Karl Söhle
Musikantengeschichten
Karl Söhle

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Die Orgelweihe

Von Kirchgängern bunt belebt sind alle Wege und Stege weit im Umkreise des Kirchdorfes Fichtenhagen. Neben dem großen Vollkötner und Kirchenvorsteher Christoffer Rentelmann, behäbig und viereckig, im schwarztuchenen Gottestischrock, schreitet sein Häusling einher, und dessen hagere Glieder stecken, wie unordentlich eingewickelt, in hausgewebtem Dreikamm. Schwarze Schirmmützen bedecken die Köpfe. Laut widerhallt das Trampsen der rindsledernen Stiefelkloben auf dem hartgetretenen Heidepfad, und die Eichheister in den schwieligen Fäusten, die stoßen vor und schwingen nach immer im gleichen Tritt und Takt. Einige Schritte weiter zurück gehen Haussohn und Großknecht, mit zwei Mägden vom Hofe. Die Mädchen kucken, kichern, lachen; unbedeckten Hauptes, fettglänzend und glatt gescheitelt das Haar, wie's so Sitte im Lande, machen sie ihren Kirchgang. Schmuck und sauber sehen sie aus, wie frisch gepflückte Borsdorfer Äpfel. Große, aus Weidenruten geflochtene Butterkörbe hängen schwer herab an ihren nackten, prallen Armen.

»Hürt jü woll, hei ludt die lütje Bingelglocke all (schon) unse olle Kanter Konring, tja, un 'ne halwe Stunn hewwt wie nu noch Tied,« unterbricht der Bauer seinen redseligen Häusling. Und als die Wanderer darauf durch einen dichten Fuhrenbusch kommen, stoßen sie auf einen Trupp Bauern 59 aus einem Nachbardorfe. Die Kirchwege gabeln da gerade zusammen.

»Süh, morr'n ok! Na, wo gaht 't, Fritz, un wat makt dine Farken?«

»Wo sall 't gahn, Christoffer – as du sühst: ein Kopp, ein Ors. Mine Farken sünd verkofft.«

»Fuhlbooms Vader, segg, du, büst noch ümmer patschent, haste noch ümmer dinen ollen leegen Reißmatismus?«

»Äh, 't gaht ja hallwege wedder. So lange, as man den Ors noch rögen kann, so lange, as einen de Sluck noch smeckt!« –

Dicht vor Fichtenhagen, unter den hellen Klängen der kleinen Glocke, da knarrt Christoffer Rentelmann, der große Vollkötner und Kirchenvorsteher: »Hüte is in Fichtenhagen Orgelweihe, Kinners.«

Worauf der pausbäckige Brinksitzer Jürgen Hinrich Keppel: »Den Deuker, lang nauch hat't hennwohrt, äwer Johr un Dag hewwt wi de Ördel nich hürt in unse Gotteskark.«

»De verflixte olle Kanter,« knarrt Christoffer Rentelmann weiter, »de olle Dickkopp, hei hat nu doch sinen Willen kregen. Na, ick segg man, unse Pastohr – Kinners, wenn de 'n nich tau Hülp kamen wör!? Kinners, ick heww wiß hollen, dat könnt jü mick man tau glöwen, Pottsdeuker, äwerst de annern Karkenvorstehers, de Dussels, de Dösköppe, alle drei hewwt sei sick besnacken laten. Is't tau glöwen, säben neie Pipen sünd in de Ördel rinkamen, un ok noch 'n ganzen neien Blasbalg. Un dat möt wi nu allens wedder tausam schrapen un betahlen. Betahlen, man ümmer betahlen sall de Bur, un nahsten dat Mul hollen, 't is rein 60 tau dull! Na täuw: nu widd wi da äwerst ok 'n Sticken bi stäcken! Nich 'n Groschen mehr!«

»Na, Christoffer,« fällt ihm der pausbäckige und gute Jürgen Hinrich Keppel wiederum ins Wort, »süh. da is nu wieter nicks nich bi tau maken. Högen dau ick mick äwerst doch, süh, hei hat't verdeint, Kanter Konring. Dörtig Johr is hei doch nu all in Fichtenhagen Kanter.«

