Karl Söhle
Musikantengeschichten
Karl Söhle

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Der Heldentenor

Ganz Strulleborn ist festlich geschmückt. Junkerstraße, Beestefeldstraße, der Marktplatz mit seinen niederträchtigen Gerüchen von den freilaufenden Gossen – Strulleborn ist wahrhaftig nicht wieder zu erkennen! Wie gehetzt irren die Blicke herum zwischen dem bunten Geflatter der Fahnen, dem Gewirr all der vielen Kränze und Girlanden, den hochragenden und mit Tannenzweigen und Papierblumen umwundenen Masten, schnurgerade aneinandergereiht, und behängt sind sie mit prachtvollen Transparenten und Wappenschildern: Adler darauf, erschröcklich krallige, Bären, Vogel Greife, aufrecht einherschreitende, zungenreckende Leuen. Sieh, und am Rathaus prangt gar eine schier lebensgroße Germania, in Ausfallstellung, mit gezücktem Schwert, lorbeergekrönt und edel. Ferner Bildnisse des Landesvaters sind zu sehen, teils friedespendenden, teils augenrollend kriegerischen Ausdrucks. Oh, und die Kern- und Kraftsprüche! »Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte« »Wir Deutsche fürchten Gott, sonst niemand in der Welt.« Denn Strulleborn ist eine sehr patriotische Stadt. Das war Strulleborn immer. Ihr aufdringlicher, in Phrasen sich ergehender »Patriotismus« freilich, der will nicht viel bedeuten. Die wahre Liebe zur angestammten Scholle, zur Heimat, die wurzelt treu verschwiegen im Herzen, die tanzt 111 nicht auf der Zunge herum. Als ihr größter Sohn, der berühmte Großvater vom jetzigen Bürgermeister, dem reichen Schnapsbrenner Beestefeld, am Kakerbecker Lehmweg, nahe der Strullequelle, die Stärkefabrik gegründet hatte, daß darob der Kartoffelabsatz und Handel und Wandel in Strulleborn einen ungeahnten Aufschwung nahmen – in jenen Tagen ließen allerdings die Strulleborner Malermeister die Gesinnung aus zwei anderen Farbetöpfen hervorgehen. Jedoch, was konnte es weiter helfen, nach Anno 66: umfärben, und weg also mit dem geächteten Gelb am Geländer der Strullebrücke – Schwarz darüber, das Weiß kann ja so bleiben, es ist unschuldig und neutral!

Ja, Strulleborn ist eine patriotische Stadt, und dafür erhält sie auch heute ihr wohlverdientes Kriegerdenkmal. Im Gesang- und Turnverein »Eichenlaub« war dafür die »Idee« aufgekeimt. Der reiche Schnapsbrenner Beestefeld hatte erklärt: »Ich nehm's zu Dreivierteln auf mich!« Auch die beiden andern hochherzigen Kapitalisten Strulleborns, Lohgerber Kreye und Kaufmann Schönke, die wollten sich nicht lumpen lassen, und zum guten Ende hatte der Landrat des Amtsbezirkes noch einen kleinen staatlichen Zuschuß aus dem Welfenfonds in Aussicht gestellt. Von der gut empfohlenen, privilegierten Berliner Firma Löwenmark & Komp. für vaterländische Denkmälerindustrie hatte man sich darauf einen illustrierten Preiskatalog schicken lassen. Als man sich für die Nummer 2705 entschied, da hatte die Firma geantwortet: Eine höchst glückliche Wahl habe man getroffen, Modell 2705 wäre in Pommern, Ostpreußen und Posen ausgezeichnet gegangen. Zufällig hätten sie das betreffende Denkmal fix und fertig auf Lager. Der Adler sei allerdings beim Gusse ein wenig lädiert worden, 112 jedoch wer's nicht wüßte, könne es kaum sehen, und der Preis wäre natürlich deshalb herabgesetzt, um 7 Prozent. Sehr glücklich hatte sich alles gemacht, und prompt war man auch zur geplanten Enthüllung am heutigen Sedantag fertig geworden. –

Es ist soweit. Platz da vorm Landauer des Herrn Landrates! Leutselig grüßt der Gewaltige nach allen Seiten hin, und die Strulleborner schlagen die Hacken zusammen, und man schaut mit großem Respekt auf die blanken Knöpfe seiner Reserveleutnantsuniform.

