Karl Söhle
Musikantengeschichten
Karl Söhle

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das neue Violoncello

Seit dem Nachmittagskaffee schneit es gleichmäßig so fort. Und diese Düsternis! Keinen Sonnenstrahl hatten die tief herabhängenden, bleigrauen Wolken durchgelassen, und das schon alle die Tage durch, über eine Woche. Schon um drei mußten die Lampen angezündet werden. Und immer die gleiche, tiefmitternächtliche, feuchtkühle Stille draußen. An der Straße im dichten Schnee die verstreuten Katen, Scheunen, Schuppen, als wären sie katzensacht an ihren Platz geschlichen, und schon halb im Schlafdämmer, mit angehaltenem Atem lauschen alle die Giebel auf das Fallen der weißen Flocken.

Beim Amtsgerichtsrat Krahnold brennt heute im »Saal« festlich mit sämtlichen Kerzen der Kronleuchter. Weithin strahlt der Lichtschein, denn des Amtsgerichtsrates stattliche Dienstwohnung liegt außerhalb des Ortes frei auf einer Anhöhe vorm Walde. Die ganze Anlage, der große Gemüsegarten, Hof, Scheune und Wirtschaftsschuppen – alles verrät weisliche Bedachtnahme auf ein kindergesegnetes, ländlich patriarchalisches Familienwesen. Jedoch Amtsgerichtsrat Krahnold ist Junggeselle geblieben, und außer ihm wohnt nur noch Doris, seine Wirtschafterin, mit in dem großen Hause.

Der brennende Kronleuchter hat was zu bedeuten, allerdings: es ist Sonnabend, und da hat Amtsgerichtsrat 16 Krahnold seine regelmäßige Wochenmusik. Jedes Kind im Orte weiß dies nachgerade. Man ist's gewohnt schon seit vielen Jahren und kümmert sich nicht mehr darum. Höchstens in neu herversetzten Beamtenfamilien schütteln sie den Kopf und wundern sich, mit was für Leuten der Amtsgerichtsrat verkehre an diesen merkwürdigen Abenden, es sei ein Skandal für einen Mann in einer so hochangesehenen Stellung.

Ja, die Musik! Die Musik ist des Amtsgerichtsrates Passion, und daß er schließlich dennoch mutlos bei den Pandekten hocken blieb, als er seinerzeit umsatteln wollte und lange schwankte, das, wahrhaftig, bleibt ihm der größte Kummer seines Lebens. »Na, die paar Jahre halt noch aus,« weiß er sich immerhin zu trösten, »Dienstalter ja schließlich, Pensionierung und zu Ende ist damit die Sklaverei: ungestört kannst du dann immer am Klaviere fest sitzen.« –

Wohl eine halbe Stunde ist der Amtsgerichtsrat, die Hände auf dem Rücken, unablässig hin und her gewandelt. Nun bleibt er, in die brennenden Kerzen des Kronleuchters hinaufblickend, mitten im Saale stehen. Ganz eigen unternehmungslustig sieht er heute aus. So sonderbar verträumt und melancholisch ist sein Blick. Sehr im Widerspruch zu den vielen schalkischen Zwinkerfalten um die Augen, zumal um das etwas verkniffene linke Auge, in dem unregelmäßigen und glatt rasierten Gesichte. Scharf hebt sich das ungescheitelte silberweiße Haupthaar ab von der strotzend gesunden Gesichtsfarbe.

»Donnerwetter, schon halb durch, und sie kommen immer noch nicht!« Und ans Fenster tritt der alte Herr. Der Flockenwirbel draußen ist noch wilder, noch ungestümer 17 geworden. Wie fortwährend Flöckchen sich neugierig an die warmen Scheiben verirren, kläglich schmelzen und hastig in ringelnder Bahn hinuntergleiten und immerfort neue Ringelkanälchen nachkommen, immerfort, das zieht seine Aufmerksamkeit für eine Weile auf sich. Nicht ohne Anstrengung schwingt er sich nun mit der rechten Sitzhälfte aufs Fensterbrett hinauf.