Darauf der Altenteiler Kluntze, ein wackelköpfiger Greis, hoch in den Achtzigen: »Ick heww sinen Vader noch kennt, de vör öm in Fichtenhagen Kanter was, vulle dörtig Johr lang, un ick mein', hei hat't van sinen Ollen, unse Kanter. 't is up öm öwergahn. Herrje, wat de Olle was, de könn jück ok vor Gewalt Ördel speelen.«

Nach einigen nachdenklichen Schritten Jürgen Hinrich Keppel wiederum, eifrig: »Van wiet her sünd sei all nah Fichtenhagen reist, groote Mus'kanten, un sei hewwt sick van unsen Kanter wat vörspeelen laten. Hei is jüm allen äwer.«

»Äh, wat is da wieter bi,« knarrt ärgerlich Christoffer Rentelmann. »Narrenspossen!«

»Mak dick nich wichtig, Rentelmann,« Hinrich Keppel gereizt fortfahrend, und er bleibt inmitten des Weges breitbeinig stehen: »büst 'n rechten ollen Tönz, so Ördel tau speelen, as unse Kanter dat kann, Krüzdeubel, da hürt wat tau! Hat allens sine Wissenschaft, is grad as mit 'n Döschen«

»Ja, Christoffer, du hast ok ümmer den Deubel un sin Pumstaken vör,« spricht unwillig auch Vater Fuhlboom, als die Gruppe allmählich wieder in Bewegung kommt. »Würklich, de Freud' hüt is unsen Kanter tau günnen. Un ick segg man noch, wat hat hei allens dörchmakt im 61 Lewen. So viel bitter Leid! Sine drei Jungens hat hei up 'n Karkhoff liggen, un de Öllste, de was ok all forsch up de Ördel, ja, un de wör sicher sinen Vater hier in't Amt nahfolgt. Och, un nu hat de Kanter ja man blot noch sine Fru un einzige Dochter um sick, un hei bliwwt de letzte Konring.«

Christoffer Rentelmann aber ist nicht zu erweichen. Alle guten Gründe prallen an seinem niedersächsischen Dickschädel ab. Er bleibt dabei: gut hundert Jahre hätte die alte Orgel noch aushalten müssen. –

Die kleine Glocke ist längst zum Schweigen gekommen. In »Zum vier Linden«, ihrem Stammgasthause in Fichtenhagen, da aber streiten sie immer noch weiter, bis sie ihre Ha'w-Ösel, ihre »Pastoren« ausgetrunken haben und endlich die große Glocke sie in die Kirche ruft.

* * *

Oben im Turme hat der Fichtenhagener Kantor Johannes Konring den letzten Zug am Strick der kleinen Glocke inzwischen getan. In Fichtenhagen ist der Kantor auch zugleich Küster, und so hat er auch Sonntags eine halbe Stunde vor Beginn des Gottesdienstes die kleine Glocke zu läuten. »Töng, töng – töng!« dreimal noch hat der Klöppel im Ausschwingen angeschlagen.

In Schweigen hüllt darauf sich wieder das alte verwitterte Gotteshaus. Um den plumpen, viereckigen Turm und sein stumpfes Ziegeldach flitzen zahlreiche Schwalben herum, unaufhörlich, in weitgeschwungenen Bögen. Einzig das Flattern, Piepsen, Schirpen zahlreicher Sperlinge und Sprehen unterbricht die sabbatliche Stille. Im hochgiebeligen Dach über dem langgestreckten Hallenbau aus groben 62 Feldsteinen und Füllziegeln, da haben sie ihre Kinderstuben heute am Sonntag Kantate. So oft auch die Alten mit Atzung heranfliegen, fangen die nimmersatten kleinen Schluckhälse gar beweglich an zu zirpen, als wären sie am Verhungern.