Auf dem Marktplatz vorm Rathause, just da, leider, wo die Gossen sich kreuzen und die Gerüche am schlimmsten sind – in der Beestefeldschen Brennerei und Brauerei hatte man gestern überdies auch noch »abgelassen« –, da harren schweigend und würdevoll die Stadtväter, die Honoratioren – der Herr »Superndent« und der Herr Pastor, der Herr Doktor, der Herr Apotheker, der Herr Rektor und die Lehrer, der Herr Eichmeister und der Herr Leggenmeister, der vollzählige Aufsichtsrat der Stärkefabrik usw. Die eine und andere der Ehrenjungfrauen hat noch an ihrer schwarzweißroten Schärpe zu zupfen und zu glätten. Die verstärkte Strulleborner Stadtmusik hat bereits die Lippen zum Blasen der Nationalhymne gespitzt. Herrgott, und der Verein »Eichenlaub«! In Hufeisenform hat er um das Denkmal Aufstellung genommen. Die zu heute neugefertigten schlohweißen Turnerjacken mit genau am Herzpunkt aufgehefteten schwarzweißroten Schleifen, die kecken, schwarzweißrot umränderten Turnermützchen und die schönen Kokarden daran – großartig, alles! Und welche Ordnung, welche Disziplin! Sektionenführer, Notenwart, Schriftführer, stellvertretender Schriftführer, Schatzmeister, durch besondere Abzeichen in 113 gewirkten schwarzweißroten Litzen am Arm, sind alle besonders kenntlich gemacht.

Der Herr Landrat ist nun ausgestiegen. Begeisterte Hochrufe erbrausen. Und Hurra und immer wieder Hurra! Die Musikanten blasen aus vollen Backen. Dem alten Zwillich stehen die glotzigen Augen ganz aus dem Kopfe heraus vor Anstrengung, es wird ihn noch der Schlag rühren. Im St. Katharinenturm läuten die Glocken. Der Reisende von der Firma Löwenmark & Komp., Herr Siegmund Warschauer, siffelt nun vor auf seinen zwei linken Füßen, und er nestelt an der großen, sackleinenen Kapuze. Die Hülle fällt. Gerade auf das Sitzungszimmer des Rathauses reckt der erzgegossene Aar den Hals. Kein Mensch merkt den Schaden am linken Bein. Und wie stattlich unter den grimmen Krallen die Trophäen sich ausnehmen, auf denen der Reichsadler horstet: das zerbrochene Schwert des Feindes, die eroberte Fahne, das erbeutete Kanonenrohr!

Jetzund die Weiherede! Er tritt vor, und er macht sich stramm und redet, der Unteroffizier der Reserve, Turnwart und Liedermeister des Vereins »Eichenlaub«, der Kürschner Luten Siebenlist. Der ist ein Teufelskerl: er ist für die idealen Interessen seiner Vaterstadt in steter Bereitschaft der begnadete Redner, er ist das ständige Strulleborner Sprachrohr des Geistes.

Als der Kürschner mit »Dreimal Hoch unser allgeliebter Landesvater« geendet hat, sichert der reiche und dicke Bürgermeister Beestefeld keuchend, schniefend und fortwährend sich den Schweiß abtrocknend, dem Denkmal städtische Fürsorge und Schutz zu. Mit der streng dienstlichen Parole: »Versammlung vorm Denkmal heute nachmittag punkt Glockschlag drei, Ausmarsch nach der ›Nachteweide‹ und punkt vier 114 Beginn der großen musikalisch-patriotischen Festivität«, damit findet der erste Akt der Strulleborner Denkmalweihe seinen Abschluß.

