht er in unmittelbarer Nähe Oboen, Fagotte, Hörner, Posaunen, Pauken. – Da, die Zargen des Violoncellos, wie wenn sie sich mit leisem Atem bewegten. Der Schulmeister bekommt Mut. Auf einem Stuhle neben ihm liegt ein blitzblank geputztes Horn. Es juckt ihn in den Fingern, er kann nicht widerstehen, – nun hat sein Zeigefinger das eine Ventil vorsichtig niedergedrückt. »So sieht ein Waldhorn aus. Der große Schallbecher, da bläst's heraus, so weich, so innig.›Dih-da-dadidah-dididah‹, der ›Freischützen‹-Anfang. Die vier Corni – wie herrlich muß das klingen, ach, hört' ich's doch einmal!« Darauf, beim genaueren Anblick des Fagottes, da muß er unwillkürlich hell auflachen: »Haha, der humoristische alte Onkel! So viele blanke Klappen am ganzen Leibe herunter, und oben das putzige Blaserohr!« Darauf die Posaune stimmt ihn ehrfürchtig, feierlich. »Das ist die Majestät des Orchesters – tuba mirum spargens sonum« und er zieht schleunig die im ersten Moment auf die Zugröhre vorgestreckte Hand wieder zurück. Und zuletzt, da fesselt ihn lange, lange der große, braune Paukenkessel. 226 »Ob das Fell wohl Ton gibt?« Leise tupft sein Zeigefinger auf: »Mummh!« tönt's dumpf, wie aus dem Grabe. Hastig dämpft er mit der platten Hand das Fell. »Herrgott, das tiefe Es schon eingestimmt zur Sinfonia eroica

Es ist inzwischen dunkel geworden. Die Leute sind fertig, und die Stühle stehen in Reihen wie Soldaten. Einzelne Gaslichter verbreiten trüb melancholischen Dämmer. Schnell verläßt Berkebusch nun das Künstlerzimmer, um sich hier nicht abfassen zu lassen von den Musikern. Als er glücklich wieder im Saale zurück ist, da sieht er den Oberkellner kommen. »Bitte, ich möcht' jetzt schon an meinen Platz. Sie wissen –«

»Man noch 'n büschen Geduld, hab' grade eilig zu tun. Unsen Chef hält der verflixte dicke Reiseonkel noch ümmer auf. Na, so 'n Reiseonkel, wenn der ins Verzählen kommt! Woll'n der Herr nich erst 'n büschen 'runter ins Restauratschonszimmer, 's is ja noch Zeit genug. Der Herr loschieren doch woll heut' nacht hier, hat der Herr all'n Zimmer?«

»Nein, ich muß, wenn's aus ist, gleich wieder zurück. Hab' morgen früh um sieben wieder Schule.«

»Das arme Dorfschulmeisterlein, ganz wie im Liede« murmelt der Oberkellner. »Hm, na, denn nich –. Schorse!«

Ein Bursche in blauer Schürze und aufgekrämpten Hemdärmeln – er war gerade am Flaschenspülen – kommt in die Tür geschlürt. »Wat is los?«

»Bring düssen Herrn mal furns na baben rup, Nummer negenuntwintig, in de lütje Kabine.« 227

* * *

Der Schulmeister sitzt in dem kleinen Vogelbauer, eng eingepfercht. Rechtsseitlich von seinem wackeligen Schemel steht ein frisch gefirnistes Versatzstück, ein Rosen- und Jasmingebüsch, mit Blüten wie Kohlköpfe. Rücklings eine umgestülpte Tonne und darauf ein Weinkorb mit leeren Flaschen. Gaslicht grellt ihm in die Augen. Einem Kraken ähnlich, nach Beute gierig ausgreifend mit allen Gliedern, so schwimmt der Kronleuchter unter der Decke, und eine Stange, obenauf ein munteres Flämmchen, stochert noch in ihm herum. Alle die tagüber so toten, frostigen Farben an den Wänden, sie sind nun lebendig und warm geworden. Hei, wie die Putten überm Podium ausgelassen ihre Beinchen schwingen, tanzend und musizierend zugleich.

Gerade will er den Kopf aus dem ovalen Fensterchen weiter hervorstrecken, um die Herrlichkeit des Saales genauer zu betrachten, da schallt's zu ihm herüber aus dem Künstlerzimmer: a-e, a-e, d-a, g-d – eifriges Einstimmen der Instrumente. Unermüdlich gibt die Oboe die Parole aus. Horch, ein einzelnes Violoncello ist deutlich herauszuhören: Harpeggien, Läufer, bis ins höchste Flageolett. Wie ein Immenschwarm schwirren die Töne durcheinander. Waldhorn – Klarinette – Flöte. Nach und nach verebben die Wogen sich. Völlige Ruhe nun, und die Musiker erscheinen ordnungsgemäß mit ihren Instrumenten, schnell einer hinter dem anderen, sie nehmen Platz und richten sich fürsorglich ein. Hier blättert einer in seinen Noten herum, dort rückt ein anderer am grünen Lampenschirm über seinem Pulte. Noch zwischendurch gedämpftes Nachstimmen. Der glatzköpfige zweite Hornist – er schnupft, und er bietet auch noch dem Klarinettisten über der Schulter weg die Dose an! Und der Kontrabassist 228 neben der Pauke, der reibt schnell noch einmal den Bogen am Kolophonium.