Ans mittlere große Schalloch vorn unter der Uhr, die in Fichtenhagen nur die Stunden zeigt und mit nur einem Zeiger auskommt, schreitet nun der Kantor, vorsichtig, auf schwankem Brett. Gelehnt an einen Balken im Glockenstuhl, schaut er sodann regungslos hinaus. Sein Antlitz ist gerötet, seine Augen leuchten, heiß geht ihm der Atem. Über seinem Haupte schwer herab hängt die große Glocke in ihrem luftigen Stuhl, aus vielfach eisenbeschlagenen Eichenstämmen roh gezimmert, und die Trittbretter an der seltsam gewundenen Glockenkrone greifen kühn weitaus in die Luft. Einem Kinde gleich, Schutz am Rocke der Mutter suchend, schmiegt sich die kleine Glocke an die große. Den Läutestrick der kleinen Glocke hat der Kantor an einem Haken unten im Stuhle sorglich wieder festgebunden. In die Äste der uralten Linde vorm Turm versenken sich seine Blicke, wie er nun so, ganz in sich versunken, zum Schalloche hinausschaut.

Die Linde ist so alt wie die Kirche. Als man vor vielen Menschenaltern das Gotteshaus weihte, ist sie gepflanzt worden. Immen umsummen die Zweige. Ein ununterbrochen fortklingender Naturakkord, eigen feierlich und geheimnisvoll. Konrings Augen folgen jetzt den mit vollen Höschen Heimkehrenden. In den Schulgarten hinein zieht sich die Flugstraße, zu seinem Immenzaun – seinem. Weiter – zum Schulhause hinüber gleitet sein Blick. Aus den holzverschalten Wänden, traulich umrankt mit 63 Weinreben, bis hoch in den Giebel hinauf, da lachen alle die Fensterchen ihn an blank und hell. Sein Kopf wendet sich darauf dem nahen Friedhofe zu. Hier die Traueresche oben an der Mauer, er kennt sie nur zu gut. Und schließlich aber schaut er hinunter ins Dorf. Auf die Strohdächer mit ihren rauchgeschwärzten Giebeln, auf die roten Wellziegel der neueren Häuser. Kein Haus schert sich um Straßenfront, das eine flätzt sich dicknäsig gegen das andere: »ick kann hier stahn so as ick will, up minen Grunn.« Wiesen, Grashöfe mit Obstbäumen, von eifrig grasenden Gänsen munter belebt, umgrenzen freundlich die Höfe. Verwitterte Boltenzäune und Heckengebüsch, Birken, Ebereschen, Flieder. beschauliche Fichten, zahlreiche alte, knorrige Eichen, treue Beschützer vor Blitzgefahr, umgeben die Häuser, die Katen, die Speicher, Schuppen und Scheunen.

In tiefstem Gottesfrieden liegt Fichtenhagen vor dem Kantor da. Sonntagmorgen ist's. Da lärmen vor den Häusern und auf den Höfen die Gören nicht herum. Nein, sauber gewaschen sitzen sie auf den Trittsteinen, auf den Hausbänken. Dann und wann kommt ein Kätzchen irgendwo aus dem Kellerloche heraufgeschlichen, hockt nieder und leckt und bepfötet sich eifrig. Auch die Hunde, sogar die Hühner respektieren die Sonntagsruhe. Eine anständige Henne legt zur Kirchzeit Sonntags kein Ei mit steinerweichendem Gagagagei. Ruhig fest im Miste stecken die Forken, und die Spaten, Hauen, Schaufeln, das lehnt schläfrig an der Scheunenwand. Die Wagen dehnen und strecken sich vor Ruhebehagen der Länge nach aus. Will alles – alles seine Sonntagsruhe haben. Ab und zu verliert sich aus den Ställen hier und da ein nachdenkliches Brummeln. Den Schweinen in den Kobern allerdings ist nichts heilig. 64 Die quieken und rumoren in ihrem ewigen Hunger Sonntag wie Alltag.