* * *

»Da muß man nu so in der Lüneburger Heide versauern, diesen schönen Sedan! Ekelhaft! – Sie, Ober, Sie: halbe Mosel! – Morgen erst die Abrechnung. ›Daß Se mir nischt anders weichen, als in bar, Warschauer,‹ hat er gesagt, der Chef. Nu, werd' ich müssen aushalten und warten im Dings. – Kellner, halbe Mosel und Speisekarte!«

Herr Siegmund Warschauer läßt bekümmert den Kopf hängen: »Immer schabbiger geht's Geschäft beim Löwenmark. Wann wirst du endlich machen dein Glück, Warschauer? Nich lassen kannst du von der Kunst!« Erregt springt er auf. »Ha, da war erst mein Reisen for die Orchestrions und großen Musikwerke, jawohl: aber mein Chef, der Süßmund, er machte Pleite. Da in Breslau hat er mein Talent entdeckt, der Flatauer, Gott, und ging nu an das Schmierenelend. Gott, mit faulen Kartoffeln haben se geworfen in Pasewalk meinen Raul. War auch nischt ßu machen, rein nischt! Kapores mein schöner Tenor schon nach zwei Monaten. Da Gesanglehrer in Krotoschin, Gott, mit ßwei Schülern. Und nu in diesem unglücklichen Denkmälergeschäft beim Löwenmark – hier, wahrhaftig, ist erst recht nischt ßu machen! Zu Ende diese Branche, keen rechter Patriotismus mehr ßu Lande. Das Geschäft haben se ihm verdorben, dem Löwenmark, die Sozialdemokraten. Unsere schönen Kaiser- und Kriegerdenkmäler – nich geschenkt wollen se noch welche davon 115 haben, die kleenen daitschen Städte. Hähähä, wenn se sich alle so leicht inseifen ließen und überm Löffel balbieren, wie Dingsda – wie haißt: Strulleborn, hihi, Strulleborn soll leben! Gott, aber kommt se denn noch immer nich, he, Wirtschaft, Wirtschaft: halbe Mosel und Speisekarte!«

Der Wirt vom »Reichsadler« – früher, vor 66, hieß das Wirtshaus »Das weiße Roß« –, der kommt endlich höchstselber mit der halben Mosel zum Vorschein. »Na nu, man'n büschen Geduld, Herr, Sei sünd hier nich in Be'lin. Alle mine Lüd sünd buten in de Nachteweide, was unser Schützenhoff is. Ossentung un Sweinskabonade gibt's. 'ne Spieskort kennt wie hier tau Lanne noch nich. Übrigens, die feinsten Herren Reisenden steigen in'n »Reichsadler« ab, Herr, Warmbold un Pape'n in Hannover seine, Moldenhauer un Komp. in Brunswick seine, Eisen un Kurzwaren, un de drei van de olle reelle Firma Bahlsen un Stapfer in Hamborg, Wulle un Beddfeddern. Na, un was ich doch man noch sagen wollte – ja so: wollen der Herr denn nich auch 'n büschen 'raus nach die Nachteweide gehn zu's Fest un sich da 'n büschen mit verlustieren, nich, ich hab' Sie nämlich da auch 'n großes Zelt?«

»Ih, sollt mir einfallen! – Hm, aber den ganzen Tag hier im Dings, ganz Strulleborn draußen, die Mä'chen – na, angucken kann man sich das Gehudel ja mal, so von ferne.«

»De Junkerstraat runner, un bei'n reichen Lohgerber Kreye – dat groote, neie Hus mit dat hübsche musterte Schieferdack – da rechts um de Ecke; un denn 'n lütjen Strämel de Strulle lang, – nich weit, hm, das Wasser stinkt Sie da nämlich 'n büschen –, un denn ümmer gradut up'n Kakerbecker Lehmweg, un dor glieks linker 116 Hand de Stärkefabrik de groote Busch: das is unse Nachteweide. Se müssen sich aberst 'n büschen sputen, daß Se zu's Konzert nich zu lad hin kommen. Mein Bierzapf, der singt Sie nämlich auch 'ne große Nummer. Zwei volle Monat hat er mit'n Kürsner daan äuwt. Ja, lachen Se man, wird Sie schon vergehen – staunen werden Se, Herr. 'ne Tenorstimm, den Deuker, ganz wat Staatschöses! Gehen Se man furns hin, Herr. Komm' auch gleich nach. Veel Pläsir!«