Welche Gemütlichkeit im großen Zimmer, dem »Saal«, in respektvoller Unterscheidung von den herkömmlichen »besten Stuben«! Die Empiremöbel von Mahagoni, kostbare alte Erbstücke: Der großmächtige Sekretär mit seinen Säulen, vergoldeten Kapitellen, Pilastern und der aufgesetzten kleinen Akropolis, über den öffentlichen und geheimen Schubfächern. Der hohe und schmale Standspiegel, gekrönt von einer goldenen Lyra. Das gewaltige Familiensofa, anzuschauen schier wie ein kleines gemütliches thüringisches Fürstentum. Und um den runden Sofatisch herum die massiven Polsterstühle. Auf der kühn geschweiften und messingbeschlagenen Kommode mit Greifenfüßen steht eine alte Standuhr, in ihrer Form nach dem Triumphbogen des Kaisers Konstantin, zierlich in Alabaster, und sie flüstert hohl und greisenhaft längst vergessene Großvatergeschichten. Und der riesige Dreimänner-Ofen, er spendet behagliche Wärme. Unter den weißen Kacheln, auf dem gußeisernen Feuerkasten das alte, springende Sachsenroß. Lustiges Knistern darinnen, und heller Schein fällt, den Torfkasten unruhig beflackernd, gradaus auf die friedsame hellblaue Tapete: in ihre fast erloschenen Nelkensträuße kommt Leben und Munterkeit. Komponistenbilder, vergilbte Stiche, schauen rings von den Wänden herab. Der sterbende Mozart, schnell noch einen Takt Requiem schreibend, Joseph Haydn 18 auf der Überfahrt nach England, bei schwerem Gewitter; Robert Schumann, wie er in tiefem Sinnen das Haupt stützt; und der blonde und blauäugige Johannes Brahms. Angelweit offen stehen beide Türen des Notenschrankes. Die Unordnung darin sollte Doris nur sehen, die gestrenge Hausmeisterin. Wie auf der Roßbacher Landstraße nach der Schlacht, so sieht es auf den Brettern aus. Die Bratschenstimme zum Schumannschen Quintett war vorhin nicht zu finden gewesen und der cholerische alte Herr – er hatte blindwütig vom langen Suchen, schließlich alles im Schranke um und um gekehrt. Endlich war sie aber zum Vorschein gekommen, und so konnte er sämtliche Stimmen in vollkommener Ordnung auf den beiden Doppelpulten neben dem Flügel auflegen.

Vom Fenster her schallt ein derber Fluch, und in bösartigen Rhythmen macht der Amtsgerichtsrat an den Fensterscheiben seinem Warteärger Luft.

Wupp ist er plötzlich abgesprungen, mit so mächtigem Bums: der alte weißmäulige Quick am Ofen, wo er, alle Viere weit von sich streckend, geruht hatte, der fährt erschrocken hoch, und er weiß nicht, was er von seinem Herrn denken soll. »Donnerwetter, Doris – Dortchen, in fünf Minuten ist's Glock sieben, und noch läßt keiner 'was von sich hören!«

Die Gerufene erscheint im Türrahmen, sie verschwindet aber gleich wieder und mit einem heiseren, ingrimmigen »Hm!« Im Eßzimmer nebenan ist sie gerade beschäftigt, den Tisch zu decken. Jedes Geschirrstück erhält einen derben Puff mit an seinen Platz. Ja, am liebsten schmisse sie wohl die Gläser, die Teller kurzerhand »an'n Stänner«. Hastig und buffig fahren ihre, mit langen Müffchen 19 bezogenen Arme heraus aus den Falten des lilafarbenen Seelenwärmers. Von ihrem Standpunkt aus hat Doris ja auch vollkommen recht, sehr böse heute zu sein. Überhaupt, das viele Klavierklimpern ihres Herrn hat ihr von vornherein schon Kummer genug im Leben bereitet. Aber daß es immer schlimmer damit wurde, daran sind allein die heute erwarteten Gäste schuld, die schändlichen Verführer, nach ihrer Meinung. O, diese Musikanten, diese Musikabende! Schändlich! »Ick heww nahsten ümmer 'n 'halwen Dag tau schruppen und rein tau maken un de leeren Buddel rut tau sleppen. Wohrhaftig, tau slapen kam ick nich vör Klock veier, bet so lang' wohrt et henn, dat Bum Bum, Tschingtsching.«

Wiederum erscheint Doris in der halbgeöffneten Tür. Sie betrachtet giftigen Blickes den Kronleuchter, ach, und dem guten Amtsgerichtsrat, dem wird's schwül ums Herz. »Na, dat ward hüt' leeg (schlimm)! Wo glatt hat hei sick makt, den brunen Kledrock un wohrhaftig ok sine rode Weste hat hei an: an, wenn hei de an hat –?!

