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5. Kapitel. Der Mut

Heroische Beispiele vergangener Tage sind in hohem Grade die Quelle, des Mutes späterer Geschlechter. Die kühnen Geister der Vergangenheit wirken, und die Menschen schreiten gelassen in alle Gefahren.

Kelps.

Die Welt verdankt ihren mutigen Männern und Frauen sehr viel. Ich denke dabei nicht an den physischen Mut; denn darin kommt die Bulldogge, die doch keineswegs zu den klügsten Hunderassen gehört, dem Menschen mindestens gleich.

Jener Mut, der sich in stillem Streben und Mühen entfaltet – der um der Wahrheit und der Pflicht willen alles auf sich nimmt und trägt und erduldet – dieser Mut ist wahrlich heroischer als physische Tapferkeit, die durch Titel und Ehren belohnt wird, oder durch Lorbeeren, die zuweilen in Blut getaucht sind.

Moralischer Mut charakterisiert den höchsten Grad der Männlichkeit und Weiblichkeit, der Mut, die Wahrheit zu erforschen und auszusprechen, der Mut, gerecht und ehrenhaft zu sein, der Versuchung zu widerstehen, der Mut, seine Pflicht zu erfüllen. Wenn Männer und Frauen diese Tugend nicht besitzen, ist es nicht sicher, ob sie eine andere werden bewahren können.

Jeder Fortschritt in der Geschichte der Menschheit vollzog sich angesichts großer Hemmnisse und Schwierigkeiten, und es waren unerschrockene, tapfere Männer, die ihn herbeiführten und sicherten, Führer aus dem Reiche der Gedanken – große Entdecker, Patrioten und Arbeiter auf allen Gebieten menschlicher Tätigkeit. Es gibt fast keine große Wahrheit oder Lehre, die sich nicht ihre öffentliche Anerkennung der Lüge, Verleumdung und Verfolgung gegenüber zu erkämpfen gehabt hätte. »Überall, wo ein großer Geist seine Gedanken ausspricht,« sagt Heine, »ist Golgatha.«

Sokrates wurde zu Athen in seinem zweiundsiebzigsten Jahre zum Schierlingsbecher verurteilt, weil seine erhabene Lehre den Vorurteilen und dem Parteigeist seines Zeitalters entgegen war. Seine Ankläger warfen ihm vor, daß er die Jugend Athens verderbe, dadurch, daß er sie die Schutzgötter des Staates verachten lehre. Er hatte den moralischen Mut, der Tyrannei nicht nur der Richter, die ihn verurteilten, sondern auch des Pöbels, der ihn nicht verstehen konnte, Trotz zu bieten. Er starb, indem er über die Unsterblichkeit der Seele sprach; seine letzten Worte an die Richter waren: »Jetzt ist es Zeit, daß wir uns trennen, ich, um zu sterben, ihr, um zu leben; doch wessen Geschick das bessere ist, weiß nur die Gottheit.«

Wieviel große Männer und Denker sind im Namen der Religion verfolgt wurden. Giordano Bruno wurde in Rom lebendig verbrannt, weil er die falsche Wortphilosophie seiner Zeit bloßgestellt hatte. Als die Richter der Inquisition ihn zum Tode verurteilten, sagte Bruno stolz: »Ihr fürchtet euch mehr, den Spruch zu fällen, als ich, ihn entgegenzunehmen.«

Ihm folgte Galilei, dessen Ruhm als Gelehrter fast von dem des Märtyrers verdunkelt wird. Von den Priestern wegen seiner Lehre von der Bewegung der Erde vom Lehrstuhl vertrieben, wurde er in seinem siebzigsten Jahre nach Rom berufen, um sich wegen seiner Ketzerei zu verantworten. Die Inquisition kerkerte ihn ein, wenn sie ihn nicht gar folterte. Sogar noch nach seinem Tode wurde er verfolgt, denn der Papst verweigerte seinem Leichnam ein Grab. Roger Bacon, der Franziskanermönch, wurde wegen seiner naturwissenschaftlichen und chemischen Studien verfolgt und der Zauberei angeklagt. Seine Schriften wurden verdammt und er selbst eingekerkert. Er schmachtete zehn Jahre im Gefängnis unter der Regierungszeit von vier Päpsten, und soll sogar darin gestorben sein.

Die Inquisition brandmarkte den Vesalius als Häretiker, weil er den Menschen die menschliche Natur enthüllt hatte, wie sie vorher Bruno und Galilei gebrandmarkt hatte, die den Menschen den Himmel enthüllt hatten. Vesalius hatte die Kühnheit, den Bau des menschlichen Körpers zu erforschen, indem er Leichen sezierte, was bis dahin fast ganz verboten war. Er begründete eine neue Wissenschaft, aber er bezahlte sie mit seinem Leben. Von der Inquisition zum Tode verurteilt, wurde er durch die Vermittlung des Königs von Spanien zu einer Wallfahrt ins heilige Land begnadigt; auf dem Rückweg starb er in der Blüte der Jahre am Fieber und Mangel – ein Märtyrer seiner Liebe zur Wissenschaft.

Als das »Novum Organon« erschien, erhob sich dagegen ein Wutgeschrei wegen seiner angeblichen Tendenz, »gefährliche Umwälzungen« hervorzurufen, »Regierungen zu stürzen« und »die Autorität der Religion zu untergraben«: ein gewisser Dr. Henry Stubbe (dessen Name sonst vergessen wäre), schrieb ein Buch gegen die neue Philosophie, worin er die ganze Schule des Experimentalisten ein »Bacon-verseuchtes Geschlecht« nannte. Sogar der Errichtung der Royal Society widersetzte man sich, weil »experimentelle Philosophie dem christlichen Glauben zuwiderläuft.«

Während man die Anhänger des Kopernikus als Ungläubige verfolgte, brandmarkte man Kepler als Häretiker, »weil,« sagte er, »ich die Partei ergreife, die mir mit dem Worte Gottes übereinzustimmen scheint.« Sogar den reinen und harmlosen Newton, von dem Bischof Burnet sagte, er wäre die unschuldigste Seele, die er je gekannt hätte – der in der Reinheit seines Geistes ein wahres Kind war – diesen Newton klagte man an, er entthrone die Gottheit durch die erhabene Entdeckung des Gravitationsgesetzes; eine ähnliche Anklage wurde gegen Franklin erhoben, als er die Natur des Blitzes erklärte.