Von den Höfen und Hausgärten weg, dem silberblitzenden Dorfbache entlang, hinaus auf das Wiesen- und Ackergelände wandert des Kantors Blick weiter. Immer weiter, über die gottgesegneten, lachenden Fluren – die Roggen- und Haferbreiten, die Buchweizen-, Kartoffel-, Kleefelder, weiter, höher hinauf – höher – eine Schwalbe nimmt ihn mit: und nun ruht er aus am Himmel oben, der über Fichtenhagen heut so liebewarm herniederblaut. Hat's ihm sonst doch allemal die Sorgen verscheucht, ihn beruhigt und seinem Herzen Frieden gegeben, so oft er auch aus seinem Schalloche schaute, weit hinaus bis in der Heide stillstes fernstes Dämmerblau. Heute aber wächst nur mit jedem neuen Tack des schweren Perpendikels der Turmuhr seine Unruhe. Konrings Augen feuchten sich plötzlich, und inbrünstig an seine Brust pressen sich seine gefalteten Hände. »Himmlischer Vater du da oben, habe Dank für deine Gnade! Daß ich's erlebe! Meines Lebens höchster Freudentag heute! Dafür sei dir, Allmächtiger, auch heute neugeweiht das ganz wie neue, prachtvolle Werk. Oh, meine Orgel jetzt, meine Orgel! Blicke gnädig herab auf unsere Gemeinde, nimm an unser Opfer, der du die jungen Raben nicht vergissest, der du den Sperling auf dem Dache behütest. Der du die Herzen prüfest und nicht ansiehst die Person.«

Und nach längerer Versunkenheit den Kopf leise hin und her wiegend, flüstert halblaut der Kantor: »›Jauchzet dem Herrn alle Welt, singet, rühmet, lobet! Lobt den Herrn mit Harfen und Psalmen! Mit Trommeten und Posaunen jauchzet vor dem Herrn, dem Könige!‹ Einen schöneren 65 Orgelspruch, wahrhaftig, kann es nicht geben! Just zur rechten Zeit ist er mir noch eingefallen, und wie prächtig der Maler ihn hingemalt hat auf den Fries, rot und golden, in gotischen Buchstaben!« –

Seine Bienen beschäftigen ihn plötzlich wieder für eine Weile: »Was, Kuckuck, sie wollen doch nicht etwa schwärmen – heute? Das wär' denn doch, – na!«

Horch, schwere Tritte tappen die hölzerne Turmtreppe herauf. Es sind die Leute, die die Große Glocke zu läuten kommen. »Gu'n Morr'n ok, Herr Kanter!«

»Guten Morgen, Lahmanns Vater! Morgen, Heers!«

»Na, Herr Kanter, nu möt wie da woll bi, 't mudd glieks vull slah'n, un eh man bi 'n Lüden Tritt fat't hat –«

»So–o! Ei, ei, da muß ich schnell hinunter, der Dienst ruft. Die Nummern hab ich noch anzustecken. I, wo hab' ich denn den Kirchenzettel –, was gibt's denn heute für Choräle? Ah, zuerst ›Wie schön leuchtet der Morgenstern‹ – mein Leiblied, das hat er gut gemacht, unser Pastor. Vorher nehm' ich mein Morgensternvorspiel. Aber zuerst, unterm Läuten, da spiel' ich das große Festweihepräludium und die Fuge. Blitz noch mal zu, Wind, Wind her, Lühmann, heut sollst du mir dran glauben! Volles Werk, alles – alles heraus, heraus alle meine 24 klingenden Stimmen!« –

Der Kantor erscheint nun auf dem Chor. Dumpf und geheimnisvoll von oben dröhnt das Geläute durch den Kirchenraum. Die Große Glocke – die berühmte Fichtenhagener Große Glocke! Und dazu der kleinen Glocke Zwischengebimmel! Im Schiff und auf den hölzernen Priechen – schau, wie gepflastert, Kopf an Kopf, und noch immer kommt's in die Türen nur so hereingestürmt. Ah, die 66 Orgel – welche Pracht, sie ist nicht wiederzuerkennen! Die blitzblanken neuen Zinnpfeifen vorn im Prospekt, aus vierzehnlötigem Zinn, sie blenden ja fast das Auge! Jeder Bauer steht und kuckt und reckt den Hals – jeder will hartnäckig ihn selber entziffern, des Kantors Orgelspruch: Psalm 96, Vers 4–6. Aber viel Schwierigkeit machen ihnen die gotischen Buchstaben. Und sie mühen sich ab, und steht einer dem andern bei im Buchstabieren, Studieren! Prächtig geschmückt über und über ist die Orgel mit Kränzen, mit Girlanden aus Tannenzweigen, und große rote Feuerlilien sind darin eingewunden, blaue Schwertlilien, und Rotdorn, Syringen, Schneeball, Goldregen. Ferien hatte es ja deswegen gestern zu extra gegeben. Hinaus in den Wald hatte der Kantor die Knaben geschickt, Tannenreisig zu holen, und in der Schulstube, da hatten die Mädchen die Kränze gewunden.

