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9. Kapitel. Lebensart – Kunst

Ein schönes Benehmen ist besser als eine schöne Gestalt; es gewährt ein höheres Vergnügen als Statuen und Bilder; es ist die schönste der schönen Künste.«

Emerson.

Lebensart ist eine der anziehendsten Seiten des Charakters. Sie ist der Schmuck jeder Handlung und verschönt oft die gewöhnlichsten Verrichtungen durch die Weise, in der sie ausgeführt werden. Sie ist der beste Weg bei jedem Tun, berührt auch bei Kleinigkeiten angenehm und macht das Leben schön und heiter.

Lebensart ist nicht so unwesentlich und unwichtig, wie manche denken mögen, denn sie trägt sehr dazu bei, das Leben zu erleichtern, wie auch den gesellschaftlichen Verkehr angenehmer und freundlicher zu gestalten. »Die Tugend selbst verletzt,« sagt Bischof Middleton, »wenn sie mit schlechter Lebensart verbunden ist.«

Lebensart trägt sehr zu der Achtung bei, welche die Welt den Menschen zollt, und verleiht oft größeren Einfluß auf andere, als es Eigenschaften von größerem Werte vermögen. Ein anmutiges und zugleich herzliches Wesen ist eines der größten Hilfsmittel und vielen fehlt es an Erfolg, weil sie dies nicht besitzen. Denn auf den ersten Eindruck kommt viel an, und er ist gewöhnlich günstig oder nicht, je nach der Höflichkeit und Liebenswürdigkeit unsers Gegenüber. Während Rauheit und Barschheit Türen und Herzen verschließen, wirken Güte und angenehmes Benehmen, worin gute Manieren bestehen, wie ein »Sesam öffne dich«. Vor ihnen tun sich die Türen auf und sie sind ein Geleitbrief zu den Herzen der Jungen wie der Alten.

Es gibt ein verbreitetes Sprichwort, welches lautet: »Die Manieren machen den Mann«, aber es wäre richtiger zu sagen: »Der Mann macht die Manieren.« Ein Mensch kann rauh und barsch sein und doch ein gutes Herz und einen ehrenhaften Charakter besitzen; doch würde er zweifellos angenehmer und wahrscheinlich viel nützlicher sein, wenn er jene Sanftmut des Temperaments und jene Höflichkeit des Benehmens zeigte, welches dem echten Gentleman die Vollendung gibt. Mrs. Hutchinson beschreibt in der edlen Schilderung ihres Gemahls, auf die wir uns schon gelegentlich bezogen haben, seine männliche Höflichkeit und Liebenswürdigkeit folgendermaßen: »Ich weiß nicht, ob er mehr wahrhaft großmütig, oder weniger stolz war; er verachtete nie den Niedrigsten, noch schmeichelte er dem Größten. Er hatte eine liebenswürdige, zarte Höflichkeit für den Ärmsten und pflegte oft manche Mußestunden mit gemeinen Soldaten und armen Arbeitern zuzubringen. Aber seine Vertraulichkeit ging nie so weit, daß sie Spott herausforderte, sondern Ehrerbietung und Liebe erweckte.«

Das Benehmen eines Mannes zeigt in einem gewissen Grade seinen Charakter an. Es ist der äußere Exponent seiner inneren Natur und gibt seinen Geschmack, seine Gefühle und sein Temperament an wie auch die Gesellschaft, in der er sich zu bewegen gewohnt ist. Es gibt ein konventionelles Benehmen, was indes von verhältnismäßig geringem Werte ist, aber das natürliche Benehmen, das aus den sorgfältig durch Selbstzucht entwickelten Anlagen hervorgeht, ist von großer Bedeutung.

Ein anmutiges Benehmen wird von dem Gefühl erzeugt, welches einem gebildeten Geiste zu einer Quelle großer Freude wird. In diesem Lichte betrachtet, ist das Gefühl fast ebenso wichtig wie Talente und Kenntnisse, während es für die richtige Leitung und Geschmack des Charakters eines Menschen ungleich bedeutender ist. Das Mitgefühl ist der goldene Schlüssel zu den Herzen der Menschen. Es lehrt nicht nur Höflichkeit und Liebenswürdigkeit, sondern es verleiht auch Einsicht und befördert die Weisheit und kann fast als die Krone der Menschheit angesehen meiden.

Künstliche Umgangsregeln nützen nur wenig. Was unter der Flagge der »Etikette« segelt, ist oft nur eine Essenz aus Unhöflichkeit und Unwahrhaftigkeit. Sie besteht zum größten Teil in der Annahme gewisser Posen und ist leicht zu durchschauen. Auch im besten Falle ist die Etikette nur ein Ersatz für gute Manieren, obgleich sie oft nur ihr bloßes Abbild darstellt. Gute Manieren bestehen hauptsächlich in Höflichkeit und Liebenswürdigkeit. Die Höflichkeit ist als die Kunst beschrieben worden, vermittelst äußerer Zeichen die innere Rücksicht, die wir für andere hegen, auszudrücken. Aber man kann auch gegen andere vollkommen höflich sein, ohne eine besondere Achtung für sie zu empfinden. Gute Manieren sind nichts mehr oder weniger als ein schönes Benehmen. Man sagt mit Recht, »eine schöne Gestalt ist besser als ein schönes Gesicht und ein schönes Benehmen besser als eine schöne Gestalt; es gewährt ein höheres Vergnügen als Statuen oder Bilder. Es ist die schönste der schönen Künste.«

Die echte Höflichkeit ist aufrichtig. Sie muß vom Herzen kommen, oder sie wird keinen bleibenden Eindruck machen, denn kein äußerer Schliff kann der Höflichkeit entbehren. Der natürliche Charakter muß zum Vorschein kommen, von seinen Ecken und Härten befreit. Wenn auch die Höflichkeiten in ihrer besten Form (nach St. Franz von Sales) wie das Wasser sein sollte – »je klarer desto besser, rein und ohne Geschmack« – so wird doch das Genie eines Mannes manchen Mangel des Benehmens verdecken und man wird den starken und originellen Naturen vieles verzeihen. Ohne Ursprünglichkeit und Individualität würde das menschliche Leben viel an Interesse und Abwechslung wie auch an Männlichkeit und Stärke des Charakters verlieren.