* * *

Böllerschüsse, Jubeln und Jauchzen, Hurra- und Hochrufe, Fanfaren, Trommelwirbel schallen aus der Nachteweide weithin über die friedlichen Wiesen und Ackerkoppeln. Schon ist das Schauturnen beendet, und es ist glänzend ausgefallen, und auch der Kürschner Luten Siebenlist, der hat bereits seine große Festivitätsrede geredet über das Thema: »Systematisch geordnete Leibesübungen in männerstählenden turnerischen Evolutschonen als die natürliche physische Basis vor Kriegstüchtigkeit und die körperlichen Träger vor echt patriotische Gesinnung.«

Das verstärkte Strulleborner Stadtmusikkorps hat darauf das große patriotische Festkonzert eröffnet, und zwar mit dem »Todesritt von Mars la Tour«, großem Schlachtenpotpourri von Theobald Schwubbeke, Stabstrompeter im Husarenregiment »Prinz Pickel von Pickelstein«.

Aufs Podium, aus soliden Brettern über drei Reihen Fässer, steigt nun hurtig, in geräuschloser Fixigkeit, der Verein »Eichenlaub«. Sämtliche Sängerhäupter verbeugen sich, in einem Duck, wie am Schnürchen gezogen. Alle Sänger stehen stramm und machen tiefernste, blasse Gesichter, 117 wie Leichenbitter. Gewaltig erbraust plötzlich der Ruf vom Donnerhall, mit vollem Blasorchester und mit obligaten Böllerschüssen. Was die Lungen nur Wind geben können, haben die Sänger zu brüllen, um aus dem Getöse überhaupt gehört zu werden. Groß und schweißtreibend ist ihre patriotische Inbrunst. Na, und darnach die friedliche Nummer a capella, die Pianos immer dusement vom Soloquartett: »Das treue deutsche Herz«. So viel Ausdruck, so viel Gefühl! Im Tenor, horch: leises Weinen, dumpfes Schluchzen im Basse. O, und die heiße Wehmut – der Tenor schmilzt förmlich weg, er sinkt dem Basse röchelnd in die Arme. Unterm Ringelschwanz des Dirigenten kommt zuletzt aber alles gemütlich wieder zusammen, und überhaupt der letzte Akkord, pah, er klinge, wie er will, das Beifallklatschen deckt ja schließlich immer alles liebevoll zu.

Als der Verein »Eichenlaub« mit dem letzten Verse zu Ende ist, macht er wupp seine Verbeugung, und er nimmt stramm und ordentlich in vier Sektionen seinen vorläufigen Abtritt.

Ratsdiener Stöhr meldet den Beginn der dritten Nummer, mit dreimaligem Klingeln. Ein vierschrötiger Schlöks, Anfang der Zwanziger, kommt plötzlich auf die Bretter gestolpert. Dreimal hintereinander nickt das gesunde, rote Gesicht, und jedesmal überdecken lange schweinslichte Augenwimpern schämig die kleinen wasserblauen Augen. Es ist Wilhelm Bolte, der Bierzapf vom »Reichsadler«, das Strulleborner Tenorwunder.

»Na, Willem, stah wiß! Lat man den Maud nich sinken, Willem! Holl man de Ohr'n stief! Kniep man de Dumen in! Frie de Bost!« 118

Der alte Zwillich, der Kapellmeister der Stadtmusik, der raunt dem Solisten fürsorglich zu: »Man ja ümmer ornlich uppassen, du, Takt is de Hauptsack, un din Takthollen, dat is man so–so, Musche Willem. Man ümmer ein, twee, drei achter sachte mit 'n Hacken nahhelpen. Na äwerst man keine Bange süß, ick holl Strang, up mick kann sick einer verlaten.«