Hochaufgerichtet steht der Kantor da, auf seinem Chor, vor seiner Orgelbank. Aufgeschlagen auf dem Notenpulte liegt Johann Sebastian Bachs Präludium und Fuge in C-dur, aus der Orgelwerke drittem Band, Konrings Lieblingswerk. Wie oft schon hat er's gespielt, zu Ostern, zu Pfingsten, an allen hohen Festtagen! Jawohl, aber immer hatte es früher in dem schlechten alten Werke irgendein Unglück dabei gesetzt, mochte er auch tags zuvor noch so peinlich Windkanäle und Pfeifen nachgesehen und frisch nachgestimmt haben, überall, wo nur anzukommen war. Vom Orgelwolf nicht weiter groß zu reden, der heulte ja sowieso damals immer hinein, wenn man nur überhaupt mal volles Werk riskierte, aber der falsche Wind noch außerdem, die klappernden, ausgeleierten Abstrakten, eine ganze Reihe heimtückischer Heulpfeifen, denen nicht 67 beizukommen war, und was sonst noch alles! Na, nun aber Triumph, Triumph! »Ja, wenn se man 'n büschen mehr davon verstünden unten, sonderlich im Kirchenvorsteherstuhl die alten Böcke! Hörner haben sie an ihren Dickschädeln, keine Ohren!«

Von den Kollegen aus den Nachbardörfern fehlt heute keiner auf dem Chor. Schon lange vorm Läuten hatte die Neugier auf die jetzt endlich fertiggewordene Orgel sie in die Kirche getrieben. Sie hätten bei ihrer schulmeisterlich klugäugigen Musterung über manche Einzelheiten gern den Kollegen Kantor genauer befragt, aber keiner wagt's, dem Kantor zu nahe heute zu kommen, ja kaum, daß er ihren Gruß erwiderte, daß er auch nur einen Blick für sie übrig hatte.

»Johannes, 's is allerhöchste Zeit« – die Frau Kantorin, Minna, das Töchterchen – beide zugleich zupfen den Vater energisch am Ärmel. Sie teilt ihres Mannes Triumph, die Frau Kantorin, und sie hat dazu auch wahrhaftig ihr gutes eheliches Recht! Wie schmuck das alte Schwarzseidene der Frau Kantorin Franziska Marie Konring doch noch immer steht! Und die schönsten Rosen hat sie sich angesteckt, rote, gelbe und weiße, ganz kokett am Busen, unter der altmodischen ovalen Goldbrosche.

Kantor Konring hat sich zurechtgesetzt. Schweißperlen kommen auf seiner heißen Stirn ins Rollen beim Registrieren. »Hei treckt alle Pipen rut!« Den letzten Kontrollblick nun in den Winkelspiegel: alles ist in bester Ordnung, unter den Kindern auf dem Chor, unten am Altar, überall! Und nach dem Kalkantenzug greift die Rechte: »Wind, Lühmann!« Munter treten des Kantors Füße zu, und prachtvoll erklingt im Pedal das absteigende 68 Sechzehntelmotiv des C-dur-Präludiums. Die linke Hand spinnt darauf das schöne Motiv nachahmend weiter aus, und die rechte läßt durch das bewegte, freudige Wechselspiel breite, festliche Vorhaltsharmonien gleiten. Noch einen Achtfüßer mehr heraus, Violon, als der linke Fuß den Orgelpunkt jetzt faßt, das tiefe C, es wäre eine Schande, kämen darüber die köstlichen Synkopen nicht ordentlich zur Geltung! So, nun spazier' gemächlich abwärts – Absatz, Spitze, Absatz, Spitze – bravo, linker Fuß! Jetzt auf dem Orgelpunkt G schnell Violon 8 wieder weg, und heraus Subbaß dafür. Eigentlich wollte der Kantor bis zur letzten Durchführung in der Fuge sich die Posaune aufsparen, aber ihm reißt die Geduld: heraus damit, im vollen Werk man schon gleich den Schluß des Präludiums.