Die wahre Höflichkeit ist gütig. Dies zeigt sich darin, daß sie gern zu dem Glück der andern beiträgt und alles vermeidet, was dies schädigt. Sie ist ebenso dankbar wie gütig und erkennt Freundlichkeiten bereitwillig an. Seltsam genug ist es, daß Kapitän Speke diese Charaktereigenschaft auch bei den Eingeborenen von Uganda, am Ufer des Viktoria-Nyansa im Herzen Afrikas fand, wo, wie er sagt, »Undankbarkeit oder das Unterlassen des Dankes für eine erwiesene Wohltat strafbar ist.«

Wahre Höflichkeit tut sich besonders in der Rücksichtnahme auf die Persönlichkeit anderer kund. Jemand wird die Individualität eines andern achten, wenn er selbst geachtet zu werden wünscht. Er wird auf die Ansichten und Meinungen des andern Rücksicht nehmen, selbst wenn sie von seinen eigenen abweichen. Der wohlerzogene Mensch macht seinem Mitmenschen ein Kompliment und sichert sich oft seine Achtung, wenn er ihm geduldig zuhört. Er ist duldsam und nachsichtig und enthält sich harter Urteile, und wenn man andere abfällig beurteilt, wird man selbst wieder so beurteilt werden.

Der Unhöfliche, der augenblicklichen Eingebungen folgt, wird aber eher seinen Freund als seinen Spaß verlieren. Man kann den wohl mit Recht als töricht bezeichnen, der um eines augenblicklichen Vergnügens willen sich den Haß eines andern zuzieht. Der Ingenieur Brunel – einer der gütigsten Menschen – pflegte zu sagen, daß Bosheit und üble Launen zu dem größten Luxus im Leben gehören.«

Dr. Johnson sagte einst: »Mein Herr, man hat ebensowenig das Recht, etwas Unhöfliches zu sagen, wie es zu tun, ebensowenig das Recht, zu einem andern etwas Unfreundliches zu sagen, wie ihn niederzuschlagen.« Ein höflicher Mensch gibt sich nicht den Anschein, besser oder weiser oder reicher zu sein als sein Nächster. Er rühmt sich nicht seines Ranges und seiner Geburt noch seines Vaterlandes, noch schaut er auf andere herab, weil sie durch die Geburt nicht dieselben Privilegien erlangten wie er. Er rühmt sich nicht seiner Kenntnisse oder seines Berufes, noch »fachsimpelt« er, wenn er den Mund auftut. Im Gegenteil, in allem, was er sagt und tut, ist er bescheiden, anspruchslos und ohne Anmaßung. Er zeigt seinen Charakter eher im Handeln als im Prahlen, eher in Taten als im Schwatzen. Der Mangel an Achtung für die Gefühle anderer rührt gewöhnlich aus Selbstsucht her und zeigt sich in Härte und abstoßendem Benehmen. Er entspringt vielleicht weniger der Bosheit, als dem Mangel an Sympathie und Zartgefühl – einem Mangel an Beachtung und Aufmerksamkeit bezüglich jener kleinen und anscheinend unbedeutenden Dinge, durch welche man andern Freude oder Schmerz bereitet. Man kann wohl sagen, daß in der Selbstaufopferung im Verlaufe des Lebens der Unterschied zwischen einem gut und schlecht erzogenen Menschen liegt.

Ohne etwas Selbstverleugnung kann jemand in der Gesellschaft fast unerträglich werden. Niemand mag mit solch einer Person verkehren, und sie ist eine Quelle beständigen Ärgers für ihre Umgebung. Aus Mangel an Selbstverleugnung kämpfen viele Menschen ihr ganzes Leben lang mit selbstgeschaffenen Schwierigkeiten und machen sich selbst den Erfolg durch ihre Querköpfigkeit unmöglich; während andere, die vielleicht weniger begabt sind, durch bloße Geduld, Gleichmütigkeit und Selbstbeherrschung eine erfolgreiche Laufbahn haben.

Wir sagten oben, daß man im Leben ebensoviel durch Gemütsruhe wie durch Talente erreicht. Wie dem auch sein mag, soviel steht fest, daß das Glück hauptsächlich auf dem Temperament beruht, besonders auf der Veranlagung zur Heiterkeit, auf der Gefälligkeit, Freundlichkeit und Bereitwilligkeit, anderen einen Dienst zu erweisen – Einzelheiten der Lebensart, die wie die Scheidemünze im täglichen Leben immer gebraucht werden.

Man kann seine Mißachtung für andere auf verschiedene Weise zeigen – z. B. durch Nachlässigkeit in der Kleidung, durch Unreinlichkeit oder durch abstoßende Gewohnheiten. Ein liederlicher, unsauberer Mensch verursacht ein physisches Mißbehagen, verletzt so den Geschmack und die Gefühle seiner Mitmenschen und ist in gewisser Art roh und unhöflich.

Vollendete Lebensart ist ungezwungen, sie darf weder etwas Auffälliges noch Affektiertes an sich haben. Künstelei verträgt sich nicht mit echtem freien Benehmen. Rochefoucauld hat gesagt, »daß uns nichts so sehr hindert, natürlich zu sein, als der Wunsch, so zu scheinen.« So kommen mir wieder auf Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit zurück, welche ihren Ausdruck in Anmut, Höflichkeit, Güte, und Rücksicht auf die Gefühle anderer findet. Ein freimütiger, herzlicher Mensch versetzt seine ganze Umgebung in eine behagliche Stimmung. Er erwärmt und erhebt sie durch seine Gegenwart und gewinnt alle Herzen. So wird ein gutes Benehmen in seiner höchsten Form wie der Charakter zu einer fördernden Kraft.

»Die Liebe und Bewunderung,« sagt Canon Kingsley, »welche jener wahrhaft brave und liebenswürdige Mann, Sir Sidney Smith, sich von jedermann, reich wie arm, erwarb, mit denen er in Berührung kam, scheint aus der einzigen Tatsache herzurühren, daß er, ohne sich dessen vielleicht bewußt zu sein, Reiche und Arme, seine Diener und hochgeborenen Gäste, gleich behandelte und gleich höflich, rücksichtsvoll, heiter, liebenswürdig – Segen zurücklassend und hervorrufend, wo er auch hinkam.«

Man nimmt gewöhnlich an, daß gute Manieren ein besonderes Kennzeichen von Leuten von edler Geburt und Erziehung seien und von solchen, die sich mehr in den höheren als in den niederen Gesellschaftsklassen bewegen. Und das ist ohne Zweifel im allgemeinen richtig, wegen der günstigeren Umgebung in der Jugend. Aber es ist kein Grund vorhanden, warum die ärmsten Klassen sich nicht ebenso guter Manieren befleißigen sollten wie die reichsten.