Draußen rasseln die letzten Wagen heran. Ununterbrochen flutet es herein in die Saaltüren. Es staut sich – Deichbruch – Überschwemmung – Gott sei Dank, nun verläuft sich's in den Stuhlreihen. Befrackte dienende Geister, eilig hin- und herlaufend, weisen zurecht. Drei Minuten nach! Was gibt es unten alles zu sehen! Just auf den ersten Stuhl setzt sich ein übersättigter Lebegreis angestrengt steifbeinig nieder. Da, in der zweiten Reihe ein Leutnant mit kunstgerecht eingekniffenem Einglas. Vor ihm eine sommerreife Schönheit und daneben eine noch reifere, kokett und fett, hingepfropft wie ein Champagnerkork. Eine Respektsperson kommt: der Wirt selber weist sie zurecht. Stadtberühmtheiten machen sieh durch imposantes Aufstehen bemerklich. Geflüster, Gekicher, Stuhlrücken, Begrüßungen. Es wogt und brandet und – puh! – duftet. Blitzende Brillanten, Schwanenpelze, blendend weiß, kostbare Spitzen, eine schwüle Eleganz.

Lange erträgt der Schulmeister den Anblick nicht, er wirft entrüstet seinen Kopf zurück, und er schließt die Augen: »Heiliger, großer Beethoven, o und du, armer Meister Hans von Bülow – welche schmähliche Entweihung! Das will jetzt Beethoven hören, Menschen, die so aussehen! Wie anders hab' ich mir so ein Sinfoniekonzert gedacht, hätt' ich doch lieber gleich die Augen zugemacht.« An Kantor Mügges trauliches Stübchen muß er denken. Das altmodische Tafelklavier. Die guten Alten, immer eifrig strickend das ehrlich unmusikalische Mütterchen. Und Schön-Elsbeth aber, die immer mit am Klavier, dicht ihm zur Seite, und ihr aufmerksames Nachlesen und 229 Umwenden, ihre glühenden Wangen, ihre leuchtenden Augen, wenn er eine Sonate spielt, mögen seine Finger auch stolpern noch so oft. So hört man Beethoven.

Jetzt muß die Sinfonie beginnen. Der Schulmeister lehnt sich in heißer Erwartung zurück. Sein Herz pocht »Bü–low, Bü–low«.

Plötzlich ist alles Geräusch unten verstummt. Totenstille einige Sekunden. Berkebusch zuckt zusammen: »Das ist er, da steht er, Hans von Bülow!«

Ein untermittelgroßer Mann, gebieterischen und vornehmen Aussehens, verbeugt sich einige Male, mechanisch, nur halb dem Publikum zugewandt. Seine Augen blicken ernst unter müden Lidern. Das Gesicht ist tiefgefurcht, von Schmerz, von schwerem Leid spricht manche Falte. Der zusammengekniffene, sarkastische Mund, die hohlen Wangen, voller Energie das Kinn mit seinem Spitzbart, das ergraute, spärliche Haupthaar, auf der Stirn ist's wie Wetterleuchten.

Dreimaliges Pochen nun. Wie elektrische Schläge durchzuckt es den Schulmeister. Die Gestalt des kleinen Mannes wächst über sich hinaus. Ein Weltbeherrscher steht er da, die »Eroica«, sein Lieblingswerk, zu leiten. Hocherhoben hat er den Taktstock. Alle Instrumente im Einschlag – die Augen sämtlicher Musiker hängen an dem magischen Stab.

Da, weit legt der Arm aus. Der erste Akkord erdröhnt. Noch einer, und voll ungeheurer Kraft, Beethovensche Faustschläge. Und nun das einfache, ruhig wiegende Hauptthema, im Violoncello, und so warm und eindringlich. Über dem leis schmerzlichen, tiefen Cis die schüchternen Synkopen der Violinen. Volles Ausatmen, Abrundung, Ruhe. 230 Abermals erklingt das Motiv, gesteigert, in schwelligen Horntönen. Ein Crescendo entwickelt sich. Das ganze Korps der Bläser greift nach und nach ein. Plötzlich ein mächtiger Ruck, und lustig dahin fliegt das Schiff. Gebauschte Segel, flatternde Wimpel. Weit, majestätisch tut der Ozean sich auf. Zum dritten Male das Motiv, stolz, sieghaft. Hei, wie die drei Hörner vereint es dröhnend blasen, wie die mitverbündeten Trompeten die Terzintervalle kampfesfroh herausschmettern, wie der Pauker nun auch gewichtig zu Worte kommt: er schwingt die Klöppel, da schlag' ein Donner darein!

Und der Schulmeister?! Völlig weltentrückt hängt er an seinem Schemel, die bebenden Hände hat er an die geschlossenen Augen gepreßt, Tränen quellen durch die Finger, in schweren Stößen ringt sich der Atem aus seiner Brust hervor, seine Sinne verwirren sich: »Allmächtiger Gott, Beethoven, so klingt eine Symphonie, so Orchesterklang, es ist unsagbar!«

In herrlich kühnem Bogen wölbt sich der Bau des grandiosen Tonwerks. Und ins Unendliche, Ungemessene zu streben, wie ein Aar, regt die Phantasie ihre Schwingen. Empor, empor! Flimmernd bewegter Himmelsäther – nun Sturmesrauschen, und hoch über Fels und Meer hinbraust der Flug der Sonne zu. Flammende Wolken, zuckende Strahlen, gewaltiges Brausen, Krachen, Bersten. Tausend Regenbogen, inmitten sich kreuzend, ein herrlicher Kuppeldom, trunken taumelt in einem Meer von Farben der Blick. Und alles, alles bewegt geheimnisvoll göttliche Urkraft, alles Bewegung, Schwingung – alles, alles klingt, klingt. Jeder Strahl, jede Farbe, jeder Stern ein Ton, alles Klang. Harmonie. 231