Mein Gott, wie's dröhnt, wie's kracht und braust, die Kirchenfenster fangen an zu klirren! Alles sitzt da, ganz starr vor Staunen. Der Pastor ist aus der Sakristei herausgetreten, den Kopf tief geneigt, horcht er zum Chor hinauf, in inniger Freude über seinen unvergleichlichen Kantor.

»O, Jemine, unse Kanter, nä, ick segg, de gaht äwerst hüte tau kehr, Krüzdeubel, ganz hellschen!«

»Den Deuker, de neie Ördel, wo dat brust und sust, aum Kinners, ganz bannig, ganz barbarschen!«

»Nä, Krischan, hest hürt, du, hest hürt – jetzt, jetzt wedder: wat is dat? Dat is ja liek so as wenn de Bulle rohrt!«

»Kinners, Kinners, dat is de neie Posaune, de int Wark rinnkamen is, jawoll, un negentig Daler hat de alleen kost,« klärt Jürgen Hinrich Keppel weit herum seine Nachbarn auf. 69

Der Kantor fängt die Fuge an. In einem sanften Achtfüßer intoniert er den Führer. Von Einsatz zu Einsatz läßt er den Tonstrom anschwellen. Den Wiederschlag mit dem Gefährten nun zuerst wieder im Piano. Und schnell hinauf die Hände aufs Obermanual, allein oben in Lieblich Gedackt mit Salizional das köstliche Manualiter. Letzte Durchführung – heraus nun aber alles, alles – volles Werk – Mixtur, Terzflöte 2, Posaune – »Minna, Franziska, helft mir herausziehen!«

Gewaltig, wie ein Leu, reckt sich das Thema aus, breit und wuchtig ertönen die pompösen Schlußakkorde und langgedehnt darüber hin die großen Triller, wie um kühn zu überspannen den Himmel von einem Ende bis zum anderen. Will denn der Kantor den armen Bälgetreter Lühmann heute morden? Lange allein läßt er das ungeheure tiefe C in der Posaune, am Schlusse, den allertiefsten Ton des Werkes im Pedal nachdröhnen.

»So hab' ich die C-dur noch nie herausgebracht, all meine Lebtage nicht! Was die neue Posaune aber auch Ton gibt, und das vorzügliche neue Prinzipalregister, oh, und Lieblich Gedackt, der wahre Engelsgesang! Nun ist's eine Lust, in Fichtenhagen Organist zu sein! Nun werd' ich wieder jung! Jetzt sollt ihr was erleben an eurem Kantor, Fichtenhagener! Ja, macht man Ohren, macht man Augen und schaut zu mir herauf. Nächstes Mal blas ich euch die große A-moll-Fuge.«

Leider hat er nicht Zeit, auf den Kirchenvorsteherstuhl und insonderheit auf den alten filzigen Kirchenvorsteher Christoffer Rentelmann ausführlicher hinunter zu triumphieren, der ihm so viel zu schaffen gemacht hatte: die Liturgie beginnt, und aufpassen heißt's! So, nun ist der Pastor 70 mit dem Vaterunser, mit dem Segen fertig. Jetzt das Morgensternvorspiel vorm Predigtchoral. Weit zurückgelehnt, die Gemeinde im Spiegel scharf fixierend, singt sodann der Kantor vor. Vorzüglich treffen die Kinder Ton, und die Gemeinde legt sofort herzhaft los. Energisch greift der Kantor ihr trotzdem immer noch unter die Arme mit frisch anspornenden Stichakkorden, denn hol' der Kuckuck das Schleppen!