Menschen, die sich von ihrer Hände Arbeit ernähren, wie auch solche, die dies nicht tun, können sich selbst und andere achten, und durch ihr Benehmen gegeneinander – mit anderen Worten ihre Manieren – offenbaren sich Selbstachtung wie gegenseitige Achtung. Es gibt kaum einen Augenblick im Leben, dessen Genuß nicht durch derartige Freundlichkeit erhöht werden könnte – sei es in der Werkstatt, auf der Straße oder zu Hause. Der höfliche Arbeiter gewinnt einen größeren Einfluß unter seinesgleichen und bringt sie allmählich durch beharrliche Ruhe, Höflichkeit und Güte dazu, sein Beispiel zu befolgen. So soll Benjamin Franklin als Arbeiter die Gewohnheiten einer ganzen Werkstatt reformiert haben.

Man kann auch mit sehr wenig Geld in der Börse höflich und bescheiden sein. Die Höflichkeit erreicht viel und kostet nichts. Sie ist die billigste aller Gewohnheiten und zwar die bescheidenste aller schönen Künste, aber so nützlich und erfreulich, daß man sie fast zu den Tugenden rechnen könnte. Jedes Volk kann etwas von einem andern lernen und wenn es etwas gibt, das die englischen Arbeiter von ihren kontinentalen Nachbarn mit Vorteil übernehmen könnten, so ist es die Höflichkeit. Auch die unteren Klassen sind in Frankreich und Deutschland in ihrem Benehmen anmutig, gefällig, herzlich und gesittet. Der Arbeiter nimmt dort die Mütze ab und grüßt seinen Kameraden im Vorbeigehen achtungsvoll. Dies ist kein Opfer an Männlichkeit, sondern Anmut und Würde. Auch die tiefste Armut ist dort nicht elend, sondern wird mit Heiterkeit getragen. Obwohl sie nicht die Hälfte des Einkommens unserer Arbeiter erhalten, sinken sie doch nie zu solchem Elend herab, das seine Sorgen im Trunke vergißt, sondern sie bemühen sich, das Leben von der besten Seite zu nehmen und es auch inmitten Armut zu genießen.

Ein guter Geschmack ist ein guter Haushalter. Er kann sich auch bei geringen Mitteln betätigen und die Arbeit wie die Muße verschönen. Er bereitet einen noch höheren Genuß, wenn er mit Fleiß und Pflichterfüllung gepaart ist. Auch das Los der Armut wird durch den Geschmack veredelt. Er zeigt sich in der Führung des Haushalts. Er verleiht auch dem bescheidensten Heim Helligkeit und Anmut. Er verfeinert die Sitten, befördert Dienstbereitschaft und schafft eine Atmosphäre des Frohsinns. So können guter Geschmack, gepaart mit Freundlichkeit, Mitgefühl und Klugheit, auch das niedrigste Los erheben und veredeln.

Die erste und beste Schule für die Lebensart wie für den Charakter ist das Haus, wo die Mutter die Lehrerin ist. Die Manieren der ganzen Gesellschaft sind nur der Widerschein der Manieren, die zu Hause herrschen, weder besser noch schlechter. Doch bei allen Nachteilen einer schlechten Erziehung kann man durch Selbstzucht die Manieren wie den Geist bilden und durch gute Beispiele sich ein angenehmes, anmutiges Benehmen gegen andere erwerben. Die meisten Menschen sind wie ungeschliffene Diamanten und müssen erst sich an anderen und besseren Naturen abschleifen, ehe sie ihren vollen Glanz erhalten. Einige sind nur an einer Seite poliert und lassen so die zarte Struktur des Innern erkennen; aber um alle Eigenschaften des Brillanten zu erlangen, bedarf es der Schule der Erfahrung und tägliche Berührung mit den besten Charakteren.

In dem Takte beruht ein großer Teil der Erfolge guter Manieren und weil die Frauen im allgemeinen mehr Takt als die Männer besitzen, so verstehen sie auch darin besser Unterricht zu erteilen. Sie üben mehr Selbstverleugnung als die Männer und sind von Natur aus anmutiger und höflicher. Sie besitzen eine angeborene Schnelligkeit und Bereitschaft im Handeln, haben eine schärfere Einsicht in den Charakter und zeigen größere Findigkeit und Geschicklichkeit. In gesellschaftlichen Angelegenheiten sind ihnen Gewandtheit und Fähigkeit gleichsam von der Natur mitgegeben; daher erhalten wohlerzogene Herren ihren besten Schliff in der Gesellschaft edler und liebenswürdiger Frauen. Der Takt ist eine angeborene Kunst, sich zu benehmen, die über Schwierigkeiten besser als Talent oder Kenntnisse hinweghilft. »Talent«, sagt ein Schriftsteller, »ist eine Macht: Takt ist Geschicklichkeit. Talent ist ein Gewicht, aber der Takt sein Moment. Das Talent weiß, was zu tun ist, der Takt, wie es zu tun ist. Das Talent macht einen Mann achtungswert, der Takt macht ihn geachtet. Das Talent ist Reichtum, der Takt bares Geld.«

Der Unterschied zwischen einem Mann von seinem Takt und einem gänzlich taktlosen Menschen trat besonders in einer Unterhaltung zutage, die zwischen Lord Palmerston und dem Bildhauer Behnes stattfand. Bei der letzten Sitzung, die Lord Palmerston ihm gewährte, eröffnete Behnes die Unterhaltung mit der Frage: »Was gibt es Neues in Frankreich, Mylord? Wie stehen wir mit Louis Napoleon?« Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes zog die Augenbrauen einen Moment in die Höhe und antwortete ganz ruhig: »Wahrhaftig, Herr Behnes, das weiß ich nicht, ich habe heute noch keine Zeitung gelesen!« Der arme Behnes war trotz seiner vielen guten Eigenschaften und seiner Begabung einer der vielen Menschen, die sich aus Mangel an Takt ihre Karriere verderben.