Ungeheurer Absturz. Icarus, Icarus! Entsetzlich sausender Fall, grimmig zischen und schnappen beutegierige Wogen. Ruhe darauf, erhabene Stille, Gott Vater naht in sanftem Säuseln, hochaufgerichtet, sein Sternenmantel umhüllt die Welt. Tiefes, langes Sichbesinnen. Und jäh ist nun ausgelöscht aller Glanz. Wie eherne Riegel schiebt sich's vor. Verzweifeltes Erkennen. Der müde Fuß versinkt im Sand der Scholle. Eine Wand nun der Sand. Körnlein auf Körnlein unhörbar dippelt danieder. Leises Wachsen, langsam höher die Wandung. Es schattet, dunkel senkt sich's, schwarz legt sich's auf, schwärzer – und so schließt sich das Grab. Tränen, Tränen im Heldenaug' – eines Beethoven! Sein Herz, ach, zerschmilzt ihm vor Weh, dem jungen Schulmeister – die ihm das Leben geschlagen, alle Wunden brechen auf, und sie bluten neu. Doch göttlicher Trost jetzt, entquellend den hehren Holzbläserakkorden des zweiten Themas. Wohltätige, lösende Macht des Schmerzes, und wie nun das ganze Orchester sich beruhigt, sich sammelt und aufatmet, so kommt damit auch der junge Schulmeister aus seiner Hingerissenheit ein wenig wieder zur Vernunft. Tief bewundert er still in sich hinein, den Kopf leise wiegend, die zauberische Klangwirkung der herrlichen Stelle, der Blasinstrumente Sichuntereinanderaussprechen, voller Wehmut und doch heldisch und würdig im Ertragen tiefsten Leids. Alle übrigen Instrumente hüllen sich in Schweigen, aus Mitgefühl für ihre so unsäglich schmerzerfüllt blasenden Vettern. Allzu langes Gerührtsein ist jedoch nicht Sache des Kontrabasses, er hat robuste Nerven, er liebt klare Sachlichkeit, sentimentale Untätigkeit ist ihm verhaßt. Und was soll auch daraus werden, der Grundbaß bildet doch sozusagen den Granit des Orchesters, und auf dem 232 Fundamente hockt alles oben auf! So mahnt er denn alsbald höflich aber entschieden zu erneuter Tätigkeit. Flüsterndes Sichberaten der Violinen. Ein allgemeines Sichsputen. Was geht da vor? Gar ein Laufen nun, unaufhaltsam – und siehe da: es löst sich von neuem eine symphonische Lawine. Mit wilder Kraft wälzt sich's heran. Zusammen wie Strohhalme knicken die höchsten Fichten und Eichen. Die furchtbaren, wutknirschenden dissonanten Akkorde, immer noch ein markerschütternder Schlag, immer noch einer.

Wie ihm darauf gar beim Durchführungsteile zumute gewesen, dem Schulmeister, das möchtest du noch wissen, Leser? Ich verschweig' es lieber. Nur so viel: etwas mehr hat er sich immerhin zusammengenommen. Nach dem gigantischen zweiten Fugato allerdings, da, wo's zur Entscheidung kommt, da, wo die Söhne des Prometheus, Schulter an Schulter, in wahnsinniger Wut die letzte Kraft daransetzen, wo sie mit eisernen Armen und ehernen Nacken ganze Berge vom Platze stemmen möchten gegen die verhaßten Götter – da sah man, wie der Meister Hans von Bülow mehrmals nervöse, ärgerliche Kopfbewegungen machte aufs kleine Fenster im Proszenium hin. Ein infames und höchst prosaisches Geräusch wie von zusammenklappernden Flaschen nach einem heftigen Stoße war von da oben gekommen.

Nun der zweite Satz, des Trauermarsches erhabene Totenklage. Die Oboe, ergreifenden Klanges, und so jungfräulich, keusch: eine blonde Germanentochter folgt der Heldenleiche. Im lichten C-dur des Trios verzieht sich für eine Weile das Gewölk. Sonnenstrahlen fallen auf den Sarg, auf Helm und Schild. In die Gruft wird der Sarg langsam nun hinabgesenkt. »O Ewigkeit, du Donnerwort!« 233 Dies irae, dies illa! Und alle Schrecken des Weltgerichtes nun im erschütternden Fugensatz ohnegleichen. Tief in die Seele dringen die Hörner- und Trompetenstöße. Lange in fürchterlichstem Ringen alle Licht- und Nachtgewalten. Der Sieg des Guten kündigt sich an. Entschieden ist's. In der Tiefe purpurne Nacht stürzen die Dämonen. Erschüttert hingesunken am Grabe des Helden ist ein ganzes Volk. Und feierlicher Glockenklänge Trost, Friede, Friede nun, Friede, Ruhe. In Millionen Sternen unendlicher Liebe sel'ge Gewißheit. Nicht stirbt, wer Großes vollbracht. Gute Tat lebt fort, in Keim und Knospen neu ergrünend, in Blüt' und Samen fort und fort.

So wogen Phantasiebilder, eines das andere überstrahlend, dem verzückten, jungen Schulmeister durch den fieberheißen Kopf. Beglückender Wahnsinn! Ein unendlich reiches, volles Leben für ihn diese eine Stunde. Wo bleibt dagegen alles, was er vorher gehört, gesehen, geliebt, gelebt hat!

Taumelnd erhebt er sich nach dem Trauermarsche. An Hans von Bülows Gestalt und Antlitz heften sich seine Augen, für immer will er sich einprägen, wie der große Künstler aussieht.

Da, zufällig streift dessen Blick sein kleines Guckloch, und erschrocken fährt er zurück. Ironie des Schicksals: ja, gewiß, hier war's, hier klapperten vorhin – Flaschen. Wenn der Meister den Zusammenhang hätte ahnen können. Aber wie kann er wissen vom Dasein eines jungen Menschenherzens da oben, von Dankbarkeit und Liebe nur so überströmend.

Während des Scherzos bleibt Berkebusch stehen, und er behält den großen Kapellmeister immer im Auge. Der steht regungslos, den Kopf hat er ein wenig zur Seite 234 geneigt, und die Arme hat er leicht ineinander verschränkt. Zuweilen hebt er, um Übereifer zu dämpfen, leise die Linke. Er vertraut seinen Tapferen, wie der Rosselenker baut auf seiner Rappen Ehrgeiz, und drum keine Bevormundung.