Spinoza wurde aus der jüdischen Gemeinde, der er angehörte, ausgestoßen wegen seiner Ansichten über Philosophie, die der Religion zuwiderlaufen sollten; später wurde sogar ein Mordversuch auf ihn unternommen. Aber Spinoza blieb bis zu seinem Ende mutig und selbstbewußt, obschon er in Armut und Vergessenheit starb.

Die Philosophie des Descartes wurde als irreligiös denunziert, die Lehren Lockes als Materialismus; und zu unserer Zeit wurden Dr. Buckland, Sedgwick und andere hervorragende Geologen beschuldigt, die Offenbarung mit Bezug auf die Entstehung und Geschichte der Erde umgestoßen zu haben. Es ist in der Tat fast keine Entdeckung in der Astronomie oder Naturwissenschaft oder Physik gemacht worden, ohne daß Bigotterie und Engherzigkeit sie mit dem Vorwurf des Unglaubens verfolgt hätten.

Wenn andere große Entdecker auch nicht gerade als irreligiös angeklagt wurden, so waren sie doch nicht weniger Anfeindungen ausgesetzt. Als Harvey seine Theorie des Blutkreislaufes veröffentlichte, verlor er seine Praxis, und seine Kollegen nannten ihn einen gebrandmarkten Narren. »Das wenige Gute, das ich tun konnte,« sagte John Hunter, »ist mit den größten Schwierigkeiten und unter der größten Opposition getan worden.« Charles Bell schrieb einst an einen Freund, als er sich mit seinen wichtigen Untersuchungen über das Nervensystem beschäftigte, wobei er eine der größten physiologischen Entdeckungen machte: »Wie glücklich wäre ich, wenn ich nicht so arm wäre und so viele Anfechtungen zu überwinden hätte! Aber er mußte selbst bemerken, daß sich seine Praxis nach der Veröffentlichung jeder neuen Entdeckung sichtlich verringerte.

So ist fast jede Erweiterung unserer Kenntnisse über den Himmel, die Erde oder uns selbst durch die Energie, die Hingabe, die Aufopferung und den Mut großer Geister früher Zeiten erreicht worden, die jetzt trotz des Widerstandes ihrer Zeitgenossen zu denen gehören, die von den Gebildeten der Menschheit mit besonderer Freude verehrt werden.

Die ungerechte Intoleranz früherer Zeiten gegen die Männer der Wissenschaft trägt auch ihre Lehre für die Gegenwart in sich. Sie lehrt uns, nachsichtig zu sein gegen die, welche sich in ihren Ansichten von uns unterscheiden, wofern sie nur geduldig beobachten, ehrlich denken und ihre Überzeugung freimütig und wahrhaftig äußern. Plato sagte, daß »die Welt ein Brief Gottes an die Menschheit« sei, und wenn man diesen Brief studiert und liest, um seine wahre Bedeutung zu erforschen, so kann ein wohlorganisierter Geist nur einen tieferen Eindruck von Gottes Macht, einen klareren Begriff von seiner Weisheit und einen dankbareren Sinn für seine Güte empfangen.

Der Mut der Märtyrer des Glaubens, nicht minder ruhmvoll als der Ruhm verfolgter Männer der Wissenschaft, das stille Dulden des Mannes oder der Frau um des Gewissens willen, ohne die Ermutigung einer einzigen mitfühlenden Stimme, beweist einen viel höheren Mut, als der ist, der im Getöse der Schlacht entfaltet wird, wo auch der Schwächste durch das begeisternde Beispiel und die Macht der Zahl ermutigt und mit fortgerissen wird. Es würde die Zeit mangeln, um alle die unsterblichen Namen derer zu nennen, die aus Prinzipientreue »redlich arbeiteten und tapfer stritten« gegen Schwierigkeiten, Gefahr und Leiden, bereit, eher das Leben hinzugeben, als ihrer Überzeugung von der Wahrheit untreu zu werden.

Mutig war das Verhalten des edlen Thomas More, der ohne Zögern zum Schafott ging und lieber frohen Mutes starb, als daß er seinem Gewissen untreu wurde. Als More seinen endgültigen Entschluß, seinen Prinzipien treu zu bleiben, gefaßt hatte, war es ihm, als hätte er einen Sieg errungen, und er sagte zu seinem Schwiegersohn Roper: »Lieber Sohn Roper, ich danke dem Herrn, denn der Sieg ist gewonnen!« Der Herzog von Norfolk machte ihn auf die Gefahr seiner Lage aufmerksam: »Bei der heiligen Messe, Master More, es ist gefährlich, mit Fürsten zu streiten; der Zorn eines Fürsten bringt den Tod!« »Ist das alles, Mylord?« sagte More, »dann ist der Unterschied zwischen Euch und mir der: Ich sterbe heute, Ihr morgen.«

Während viele große Männer in Zeiten der Bedrängnis und Gefahr von ihren Frauen getröstet und unterstützt wurden, hatte More diesen Trost nicht. Seine Lebensgefährtin tat alles andere, als ihn in seinem Kerker im Tower zu trösten. Sie konnte nicht begreifen, warum er noch länger im Kerker blieb, wenn er durch die einfache Erfüllung dessen, was der König von ihm forderte, sich sofort nicht nur seiner Freiheit, sondern auch seines schönen Hauses in Chelsea, seiner Bibliothek, seines Obstgartens, seiner Gemäldegalerie und der Gesellschaft seiner Frau und Kinder erfreuen konnte. »Ich wundere mich;« sagte sie eines Tages zu ihm, »daß du, der du bis dahin für so weise galtest, jetzt so den Narren spielst, daß du hier in dem engen schmutzigen Kerker bei Ratten und Mäusen dich einschließen läßt, wo du doch in Freiheit sein könntest, wenn du nur das tätest, was alle Bischöfe getan haben.« Aber More hegte andere Ansichten über seine Pflicht: Er wollte keinen falschen Eid schwören, und er starb, um wahr zu bleiben.