Die Macht eines taktvollen Benehmens ist so groß, daß Wilkes, einer der häßlichsten Menschen, zu sagen pflegte, daß zwischen ihm und dem schönsten Manne in England nur ein geringer Unterschied bestünde, weil er sich bemühe, die Anmut einer Dame zu gewinnen. Aber dieser Ausspruch Wilkes erinnert uns, daß man dem Benehmen nicht zu viel Wert beilegen soll, weil es keinen sicheren Schluß auf den Charakter zuläßt. Der Mensch von guten Manieren kann wie Wilkes eine einstudierte Rolle spielen und dies auch zu einem unmoralischen Zweck. Das seine Benehmen bereitet wie alle schönen Künste Vergnügen und einen sehr angenehmen Anblick, aber es kann zu einer Verkleidung benutzt werden, wie man auch eine Tugend annehmen kann, die man nicht besitzt.« Es ist nur ein äußeres Zeichen einer guten Lebensführung, aber es haftet vielleicht nur an der Oberfläche. Auch die höchstgesittete Person kann im Herzen verdorben sein, und ihre superfeinen Manieren können nur in gefälligen Gesten und schönen Phrasen bestehen.

Andererseits muß man zugestehen, daß einige der reichsten und größten Naturen der Liebenswürdigkeit und Höflichkeit entbehrten. Wie eine harte Schale oft den süßesten Kern verbirgt, so umschließt ein rauhes Äußere oft eine gütige und herzliche Natur. Man kann in Manieren rauh und barsch und doch im Herzen edel, gütig und redlich sein.

John Knox und Martin Luther zeichneten sich keineswegs durch Höflichkeit aus. Sie hatten auch eine Aufgabe zu erfüllen, die eher starke und feste als liebenswürdige Naturen erforderte. Doch hielt man beide in ihren Manieren für unnötig rauh und heftig, »Und wer bist du denn,« sagte Maria von Schottland zu Knox, »daß du dir anmaßest, den Adel und die Herrscherin dieses Reiches zu hofmeistern?« – »Ein Untertan desselben, Madame,« erwiderte Knox. Seine Kühnheit oder Rauheit sollen sie öfter zum Weinen gebracht haben. Als der Regent Morton davon hörte, sagte er: »Ei, es ist besser, daß Frauen weinen, als bärtige Männer.« Als Knox einst von der Königin wegging, hörte er einen der Höflinge zum andern sagen: »Der fürchtet sich nicht.« Darauf drehte sich Knox herum und sagte: »Und warum sollte mich ein freundliches Antlitz denn erschrecken. Ich habe zornige Menschen angeschaut und mich doch nicht über Gebühr gefürchtet.« Als der Reformator schließlich dem Übermaß von Arbeit und Sorge erlegen war und bestattet wurde, sagte der Regent, auf das offene Grab schauend: »Hier liegt einer, der nie das Antlitz eines Menschen scheute!« Diese passenden und wahren Worte machten tiefen Eindruck auf alle Hörer.

Luther wurde auch von einigen für einen Ausbund von Heftigkeit und Rauheit gehalten. Aber wie bei Knox war die Zeit, zu der er lebte, rauh und gewalttätig, und seine Aufgabe hätte er schwerlich mit Sanftmut und Liebenswürdigkeit erfüllen können. Um Europa aus seiner Lethargie zu erwecken, mußte er kraftvoll und sogar heftig schreiben und sprechen. Doch war Luther nur mit Worten heftig. Sein rauhes Äußere deckte ein warmes Herz. Im Privatleben war er sanft, liebenswürdig und zärtlich. Er war einfach und schlicht, ja fast hausbacken. Ein Freund aller volkstümlichen Vergnügungen und Belustigungen, war er alles andere als finster und bigott; denn er war herzlich, fröhlich und kein Spielverderber. Luther war damals der Held des Volkes und er ist es in Deutschland bis heute noch geblieben.

Samuel Johnson war rauh und oft barsch in seinen Manieren. Aber er war auch in einer harten Schule aufgewachsen. Die Armut in der Jugend machte ihn mit seltsamen Gefährten bekannt. Er hatte mit Savage manche Nacht die Straßen durchwandert, weil sie kein Geld hatten, um ein Nachtquartier zu bezahlen. Als er sich durch seinen unerschütterlichen Mut und Fleiß eine Stellung in der Gesellschaft errungen hatte, trug er noch die Spuren seiner früheren Sorgen und Kämpfe an sich. Er war eine starke und kräftige Natur und seine Erfahrung machte ihn rücksichtslos und eigenwillig. Als er einst gefragt wurde, warum er nicht wie Garrick zu einem Diner eingeladen worden war, antwortete er: »Weil große Damen und Herren nicht lieben, wenn ihnen der Mund gestopft wird.« Und Johnson war ein notorischer »Mundstopfer«, obwohl alles, was er sagte, des Anhörens wert war.

Während Eigensinn, Streitsucht und Widerspruchsgeist erkältend und abstoßend wirken, so ist die entgegengesetzte Gewohnheit, allem und jedem zuzustimmen, fast ebenso unangenehm. Sie ist unmännlich und wird als Unredlichkeit empfunden. »Es mag schwer scheinen,« sagt Richard Sharp, »immer zwischen Barschheit und Offenheit, zwischen wohlverdientem Lob und unwürdiger Schmeichelei hindurchzusteuern; aber es ist sehr leicht, gute Laune, Güte und Einfachheit, das ist alles, was erforderlich ist, um das Rechte auf dem richtigen Wege zu tun.«

Andererseits sind viele Menschen unhöflich, nicht weil sie es beabsichtigen, sondern weil sie unbeholfen sind und es nicht besser verstehen. Als Gibbon den zweiten und dritten Band seines » Decline and Fall« veröffentlicht hatte, traf ihn der Herzog von Cumberland und begrüßte ihn mit den Worten: »Wie geht es, Herr Gibbon? Wie ich höre, treiben Sie es noch in der alten Weise – kritzeln, kritzeln, kritzeln!« Der Herzog wollte dem Schriftsteller wahrscheinlich ein Kompliment machen, aber er verstand es nicht besser als in dieser plumpen und anscheinend ungezogenen Weise anzubringen.