Worüber sie sich seit mittag unaufhörlich den Kopf zerbrach und was ihr schwere Sorgen machte, das war dies: Eine großmächtige schwarze Kiste, unten war sie bauchig weit und oben war's beinah wie ein menschlicher Hals und Kopf, die hatte Frachtfuhrmann Lühr von der Bahnstation mitgebracht. Als er mittags damit ankam, mußte er den sonderbaren Kasten gleich selber ins Schlafzimmer des Herrn schaffen. Heimlichkeiten also. »Un hei, hei – woll twintigmal is hei in de kolle Kamer wippt, un den ollen Kasten, den hat hei glieks upmakt. Och, un wo hat hei sick dabi högt! Och, un tut't hat't dunn öfters, deip un dump, liek so as 'n Baßblasding. Herr, du meine 20 Güte, nu will hei ja woll dat Blasen ok noch anfangen! Ha, so'n Mus'kant, 't is ne wohre Schann, un dat ganze Dörp lacht ja ok da äwer!«

Der Amtsgerichtsrat hat währenddessen für eine Weile Ablenkung gefunden. Das gestern von ihm selber neuaufgezogene kleine Es des schon recht ausgemergelten Flügels steht zu tief. Und als er die Sache in Ordnung gebracht und gerade den Schlüssel befriedigt abziehen will, da klingelt's heftig. »Doris, sie kommen, laufen Sie, fix, schnell, machen Sie auf!«

Aber schneller als die brummige Alte ist Krahnold selber hinausgeeilt. »Donnerwetter, so spät! Was, und nur Sie beiden? Nein, ich sag', auf Musikanten ist kein Verlaß! Einen so lange warten zu lassen, an solchem wichtigen Abend, Sie wissen doch –?«

»Gu'n Abend, gu'n Abend, entschuldigen Se man, Herr Amtsgerichtsrat!«

»Guten Abend, Herr Stengel.«

»Herrgott, 'n Wetter! So'n Snee haben wir lange nich gehabt. Och, un stockdüster is's dabei. Is ja nich mehr durchzukommen, och, un 'n natten Fuß hab' ich gekriegt, auf'm Damm, an der Waschbank.«

Erneutes Trampeln, Prusten, Schneeabschütteln.

»Blaff, blaff, blaff –«

»Quick, kusch dich! – Sagen Sie, aber was wollen wir denn ohne die Bratsche anfangen, Herr Stengel, wo haben Sie denn den Postverwalter, er ist wohl gar im Schnee steckengeblieben?«

»Nä, Herr Amtsgerichtsrat, er nich, aberst, hä, seine Post. Wir wollten 'n äben abholen. Er schimpfte un sagte, er käm später nach und wir sollten man anfangen 21 un erst 'n büschen Trio spielen, un zu's Quintett käm' er sicher, un wenn auch seine ganze olle Post daum zu Grunne gehn müßte.«

»Na, hören Sie, das wird 'n Abend werden! Es ist da, freilich.«

»Ich muß es sehen,« ruft, den Amtsgerichtsrat und Stengel, den Kapellmeister der Dorfmusik, stürmisch ins Zimmer drängend, der junge Medizinstudent Fritz Hellwig.

Obschon Stengel der notgedrungen angestammte Primgeiger, spielt trotzdem Fritz Hellwig jetzt immer Violino primo, wenn er dabei ist und die Ferien in seinem Heimatsorte verbringt. Hatte er doch im letzten Semester wieder von neuem Violinstunden genommen, beim berühmten Bontemps, dem städtischen Musikdirektor in Göttingen. Als der Amtsgerichtsrat darauf bestand, Fritz Hellwig solle die erste Geige übernehmen, immer, wenn er da sei, da hatte Stengel sich allerdings tief gekränkt gefühlt. Er wolle nicht mehr mittun, hatte er im ersten Zorn erklärt, aber er hatte sich nachträglich besonnen: das schöne Bier immer und das Essen und die Ehre –.

»Hören Sie meinen Plan,« raunt der Amtsgerichtsrat seinen Gästen zu, als die Besichtigung zu Ende und alle drei in großer Befriedigung aus der Kammer wieder ins Zimmer treten. »Ich hab' ihn erst um acht herbestellt. Heute nacht spielen wir ja sowieso durch. Pst, aber vorsichtig, ihm nichts verraten, er darf nichts ahnen. So machen wir's: erst ärgern wir ihn auf alle mögliche Weise, wir loben Wagner und wir mäkeln immerzu an seiner alten Schnarre herum, bis er in Wut kommt. Das weiß ich: kein rechter Musikant läßt sein Instrument beleidigen, sei's auch noch so miserabel. Das große D-dur-Trio von 22 Beethoven, Herr Hellwig, hören Sie, das spielen wir mit ihm, das Geistertrio. Und gleich an seinem ersten Solo lassen wir die Mine platzen. Die Katastrophe, der große Moment. Doris soll natürlich vorher Wein hereinbringen. Herr Stengel, Sie schenken wohl ein –«

»Rrrrrr, blaff, blaff. blaff –«

»Pfui, kusch dich, Quick! Gott sei Dank, da kommt der Postverwalter, ich kenn' ihn am Tritt.«

Alles eilt hinaus. Schon in der offenen Haustür wird der Postverwalter eingeweiht.