Herrlich zu seinem Recht kommt im Scherzo und im Finale der Humor. Beethovenscher Humor! Ausgleichend auch des Lebens schroffste Gegensätze wo er echt, da ist der Humor wahrlich alles Kampfes letzter und köstlicher Gewinn, Labsal, Trost, der alle Tränen trocknet. Der holde Friedensbote, die Palmen des Leids hat er zuletzt umwunden mit Rosen der Freude. Hinab auch in dunkelste Tiefen dringt seine tröstende Helle. Viktoria! Sieg im Humor! Höchster Triumph des Daseins! Wieder eingerenkt, wieder im Gleichgewicht ist die Welt, alles Donnergewölk, es ist gewichen hellstrahlendem Sonnenlicht! Grüngoldenes, lachendes Leben überall, überall!

Der Schulmeister ist außer sich vor Entzücken. »Die schnippische Oboe. – Die Flöte hat nun das Thema. – Horch, Herrgott, im Trio nun die drei Hörner! ›Frisch auf zum fröhlichen Jagen im Waldesgrün!‹« Wohlig rauscht der Wald, und im Echo erwachen seine Geister. Heimtückische Streiche spielt den Jägern der alte Pan. »Wa – was, das erste Horn, es gickste auf dem hohen Es Der Glatzkopf war's, der mit der Klarinette schnupfte vorhin. Den strengt's an: Wie er schwitzt!«

Als die Pizzikati des Schlußsatzes erklingen, da muß der Schulmeister sich beherrschen, um nicht gleich laut zu lachen. Die übermütigen Violinen mit ihren Späßen, sie foppen das ganze Orchester, von hinten, und es schnappt wie ein gereizter Kettenhund darob immer dreimal wütend um sich! Scharf achtet er auf den Baß, wo die wonnige 235 Oboemelodie des Themas einsetzt: die frechen Pizzikati von vorhin, bei den Ohren genommen, müssen nun Kusch machen und Baßdienste verrichten. Und er bricht aus in helle Jubellaute, nicht vermag er sich länger zu beherrschen, unter dem gewaltigen Blasen der köstlichen Freudemelodie, nach dem himmlischen Frieden des Poco adagio. –

Die Pause nach der Symphonie zieht sich ungewöhnlich lange hin. Endlich erscheint der Meister, am Flügel, als Spieler und Dirigent zugleich, er setzt sich, und indem er zugleich winkt und mit dem Kopfe nickt, erklingt der pompöse erste Akkord des Klavierkonzertes in Es-dur. Noch zweimal unterbrechen majestätische Orchesterakkorde das krafterfüllte und erwartungsfreudige Präludieren des Klaviers. Feurig und tatenlustig, um nunmehr gründlich symphonisch ernst zu machen, kommt das Orchester alsdann in dem langen Vorspiel gehörig zu Worte. Das Hauptthema erklingt in wundervoller Plastik. Das Gegenthema, in seiner Innigkeit und Lieblichkeit.

Horch, nun das erste Solo! In anmutsvollem Wechselspiel mit dem Orchester ergeht sich das Klavier. Und der Schulmeister, er starrt aus seinem Fensterchen verblüfft den Zauberer unten an. »Ist das Klavierspiel –?«

Plötzlich springt er erschrocken auf, bei Beginn der dämonisch geschäftigen Oktavengänge, als packten und rüttelten diese ihn an den Schultern mit roher Faust. »Das – das ist Klaviertechnik?! Wie können das Menschenhände? Und du? Mich so zu vergessen! Nicht um zu träumen, nicht um bloß zu genießen in vollen Zügen bin ich hierhergekommen, nein, ich wollte ernstlich mich prüfen auf mein Talent: barmherziger Gott, mein jämmerliches Gestümper dagegen!« – 236

Gerade auf Hans von Bülows Wiedergabe der berühmten, schwierigen Oktavenstelle war er begierig gewesen. Gerade davon hatte er besondere Ermutigung erhofft. Er hatte mit wahrer Todesverachtung den ganzen Winter durch daran geübt, und er glaubte, sie extra gut zu können. Bei seinem von Natur so geschmeidigen, leichten Handgelenk, auf das er sich Wunder was zugute tat. Und nun kommt es so. Er verliert alle Fassung, allen Willen über sich. Seine Bekümmernis geht über in vollständige Verzweiflung. Ihm ist zumute, als stünde er, ein schon Verurteilter, vor dem Richter, als hörte er vom großen Hans von Bülow selber in höhnischen Worten die schreckliche Entscheidung. Ach, nun weiß er, was es mit seiner Musik auf sich hat. Ein lächerlicher bloßer Schwärmer ist er also, ein Spott seiner Bauern, und das mit Recht. »Aus ist's, aus! Armsel'ger Tropf, begreifst du's nun!« – So lauten in seiner Seele die mechanisch unterlegten Worte zu den herrlichen Melodien, die unten erklingen, denselben, die ihn daheim beim Üben daran so oft erquickt und erhoben haben. Völlig gebrochen, sinkt er zuletzt auf seinem Schemel in sich zusammen. »Es sollte sich entscheiden heute, und nun ist's geschehen. War alles Traum und Trug, aus ist's mit dir, aus!«