Viele Personen werden wieder für steif, zurückhaltend und stolz gehalten, während sie nur schüchtern sind. Die Schüchternheit zeichnet die meisten Leute der teutonischen Rasse aus. Man hat sie »die englische Manie« genannt, aber sie herrscht mehr oder minder bei allen nordischen Völkern vor. Der Engländer nimmt gewöhnlich auf Reisen im Ausland seine Schüchternheit mit sich. Er ist steif, linkisch, unbeholfen, verschlossen und anscheinend unsympathisch und obwohl er ein barsches Wesen annehmen mag, bleibt seine Schüchternheit doch bestehen und kann nicht ganz verborgen werden. Der von Natur aus anmutige und äußerst soziale Franzose kann einen solchen Charakter nicht begreifen und daher ist der Engländer die beständige Zielscheibe seines Witzes – der Gegenstand ihrer spaßhaftesten Karikaturen. George Sand schreibt die Steifheit der Söhne Albions einem spezifischen britischen Fluidum zu, das sie mit sich nehmen und das sie unter allen Umständen unzugänglich und für »die Atmosphäre des Landes, welches sie durchreisen ebenso unempfänglich macht wie eine Maus in einem leergepumpten Rezipienten.«

Im Durchschnitt übertreffen Franzosen und Irländer die Engländer, Deutschen und Amerikaner an Höflichkeit und Gewandtheit, einfach weil es ihnen angeboren ist. Sie sind geselliger und weniger selbständig als Menschen von teutonischer Rasse, offener und weniger zurückhaltend; sie sind mitteilsamer, gesprächiger und in jeder Beziehung freier im Umgang, während Germanen verhältnismäßig steif, zurückhaltend, schüchtern und linkisch sind. Aber ein Volk kann gewandt, heiter und lebhaft sein, und dennoch keine tieferen Eigenschaften besitzen, welche Achtung gebieten. Es kann anmutige Umgangsformen haben und doch herzlos, frivol und selbstsüchtig sein. Der Charakter kann ganz oberflächlich sein und jeder soliden Grundlage entbehren. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, welchem der beiden Menschenklassen – dem gewandten und anmutigen oder dem steifen und linkischen man im Geschäft, in der Gesellschaft oder im täglichen Leben lieber begegnet. Aber es ist etwas ganz anderes, welche von beiden die treuesten Freunde liefert, die aufrichtigsten Menschen, die ihr Wort halten, am gewissenhaftesten ihre Pflicht erfüllen.

Der trockene, linkische Engländer – l'Anglais empêtré des Franzosen – ist anfangs eine wenig liebenswürdige Person. Er sieht immer aus, als ob er einen Ladestock verschluckt hatte. Er ist selbst schüchtern und überträgt diese Eigenschaft auf andere. Er ist steif, nicht weil er stolz, sondern weil er schüchtern ist, und er kann seine Schüchternheit nicht ablegen, wenn er es auch wollte. Wir wären in der Tat nicht sehr überrascht, wenn es sich herausstellte, daß der fähige Schriftsteller, der den englischen Philister in der ganzen Größe seiner linkischen Manieren und seinem Mangel an Anmut dargestellt hat, selbst so scheu wie eine Fledermaus wäre.

Wenn zwei schüchterne Menschen zusammentreffen, scheinen sie ein paar Eiszapfen. In Gesellschaft entfernen sie sich voneinander und drehen sich den Rücken zu und auf der Reise verkriechen sie sich in die entgegengesetzten Ecken des Wagens. Wenn der schüchterne Engländer mit der Bahn verreisen will, läuft er am ganzen Zug entlang, um ein leeres Abteil ausfindig zu machen, in das er sich verkriechen kann, und wenn ihm dies gelungen ist, haßt er jeden Neueintretenden ingrimmig. Wenn er in das Speisezimmer seines Klubs tritt, sucht er sich einen unbesetzten Tisch, bis an jedem Tisch im Zimmer ein einsamer Gast sitzt. All diese scheinbare Ungeselligkeit ist nur Schüchternheit, die nationale Charaktereigentümlichkeit des Engländers.

Der verstorbene Prinz Albert, einer der sanftesten und liebenswürdigsten Menschen, war auch äußerst zurückhaltend. Er kämpfte sehr gegen seine Schüchternheit, aber er konnte sie nie unterdrücken oder verbergen. Sein Biograph erklärt dies folgendermaßen: »Es war die Schüchternheit einer zart angelegten Natur, die nicht sicher ist, zu gefallen und das Selbstvertrauen und die Eitelkeit nicht besitzt, welche oft solche Leute auszeichnen, die äußerlich genialer sind.«

Aber der Prinz teilte diesen Mangel mit einigen der größten Männer Englands. Sir Isaak Newton war vielleicht der schüchternste Mann seiner Zeit. Er hielt einige seiner größten Entdeckungen geheim aus Furcht vor der Berühmtheit, die sie ihm eintragen würden. Seine Entdeckung des Binomischen Lehrsatzes und dessen höchst wichtige Anwendung wie auch die noch größere Entdeckung des Gravitationsgesetzes wurden jahrelang nicht veröffentlicht, und als er Collins seine Theorie über den Umlauf des Mondes um die Erde mitteilte, verbot er ihm, seinen Namen dabei in den » Philosophical Transactions« zu nennen, wobei er sagte: »Das könnte vielleicht meine Bekanntheit noch vermehren, an deren Verminderung ich doch arbeite.«

Aus allem, was wir von Shakespeare erfahren, können wir schließen, daß er ein außerordentlich schüchterner Mensch war. Die Art und Weise, in der seine Stücke in die Welt gesandt wurden, und die Zeiten, Zu denen sie erschienen, sind nur Objekte der Mutmaßung, denn es ist auch von keinem einzigen seiner Stücke bekannt, daß er es herausgab oder daß er jemanden mit der Veröffentlichung betraute. Sein Auftreten in untergeordneten Rollen, seine Gleichgültigkeit gegen den Ruhm und seine augenscheinliche Abneigung gegen die Ehre, die ihm seine Zeitgenossen erweisen wollten – sein Verschwinden von London (dem Sitz und Mittelpunkt der englischen Schauspielkunst), sobald er ein bescheidenes Vermögen erworben hatte und die Tatsache, daß er sich im Alter von vierzig Jahren für den Rest seines Lebens in eine kleine Stadt zurückzog – alles dies scheint die Ängstlichkeit seiner Natur und seine unbesiegbare Schüchternheit zu beweisen.

Es ist auch wahrscheinlich, daß Shakespeare außer seiner Schüchternheit – die wie bei Byron durch sein Hinken noch vergrößert werden mochte – auch ein hoffnungsloses Gemüt besaß. Es ist seltsam, daß der große Dramatiker in seinen Schriften alle andern Gaben, Gefühle und Tugenden reich geschildert hat, während die Stellen selten sind, wo die Hoffnung erwähnt wird und dann geschieht dies in düsterem und verzweifelten Tone, wie z. B.