»Ha, puh, erst verpusten. Herrliche Idee, Herr Amtsgerichtsrat. Konnt' beim besten Willen nicht früher kommen. Stengel, nehmen Se mir meine Böhmin ab, schnell raus mit ihr aus dem nassen Futteral. Statt um fünfe ist sie um sieben gekommen, meine Post, und ein ganz verklahmter Hermannsburger Missionar saß darin, dem alten, buckeligen Schneider Olferman sein Schwestertochtersohn. Stecken geblieben war se, oben bei der Sandkuhle, hinterm Steinsink. Bis an die Knie geht der Schnee ja beinah. Wenn er man – Herr Justus – erst lebendig hier wäre. Er hat den weitesten Weg. Lieber Gott, wenn morgen der Schneepflug ausbleibt, kommt meine Post noch zwei Stunden später.«

Gerade will man die Haustür zuwerfen, da ruft's vom Zaune her: »Halt, offen lassen, ich bin's! Gottverdammtes Pech – das hat gerade noch gefehlt – hin, alle, unheilbar kaputt – 'n schöner Schreck – Herrgott, und 'n Krach, blitzen tat mir's vor den Augen. An einer alten Eiche muß es passiert sein – angerannt bin ich Unglücksmensch!«

»Hahaha, macht nichts, geht so auch, schad't dem alten Kasten nichts!« 23

»Was, so'n Benehmen, sind die jetzt schon bezecht und haben alles ausgetrunken? Machen die verkehrte Welt heut' abend? Und mich – mich bestellt man so spät erst her? Mein Gott, was ist denn los, sämtliche Kerzen im Kronleuchter brennen?«

»Weisen Se mal her Ihren ollen Wimmerkasten, ob noch 'ne Torfschaufel daaus zu machen is,« schnarrt Stengel. Verächtlich blickt Herr Justus den Stengel an und schweigt.

»Kurios, noch nichts getrunken haben sie, sie haben auch noch nicht geraucht, und auf dem Sofatisch ist noch die schönste Ordnung?«

Fritz Hellwig hat unterdessen Herrn Justussens Cello aus dem Wachstuchfutteral hervorgeholt. Wahrhaftig, es hat einen klaffenden Sprung weggekriegt, von oben bis unten, durch das linke Loch zieht er sich hin!

»Wa – was, daüber lachen sie noch? Bande! Und auch der Amtsgerichtsrat, er lacht, da hört doch alles auf!«

»Herr Justus, wir sind uns jetzt alle daüber einig. Wagner ist wahrhaftig der größte Komponist des Jahrhunderts –«

»Er ist größer als Beethoven –«

»Er ist überhaupt der größte Komponist aller Zeiten –«

»Sie müssen den ›Tristan‹ man erst so Male sechs gehört haben, da werden Sie's uns schon glauben.«

»Schnell, Herr Justus, streichen Se mal über« ruft der Postverwalter, das A auf dem Flügel antupfend.

»Da bün ich doch neugierig auf, ob noch'n Ton rauskommt?« 24

»Pfui, scheußlich, as wenn in der Orgel der Wind ausgeht.«

»Ja, aber, meine Herren, was hilft's« sagt endlich der Amtsgerichtsrat, »was sollen wir denn anfangen, ohne unsern guten Herrn Justus können wir uns doch begraben lassen. Kommen Sie, Herr Justus, hier: Ihre Stimme, versuchen Sie's, so gut es gehn will. Herr Hellwig, tun Sie mir den Gefallen. Das Geistertrio von Beethoven, wir haben's ewig nicht gespielt. Das Quintett, meine Herren, spielen wir nachher«

Gesenkten Hauptes schaut Herr Justus lange, lange sein ruiniertes Instrument an. Endlich seufzt er tief, und er fängt an, den Bogen aus Leibeskräften mit Kolophonium zu bestreichen. Währenddem hat Fritz Hellwig seine vielbewunderte Hunderttalergeige von Otto in Ludwigslust glockenrein in Stimmung gesetzt.