Der Bierzapf läßt plötzlich seinen Flachskopf verlegen sinken. Nach einigem Zögern spuckt er eine Backpflaume aus. Die hatte ihm der Kürschner gegen Heiserkeit in den Mund gesteckt und gesagt: »Man bloß lutschen, Willem nich aufessen.« Darauf schneuzt er sich mit landesüblichem Handgriff, er hustet und räuspert sich. Und er dreht dem Publikum seinen breiten Buckel zu und zupft sich das widerspenstige Hemdqueder unter dem schönen weißen Gummikragen in Ordnung, er zieht die ihm nebst dem Kragen vom Verein gestifteten Manschetten unterm Ärmel hübsch weiter heraus, und als er auch noch einen Staubfleck am linken Hosenrohr mit der flachen Hand energisch weggeklopft und sich zuletzt mit seinem rotbaumwollenen, mit dem Bildnis des Landesvaters sinnig bedruckten Sacktuch den Schweiß abgetrocknet hat, da macht er entschlossen Kehrtum, er setzt die Füße nach auswärts, federt die Beine und gibt sich Balance, und er entfaltet endlich eine Notenrolle, holt mächtig tief Atem, und plötzlich, hast du nicht gesehen, beginnt er frisch und frei von der Leber weg zu singen:

»Sonst spielt' ich mit Zepter,
mit Krone und Stern –«

Zögernd, gleichsam mit schmerzhaft versetzter Sehnsucht singt er das erste selige Kind. Alsdann aber im Refrain 119 läuft ihm das Gefühl über, und accelerando und in einem mächtigen crescendo läßt er das zweite selige Kind wie ein Elefant sich recken und strecken.

»Oh, ah! Großartig! Bravo, da capo

»Den Deuker, Sakerlot, nä ok so 'ne Gördel! Gutt u Gutt, wat for 'ne forsche hoge Quiek! Ganz bannig! Liek as 'n Celler Gestütshingst! Un ok tau Harten gung't, jawoll, dat mudd man seggen! Man glieks noch 'mal, Willem, los!«

Den rauschenden Beifall nach dem da capo bringt Ratsdiener Stöhr mit seiner Klingel endlich zum Verstummen. Der Kürschner springt aufs Podium: »Meine Damens un Herrens, dies eben is ja eigentlich man bloß vor Bareton, aberst er kann noch 'n ganzes Stück höger 'rauf! Auf allgemeinen Wunsch eines hochgeehrten Publikum singt der gottbegnad'te Sänger furns noch die richtige große Soloarie vor Tenor: ›Ein Schütz bün ich, in des Regenten Sold‹, aus die große romant'sche Opper ›Das Nachtlager von Granada‹, alle vier Verse. Ich selber hab' se 'n einäuwt bis zur Perfekschon, un der se nu so, ohne allens, man bloß singt, denn das Orschester hat keine Noten nich.«

»Famos! Fix, man los! Pst. Stillstahn, Silemium, 't Plappermul hollen!« –

Als der Bierzapf geendet hat, stellen sich die Strulleborner in ihrer Begeisterung beinahe auf den Kopf. Ein junger Lehrer wagt es, an der Leistung zu mäkeln. Er erhält Püffe, ja beinahe Prügel, und flehentlich nimmt er seine schnöden Bemerkungen wieder zurück. Die fünf schönsten Ehrenjungfrauen umringen den Bierzapf, und sie schmücken sein Haupt mit Eichenlaub und Rosen, sie schmücken seine Sängerbrust mit schwarzweißroten 120 Schleufen. Darnach ergreifen ihn die Fäuste der Turner. Huckepack trägt man den großen Sänger umher, und man zeigt ihn der jauchzenden Menge.

»Lassen Se mir den Mann, Gott, lassen Se mir'n! Ich bild'n aus. For umsonst. Der neue Wachtel. Gott, is endlich wirklich mal 'was ßu machen! Werden se bieten 10 000, 15 000, 20 000. Fallen für mich ab 90 Prozent. Werden se sagen: Gott, der Warschauer, sein Impresario, werden se sagen, er is 'n gemachter Mann, der Warschauer. Paris, London, Amerika, Dollars 50 000, 100 000, halbe Million, 50 Prozent. Gold, Gold zu Hauf. Machst du endlich doch dein Glück, Warschauer, in der Kunst!«

»Edler Mann, Se wollten –«

»Herr Bolte, ich bild' Se aus! Ich nehme Sie morgen mit – nach Berlin – zweiter Klasse! Mein Schüler, mein Stolz, meine Hoffnung!«

»Dau't Willem, man los, griep tau, klapp in, Willem, du, dat ward dick nich wedder baden!«