»Ein elend Herz macht nur der Trank gesund,
Den Hoffnung reicht.«

Viele seiner Sonette atmen den Geist der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Er beklagt seine Lahmheit, entschuldigt seinen Schauspielerberuf, drückt seinen Mangel an Selbstvertrauen aus und seine hoffnungslose, vielleicht übel angebrachte Liebe, er ahnt seinen Tod voraus und verlangt in tief ergreifendem Tone nach der Ruhe des Grabes.

Man könnte denken, daß Shakespeares Schauspielerberuf und sein häufiges Auftreten vor dem Publikum seine Schüchternheit schnell besiegt hätten. Aber eine starke angeborene Schüchternheit ist nicht so leicht zu überwinden.

Wer hätte es geglaubt, daß der verstorbene Charles Mathews, der Abend für Abend gefüllte Häuser unterhielt, von Natur einer der schüchternsten Menschen war? Er pflegte trotz seiner Lahmheit weite Umwege durch die Gäßchen Londons zu machen, um nicht erkannt zu werden. Sein Frau sagte, daß er »blöde« und verlegen aussah, wenn er erkannt wurde und daß er die Augen niederschlug und errötete, wenn er seinen Namen auf der Straße flüstern hörte.

Wer hätte auch beim ersten Anblick erraten können, daß Lord Byron sehr schüchtern war, und doch war es so. Sein Biograph erzählte, daß er einst bei einem Besuche bei Mrs. Pigot in Southwell, als er Fremde sich dem Hause nähern sah, aus dem Fenster sprang und über den Rasen davonlief, um ihnen zu entgehen.

Aber ein noch schlagenderes Beispiel aus neuerer Zeit ist das des Erzbischofs Whately, der in seiner Jugend sehr von seiner Schüchternheit zu leiden hatte. In Oxford hatte ihm sein weißer rauhhaariger Rock und sein weißer Hut den Spitznamen der Eisbär eingetragen und seine Manieren entsprachen nach seinem eigenen Zugeständnis dieser Bezeichnung. Man veranlaßte ihn, um ihn zu bessern, in der Gesellschaft das Beispiel wohlerzogener Leute nachzuahmen; aber dieser Versuch vergrößerte nur seine Schüchternheit und schlug fehl. Er fand, daß er immer an sich anstatt an andere dachte; während die wahre Höflichkeit darin besteht, daß man mehr an andere als an sich denkt. Als er fand, daß er keine Fortschritte machte, geriet er in die äußerste Verzweiflung. »Warum soll ich mein ganzes Leben lang diese zwecklose Qual ertragen. Ich würde es tun, wenn ich Aussicht auf Erfolg hätte. Aber da diese geschwunden ist, will ich ruhig sterben, ohne noch mehr Versuche anzustellen. Ich habe das Äußerste versucht, aber ich habe gefunden, daß ich trotzdem das ganze Leben so linkisch wie ein Bär bleiben muß. Ich will mich deshalb bemühen, so wenig wie ein Bär darüber nachzudenken und zu ertragen, was ich nicht ändern kann.« Seit dieser Zeit gab er sich Mühe, gar nicht mehr an sein Benehmen zu denken und alle Kritik desselben unbeachtet zu lassen. »Auf diese Weise,« sagt er »hatte ich über Erwarten Erfolg; denn ich wurde nicht nur mein persönliches Leiden los, sondern auch alle die Fehler, welche durch Selbstbeobachtung entstehen. Ich erlangte auf einmal ein freies und natürliches Benehmen – das zwar äußerst sorglos war, da es einer trotzigen Mißachtung der öffentlichen Meinung entsprang, von der ich mich überzeugt hatte, daß sie immer gegen mich sein würde, ein rauhes und linkisches Wesen; denn Schliff und Anmut liegen meiner Natur fern, und das natürlich schulmeisterlich pedantisch, aber ungezwungen war und dem Wohlwollen Ausdruck verlieh, das ich gegen die Menschheit empfinde, und das ist, wie ich glaube, die Hauptsache.«

Obgleich wir die modernen Amerikaner keineswegs für schüchtern halten, so war doch der beste amerikanische Schriftsteller unserer Zeit ein außerordentlich schüchterner Mensch. Nathaniel Hawthorne war fast krankhaft scheu. Man konnte ihn beobachten, wie er, wenn ein Fremder ins Zimmer trat, ihm den Rücken zukehrte, um nicht erkannt zu werden. War aber das Eis seiner Verlegenheit gebrochen, so konnte keiner herzlicher und freundlicher sein als Hawthorne. In Hawthornes vor nicht langer Zeit veröffentlichten »Notebooks« erwähnt er, daß er Mr. Helps in Gesellschaft traf und ihn »kühl« gefunden habe. Ohne Zweifel dachte Helps dasselbe von ihm. Es trafen hier eben zwei schüchterne Menschen zusammen, von denen jeder den andern für steif und zurückhaltend hielt, und die sich trennten, ehe ihre beiderseitige Befangenheit einem freundlichen Gespräche gewichen war. Ehe man in solchen Fällen ein vorschnelles Urteil ausspricht, wäre es besser, sich den Wahlspruch des Helvetius ins Gedächtnis zu rufen, der sich, wie Bentham sagt, als ein wahrer Schatz für ihn erwies. Der Spruch lautet: » Pour aimer les hommes il faut attendre peu.«

Wir haben bisher von der Schüchternheit als von einem Fehler gesprochen. Aber man kann sie auch von einer andern Seite anschauen; denn auch die Schüchternheit hat eine vorteilhafte Seite und enthält etwas Gutes. Schüchterne Menschen und Nationen sind ohne Anmut und zurückhaltend, da sie in sozialer Beziehung verhältnismäßig ungesellig sind. Sie besitzen jene, durch den Umgang erworbene Eleganz der Manieren nicht, welche die sozialen Rassen auszeichnet, weil sie eher das Bestreben haben, die Gesellschaft zu fliehen, als sie zu suchen. Sie sind in Gegenwart Fremder, und sogar in ihrer eigenen Familie schüchtern. Sie verbergen ihre Neigungen unter der Maske der Zurückhaltung, und wenn sie doch einmal ihren Gefühlen freien Lauf lassen, so geschieht dies in dem innersten Gemache. Und doch sind die Gefühle da und nicht weniger gesund und echt, aber sie werden nicht für andere zur Schau gestellt.