* * *

Wohl niemand hätte dem Himmel einen so jähen Wechsel seiner Laune zugetraut, als er am Nachmittage so blau und heiter auf des Schulmeisters Wanderung herniederlachte. Finstere Nebel, einer graugrämlichen Kutte gleich, waren plötzlich aufgestiegen aus dem feuchten Frühlingsschoße der Erde: »Gleich haben wir dich, Frau Sonne, du Stolze, die du herab mußt, uns nicht entrinnen kannst. Da rechts 237 der Zipfel, nun hat er dich. Schnell in den Sack. Zuziehen. So, so.« Und dichtes Grau breitet sich aus, rasch, in unaufhaltsamem Erguß. Die letzten matten Lichterchen erlöschen. Immer düsterer, drohender die nachdrängenden Wolken. Da, dumpfes Brausen, ferne, rauschende Bewegung. In Gedankenschnelle eilt es über Feld und Wiese, durch den erschauernden Forst, die Mauern der Stadt hinauf, und lustig über ein Meer von Ziegeln hin fegt der Wind! Hui, und die Dachrinne entlang, mit Hallo und Hohnlachen in den Schornstein hinunter! Und nun fallen die erlösenden Tropfen, zögernd, vorsichtig erst. Und Ruhe wieder, Kühlung, Erquickung. Lange fort strömt der Regen, doch weniger fest im Takt und allmählich Einwendungen zugänglich, auch noch, als in den Straßen die Gasflammen einsamer brennen und die Regenschirme nur noch vereinzelt dicht an den Häusern hin huschen. Sein Hauptvergnügen war gewesen, sich die Kübel bis zur Beendigung des Konzertes schadenfroh zurückzustellen. In solchen Nächten malt wohl der Schlaflose daheim im wohligen Behagen warmer Kissen sich aus, zu einschläfernder Beruhigung, wie's nun draußen auf der Landstraße aussehen mag, wo sich, vom Wind geschüttelt, triefend naß, Baum reiht an Baum und wo das Wasser vom Felde schaumig und schlammig im Graben zusammenrinnt.

Wie anders des Schulmeisters nächtliche Rückwanderung als am Nachmittage sein erwartungsfrohes Kommen! Als das Konzert zu Ende gewesen, war er wie betäubt noch ziemlich lange oben in der kleinen Kabine auf seinem Schemel einsam hocken geblieben. Bis die Gasflammen ausgelöscht wurden. Schnell hatte er sich da aus der Tonhalle geschlichen. Und lange war er darauf im Regen 238 steuerlos umhergeirrt, in den Straßen, einem verlassenen und den Wellen preisgegebenen Schifflein gleich. Die Welt, die große Stadt, wo man freilich weiß, was dazu gehört, zur Musik, was verlangt wird –: hohnlachend wies sie ihn aus, aus ihrem Bezirk. Scher' dich zurück, wo du hingehörst, du überspannter, kleiner Dorfschulmeister. Viele spielen so wie du und besser. Bleib' einmal stehen und horche nur mal an den Häusern, gleich da, sieh, wo so viel einladender Lichtschein durch die nassen Scheiben fällt. Horch, da erklingen die schönsten Lieder, von Frühling und Wandern und Liebe, horch, und auch Klavierstücke, in meisterlichen Griffen den Tasten entlockt.

Endlich hat der Schulmeister den rechten Weg sich erfragt. Eilig wandert er nun heim. Das schwarze nächtliche Draußen tut sich auf vor ihm, stumm, wie drohend. Patsch, patsch schallen seine Tritte.

Tüchtig begossen, geschüttelt und gezaust, ist er auf der Landstraße bereits eine gute Strecke fortgewandert. Die letzten sorglich eingeheckten Gärten liegen längst hinter ihm. Vorbeigekommen ist er an Ackerkoppeln in langer Folge, an in Seen umgewandelten Wiesen, an zu Sümpfen gewordenen Heideflächen. Und nun geht die Wanderung hin an einem ausgedehnten Kiefernwald, zu schauen wie ein gefranstes, endloses schwarzes Band. Wacholder stehen herum zwischen Wald und Landstraße, einzeln und in Gruppen. Da die zwei, gleich vorn am Meilenstein, sie sehen aus leibhaftig wie sein gestrenger Herr Superintendent und der hämische alte Schliephake. Und sie warten auf ihn. »Das muß anders werden – ernstlich zu ahnden wissen – brotlose Künste.« 239

Und noch öfter im Weiterschreiten äfft den Schulmeister der Wahn, als lauerte man ihm hinter den Büschen auf, voller Schadenfreude, ja, als wüßte es schon das ganze Dorf, wie's ihm in der Stadt ergangen ist. –

»Puvogel, sag' die Erklärung Luthers zum zweiten Glaubensartikel auf. – Ihr sollt auf die nächste Stunde anderthalb Seiten Sprüche aus dem Katechismus auswendig lernen, die zum zweiten Glaubensartikel. Dazu auch den Gesang Nr. 928 im Gesangbuche. – Fritz Wätje, bring' mir meine Geige, wir woll'n singen: ›Bis hierher hat mich Gott gebracht‹.«

Der Schulmeister, er weiß es nicht genau: ist's der Regen oder sind es seine Tränen, was ihm so beim Geigen nieder auf die Geigendecke fließt. Der Lack schmilzt ab, die Decke, die Zargen lösen sich aus den Fugen, und der Ton – gar so jämmerlich dünn und immer dünner klingt er. Nun wie auf Bindfaden gestrichen. Und nun versagen gänzlich die Saiten. Zerschmolzen und weggetaut ist endlich alles, und Arme, Kinn und Brust sind ihm frei.

Labende Kühle. Freieres, leichteres Gehen. Tieferes, ruhigeres Atmen. Langsam ebbt und glättet sich der Seele Weiher. Die letzten Tropfen, die letzten ersterbenden Wellenringe. Wie verlorne Glockentöne hallt es darüber hin.