»Edler, gottgesendeter Mann, Schützer der Kunst, Ja, nehmen Se'n mit, nehmen Se das Kleinod hin aus meine Hand. Ich bün's gewesen, der wo 'n entdeckt hat, as er in 'n ›Reichsadler‹ bei 's Flaschenspeulen den kleinen Postillon sang. Reihum will ich geh'n un sammeln in ganz Strulleborn, daß Se auch 'n büschen Vergütung nachkriegen, Herr. Heil, heil de hoge deutsche Kunst! Heil, ihr edler Schützer, heil, Willem Bolte ihr Jünger, ihr Heldentenor, ihr Hohepriester dermaleinst, heil, heil!«

»Ick dau't, Kürsner, ick bün dabi! Versäuken kann man allens. Gaht't scheif: Schett wat, dat is mick ok agal, da kam ick wedder trügg in 'n ›Reichsadler‹. Ick kann äwerst ok in Be'lin bliewen, ick woll mick ja all ümmer 121 verännern, pah, und stats jüm da wat vörtaugröhlen, tapp ick jüm wedder Beier in. Wat 'n ornlichen Küper is, de kummt äwerall dörch de Welt.«

* * *

»Hamburger Stadttheater. Am ersten Ostertage einmaliges Gastspiel des Heldentenors Mr. William Boldini vom Metropolitan Opera House in Neuyork, als Johann von Leyden im ›Propheten‹. Mit Aufwendung großer Kosten ist es der rührigen, stets auf neueste Sensationen bedachten Direktion Hofrat B. Pollini gelungen, dies Gastspiel zu ermöglichen. Als Prophet begeisterte Mr. William Boldini auf seiner großen, von beispiellosen Erfolgen begleiteten Amerika-Tournée, unter Leitung seines Impresario Signor Veracino, in St. Franzisko seine Zuhörer derartig, daß mitten in der Vorstellung ein noch nicht dagewesener Tumult losbrach. Die Yankees verlangten nämlich den transponierten berühmten Triumphgesang mit dem hohen H zum fünften Male da capo. Als der erschöpfte Sänger zögerte, blitzten Revolverschüsse gegen die Bühne. Erst dann legte sich der Sturm, als Mr. William Boldini nachgegeben hatte. Ja, als er auch noch ein übriges getan und gleich dahinter her die ›goolden slippers‹ gespendet hatte, in höchster Vollendung, kannte das Entzücken keine Grenzen. Die Yankees schwangen sich zu Haus ins Orchester, und, an den Kontrabässen emporkletternd, kamen sie auf die Bühne gestürmt, um dem berühmten Sänger zu huldigen. – Mr. William Boldini ist eine völlig internationale Tenoristenpersönlichkeit. Amerikanische Biographien erzählen, der Künstler stamme aus einem kleinen Neste der Lüneburger Heide, ursprünglich wäre er dort Bierzapf 122 gewesen, der simpele Name Wilhelm Bolte wäre sein Familienname, und sein Impresario, zufällig als Berliner Geschäftsreisender dahin verschlagen, der habe ihn entdeckt und ausgebildet, was jedoch einigermaßen amerikanisch klingt und stark zu bezweifeln ist.«

»Herr du meines Lebens, is doch de Möglichkeit! Wat ut 'n Minschen warden kann! Wer harr dat dacht vör negen Johr! Wohrhaftigen Gott, hei is't, min Küper!« Der Wirt vom »Reichsadler« reißt das seinen Händen im ersten Schreck entglittene Zeitungsblatt vom Fußboden hoch und stürzt damit wampelnden Bauches, ohne Käppchen, in blanker Glatze, wie von Furien verfolgt, zum Kürschner Luten Siebenlist. Klabautz in die Ecke schleudert der Kürschner das schwere Brett, worauf er gerade Filz gewalkt hatte, als der Adlerwirt ihm die Zeitungsnotiz vorgelesen hat. Lange steht er starr da. Plötzlich aber kommt Elektrizität in ihn hinein. Ein über das andere Mal umarmt er den Adlerwirt, er rennt den Lehrjungen über den Haufen, er tobt wie besessen in der Werkstätte herum. »Undankbarkeit der Welt! Ich beanspruche meine Rechte. Un Sie auch, verstehen Se denn nich, ich mein', wir beide hör'n doch auch mit 'rein, in seine Biographie. Furns 'ne Inschrifttafel anbringen an'n Reichsadler – se kommen von buten rein, se verzehren was – ich selwer will se aufsetten. Haben wir das um ihn verdient, Strulleborn is doch de Wiege seines Ruhms. Ein großer Künstler, ein kleiner Mensch. Aberst das dürfen wir uns nich gefallen lassen, reklamieren, swören, es auf 'n Prozeß ankommen lassen!«