Es war für die alten Germanen sehr charakteristisch, daß sie von den umwohnenden geselligeren und offeneren Völkern Niemec oder stumme Leute genannt wurden. Dieselbe Bezeichnung könnte man auch auf die modernen Engländer anwenden im Vergleich zu ihren beweglicheren, mitteilsameren und in jeder Beziehung geselligeren Nachbarn, den modernen Franzosen und Irländern.

Es gibt aber ein charakteristisches Merkmal, das die Engländer, wie die Völker, von denen sie abstammen, auszeichnet, das ist ihre starke Liebe zu einem häuslichen Familienleben. Man gebe dem Engländer eine Häuslichkeit und ihm ist die Gesellschaft gleichgültig. Um eines Heimes willen, das er sein eigen nennen kann, fährt er über das Meer und baut sich in der Prärie oder im Urwald eine Heimstätte. Die Einsamkeit der Wildnis schreckt ihn nicht, die Gesellschaft von Weib und Kind genügt ihm und er braucht keine andere. Daher kommt es, daß die Völker von germanischer Rasse, zu denen auch Engländer und Amerikaner gehören, die besten Kolonisten bilden und sich jetzt schnell als Auswanderer und Ansiedler über alle bewohnbaren Teile der Erde ausbreiten.

Die Franzosen haben als Kolonisten nie große Erfolge erzielt, hauptsächlich wegen ihrer starken sozialen Instinkte – das Geheimnis ihrer anmutigen Manieren – und weil sie nie ihre Nationalität vergessen können. Eine Zeitlang schien es im Bereich der Möglichkeit zu liegen, daß die Franzosen den größten Teil von Nordamerika okkupierten. Ihre Forts erstreckten sich von Unterkanada den St. Lorenzstrom hinauf und von Fond du Lac am obern See am St. Kroixfluß und Mississippi entlang bis nach New-Orleans. Aber die großen selbstvertrauenden »Niemec« verbreiteten sich von einer Kette Niederlassungen längs der Küste immer weiter westwärts, sich überall festsetzend, und von der ganzen französischen Okkupation ist nur noch die französische Kolonie von Akadia in Unterkanada übrig. Und auch dort finden wir eins der auffallendsten Beispiele der Geselligkeit der Franzosen, die sie zusammenhält und daran hindert, sich gleich den Leuten teutonischer Rasse in einem neuen Land anzupflanzen. Während in Oberkanada die Kolonisten von englischer und schottischer Abkunft in den Wald und die Wildnis eindringen und womöglich meilenweit von ihren Nachbarn wohnen, leben in Unterkanada die Leute französischer Abkunft dichtgedrängt in Dörfern, die gewöhnlich aus zwei Reihen von Häusern an der Straße bestehen und hinter denen sich lange, immer und immer wieder geteilte Streifen Ackerlandes erstrecken. Sie unterwerfen sich eher willig all diesen Unbequemlichkeiten, um nur in Gesellschaft zu bleiben, als daß sie sich in die einsamen Wälder flüchten wie die Engländer, Deutschen und Amerikaner. Der amerikanische Hinterwäldler gewöhnt sich nicht nur an die Einsamkeit, er liebt sie sogar. Und wenn in den westlichen Staaten ihm die Ansiedler zu nahe kommen, wenn das Land »übervölkert« wird, flüchtet er sich vor dem Vordringen der Gesellschaft, packt seine Siebensachen in einen Wagen und macht sich mit Weib und Kind fröhlich auf den Weg, um sich im fernen Westen eine neue Heimat zu gründen.

So ist der Germane wegen seiner Schüchternheit der geborene Kolonist. Engländer, Schotten, Deutsche und Amerikaner – sie alle sind gleicherweise bereit, in Einsamkeit zu wohnen, wenn sie sich nur ein Heim und eine Familie gründen können. So hat ihre verhältnismäßige Gleichgültigkeit gegen die Gesellschaft diese Völker befähigt, sich über die ganze Erde auszubreiten, sie urbar zu machen und zu unterwerfen, während ihre sozialen Instinkte, obgleich sie ihnen zu größerer Anmut gereichte, den Franzosen als Kolonisten im Wege waren. Deshalb sind sie in den Ländern, wo sie sich festgesetzt haben – wie in Algier und anderswo – nur bloße Garnisonen geblieben.

Aus der relativen Ungeselligkeit des Engländers ergeben sich noch manche andere Eigenschaften. Seine Schüchternheit verweist ihn auf sich selbst und macht ihn selbstbewußt und unabhängig. Da zu seinem Glücke ein geselliges Leben nicht erforderlich ist, sucht er im Lesen, Studieren, Erfinden Zuflucht, oder er hat Freude an industrieller Arbeit und wird ein tüchtiger Handwerker. Er fürchtet sich nicht, sich der Einsamkeit des Ozeans anzuvertrauen und wird Fischer, Seemann, Entdecker. Seit die alten Normannen die nördlichen Meere durchstreiften, Amerika entdeckten und ihre Flotten die Küsten Europas entlang bis ins Mittelländische Meer schickten, hat sich die germanische Rasse in der Schiffahrt immer mehr hervorgetan.

Die Engländer sind ohne künstlerische Begabung und zwar ebenfalls, weil sie unsozial sind. Sie können gute Kolonisten, Seeleute und Mechaniker abgeben, aber sie sind keine guten Sänger, Tänzer, Schauspieler, Künstler oder Modisten. Sie kleiden sich weder geschmackvoll, noch spielen sie gut Theater. Sie schreiben weder, noch sprechen sie gut. Es fehlt ihnen Stil und Eleganz. Ihre Aufgabe verrichten sie unverdrossen, aber ohne Anmut.