Heil'ger Glockenklang, wahrhaftig, treu, wenn alles draußen trog: Glocke der Heimat, rufend zur Andacht das stille Dorf. Auf schriftverloschnen Steinen und Kreuzen, auf verwitterter Mauer der Morgensonne helljubelndes Licht, wo ihm Bahn läßt der Eichen knorrig Geäst, das den Kirchhof umsäumt. Und wucht'ger Orgelton mischt nun sich ein. Auf der Orgelbank des Heimatkirchleins, da sitzt er 240 selber, Karl Berkebusch. Er sieht deutlich die heimatliche alte Orgel, und deutlich sieht er sich davor sitzen. Stolz, mit letztem langen Griff und Tritt haben Hand und Fuß das Präludium beendet. Nun schnell alle Register heraus! Brausend fällt die Orgel ein in den Choral:

»Bis hieher hat er mich geleit't,
Bis hieher hat er mich gefreut,
Bis hieher mir geholfen!«

Nicht wieder los lassen ihn die Worte, unaufhörlich singt es so weiter in ihm zum Pendeltakt des Gehens: »Bis hieher mir geholfen!« –

Klarer wird's. Der Wind hat nachgelassen. Der Regen hat sein Letztes verträufelt. Das Gewölk nimmt Formen an. Und nun sieh, tausend zarter Lichtmuscheln schnell wachsende Helle, sich auflösend in bläulich-silberigem Glanz. Sieh, langsam rundet sich's: dem treuen Tröster der Nacht neigt sich Baum und Strauch, leis erschauernd, und in den Blättern frisches Atmen, tröpfelnde Bewegung. Nun ist er deutlich hervorgetreten, klar und groß schwimmt die volle Scheibe überm Wald, führt auch abwärts schon die Bahn in starkem Winkel. Und gegenüber die Wolkenformen, phantastisch, zerklüftet, sie sind in wilder Bewegung. Scharf zeichnen sich ab gewaltige Fische, Polypen, Drachen. Da, wie der Fenriswolf kommt's heran, dem Mond auf der Spur, um ihn zu verschlingen, auf einen Happ, im klaffenden Rachen.

Des Schulmeisters Auge hängt voller Inbrunst an den wechselnden Wundern der Natur. Die erholt sich nun schnell von der überstandenen Wetternot. Er sieht die Wolken 241 langsam alle schwinden. Und er sieht, auch der Mond vollendet seine Bahn, sachte niedergleitend wie ein Boot in den Hafen. Kühl weht's herüber von Osten, als er entschwunden ist. Und nun horch: ein eigen hastig Flüstern plötzlich in den Blättern und Aufmerken, Neugier, Erwartung überall am feuchten Boden. Hochflatternd und wichtig um sich schauen möchte jedes Hälmchen unten. Am weißen Klee der Löwenzahn, Taubnessel, Hahnenfuß, Günsel, Gamander, Steinbrech, Hornkraut und Gundermann – wie das all' die Stengelhälslein reckt! Komm herauf, o Mutter, schnell sende einen Strahl, daß du trocknest uns und wärmst, nach dem schlimmen Regen – ach, er hat so schändlich uns mißhandelt! Komm und verscheuche den eklen Nebel, jag' hinab ihn in den Graben, in die Rüschen.

Heller, immer heller wird's. Hinauf die Himmelswölbung gedankenschnell die Farben wechseln: grün, smaragden – gelblich jetzt – und nun weiß, ein heilig feierliches Weiß. Also wird der Tag geboren. Der ersten Strahlen hehres Blitzen. Wie in brünstigem Gebete weitherum die Welt, wie stumm auf die Knie gesunken. Ach, und das Auge, es kann's nicht fassen: geblendet, wendet sich's ab.

Gelehnt an eine schöne, alte Ulme am Wege steht Berkebusch da. Um ihn in goldigem Glanz ist Ruhe, Friede, Seligkeit. Und auch er ist erfrischt und zufrieden, wie die Blumen, die jetzt alle, alle ihre Kelche öffnen – als wär's nicht aus, nein: als ging es an, als begänne auch ihm nach schwerem Kampfe nun ein neues, ein anderes Leben. –

Langsam ist der Schulmeister weiter gegangen, der Sonne, dem Morgen entgegen. Ermattung, Schwere fühlt er in 242 den Gliedern, vom langen Marsche, jetzt, nach dem ersten Ausruhen merkt er erst, was er geleistet hat. Kaum tragen die Füße ihn mehr.

Die letzte Anhöhe, die ihn von seinem Dorfe trennt, schreitet er nun hinab. Bekannte Felder winken ihm Gruß. Da, zwei große Maierhöfe tauchen auf aus ihren Hofeichen. Als spähten sie nach ihm aus und freundlich. Nun der Kiekebusch. »Ich komme, lieber Kiekebusch, ich komme heim. Im Kiekebusch die Bank, da will ich ausruhen!«

Das weiß das ganze Dorf, wenn nicht am Klavier, ist der Schulmeister mit Sicherheit immer in seinem Kiekebusch zu finden. Kein halbwegs ansehnlicher Baum im Kiekebusch, unter dessen Schatten er nicht schon einmal sich wohlig ausgestreckt und in dessen Blätter er nicht träumend aufgeblickt hat. Und unter den Bäumen, da ist so mancher traute Fleck, wo er im Rasen, im Farnkraut, im Moos, in jeder Stimmung, in Freud und Leid, lesend, schreibend, auf die Vögel horchend, geweilt hat. Als er vom Seminar in diese Einsamkeit gekommen, war der Kiekebusch gleich sein erster Trost gewesen. Und die Bank darin, selber hat er sie sich gezimmert. Welch ein Platz! Weitausgreifende Fichtenzweige überschatten die Bank, im Verein mit zwei mächtigen, alten Wacholdern, mit drei Birken im besten Mannesalter und mit einem hoffnungsvollen Eichenjüngling. Alle Bäume sind wohlgepflegt, nicht eine Spur von schmarotzendem Moos haftet an den blanken, kerngesunden Stämmen. Und dicht vor der Bank, da ragt auch noch eine hohe, herrliche Buche, stolz zum Himmel auf, und in ihrem Wipfel hat eine Singdrossel ihren Ausguck und Singezweig, die ist der fleißigste und beste Musikant im Kiekebusch. 243