»Fertig! Eins, zwei, drei – los!«

»N–n–nicht eilen!« zischt, prustet, preßt und stottert der Herr Justus, als das trotzig aufbegehrende, leidenschaftliche Thema plötzlich wie sinnend stehen bleibt und in gehaltene Akkorde einlenkt. Der feurige, hinreißende Satz, er nimmt alle völlig gefangen. Erst nach der Durchführung, da, wo das Hauptthema plötzlich hervorbricht wie ein siegender Alexander, da fällt dem Amtsgerichtsrat ein: »Herrgott, wir wollten es ja gar nicht ernst meinen, aber es ist doch man gut so, um des Himmels willen an Beethoven keine Versündigung!«

Als der Satz zu Ende ist, greift Herr Justus seufzend wieder nach dem Kolophonium.

Nach einigem Nachsinnen wendet sich der Amtsgerichtsrat herum zu seinen Mitspielern. Er hat eine Idee. »Um 25 Rubinstein schadet's ja weiter nichts,« brummt er vor sich hin. »Meine Herren, ich hab' keine Lust, dies Trio fortzusetzen, was anderes, bitte, tun Sie mir den Gefallen. Das Rubinsteinsche in B-dur bitte, hier liegen die Noten gerade!« Zugleich blinzelt er vielsagend: »Planänderung! Nun aber ohne Gnade – reizen, den Löwen, bis er brüllt.« Und schon nach einigen Takten bricht der Amtsgerichtsrat ab: »Aber, Herr Justus, ich höre keinen Ton von Ihnen, haben Sie überhaupt mitgespielt?«

»Herr Justus, ziehen Se de Saiten doch man lieber über 'n Plättbrett über.«

»So 'n elendes Geschnarre.«

»Es klingt geradezu unanständig.«

Dunkelroten Gesichtes schaut der Herr Justus sich um. Dick und blau tritt die Zornader inmitten seiner Stirn hervor. Aber der Gute, er ist so leicht kein Spielverderber, er beherrscht sich, und er schweigt beharrlich.

»Noch mal von vorn!«

»Feste streichen, Herr Justus, feste, feste, mehr Ton, forte!«

»Fortissimo!«

»Was, der Stengel wagt es, sogar an meine Stuhllehne zu stupfen – nun schimpft's wieder von der Violine her – Kreuzhimmelhageldonnerwetter, da soll doch – empörend, so'ne Gemeinheit, man foppt mich, auf Verabredung – Komplott gegen mich –«

»Halt, Buchstabe Paul, halt« ruft der Amtsgerichtsrat: »Herr Justus, Sie müssen längst wieder 'raus sein, bei Buchstabe Paul wieder an –« 26

»Meine Herren, ich bedanke mich bestens,« bricht nun Herr Justus wütend los. »Ich habe überhaupt zum letztenmal mitgespielt. Ich geh' meiner Wege. Ich, ich – lassen Se mich, ich gehe, weg, weg will ich, weg!«

Während der Postverwalter, Stengel und Fritz Hellwig den wutschnaubenden Herrn Justus umringen und an den Armen und Rockschößen mit aller Kraft ihn festhalten, daß er nicht entweichen kann, ist der Amtsgerichtsrat heimlich in die Kammer geschlichen. »Kling, kling, klung« – horch: angerissene Violoncellosaiten ertönen. Näher kommt's. »Klung, kling, kling!« Prachtvoll glänzen die braunroten Zargen, glänzt die gewölbte Decke, glänzt das ebenholzene Griffbrett, der perlmutterverzierte Saitenhalter, glänzt die silberumsponnene dicke C-Saite!

»Mein lieber Herr Justus,« erhebt der Amtsgerichtsrat nun feierlich seine Stimme. »Schon längst wollte ich Ihnen mal eine Freude machen, ich fand aber immer keine passende Gelegenheit. Hier, ich bitte Sie, nehmen Sie dies neue Violoncello von mir an. Und wenn Sie darauf in Tönen Ihr Herz ausschütten, in Freud' und Leid, mein lieber Freund, so gedenken Sie meiner und gedenken Sie unserer schönen Wochenmusiken, die nun schon so lange Jahre bestehen. Diese Abende sind ja unser aller größte Freude im Leben. Ich frage Sie, meine lieben und werten Freunde und Genossen im Apoll, ist's nicht so? Aber was wäre unsere Musik ohne Sie, ohne Ihr Cello, mein bester Herr Justus? Ein trauriges Nichts wäre sie, eine Harmonie ohne Baß.«

Alle nicken zustimmend, und Stengel und der Postverwalter brummen: »Jawoll, Herr Amtsgerichtsrat, jawoll, jawoll, das soll woll sein!« 27