»Na, un dat mit dat lütje Nest in de Lüneborger Heide, so 'ne Geringschätzung!«

»Stantepeh hin!« 123

»Ja. henn nah Hamborg, ick heww doch ok minen däftigen Andeil daan, als Adlerwirt. Jehann sall glieks anspannen. Wi kamt noch gaud t'recht, um halwig teihn gaht de Hamborger Middagszug van de Statschon aff.«

* * *

»Rădădădā Dōmda Rōmdōmdĭdōmdā.«

»Wat 'n Glanz, wat 'ne Pracht, dat flimmelt ein' vör de Ogen! 'ne groote Staatsakschon! Kiek, Kürsner, kiek, dat veele Guld un de Pupur un Hörmelin un de Spießen un Stangen un groten Säbels, Herrje un dat veele bunte Volk, wo sei sick alle drängt un reckhalst un de Hänn' upbört. Ob woll de Kaiserkrönung in Fersalli ok so laten hat?«

»Rā-rădădădă Rā-rădădădă Rā-dădădădădădădădă.«

»Aufgepaßt, kuck nipper zu.« und der Kürschner stupft den Adlerwirt in die Rippen. »Süh, de Trabanten saletieren: de vier hohen Herrens in 'n Hörmelinmantel sünd de Kürfürsten, as hier in'n Text druckt steht. Süh, Krone, Zepter, Reichsappel un Reichsswert tragen se, auf 'n Koppkissen – ne wittseidene Kissebüre (Überzug).«

»Rāhrāhrāhrāh Rădădădădădădădădădă«

»Süh, dor is hei nu wedder, nah sinen groten Sieg. In 'n barwten Kopp, slohwitt, och, un hei hat ne Rüstung an van idel Sülver! Kiek, Kürsner, wo hei segent, mit beide Hänn', ümmer festeweg, ümmer liek tau, nah hinnen un nah vörn, bet rann an'n Altor. Na, dat mudd man seggen, hei hat sick hellschen rutmakt, ganz bannig, ßakerlot as wi'n tauirst tau seihn kregen, was hei ja man blot 124 Gastwirt un tapp jüm Sluck in. Sin grote Drom, den hei de drei swarten Kirls vörsüng, de is nu doch wohrhaftig in Erfüllung gahn. – Na nu, is dat nich den Propheten sine olle Fru Mama? Igittigitt, schämste dick nich, entfamtige Slöks, nä so ne Gemeinheit: hei lügt, hei swört sine eigene Mudder aff, och, un sinen schändlichen Meineid, den singt hei ok noch ludhals!«

»Es geht'n dafor slecht in'n fünften Akt, bei die große trag'sche Kartastrophe. Nüms soll sich seiner Herkunft schämen« –

Ja, wahrhaftig, es war ein großer Abend für die deutsche Kunst! Mr. William Boldini triumphierte ununterbrochen. Namentlich nach dem dritten Akt, nach seinem großartigen Abgang mit dem hohen H, da hatte das Publikum gerast vor Begeisterung, Orchestertuschs hatten sich in den Beifallsjubel gemischt; siebenundzwanzig Hervorrufe, vierzehn Lorbeerkränze mit roten Schleifen, acht Blumenkörbe und eine große Blumenlyra hatten die Kritiker gewissenhaft gezählt und mit festgestellt in ihren Kritiken.

* * *

Im »Weißen Schwan«, dem schönsten Hotel des Jungfernstiegs, wohnt der große Heldentenor.