Der Schulmeister tritt ein in den Kiekebusch. »Setz' dich doch! Setz' dich doch!« begrüßt ihn eine muntere Kohlmeise. Die hat ihn zuerst gesehen. Auch ein Eichelhäher sieht ihn sogleich, und er meldet ihn an. Nahe am Wege, am Fuße einer mächtigen borkigen Föhre springt eine Eichhörnchenmutter mit ihren Sprößlingen gerade herum. »Knorrks!« – er tritt ungeschicktermaßen auf einen trockenen Ast. »Fix da hinauf, hui, hoch den Wedel, fix! – Doch halt, man ruhig hierbleiben, keine Bange, es ist ja der Schulmeister!« Im ganzen Kiekebusch ist's im Handumdrehen herum: »Nanu, der Schulmeister, so früh ist er heut' schon hier, was ist denn mit ihm los? Und gar von der anderen Seite kommt er herein? Und pfui, schämt er sich denn nicht: wie sieht er aus, ganz naß und dreckig, wo hat er gesteckt?«

* * *

Auf seiner Bank im Kiekebusch ruht Karl Berkebusch nun aus, weit zurückgelehnt, mit beiden Armen auf der bequemen Lehne. Er sitzt in der prallen Sonne, und das tut himmlisch ihm wohl. In den klarsten blauen Himmel schaut er hinein, auf die stillselig dahinziehenden, lichten Wölkchen. Der frische Westwind, er durchrauscht den ganzen Kiekebusch, und immerfort tröpfelt's aus den Blättern auf ihn herab: Freudentränen sind es des Waldes. Labende, wohlige Frische! So herrlich, oh so herrlich ist der Morgen! Paradiesesfroh der Wald! Schmerzen hat es nie gegeben.

In Ruhe muß er nun über das gestern Erlebte nachdenken. »Wie konntest du dich so unterkriegen lassen, 244 wie konntest du so vollständig gleich verzweifeln, war denn die Ursache auch wirklich danach, war's nicht kindisch übereilt? Berkebusch, gesteh' dir's nur: ein rechter Hase bist du gewesen, gestern! Macht's die Technik denn allein? Es gehört doch auch Hirn dazu, und Herz – im Herzen drinnen muß sie vor allem ihre Wurzel haben, die Musik, alle Kunst. Und an den inneren Kräften, an Gefühl, Phantasie, an Auffassung, daran fehlt mir's nicht, bei Gott! Meine zehn gelenkigen Finger: echte Klavierfinger wären's, sagen alle. Spannung hab' ich eine volle None. Und dazu mein leichtes Handgelenk. Damit wär' nichts zu erreichen, setz' ich Fleiß und alle Kraft daran? Ist denn nicht alles Übung schließlich, sag', liebe Drossel, wo hast du's denn her?«

»Übung! Übung! Übung!« – schallt's herunter vom Baum.

»Ob ich die Symphonie verstanden habe – Beethoven – das Konzert – ich hab's ja gar nicht verdient, wahrhaftig, es zu genießen! So in erbärmlicher Feigheit hopps gleich kopfüber hinein in den Schlamm der Verzweiflung! Und hier – hier auf meiner Bank im Kiekebusch, hier wird meine Dummheit mir erst klar! Ha, ich möchte vor Scham mich darunter verkriechen! – Horch, das Goldammermännchen, schadenfroh ruft's mir zu: ›'s ist nicht leicht um die Musik!‹ O, ihr Vögel im Kiekebusch, euren besten Freund, ihr verhöhnt ihn nun gar?! Ihr Musikanten, ihr meint, unsereins brächt's nicht so weit wie ihr? Hört mich an, nun ist's beschlossen: was ihr seid, auch ich will es werden! Und das schon bald, heute noch schreib' ich's dem hochwürdigen alten Esel, und auch zugleich dem hohen Konsistorio. Und schnell dann fort in die Stadt. Ach, was da, 245 ich schlag' mich schon durch! Was gepumpt kriegt man schließlich überall. ›Bis hieher mir geholfen!‹«

Der Schulmeister hat sich erhoben, und er wendet sich seinem Schulhause zu. »So unbeschreiblich schön der Wald heut' morgen, so, wahrhaftig, hab' ich noch niemals genossen all dein Schönes, lieber Kiekebusch! Was ist nur geschehen mit mir, die frische Kraft, die mich durchströmt, die frohe Zuversicht, bin ich denn ein anderer geworden, ganz wie neugeboren fühl' ich mich! Wie reich, oh, wie unendlich reich bin ich geworden über Nacht!«

Des Schulmeisters Augen leuchten, wie er nun langsam weiterschreitet, seine ganze Gestalt reckt wohlig sich aus, stolz weitet, stolz hebt sich seine Brust. All die herrliche Erhebung, die er empfand, gestern als die Symphonie erklang, vom großen Hans von Bülow aufgeführt so wunderbar – ihm ist, als rauschten schöner und mächtiger sie noch einmal jetzt durch seine Seele, alle die gewaltigen Akkorde. »Gott, welch ein herrlicher Gewinn, o Sonne, auf welch ein Glück du hier heute scheinst!«

Der ganze Kiekebusch, zur Symphonie ist er geworden. Es rauschen und klingen tausendstimmig im Chor die Bäume, die Sträucher, und als Solisten darin die Vöglein, und Immen und Käfer, Libellen, Grillen, Mücken, alles, alles stimmt mit ein, und das übervolle Herz, das schlägt dazu den Takt.

Nun tritt er aus dem Wald. Da sieh, sein altes strohbedachtes Schulhaus. Ein Flug Tauben läßt just sich darauf nieder. Und seine Fensterchen, so blank, so freundlich. Vorm Kammerfenster das Gärtchen, er selber hat es sich angelegt und es auch eingefriedet. Auf dem großen, runden Beete blühen die Primeln, die roten und goldgesternten 246 Aurikeln, da blühen Tausendschön und Blaustern, da blühen die weißen, gelben und roten Tulipanen und die üppigen Narzissen. Alles, alles winkt ihm, grüßt ihn!