Wahrhaftig, so ist in der Fichtenhagener Kirche überhaupt noch niemals gesungen worden! Ja, wessen Lieblingsmelodie wär' denn aber auch nicht: »Wie schön leuchtet der Morgenstern«? In Terzen und Sexten, die höhere oder tiefere Oktave zur Melodie, der köstlichen, singen die rechten Sangeshelden. So auch allerhand Schnörkel, Modulationen, Übergänge wagen sie kühnlich anzubringen. Besonders oben in den Priechen, links und rechts an den Orgelpfeilern, da, wo sie sitzen auf ihren Stammplätzen, die rechten Sangeshelden, auf die der Kantor sich in Not und Tod verlassen kann. Einige erheben sich im Eifer, machen sich stramm, lehnen sich vor. Beide Fäuste in die Flanken stemmt sich der gewaltigste Lungensänger der Gemeinde: Christeldierk, der Großknecht von der alten Zinsmühle, um mit seinem Baß ordentlich vom tiefsten Grunde des Zwerchfelles ausholen zu können.

Die letzte Strophe beginnt. Der alte Pastor erscheint auf der Kanzel. Sein Kopf hebt sich langsam wieder nach dem Gebet. Freudig erhobenen Hauptes schaut er auf seine Gemeinde, schaut er zum Orgelchor hinauf. Auf den nach Musikerart in langen Strähnen zurückgekämmten Haaren des Kantors ruht sein Blick. »Gott segne ihn, den Trefflichen!« – »Einen bedenklichen Stich ins Weltliche«, fällt 71 ihm ein, »hat heute deine Predigt, 'ne Nase bekommst du, erfährt's das hohe Konsistorium. Aber ich meine, heute ist Sonntag Kantate, ist unsere so lange ersehnte Orgelweihe!« Wie Gottes Macht und Herrlichkeit aus den Klängen der Musik dem Herzen tief innen sich ahnend erschließt, will er seiner Gemeinde zu Gemüte führen, kühn an Schillers »Macht des Gesanges«, aber auch an Luthers herrlichem Beispiel, an Versen von Paul Gerhardt, von Christian Fürchtegott Gellert. Fürwahr, in großer Begeisterung preisen will er des Gesanges und Orgeltons Erhabenheit, Herrlichkeit, Allgewalt!

Der gute alte Pastor hat seine Predigt beendet, wie auch die Kollekten und Danksagungen. Nach dem Ausgangsverse hat der Kantor nochmals alle seine Kunst aufgeboten und mit einem wunderschönen Nachspiel geschlossen, einer eigenen freien Phantasie über den Choral »Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren«, kunstvoll durchgeführt, kanonisch und triomäßig ein paarmal und zuletzt gar fugiert, frei aus der Faust. Den schwitzenden und bitterbösen Bälgentreter Lühmann ausgenommen, lobt und preist die ganze Gemeinde ihren Kantor. »So 'n schönen Kirchgang hewwt wi noch nüms nich erlewt!« An der verwitterten alten Turmtür draußen warten sie auf den Kantor, man bildet hier förmlich Spalier. Jeder Bauer möchte ihm die Hand drücken. Fuhlbooms Vater, Jürgen Hinrich Keppel, der pausbäckige und gute, und der strahlt nur so vor Freude, vor Genugtuung, und er erklärt und beschreibt die neugeweihte Orgel unermüdlich. Wahrhaftig, und sogar auch Christoffer Rentelmann, der ist endlich mürbe geworden, und er verzieht schmunzelnd das breite Maul.

Traumverloren bleibt jedoch Kantor Konring auf seiner 72 Orgelbank sitzen. In respektvoller Entfernung harren schweigend Frau und Kind und die Kollegen. Geräuschlos teilt sich nun die Gruppe – der alte Pastor ist aus der Sakristei heraufgekommen, und er wendet sich der Orgelbank langsam zu.

Durchs lange, schmale Dachfenster fallen der Mittagssonne Strahlen. Hinweg über die Gestühlte, langsam die Priechen herauf, schräg herüber zum Chore nun, immer voller, heller, wärmer. Und mit einem Male: goldig überfluten in eins sie den Kantor, seinen Orgelspruch und die blanken Prinzipalpfeifen. Wie vom Hauche Gottes warm berührt, gradwegs vom Himmel herunter, so erglänzt die Orgel, wie Widerschein des großen Glückes im Herzen ihres Meisters, des Kantors Johannes Konring, heute am Sonntag Kantate und am Feste der Orgelweihe, in seiner Kirche zu Fichtenhagen. 73

 


 


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