Der Amtsgerichtsrat fortfahrend: »Wo hätten wir wohl einen besseren Cellospieler gefunden meilenweit herum in der ganzen Landdrostei Lüneburg?! Ja, mein bester Herr Justus, Sie sind – Sie sind zugleich ein idealer Künstler und Mensch, wahrhaftig, das sind Sie! Ein Schuft, der das nicht anerkennt! Meine Freunde, und daß ein solcher Mann, daß so ein großer Musikus und Held – ein Held, sag ich: in der Schlacht bei Langensalza, Gott tröst' uns, da hat er zum Sammeln geblasen, als die Northeimer Kürassiere Attacke geritten und tapfer sich durchgehauen hatten – daß ein solcher Mann, sag' ich, in der Amtsstube hier die Bauern wegen ihres Gemeindedreckes ausfragen muß, es ist ein Skandal! Ja auch auf dem Klappenhorn ist unser Freund ein großer Virtuos! Gedenket, vor König Georg V. hat er Solo geblasen, ›Rose, wie bist du so reizend‹ von Spohr. Der König hatte befohlen, von meinen Northeimer Kürassieren will ich die Tafelmusik. Silberne Pauken hatte er dem Regiment geschenkt. Ja, und was wäre wohl aus unserm Herrn Justus geworden – sicherlich ein großer königlich hannöverischer Kammermusikus, wenn, ja wenn's nicht anders gekommen wäre. Ha, aber sie haben unseren König weggejagt. Und unsere tapferen Langensalzaer, ach, sie hatten doch gesiegt! Aus war's nun, vorbei!«

»Als er noch jünger war und vorn Zähne hatte, meine Herren, wie oft hörten wir ihn da alle abends auf seinem kupferen Klappenhorn blasen, wie manchen schönen Sommerabend! In der Lindenlaube an der Kegelbahn, hinter Striepen Gasthaus, da saß er immer. Heimlich schlich er sich hin. Da saß er, und er blies und blies, stundenlang, bis tief in die Nacht hinein. Aus der ›Zauberflöte‹, aus'm 28 ›Freischützen‹ blies er und Volkslieder die Menge. Der Gute, man bloß, daß er zuweilen mal absetzte und einen Schluck aus dem Pastoren (Weinglas mit Schnaps) nahm – die alte Striepen brachte ihm ja immer still einen hinaus. Aber wie sagt doch Schiller: ›Auch das Schöne muß sterben‹. Die Jahre kamen, o weh, die Zähne vorn wurden ihm wackelig, mit dem Ansatz wurde es schwieriger. Ich weiß, er hat sich lange gegrämt darüber, ja, ich weiß es. Meine lieben Gäste, und darauf ist er zuletzt, in seinen alten Tagen noch, ein großer Cellist geworden. Ich will mich nicht – doch ja, ich will mich mal rühmen: auf meine Veranlassung. Sagte ich nicht so zu Ihnen: Herr Justus, in der Auktion morgen beim Klosterpastoren wird ein altes Cello verkauft, Pastor Schwartze hat, als er noch Student war, glaub' ich, mal Stunden darauf genommen. Ich glaub', Sie kriegen's für 'n Butterbrot. Höchstens Tischler Hornbostel, der bietet acht gute Groschen auf den Holzwert.«

»Ja, so ist es gekommen. Rührend war's. Mit Todesverachtung fing er gleich an zu studieren, in der Kummerschen Schule. Halbe Nächte durch saß er hinten auf der Bodenkammer, daß es nur um Gottes Willen die Frau nicht hörte. Alle Griffe, den Daumeneinsatz, den Tenorschlüssel, alles lernte er allein aus sich selber. Nach acht Tagen konnte er schon ›Schöne Minka, ich muß scheiden‹. Vierzehn Tage darauf, wissen Sie noch, Herr Stengel, da spielten wir schon zum ersten Male Trio zusammen. Das kleine C-dur, Nummer 7, von Haydn war's. Ja, meine Herren, man bloß eine flüchtige Skizze kann ich entwerfen, nicht auszuschöpfen wär's, wollte ich den Ruhm unsers Herrn Justus genauer verkünden. Gott erhalte ihn und 29 sein neues Violoncello uns noch lange, lange. Stoßt an: es lebe die deutsche Kunst, es lebe unser Herr Justus, ihr Meister, der Leier- und Schwertmusiker, hoch, hoch!«

In tiefer Ergriffenheit ist der Herr Justus auf seinen Stuhl zurückgesunken. Nichts fällt dem linkischen, ganz innerlichen Menschen schwerer, als zusammenhängend zu sprechen. Anlauf auf Anlauf nimmt er, und er schnappt, er zischt, preßt, prustet, stottert, jedoch kein Wort bringt er richtig heraus, die Zunge liegt ihm wie Blei im Munde. Endlich kommt er wenigstens auf die Beine. Ein über das andere Mal schüttelt er dem Amtsgerichtsrat die Hand. Mit Freudentränen im Auge, betrachtet er lange – lange das neue Violoncello, von allen Seiten, und er betastet die Saiten, er betastet den Hals, die Zargen, und er prüft, wischt, er befingert die Saiten, er spannt den Bogen.