Martin Luther wurde nicht dazu berufen, sein Leben für seinen Glauben hinzugeben; aber von dem Tage an, wo er sich gegen den Papst erklärt hatte, lief er täglich Gefahr, es zu verlieren. Bei Beginn seines großen Kampfes stand er fast ganz allein, während die Überzahl seiner Feinde furchtbar war. »Auf der einen Seite,« sagte er selbst, »stehen Gelehrsamkeit, Genius, Überzahl, Größe, Rang, Macht, Heiligkeit und Wunder; auf der anderen Wycliff, Lorenzo Valla, Augustinus und Luther, ein armseliges Geschöpf, ein Mann von gestern, der mit wenigen Freunden fast allein steht.« Vom Kaiser nach Worms geladen, um sich wegen der gegen ihn erhobenen Anklage der Ketzerei zu verantworten, entschloß er sich zu persönlichem Erscheinen. Seine Umgebung sagte ihm, er würde sein Leben verlieren, wenn er hinginge, und drängte ihn zur Flucht. »Nein,« sagte er, »ich will hingehen und wenn ich dreimal soviel Teufel dort fände, als Ziegel auf den Häusern sind.« Als man ihn vor der grimmigen Feindschaft des Herzogs Georg warnte, sagte er: »Ich will hingehen und wenn es neun Tage lang Herzöge Georg regnete.« Luther hielt sein Wort und trat die gefährliche Reise an. Als er in Sicht der alten Glockentürme der Stadt kam, erhob er sich in seinem Wagen und sang: »Ein' feste Burg ist unser Gott« – die »Marseillaise« der Reformation – deren Text und Melodie er zwei Tage vorher geschaffen haben soll. Kurz bevor er in den Reichstag ging, klopfte ihm ein alter Krieger, Georg von Frundsberg, auf die Schulter und sagte: »Mönchlein, Mönchlein, du gehst einen schweren Gang, desgleichen ich und mancher Kriegsmann nicht gegangen sind.« Aber Luther gab dem alten Kriegsmann zur Antwort, daß er entschlossen sei, sich an die Bibel und sein Gewissen zu halten.

Luthers mutige Verteidigung vor dem Reichstag ist bekannt und ist eine der ruhmvollsten Seiten der Geschichte. Als der Kaiser schließlich verlangte, er solle widerrufen, entgegnete er fest: »Wofern ich nicht durch Zeugnisse der heiligen Schrift oder durch ein anderes offenbares Zeugnis meines Irrtums überführt werde, kann und will ich nicht widerrufen, denn es ist nicht ratsam, daß jemand wider sein Gewissen zeuge. Solches ist mein fester Entschluß und Ew. Majestät dürfen keinen andern von mir erwarten. Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir. Amen.« Er mußte seine Pflicht erfüllen – den Geboten einer Macht gehorchen, die über allen Königen steht, und er tat es auf jede Gefahr hin.

Als er später in Augsburg von seinen Feinden hart bedrängt wurde, sagte er: »Wenn ich fünfhundert Köpfe hätte, wollte ich sie lieber alle verlieren, als einen Artikel des Glaubens widerrufen.« Wie bei allen mutigen Männern schien seine Stärke im Verhältnis zu den Schwierigkeiten, die er zu überwinden hatte, zu wachsen. »Kein Mann in Deutschland,« sagte Hutten, »verachtet den Tod mehr als Luther.« Seinem moralischen Mute schulden wir vielleicht mehr als einem andern Manne die Befreiung modernen Denkens und die Anerkennung der großen Rechte des menschlichen Verstandes.

Der ehrenhafte tapfere Mann fürchtet die Schmach mehr als den Tod. Der königstreue Graf Strafford soll zum Schafott auf dem Towerhügel gegangen sein wie ein Feldherr, der sein Heer zum Siege führt, und nicht wie ein zum Tode Verurteilter. Ebenso mutig ging der Republikaner Henry Vane an derselben Stelle zum Tode mit den Worten: »Lieber zehntausendmal tot, als mein Gewissen beflecken, dessen Reinheit und Lauterkeit mir über alles in der Welt geht.« Vanes größter Kummer galt seiner Frau, die er zurücklassen mußte. Als er sie aus einem Fenster des Tower herabblicken sah, erhob er sich in seinem Karren, schwenkte seinen Hut und rief: »Zum Himmel, Geliebte! – zum Himmel, – und dich muß ich in dem Sturm zurücklassen.« Als er weiterfuhr, rief einer aus der Menge: »Das ist der ruhmvollste Platz, auf dem ihr je saßet,« worauf er sehr erfreut erwiderte: »Wahrhaftig, so ist es!«

Obgleich der Erfolg der Lohn ist, um den alle Menschen arbeiten, müssen sie sich indessen oft lange abmühen, ohne einen Schimmer davon zu sehen. Sie müssen unterdessen von ihrem Mute leben – und säen ihre Saat vielleicht im Dunkeln, in der Hoffnung, daß sie doch Wurzel fassen und fruchtbringend aufgehen werde. Auch die beste Sache hat auf ihrem Wege zum Siege mit Fehlschlägen zu rechnen, und viele Stürmer fallen in der Bresche, ehe die Festung genommen wird. Der Heldenmut, den sie entfalten, bemißt sich nicht so sehr nach dem Erfolg, als nach dem Widerstande, den sie bemeistern, und nach dem Mute, mit dem sie den Kampf durchführen.

Der Patriot, der für eine verlorene Sache kämpft – der Märtyrer, der unter dem Beifallsgeschrei seiner Feinde zum Tode geht – der Entdecker, der, wie Kolumbus, in der »langen leidvollen Wanderschaft« nicht verzagt – sind Beispiele moralischer Erhabenheit, die im Herzen der Menschen ein tieferes Interesse erregen als der vollkommenste Erfolg. Wie klein erscheinen, verglichen mit solchen Beispielen, die größten Taten der Tapferkeit, wenn sich der Mensch in der wahnsinnigen Erregung physischen Kampfes in den Tod stürzt und stirbt.

Aber der größte Teil des Mutes, der in der Welt nötig ist, ist nicht heroischer Art. Mut kann im täglichen Leben wie auf dem Schlachtfelde entfaltet werden. Man braucht zum Beispiel Mut, um ehrlich zu sein – der Versuchung zu widerstehen – die Wahrheit zu sprechen – das zu sein, was wir wirklich sind und nicht etwas nur scheinen zu wollen – ehrlich mit unsern Mitteln auszukommen und nicht auf Kosten anderer zu leben.

Ein großer Teil des Unglücks und Lasters in der Welt ist der Schwäche und Unentschlossenheit, mit andern Worten: dem Mangel an Mut zuzuschreiben. Ein Mensch kann wohl wissen, was recht ist, und dennoch den Mut nicht haben, es zu tun; er kann wohl die Pflicht begreifen, die er zu erfüllen hat, aber nicht über die nötige Entschlossenheit verfügen, um sie auszuführen. Der schwache, charakterlose Mensch ist jeder Versuchung preisgegeben; er kann nicht »Nein« sagen, sondern unterliegt. Und wenn er schlechte Gesellschaft hat, wird er um so leichter durch das böse Beispiel zur Sünde verführt.