Als am andern Morgen der Kürschner und der Adlerwirt im »Blauen Affen«, einem bescheidenen Gasthof der Schottentwiete, mit einer sogenannten lütjen Lage ihren Mut genügend gefestigt haben, brechen sie gegen Mittag auf zum »Schwanen«. In einer feierlichen Ansprache will der Kürschner der Stadt Strulleborn wohlberechtigten Anteil an seinem Künstlerruhme dem großen Sänger Mr. William Boldini darlegen. 125

Da man sich nicht knauserig zeigt, verheißt Jan, der pfiffige Oberkellner, eine Audienz.

Im großen Marmorsalon, dem goldstrotzenden Wandspiegel gegenüber, auf einem scharlachenen Diwan sitzt der große Sänger, nachlässig zurückgelehnt, das Haupt gestützt auf der ringefunkelnden Linken. Glänzend weiß, wie Elfenbein, frei, prachtvoll breit und fett und üppig der Sängerhals, Ambraduft entströmt dem gebrannten Blondhaar. Schön kastanienbraun sind seine Augenbrauen, und die hatten doch früher eine ganz gewöhnliche schweinslichte Naturfarbe. Ihm zur Rechten, in einem Schaukelstuhle, räkelt sich Signor Veracino. Seine zwei linken Füße stecken in langen, spitzen und blitzblanken Lackschuhen. Aus dem schwarzen, pomadeglänzenden Kraushaar sticht das zackige Profil seines schmutzig-wachsgelben Gesichtes scharf heraus. Oh, und anwesend sind viele edle, kunstbegeisterte Damen. Auf den Fauteuils rundherum da bauschen sich Prachttoiletten, da funkeln Edelsteine, da blitzen Brillanten, da leuchten Schwanenpelze, knistern Fächer, da sprüht es, und da glüht es, da rauscht es, da wogt es! Elegant und schwül ist's im großen Marmorsalon, fast versetzt's einem den Atem. Zigarettenduft, alle Wohlgerüche Arabiens.

Von seinen neuesten Londoner Triumphen hatte der Gefeierte eben erzählt, wie der Prince of Wales eigenhändig ihm eine Busennadel angesteckt habe, und die wäre so wertvoll, schier wie ein Fürstentum. Enthusiastisch hatten die anwesenden drei Engländerinnen darob besagte kostbare königliche Busennadel geküßt. Das hatte aber den Neid der fünf temperamentvollen und bildschönen Amerikanerinnen erregt, und ein hitziger Streit war entbrannt über die Frage, ob England oder Amerika den Künstlern höhere Ehren erweise. 126 Mit einem Male hatte der große Sänger schrill aufgelacht und seine Handschuhe unter die Streitenden geworfen, und das hatte gewirkt, wie ein Knochen auf Hunde: ritschratsch, und jedes zierliche Händchen schwenkte einen Reliquienfetzen.

Gerade erholte man sich von der Anstrengung. Da öffnet sich langsam die Tür. Sich ängstlich nach allen Seiten umsehend, treten der Kürschner und der Adlerwirt ein. Mein Gott, nun aber der Kürschner – wie vor'n Kopf geschlagen steht er da, er kann sich auf kein Wort von seiner Rede mehr besinnen! –

»Kellner, was wollen die –?«

»Willem – Willem Bolte aus Strulleborn – kennst du mich denn nicht mehr – deinen alten Fründ – guck mich doch nipper an – ich bün – bün ja der Kürsner Luten Siebenlist – aus Strulleborn. – Stolz sein wir Strulleborner auf dich. – Suh, un da steht auch der Adlerwirt – un – wir – wir haben dich gistern die Opper singen hürt – großartig –.«

Alles hat sich erstaunt erhoben. Eine lange, peinliche Pause. Der Kürschner läßt die ausgebreiteten Arme langsam niedersinken.

»Strulleborn – Kürschner Siebenlist – oh yes, yes, erinnere mich, very good erinnere mich – hm, nett von Ihnen. – Na, wie geht's denn sonst, gut? – Na, na, da grüßen Se man Strulleborn von mir. – – Kellner, geben Se den Leuten draußen 'n Glas Bier.«

 


 


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