Nun zieht ihn der Postverwalter sanft auf seinen Sitz zurück. Stengel schiebt ihm das Instrument zwischen den Beinen ein. »Probieren, Herr Justus, jetzt schnell probieren! Fix mal Ihr Leibstück, die Bourrée von Bach!«

»Kann jetzt nicht – Solo, bin zu aufgeregt. Nachher. Bitte, Quintett jetzt erst, mit – mit Quintett würdig einweihen.«

Nun setzt er den Bogen an. Nun holt er aus zum Strich. Markig und pompös klingt das Einstimmen der Saiten. Er kriegt Mut. Und nun rafft er sich schon zu einem paar Arpeggien auf, über alle vier Saiten weg, schnell hintereinander. Nun ein paar Tonleitern, Flageolets, Doppelgriffe.

Hat man je so ein herrliches Violoncello gehört! Der Ton! Kolossale C-Saite, rein wie Orgelton! Die A-Saite: weich und doch ausgiebig. Oh, und gar die süßen Flageolets! Lange verharrt alles stumm, in Verwunderung und Staunen. – 30

»Jetzt 'ran an den Baß,« mahnt der Amtsgerichtsrat: »Das Quintett von Schumann. Alle Wiederholungen in allen Sätzen. Daß keiner weitergeht. Stengel, streichen Sie erst noch einmal Ihr A an. Noch mal. Ideechen tiefer. Ziehen. – Postmeister, Ihre Bratschensoli, so viel hat die Bratsche im langsamen Satz zu sagen, haben Sie auch ordentlich nachgeübt?«

»Auf Tod und Leben, Herr Amtsgerichtsrat.«

»Zweite Geige, im Scherzo aufpassen, daß Sie nicht wieder mit Ihrem Pizzikato ausbleiben, Stengel!«

»Habe 'n blaues Kreuz bei die Stelle gemacht, Herr Amtsgerichtsrat.«

»Fertig. Wollen zwei zählen. Wucht, Kraft, ordentlich reinlegen!« Heftig nickt des Amtsgerichtsrates Kopf, und wie aus der Kanone geschossen erklingt der erste der jauchzenden Vollakkorde des Themas. Alsdann das milde, innige und doch so tief eindringliche Zwiegespräch zwischen Violoncello und Bratsche, voller Sehnsucht, voller Inbrunst. Die Kühnheiten der Durchführung, der Streicher kraftvolles Sichauflehnen gegen die tyrannischen Klavierpassagen, ihr angsterfülltes Aufstöhnen, Trotz und Wut und alsdann Versöhnung, Verbündung, gemeinsamer Sieg zuletzt im Jubel der Koda.

»O Herrgott im Himmel, ist der Satz schön, und so gut ging er noch nie! – Holla, weiter! Andacht, Weihe, heilig, heilig: der Trauermarsch. Bratsche aufpassen, Sie sind jetzt die Hauptperson, der tragische Held, Postverwalter. Ton, Strich, durchdringen, scharfen Rhythmus, immer marschmäßig! – Gott steh' uns bei beim Agitato! Die verzwickten Synkopen da, nicht irremachen lassen durch mein Vorkommen. Stengel, bitt' Sie, um Gottes willen: 31 ordentlich zählen hier, zählen! Herr Justus, freuen Sie sich nicht auf Ihr großes Solo?«

Auch der Trauermarsch wird mit Glanz zu Ende gebracht. Herrn Justussens Musikantenherz schwimmt in Wonne und Seligkeit. Aber so weltvergessen er aufgeht in seinen herrlichen Soli, in allen größeren Pausen ist er Mensch, und da betastet und betrachtet er jedesmal sein göttliches Instrument, vorn und hinten und links und rechts. O weh, im zweiten Trio des Scherzos passiert eine Entgleisung. Stengel ist natürlich der Sünder. Wütend wird er von allen Seiten angeschrien, obschon er händeringend seine Unschuld beteuert, ja, der hitzige Fritz Hellwig sticht im ersten Ärger sogar mit seinem Fiedelbogen auf ihn ein. Wahrhaftig, aber im Ernst: der Schlußsatz, Herrgott, der Schlußsatz, der ist die Vollkommenheit selber! Wetter, wie da jeder schwitzt und aufpaßt und wie alles »klappt«. Als nach den drei Fermaten die Schlußfuge einsetzt, das Thema des Allegrosatzes vom Cello rein wie auf der Posaune geblasen erdröhnt, und dazu das frische, zackige Finalgegenthema, so scharf stakkatiert wie Trompetenstöße – da stöhnen und jauchzen die Gefühlsmenschen Herr Justus und der Amtsgerichtsrat vor Entzücken. Wie Keulenschläge läßt der Amtsgerichtsrat zuletzt auf dem großen Orgelpunkt die Quinten Es-B niederkrachen.