Nichts ist gewisser, als daß der Charakter nur durch eigenes energisches Bemühen gestützt und gestärkt werden kann. Der Wille, die Hauptkraft des Charakters, muß an Entschlossenheit gewöhnt werden – oder er wird unfähig, dem Bösen zu widerstehen oder das Gute zu befolgen. Entschlossenheit verleiht die Kraft, festzustehen, während auch nur geringes Nachgeben den ersten Schritt auf der abschüssigen Bahn tun heißt. Andere um Hilfe anrufen, wenn es heißt, einen Entschluß zu fassen, ist schlimmer als nutzlos. Ein Mensch muß sich daran gewöhnen, in Augenblicken der Not auf seine eigenen Kräfte zu vertrauen und sich auf seinen Mut zu verlassen. Plutarch erzählt von einem König von Mazedonien, der sich mitten in der Schlacht in eine benachbarte Stadt begab unter dem Vorwand, dem Herkules zu opfern; während sein Gegner Amilius zur selben Zeit, wo jener die göttliche Hilfe anrief, mit dem Schwerte in der Hand um den Sieg kämpfte und die Schlacht gewann. Und so ist es immer in den Kämpfen des täglichen Lebens.

Viele tapfere Vorsätze werden gefaßt, die in bloßen Worten enden; Taten werden beabsichtigt, die nie ausgeführt, Pläne gefaßt, die nie begonnen werden, und all dies, weil es an mutiger Entschlossenheit fehlt. Weit besser ist das Schweigen als geschwätzige Geschäftigkeit. Denn im Leben und in der Arbeit ist das Tun besser als das Reden, und die kürzeste Antwort auf alles ist die Tat. »Bei Angelegenheiten von großer Wichtigkeit, die getan werden müssen,« sagt Tillotson, »ist Unentschlossenheit ein sicheres Kennzeichen eines schwachen Geistes. Immer nur beabsichtigen, ein neues Leben anzufangen, aber nie die Zeit zum Anfang finden, das ist gerade so, wie wenn ein Mensch Essen, Trinken und Schlafen von einem Tag auf den andern verschiebt, bis er verhungert ist.«

Es bedarf auch eines nicht geringen Grades von moralischem Mute, um den verderblichen Einflüssen der sogenannten »Gesellschaft« zu widerstehen. Obgleich »Frau Soundso« eine sehr gewöhnliche und hausbackene Person sein kann, so ist ihr Einfluß doch ungeheuer groß. Viele Menschen, besonders Frauen, sind die moralischen Sklaven der Klasse oder Kaste, der sie angehören. Unter ihnen existiert eine Art unwillkürliche Verschwörung gegen jede Individualität. Jeder Kreis und jede Gruppe, jeder Rang und Stand hat seine besonderen Sitten und Gebräuche, die man beachten muß, um nicht in Acht und Bann getan zu werden. Viele sind wie durch eine Mauer von der Mode umgrenzt, andere von der Gewohnheit, der Meinung. Nur wenige haben den Mut, anders zu denken als ihre Sekte, anders als ihre Partei, und hinauszutreten in die freie Luft individuellen Denkens und Handelns. Wir kleiden uns und essen nach der Mode auf die Gefahr hin, in Schulden, Verderben und Elend zu geraten. Wir leben nicht so sehr nach unsern Mitteln, als nach den törichten Anschauungen unserer Klasse. Wenn wir verächtlich von den Indianern reden, die ihre Köpfe plattdrücken, oder von den Chinesen, die ihre Füße verkrüppeln, so brauchen wir nur auf die unter uns herrschenden Mißbräuche zu blicken, um zu sehen, daß die Herrschaft der Mode allgemein verbreitet ist.

Aber moralische Feigheit zeigt sich ebenso im öffentlichen wie im Privatleben. Das Schmarotzertum beschränkt sich nicht darauf, den Reichen zu schmeicheln, sondern zeigt sich ebenso oft in dem Kriechen vor der Menge. Früher wagten die Sykophanten nicht, den Hochgestellten die Wahrheit zu sagen, aber jetzt wagen sie es nicht einmal bei dem gemeinen Volke. Jetzt, wo »die Massen« politische Macht ausüben, J. S. Mill beschreibt in seinem Buche ›Über die Freiheit‹, ›Die Massen‹ als ›kollektive Mittelmäßigkeit‹. »Die Einführung alles Guten und Edlen,« sagt er, »kommt und muß kommen von Individuen – im allgemeinen zuerst von einem Individuum. Die Ehre und der Ruhm des Durchschnittsmenschen liegt darin, daß er jenem Anfang folgen, das Weise und Edle innerlich begreifen und mit offenen Augen dazu geführt werden kann... Zu unserer Zeit ist schon das bloße Beispiel der Nichtübereinstimmung, die bloße Weigerung, das Knie vor einer Gewohnheit zu beugen, ein Verdienst. Gerade weil die tyrannische öffentliche Meinung die Exzentrizität als Vorwurf betrachtet, ist es wünschenswert, um diese Tyrannei zu brechen, daß die Leute exzentrisch werden. Exzentrizität war immer da reichlich vorhanden, wo es viel Charakterstärke gab, und die Summe der Exzentrizität in der Gesellschaft ist gewöhnlich der Summe an Genie, Geisteskraft und moralischem Mute direkt proportional. Daß so wenige es wagen, exzentrisch zu sein, bezeichnet die Hauptgefahr unserer Zeit.« zeigt sich eine steigende Tendenz, ihnen nach dem Munde zu reden, ihnen zu schmeicheln und nur glatte Worte zu ihnen zu sprechen. Man schreibt ihnen Tugenden zu, von denen sie selbst wissen, daß sie sie nicht besitzen. Man vermeidet heilsame Wahrheiten öffentlich auszusprechen, weil sie unangenehm sind, und um die Gunst der Massen zu gewinnen, heuchelt man Sympathie für Ideen, deren praktische Ausführbarkeit anerkanntermaßen unmöglich ist.

Nicht die Gunst des Mannes von dem edelsten Charakter – des höchstgebildeten und bestgestellten Mannes – sucht man heute so sehr wie die des niedrigsten, ungebildetsten und armseligsten, weil seine Stimmen meist die der Majorität ist. Selbst Männer von Rang, Wohlstand und Bildung sieht man im Staube liegen vor der Unwissenheit, um ihre Stimmen zu erhalten. Sie sind lieber charakterlos und ungerecht als unpopulär. Für manche Menschen ist es viel leichter, den Rücken zu beugen und zu schmeicheln, als männlich, entschlossen und hochherzig zu sein; viel leichter, Vorurteilen nachzugeben, als sie zu überwinden. Es erfordert Stärke und Mut, gegen den Strom zu schwimmen, während jeder tote Fisch mit ihm treiben kann.