Um diesem Mangel an Anmut und künstlerischem Geschmack in England abzuhelfen, hat sich eine Schule aufgetan, die für eine allgemeine Verbreitung der schönen Künste sorgen will. Die Schönheit hat jetzt ihre Lehrer und Priester und wird von manchen fast in dem Lichte einer Religion betrachtet. »Schönheit ist Güte« – »Schönheit ist Wahrheit« – »Schönheit ist die Priesterin des Wohlwollens – das sind ihre Dogmen. Man glaubt durch das Studium der Kunst den Geschmack des Volkes zu läutern, durch die Betrachtung schöner Gegenstände soll seine Natur veredelt werden, und da es auf diese Weise von sinnlichen Genüssen abgehalten wird, hofft man seinen Charakter zu heben und zu bessern. Aber wenn auch eine solche Bildung in einem gewissen Grade erhebend und veredelnd wirkt, darf man nicht zuviel davon erwarten! Die Anmut versüßt und verschönt das Leben und ist als solche der Pflege wert. Musik, Malen, Tanzen und die schönen Künste sind alles Quellen des Vergnügens, aber wenn sie auch nicht sinnliche Genüsse sind, so haben sie doch oft nichts weiter als eine sinnliche Wirkung. Die Pflege des Geschmacks für Schönheit der Form und Farbe, des Tones und der Haltung hat auf die Bildung des Geistes und Entwickelung des Charakters keinen Einfluß. Die Betrachtung schöner Kunstwerke wird ohne Zweifel den Geschmack verbessern und Bewunderung erregen, aber eine einzige edle Tat, die vor den Augen der Welt geschieht, wird den Geist mehr beeinflussen und den Charakter mehr zur Nachahmung anregen, als der Anblick meilenlanger Reihen von Statuen oder vieler Quadratmeilen von Bildern. Denn der Geist, die Seele, das Herz machen den Menschen groß, nicht ein künstlerischer Geschmack. Es ist sogar noch zweifelhaft, ob die Pflege der Kunst – die ja gewöhnlich zum Luxus führt – so viel für den menschlichen Fortschritt getan hat, wie allgemein angenommen wird. Es ist möglich, daß ihre zu ausschließliche Pflege den Charakter eher verweichlicht als stärkt, da sie ihn mehr sinnlichen Versuchungen preisgibt. »Es liegt in der Natur eines phantasievollen, durch die Künste gebildeten Temperaments,« sagt Sir Henry Taylor, »daß es den Mut untergräbt, den Charakter schwächt und dadurch die Menschen lenksamer macht.«

Die Begabung des Künstlers ist eine ganz andere als die des Denkers, sein höchstes Ziel ist die Darstellung des Gegenstandes – sei es nun in der Malerei, in der Musik oder Literatur – in vollkommener Schönheit, in welcher der Gedanke (er braucht nicht gerade sehr tief zu sein) Verehrung und Unsterblichkeit findet.

Die Kunst blühte gewöhnlich am meisten zu Zeit des Verfalls, wo sie als die Dienerin des Luxus in den Sold des Reichtums trat. Die vortreffliche Kunst und die größte Sittenverderbnis traten in Rom und Griechenland gleichzeitig auf. Phidias und Iktinos hatten den Parthenon kaum vollendet, als der Ruhm Athens verging; Phidias starb im Kerker, und die Spartaner stellten in der Stadt die Wahrzeichen ihres Triumphs und der athenischen Niederlage auf. In Rom war es ebenso; als die Kunst ihren Gipfel erreicht hatte, war die Lage des Volkes am schlimmsten. Nero wie Domitian, zwei der größten Ungeheuer des Reiches, waren Künstler. Wenn »Schönheit« »Güte« wäre, hätte Commodus einer der besten Menschen sein müssen, aber nach der Geschichte war er einer der schlimmsten.

Die größte Blütezeit der Kunst im modernen Rom fiel mit der Regierungszeit Papst Leos X. zusammen, von dessen Regierung gesagt worden ist, daß »Verworfenheit und Zügellosigkeit unter dem Volke wie dem Klerus seit dem Pontifikate Alexander VI. herrschten.« In den Niederlanden folgte unmittelbar auf die Blütezeit der Kunst die Vernichtung der bürgerlichen und religiösen Freiheit und die Unterwerfung des nationalen Lebens unter den Despotismus Spaniens. Wenn die Kunst die Menschen veredeln könnte und die Betrachtung des Schönen sie gut machte, dann würde Paris von den klügsten und besten Menschen bewohnt werden. Rom ist auch eine große Kunststadt: und doch hat sich hier die »virtus« oder Tapferkeit der alten Römer umgewandelt in »vertu« oder einen Geschmack für Krimskrams. Manchmal scheint die Kunst mit dem Schmutz sogar eng zusammenzuhängen. Als Ruskin in Venedig nach Kunstwerken suchte, soll sein Begleiter aufmerksam hingeschnüffelt haben und wenn er einen besonders üblen Geruch entdeckte, sagte er allemal: »Jetzt kommen wir zu etwas sehr Altem und Feinem – nämlich in der Kunst.«

Ein wenig Erziehung zu Reinlichkeit, wo sie fehlt, würde wahrscheinlich besser und gesünder sein als noch so viel Erziehung zur Kunst. Spitzenmanschetten sind sehr schön, aber eine Torheit, wenn man kein Hemd hat.

Während also ein anmutiges Benehmen, Höflichkeit, Eleganz und alle die Künste, die das Leben schön und angenehm machen, wert sind, daß man sie pflegt, darf dies doch nicht auf Kosten der solideren Eigenschaften Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit geschehen. Der Brunnen der Schönheit muß mehr im Herzen als im Auge liegen, und wenn die Kunst nicht das Leben verschönt und die Taten veredelt, hat sie nur geringen Wert. Höfliche Manieren bedeuten nicht viel, kommt nicht höfliches Handeln dazu. Die Anmut kann nur oberflächlich sein – sehr angenehm und anziehend und doch sehr herzlos. Die Kunst ist eine Quelle unschuldigen Genießens und eine wichtige Hilfe zu höherer Kultur; aber wofern sie nicht höher führt, wird sie nur sinnlich bleiben. Und wenn sie das ist, wirkt sie eher schwächend und unsittlichend, als stärkend oder erhebend. Redlicher Mut ist mehr wert als Armut, Reinheit besser als Eleganz, Reinheit des Körpers, des Geistes und des Herzens besser als jede Kunst.

Kurz, während man die Pflege der Anmut nicht vernachlässigen sollte, möge man sich doch immer erinnern, daß es etwas Höheres und Edleres gibt, dem man nachstreben soll – größer als Kunst, Vergnügen, Reichtum, Wohlstand, Macht, Geist und Genie – das ist Reinheit und Vortrefflichkeit des Charakters. Ohne die sichere feste Grundlage individueller Tugend könnte alle Anmut, Eleganz und Kunst der Welt ein Volk weder retten noch erheben.


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