Durch eines der niederen Fenster, im Sommer immer weit geöffnet, da geübten Trittes schnell hinein zu kommen in die alte Schulkate, das ist so des Schulmeisters Gewohnheit. Rittlings bleibt er aber noch eine Weile im Fensterrahmen sitzen, und zum Kiekebusch schaut lange er zurück. »Daheim wärst du nun wieder angelangt! – Da kommen schon welche – Kinder –, es ist gleich so weit, gleich schlägt es sieben.«

Sein Stübchen, wie ist es so traulich heute morgen! Selbst das düstere Beethovenbild überm Klavier blickt freundlich ihn an, will ihm scheinen. Das Klavierkonzert in Es-dur, es steht noch aufgeschlagen auf dem Pult, und zufällig gerade mit der verdammten Oktavenstelle. »Ha, wartet, euch werd' ich auch schon noch zwingen – ihr verfluchten Oktaven, wahrhaftig, fast habt ihr mich um meinen Verstand gebracht!«

Berkebusch läßt sich in seinen bequemen Korbstuhl am Fenster fallen. Truppweise kommen nun die Kinder heran, von allen Richtungen, die Jüngsten an der Schwester Hand und Kleid. Immer volltöniger dringt aus der Schulstube herüber Poltern, Lärmen in den Bänken, Lachen, Aufkreischen, laut summsendes Nachlernen.

Schon längst ist die Beginnzeit um, als der Schulmeister sich endlich erhebt. Heftig klopft er an die Tür zur Schulstube: »Ruhe darinnen!« Mäuschenstille. Ach, so ungern fängt er heute an! Schnell ans Fenster noch mal zurück und zum Kiekebusch hinüber nun den unwiderruflich letzten langen Blick. »Weit dahinter, fünf volle Stunden, liegt 247 die Stadt, da warst du gestern. Der große Kapellmeister Hans von Bülow – jetzt schläft er wohl noch. Der glatzköpfige Hornist, und der Klarinettist, sein Freund, wie sie zusammen schnupften. – Der gute Tonhallenwirt, recht undankbar bin ich gegen ihn gewesen. Wie ein Dieb schlich ich mich aus der Tonhalle weg.« –

»Nun hilft's nicht länger, hinein endlich und anfangen! – Herrgott, der Fritz Wätjen und der Puvogel, die beiden sind doch immer die schlimmsten – halt, sie scheinen sich ja reinweg zu würgen? Man spielt wahrhaftig wieder das verbotene, schändliche Schweineschlachten, drum schnell hinein, die Lümmel abzufassen!«

»Ick – ick bün't nich west! – Ick ok nich!«

»Natürlich, ihr seid beide immer die reine Unschuld! – Kinder, wir wollen singen: ›Bis hieher hat mich Gott gebracht‹, alle Verse durch. – Ihr habt jetzt gleich nicht Katechismusstunde, jetzt erst Schreiben! Schreiben! Hinnerk Barbrake, komm, stell dich an die Tafel, hier hast du die Kreide, du paßt auf, daß Ruhe ist und Ordnung. Wen ich angeschrieben finde, 'ne ganze Stunde soll er mir nachsitzen, hört ihr, und ›Wer recht in Freuden wandern will, der geh' der Sonn' entgegen‹ – dieses Gedicht aus dem Lesebuche, das soll er mir abschreiben, dreimal, und es auswendig dabei lernen.« Der leichtsinnige Schulmeister, er hat die schlimme Prüfung und des hochwürdigen Herrn Superintendenten ernste Warnung offenbar schon verschwitzt!

In sein Stübchen eilt Berkebusch zurück. »Schnell an den Schreibtisch und Papier vor, Feder! Gleich muß Landbriefträger Spannhake vorbeikommen, der nimmt sie noch 248 mit weg auf die Post, die beiden Briefe, topp, jetzt heißt's tapfer sein und handeln! – So. Punkt. Adresse.«

Im Schulzimmer sind die Buben wieder in vollem Toben, das berüchtigtste aller Spiele: Backetrog spielen sie, daß die Pulte krachen. »Na, wartet, Lümmel, gleich bin ich wieder da, wehe euch! – Da kommt er schon: Ah, guten Morgen, Spannhake, hier, bitte diese Briefe, die nehmen Sie für mich mit auf die Post. Hier haben Sie 'n blankes Fünfgroschenstück! Lassen's gut sein, nicht herausgeben, behalten! Spannhake, es ist eilig, es ist wichtig, sehr wichtig, Spannhake!«

»Nanu, Herr Berkebusch, wat, Sei hewwt woll 'ne Brut, wat?«

»Spannhake, noch was viel Wichtigeres! – Doch halt. Ja, ja, eine Braut! Aber pst! Schweigen! Nichts verraten, Spannhake! Nich de Geschichte glieks in't Dörp 'rumdragen! – Na, Spannhake, hier, stäcken Se sick ok man noch 'ne Zigarr mang de Kusen, un kamen Sei man, kamen Sei: 'n Sluck giwwt't ok noch, goldklaren Kümmel. Kommen Se, Spannhake, hallo, wir wollen mal zusannnen anstoßen!«

»Da kann ick Sei also gratelieren, Herr Barkebusch?«

»Ja, Spannhake, man zu, ja, ja, Sie können's! – Danke, danke! – Mit Gott, Spannhake, und nun leben Sie wohl! – Eine Braut, er hat recht: ja, wahrhaftig, eine Braut! Frau Musika, nun hast du mich ganz, du bist mir die Braut, die geliebte, dein bin ich mit Herz und Hand!«

 


 


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