Dies knechtische Buhlen um die Volksgunst hat in den letzten Jahren sehr um sich gegriffen und hat die Tendenz, den Charakter von Männern, die im öffentlichen Leben stehen, zu erniedrigen. Die Gewissen sind nachgiebig geworden. Jetzt hat man in der Kammer eine Meinung, auf der Rednertribüne eine andere. Im öffentlichen Leben zeigt man Vorurteile, die man im Geheimen verachtet. Angebliche Gesinnungsänderungen – die stets mit Partei-Interessen zusammenhängen – sind jetzt sehr häufig; und sogar Heuchelei scheint jetzt kaum noch als verächtlich angesehen zu werden.

Dieselbe moralische Feigheit zeigt sich in niederen wie in hohen Kreisen. Wirkung und Gegenwirkung sind gleich. Heuchelei und wetterwendisches Benehmen oben ist von demselben Gebaren unten begleitet. Wo Menschen von hoher Stellung nicht den Mut haben, ihre Meinung zu vertreten, was soll man da von Niedriggestellten erwarten. Sie werden nur das ihnen gegebene Beispiel nachahmen. Sie werden auch allerlei Intrigen und Ränke gebrauchen – so sprechen und anders handeln – wie ihre Vorbilder. Man gebe ihnen nur einen verschlossenen Kasten oder einen Schlupfwinkel, wo sie ihre Handlungen verstecken können, und sie werden sich dann ihrer »Freiheit« erfreuen.

Wenn jemand heutzutage populär ist, so ist dies keineswegs eine Empfehlung für ihn, sondern ebenso oft gegen ihn. »Niemand,« sagt das russische Sprichwort, »kann zu Ehren kommen, der mit einem steifen Rücken verflucht ist.« Das Rückgrat dessen, der nach Popularität jagt, ist schmiegsam und es fällt ihm nicht schwer, sich zu neigen und zu beugen, um den Beifall der Volksgunst zu erhaschen.

Wo die Popularität gewonnen wurde dadurch, daß man dem Volke schmeichelte oder die Wahrheit fernhielt, oder für die niedrigsten Instinkte schrieb und redete oder gar an den Klassenhaß appellierte, solche Popularität muß für alle ehrenhaften Menschen verächtlich sein. Jeremias Bentham sagt von einem wohlbekannten Politiker: »Seine politische Überzeugung geht weniger aus der Liebe zu der Masse als aus dem Hasse gegen wenige Bevorzugte hervor; sie steht zu sehr unter dem Einflusse selbstsüchtiger und unsozialer Neigungen.« Für wie viele Menschen unserer Zeit mag dies nicht auch Geltung haben? Leute von geradem Charakter haben den Mut, die Wahrheit zu reden, auch wenn sie nicht populär ist. Von dem Oberst Hutchinson sagte seine Frau, daß er nie nach der Gunst des Volkes strebte, noch sich ihrer rühmte: »Er freute sich mehr, Gutes zu tun als gepriesen zu werden, und er achtete nie das Lob der Menge so hoch, daß er, um es zu erringen, sein Gewissen oder seine Überzeugung außer acht gelassen hätte. Auch hätte er nie eine gute Tat, zu der er sich verpflichtet fühlte, unterlassen, wenn auch alle Welt sie nicht billigte; denn er sah alle Dinge an, wie sie wirklich waren und nicht durch die trübe Brille der öffentlichen Meinung.«

»Die Popularität im niedrigsten und gewöhnlichsten Sinne,« sagte Sir John Pakington, »ist des Erwerbs nicht wert. Tu deine Pflicht nach besten Kräften, erringe die Billigung deines Gewissens, und die Popularität in ihrem besten und höchsten Sinn wird nicht auf sich warten lassen.«

Als Richard Lowell Edgeworth gegen das Ende seines Lebens in seiner Gegend sehr beliebt wurde, sagte er eines Tages zu seiner Tochter: »Maria, ich fange an, schrecklich populär zu werden; ich werde bald zu nichts mehr gut sein; ein Mann, der sehr populär ist, kann zu nichts mehr taugen.« Wahrscheinlich dachte er an den Fluch, den das Evangelium gegen den populären Mann schleudert: »Wehe euch, wenn jedermann gut von euch redet, desgleichen taten ihre Väter den falschen Propheten auch!«

Geistige Unerschrockenheit ist eine der Hauptbedingungen der Unabhängigkeit und Selbständigkeit des Charakters. Ein Mensch muß den Mut haben, ein »Ich« zu sein und nicht der Schatten oder das Echo eines andern. Er muß seinen eigenen Einfluß ausüben, seine eigenen Gedanken denken, seine eigenen Gefühle aussprechen. Er muß sich seine eigene Meinung bilden und seine eigene Überzeugung zu erringen suchen. Irgend jemand hat gesagt: »Wer sich keine eigene Meinung zu bilden wagt, ist ein Feigling, wer es nicht tun will, ist ein Faulpelz; wer es nicht tun kann, ist ein Pinsel.«

Aber gerade an diesem Element der Unerschrockenheit mangelt es vielen Menschen, und sie täuschen deshalb die Erwartungen ihrer Freunde. Sie treten auf den Schauplatz der Handlung, aber bei jedem Schritt vermindert sich ihr Mut. Ihnen fehlt die nötige Entschlossenheit, Tapferkeit und Beharrlichkeit. Sie berechnen die Gefahr und wägen die Chancen ab, bis die Gelegenheit zum Handeln für immer vorbei ist.

Die Menschen sind verpflichtet, aus Wahrheitsliebe die Wahrheit zu sagen. »Ich wollte lieber darum leiden,« sagt der Republikaner John Pym, »daß ich die Wahrheit rede, als daß die Wahrheit um meines Schweigens willen leidet.« Wenn ein Mensch sich nach reiflicher Übung seine Überzeugung gebildet hat, ist er berechtigt, sie mit allen erlaubten Mitteln durchzuführen. Es gibt gewisse gesellschaftliche Zustände und geschäftliche Lagen, denen gegenüber ein Mensch sich feindlich und ablehnend verhalten muß, und wo eine Zustimmung nicht nur eine Schwäche, sondern eine Sünde wäre. Manchen großen Übeln muß man Widerstand leisten; sie können nicht durch Tränen, sondern nur durch Kampf bezwungen werden.