Starr sitzt alles da nach dem Schlußakkorde, minutenlang, keiner wagt ein Wort zu sprechen. Ja, was sagen nach solch einer herrlichen Musik auch Worte!

Der überlegene Stengel erlangt zuerst die Fassung wieder: »Wir nehmen's bald mit das Hänfleinquartett in Hannover auf!«

Ganz abwesend starrt der Amtsgerichtsrat noch immer 32 in die Noten: »Bitte den Schluß, die göttliche Fuge, die sofort noch mal, die kann man nicht oft genug hören. Herrgott, so eine Prachtfuge! Herrgott, Herrgott, 'ne ordentliche Fuge bleibt doch das einzig Wahre und Echte! Jawohl, bis in Ewigkeit, Amen!«

Und »Amen, Amen, Herr Amtsgerichtsrat,« wiederholt Herr Justus mit Überzeugung, mit Nachdruck. –

Dreimal spielten sie an dem Abend das Quintett. Etwas anderes außerdem noch vorzunehmen, wäre auch die reinste Entweihung gewesen, meinte Herr Justus. Beim letztenmal allerdings kam Stengel leider öfter heraus. Der Hasenbratenduft vom Eßzimmer herüber war wohl daran schuld.

Na, und nach dem Musizieren: oh, oh, da der Durst, der Musikantendurst! Denn sind sie einmal richtig im fuoco, die Musikanten, brennen sie, inwendig, ja, da gilt's dann auch wieder zu löschen den Brand, zu löschen, zu löschen! –

Den dritten Korb voller Bierflaschen hat Doris bereits hereinbringen müssen. Brummend wie eine gereizte alte Bärin hat sie ihn sehr respektwidrig gleich vorn auf den Süll niedergestupft, es klirrte und klappte: sie tat es mit abgewandtem Gesicht, um nur von der Wirtschaft im Saale nichts zu sehen. –

Als man sich endlich morgens Glock vier trennt, da schwört feierlich jeder: Das war wahrhaftig der schönste, der herrlichste Abend meines Lebens!

»Herr Justus, aber in diesem Schneegestöber können Sie's unmöglich mit nach Hause nehmen.«

»Um Gottes willen, Herr Amtsgerichtsrat, das halt' ich nicht aus, ich muß – ich muß es gleich mithaben, ich sterbe sonst vor Sehnsucht.« 33

»Kommen Sie man getrost, Herr Justus, keine Bange nicht, ich nehm' 'ne Laterne und leuchte Ihnen voran,« sagt Fritz Hellwig.

So geschieht's. In schönster Fidelität zieht die Gesellschaft ab. Und die heute mit so besonders großem fuoco, mit so mächtig vielem espressivo, appassionato gespielten und genossenen Melodien des herrlichen Quintetts, die singen, summen, brummen und pfeifen sie draußen immer wieder von neuem sich vor, allem Sturm und Schneewirbel zum Trotz. Die erregten Herzen wollen sich nicht so bald beruhigen. Und auch noch diskutiert wird zwischendurch, selbstverständlich, denn, ha, das wären mir schlechte Musikanten, die nicht auch immer gehörig sich stritten, scharf und hitzig, über Strich und Anschlag, Ton und Abschattung, Tempo, Phrasierung, Auffassung usw. usw. –

»Ob er wohl glücklich mit seinem neuen Violoncello heimgekommen ist,« denkt am andern Morgen der Amtsgerichtsrat auf dem Wege zum Gericht. »Will doch mal hier 'rumbiegen und hinhorchen auf seine Wohnung.«

»Wahrhaftig, er ist schon darauf im vollen Zuge. Die Bourrée von Bach. – Komm, Quick, lauf' nicht fort!« Und die rechte Hand mit dem Spazierstocke fest im Rücken, nach seiner Gewohnheit, so steht an einem Baume lange regungslos der Amtsgerichtsrat mit seinem Quick da und lauscht. Endlich wendet er sich lächelnd um, und er setzt seinen Weg zum Gerichtsgebäude fort.

 


 


 << zurück weiter >>