Dem Ehrlichen widerstrebt von Natur aus der Betrug, dem Wahrhaftigen die Lüge, dem gerecht Denkenden die Bedrückung, dem Reinen Laster und Sünde. Sie müssen diese Übel bekämpfen und sie womöglich besiegen. Solche Männer sind zu allen Zeiten die moralische Stärke der Welt gewesen. Von Menschenliebe getrieben und von Mut durchdrungen, sind sie zu allen Zeiten die Stützen sozialer Erneuerung und sozialen Fortschrittes gewesen. Hätten sie nicht beständig die Übel bekämpft, so wäre die Welt zum größten Teil der Herrschaft von Selbstsucht und Lasterhaftigkeit preisgegeben. Alle großen Reformatoren und Märtyrer waren Antagonisten der Unwahrheit und Unwahrhaftigkeit. Die Apostel selbst waren eine organisierte Schar sozialer Antagonisten, die gegen Hochmut, Selbstsucht, Aberglaube und Gottlosigkeit kämpften. Und zu unserer Zeit bewiesen das Leben von Clarkson und Granville Sharp, von Vater Mathew und Richard Cobden, was hochgesinnter, sozialer Antagonismus, von selbständigem Streben begeistert, leisten kann.

Die starken und mutigen Menschen leiten, führen und beherrschen die Welt. Die Schwachen, Schüchternen hinterlassen keine Spur, während das Leben eines einzigen rechtschaffenen und energischen Mannes einem Lichte in der Dunkelheit gleicht. Man erinnert sich seines Beispiels und erwähnt es oft; seine Gedanken, sein Geist und sein Mut beeinflussen noch lange zukünftige Generationen. Die Energie – deren Zentralelement der Wille ist – bringt die Wunder des Enthusiasmus zu allen Zeiten hervor. Überall ist sie die Quelle der sogenannten Charakterstärke und die fördernde Kraft jedes großen Beginnens. In gerechter Sache steht der entschlossene Mann auf seinem Mut wie auf einem Fels von Granit, und wie David geht er unverzagten Herzens dem Goliath entgegen, wenn auch eine Armee gegen ihn ankämpft.

Die Menschen besiegen oft Schwierigkeiten, weil sie die Kraft dazu in sich fühlen. Ihr Selbstvertrauen verstärkt das Vertrauen anderer. Als Cäsar sich auf dem Meere befand, und ein Sturm sich erhob, wurde der Kapitän des Schiffes von Furcht befallen. »Was fürchtest du dich?« rief der große Feldherr aus, »du trägst Cäsar und sein Glück!« Der Mut des Tapferen wirkt ansteckend und reißt andere mit sich fort. Seine stärkere Natur bringt die Schwächeren zum Schweigen oder überträgt ihren Willen und ihre Entschlossenheit auf sie.

Der Beharrliche läßt sich durch keinen Widerstand abschrecken oder einschüchtern. Diogenes wünschte der Schüler des Zynikers Anthistenes zu werden. Er wurde abgewiesen. Da Diogenes beharrlich blieb, erhob der Philosoph seinen Knotenstock und drohte ihm mit Schlägen, wenn er nicht ginge. »Schlag zu,« sagte Diogenes, »du wirst keinen Stock finden, der hart genug ist, um meine Beharrlichkeit zu besiegen.« Anthistenes war hierdurch entwaffnet und nahm ihn ohne weitere Widerrede als Schüler an.

Ein energisches Temperament, verbunden mit einem mäßigen Grade Weisheit, wird einen Menschen weiter bringen als noch soviel Klugheit ohne Energie. Energie macht den Mann der praktischen Geschicklichkeit. Sie verleiht ihm vis, Kraft, momentum, Nachdruck. Sie ist die Triebfeder des Charakters, und wenn sie mit Weisheit und Selbstbeherrschung gepaart ist, so wird sie einen Menschen in den Stand setzen, seine Kräfte nach bestem Vermögen in den Angelegenheiten des Lebens zu verwenden.

Daher kommt es, daß auch Leute von verhältnismäßig geringer Begabung, die aber von einem starken Willen geleitet wurden, Außerordentliches geleistet haben. Denn die Männer, welche die Welt am meisten beeinflußt haben, sind nicht so sehr Männer von Genie als vielmehr von starker Überzeugung und ausdauernder Arbeitskraft gewesen, die durch eine unwiderstehliche Energie und eine unbesiegbare Entschlossenheit angetrieben wurden, wie z. V. Mohammed, Luther, Knox, Kalvin, Loyola und Wesley. Der Mut, der mit Energie und Beharrlichkeit verbunden ist, wird auch anscheinend unüberwindliche Schwierigkeiten bewältigen. Er gibt Kraft und Nachdruck und gestattet keinen Rückzug. Tyndall sagte von Faraday, daß »er in Augenblicken der Begeisterung einen Entschluß faßte, den er dann bei ruhiger Überlegung ausführte.« Eine auf dem rechten Wege wirkende Beharrlichkeit wächst mit der Zeit und wird bei beständiger Übung auch bei dem Schwächsten nicht ihren Zweck verfehlen. Es ist von verhältnismäßig geringem Nutzen, sich auf die Hilfe anderer zu verlassen. Als einer der Hauptgönner Michel Angelos starb, sagte dieser: »Ich verstehe jetzt, daß die Versprechungen der Welt zum größten Teile leere Phantome sind und daß es der beste und sicherste Weg ist, auf sich selbst zu vertrauen und nach eigenem Wert zu trachten«.

Der Mut ist keineswegs mit Sanftmut unverträglich. Im Gegenteil charakterisieren Zartheit und Sanftmut gerade viele Männer und Frauen, welche die mutigsten Taten getan haben. Charles Napier gab die Jagd auf, weil er es nicht ertragen konnte, stumme Geschöpfe zu töten. Dieselbe Zartheit und Sanftmütigkeit charakterisierten seinen Bruder Sir William, den Verfasser des Peninsular War. Folgender kleine Zug seiner Güte wird in seiner Biographie angeführt! »Er machte einst bei Freshford einen längeren Spaziergang, als er einem kleinen, etwa fünfjährigen Mädchen begegnete, das kläglich über eine zerbrochene Schüssel weinte. Sie hatte darin ihrem Vater das Essen auf das Feld gebracht und sie auf dem Rückweg fallen lassen, und sie erzählte, sie würde zu Hause dafür Schläge bekommen, als sie ihn plötzlich mit einem Hoffnungsschimmer unschuldig ansah und fragte: »Nicht wahr, du kannst es wieder ganz machen?« Mein Vater erklärte, daß er das zwar nicht könne, aber er würde ihr ein Sixpencestück geben, um sich eine neue Schüssel zu kaufen. Er fand indessen kein Silbergeld in seiner Börse und versprach ihr deshalb, sie am folgenden Tage zu derselben Zeit an derselben Stelle zu treffen, um ihr das Geld zu geben. Sie sollte unterdessen ihrer Mutter sagen, daß ein Herr ihr am nächsten Tage das Geld für die Schüssel geben würde. Das Kind vertraute ihm vollständig und ging getröstet davon. Bei seiner Rückkehr fand er eine Einladung zu einem Diner in Bath vor, wobei er jemanden treffen sollte, den er ganz besonders zu sprechen wünschte. Er zögerte einen Augenblick und überlegte, ob er seine kleine Freundin mit der zerbrochenen Schüssel treffen und doch zur rechten Zeit in Bath sein könnte; aber da dies unmöglich war, lehnte er die Einladung mit der Begründung ab, er habe eine »frühere Verabredung« getroffen und sagte zu uns: »Ich kann sie nicht enttäuschen, sie vertraute mir so vollständig.« So war auch der Charakter von Sir James Outram, den Sir Charles Napier den »Bayard Ostindiens, ohne Furcht und ohne Tadel« nannte – einer der tapfersten und doch sanftmütigsten Männer; respektvoll und ehrerbietig gegen Frauen, zärtlich gegen Kinder, hilfreich gegen Schwache, streng gegen Schlechte, aber gütig gegen Redliche und Verdienstvolle. Er selbst war so ehrlich wie der Tag und so rein wie die Tugend. Von ihm kann man mit Recht sagen, was Fulke Grenville von Sidney sagte: »Er war ein echtes Vorbild männlichen Wertes – ein Mann, wie geschaffen, um Eroberungen zu machen, Reformen auszuführen, Kolonien anzulegen oder irgend eine der schwierigsten und größten Arbeiten zu tun. Sein Endzweck war immer das Gute für seinen Nächsten und der Dienst für König und Vaterland.«

Als Edward, der »Schwarze Prinz«, die Schlacht bei Poitiers gewonnen und dabei den König von Frankreich und seinen Sohn gefangen genommen hatte, gab er ihnen des Abends ein Gastmahl, wobei er darauf bestand, ihnen aufzuwarten und sie zu bedienen. Diese ritterliche Höflichkeit und Artigkeit des tapferen Prinzen gewann das Herz seiner Gefangenen, wie er ihre Person durch seine Tapferkeit gewonnen hatte; denn ungeachtet seiner Jugend war Edward ein wahrer Ritter, der erste und edelste seiner Zeit – ein edles Vorbild und Beispiel der Ritterlichkeit Seine zwei Wahlsprüche »Hochgemut« und »Ich dien« drücken seine hervorstechendsten Eigenschaften nicht unpassend aus.

Der Mutige kann am ersten großmütig sein; es liegt schon in seiner Natur. Als Fairfax in der Schlacht bei Naseby einem Fähnrich, den er erschlagen, die Fahne entrissen hatte, übergab er sie einem gemeinen Soldaten, um sie zu behüten. Der Soldat konnte der Versuchung nicht widerstehen und rühmte sich vor seinen Kameraden, daß er die Fahne gewonnen hätte. Diese Prahlerei kam Fairfax zu Ohren, doch er sagte nur: »Mag er den Ruhm behalten, ich habe genug für mich selbst.«

Als Douglas in der Schlacht bei Bannockburn seinen Nebenbuhler Randolph von der Überzahl der Feinde umringt und anscheinend überwältigt sah, wollte er ihm gerade zu Hilfe eilen; aber als er sah, daß Randolph sie schon zurücktrieb, rief er aus: »Halt, Halt! Wir kommen zu spät, um ihm zu helfen, so wollen wir ihm den Sieg nicht schmälern, dadurch, daß wir daran teilnehmen.«

Ebenso ritterlich, wenn auch auf einem ganz anderen Gebiete, war das Benehmen des Laplace gegen den jungen Philosophen Biot, als dieser der Académie française seine Schrift » Sur les Equations aux Différences Mêlées« vorgelesen hatte. Die versammelten Gelehrten beglückwünschten ihn wegen der Originalität der Arbeit. Monge war entzückt von Biots Erfolg. Laplace lobte ihn auch wegen der Klarheit seiner Beweisführung und lud ihn dann ein, ihn nach Hause zu begleiten. Dort entnahm Laplace einem Fache seines Schreibtisches ein vergilbtes Manuskript und händigte es dem jungen Philosophen ein. Zu Biots Überraschung fanden sich darin alle vollständig ausgearbeiteten Lösungen, für die er eben soviel Lob geerntet hatte. Mit seltenem Großmut hatte Laplace dies so lange vor Biot geheim gehalten, bis dieser sich einen Namen in der Akademie gemacht hatte, überdies verpflichtete er ihn zu Stillschweigen, und der Vorfall würde unbekannt geblieben sein, hätte ihn nicht Biot selbst fünfzig Jahre später bekannt gegeben.

Von einem französischen Handwerker berichtet man einen Vorfall, der dieselbe Selbstaufopferung in anderer Form zeigt. An einem hohen Neubau in Paris war das übliche Baugerüst mit Menschen und Material beladen; das Gerüst war zu schwach, brach plötzlich zusammen und alle wurden hinabgeschleudert – mit Ausnahme von zweien, einem älteren und einem jüngeren Manne, die sich an einem schmalen Brette festhielten, das unter ihrer Last nachzugeben drohte. »Pierre,« rief der Ältere, »laß los, ich bin Familienvater.« » C'est juste!« sagte Pierre; er ließ sofort los, stürzte hinab und war auf der Stelle tot. Der Familienvater wurde gerettet.

Der wackere Mensch ist so hochherzig wie sanftmütig. Er kämpft nicht gegen einen Schwächeren und schlägt keinen, der am Boden liegt und sich nicht wehren kann. Sogar inmitten des blutigen Kampfes sind solche Beispiele der Großmut nichts Ungewöhnliches. In der Schlacht bei Dettingen griff in der Hitze des Gefechts eine Schwadron französischer Reiter ein englisches Regiment an; aber als der junge französische Führer, der gerade den englischen Befehlshaber angreifen wollte, merkte, daß dieser nur einen Arm hatte, mit dem er den Zügel regierte, grüßte er höflich mit dem Säbel und ritt weiter.

Nach der Belagerung und Einnahme Wittenbergs durch die kaiserliche Armee kam Karl V. auch an Luthers Grab. Als er die Inschrift las, machte ihm einer der kriecherischen Höflinge den Vorschlag, das Grab zu öffnen und die Asche des »Ketzers« den Winden preiszugeben. Da errötete der Monarch vor ehrlicher Entrüstung: »Ich führe nicht mit den Toten Krieg,« sagte er; »man respektiere diesen Platz.«

Das Bild, das der große Heide Aristoteles vor mehr als zweitausend Jahren von dem Großmütigen – mit andern Worten von dem echten Gentleman entwarf – besteht mit derselben Treue noch heute. »Der Großmütige, sagte er, wird Glück und Unglück mit derselben Mäßigung ertragen. Er wird Lob und Tadel zu ertragen wissen. Der Erfolg wird ihn nicht entzücken, der Fehlschlag nicht kränken. Er wird die Gefahr weder scheuen noch suchen, denn er kümmert sich um wenige Dinge. Er ist zurückhaltend und bedachtsam beim Sprechen, aber er spricht seine Meinung offen und frei aus, wenn der Augenblick gekommen ist. Er bewundert leicht, doch ist ihm nichts zu groß. Er läßt Beleidigungen unbeachtet. Er spricht nicht über sich oder andere, denn es liegt ihm nichts daran, daß er gelobt, noch, daß andere getadelt werden. Er erhebt kein Geschrei um Kleinigkeiten und verlangt von niemand Hilfe.«

Andererseits bewundern gemeine Menschen nur Gemeines. Sie kennen weder Großmut noch Bescheidenheit oder Hochherzigkeit. Sie sind immer bereit, die Schwäche oder Wehrlosigkeit anderer zu benutzen, besonders wo es ihnen selbst gelungen ist, sich durch gewissenlose Manipulationen zu hohen Stellungen aufzuschwingen. Gemeine Menschen in höheren Stellungen sind noch unerträglicher als solche in niederer, weil sie mehr Gelegenheit haben, ihre Gemeinheit hervorzukehren. Sie nehmen ein vornehmes Aussehen an und sind in allem, was sie tun, arrogant; je höher sie steigen, desto greller ist der Widerspruch zwischen dem, was sie sind und was sie scheinen wollen. »Je höher der Affe steigt, desto mehr sieht man seinen Schwanz,« sagt das Sprichwort.

Viel hängt davon ab, wie man etwas tut. Dieselbe Handlung scheint uns gütig, wenn sie aus vornehmem Sinn kommt, und karg, oder gar hart und grausam, wenn sie ein mißgünstiger Mensch ausführt. Als Ben Jonson arm und krank daniederlag, sandte ihm der König eine gleichgültige Botschaft mit einem kleinen Geschenk. Die derbe, unverblümte Antwort des Dichters lautete darauf: »Ich vermute, er schickt mir das, weil er glaubt, daß ich in einer Sackgasse wohne; sagt ihm, seine Seele wohne auch in einer Sackgasse.«

Aus dem, was wir gesagt haben, geht hervor, daß es von großer Wichtigkeit für die Charakterbildung ist, einen mutigen, ausdauernden Sinn zu besitzen. Er ist ebenso sehr eine Quelle des Nutzens wie des Glückes im Leben. Andererseits ist eine schüchterne ja feige Natur ein großes Unglück. Ein weiser Mann pflegte zu sagen, daß er bei der Erziehung seiner Kinder besonders darauf geachtet hätte, daß sie nichts so fürchten lernten wie die Furcht. Und ohne Zweifel kann die Gewohnheit, die Furcht zu scheuen, ebenso anerzogen werden wie die Gewohnheit der Aufmerksamkeit, des Fleißes, des Studiums oder der Heiterkeit.

Vielfach entspringt die Furcht der Einbildungskraft, welche sich das Übel vorstellt, das sich ereignen kann, was aber vielleicht sehr selten geschieht. So werden viele Leute, die zur Bekämpfung und Überwindung einer wirklichen Gefahr Mut genug haben, von einer eingebildeten eingeschüchtert und gänzlich gelähmt. Wenn die Einbildungskraft nicht unter strenge Disziplin genommen wird, kommt man dem Übel auf halbem Weg entgegen – leidet schon im voraus und nimmt die selbstgeschaffene Last auf sich.

Erziehung zu Mut und Entschlossenheit gehört gewöhnlich nicht zu den Zweigen weiblicher Bildung, und doch ist sie viel wichtiger als Musik, Französisch oder Geographie. Entgegen Sir Richard Steeles Ansicht, daß die Frauen durch eine »zarte Furcht« und eine »Inferiorität, die sie lieblich macht«, charakterisiert sein sollten, wünschen wir eine Erziehung zu Entschlossenheit und Mut, damit sie hilfreicher, selbständiger, nützlicher und glücklicher werden.

Die Schüchternheit hat nichts Anziehendes, die Furcht nichts Liebliches. Alle Schwäche, des Geistes wie des Körpers, ist ein Gebrechen. Der Mut ist anmutig und würdevoll, die Furcht in jeder Form gemein und abstoßend. Doch kann die äußerste Zartheit und Sanftmütigkeit mit Mut gepaart sein. Der Künstler Ury Scheffer schrieb einst an seine Tochter: »Liebe Tochter, bemühe dich, guten Muts und sanften Herzens zu sein; das sind echt weibliche Eigenschaften. Schwierigkeiten muß jeder erwarten. Nur auf eine Weise darf man dem Schicksal begegnen – mag dies Glück oder Unglück sein, man muß beides mit Würde tragen. Wir dürfen den Mut nicht verlieren, oder es steht schlimm mit uns und denen, die wir lieben. Kämpfen und immer wieder den Kampf aufnehmen – das ist das Erbe des Lebens.«

Der Mut der Frau ist darum nicht geringer, weil er größtenteils passiv ist. Er wird nicht durch den Beifall der Welt ermutigt, weil er meist in der Zurückgezogenheit des Privatlebens geübt wird.

Niemand versteht es, Krankheit und Kummer tapferer und stiller zu ertragen als Frauen. Wo ihr Herz dabei ist, da ist ihr Mut sprichwörtlich. » Oh! femmes c'est à tort qu'on vous nomme timides, A la voix de vos cœurs vous êtes intrépides.« Die Erfahrung hat gelehrt, daß die Frauen ebenso wie die Männer die härtesten Prüfungen ertragen können; aber man gibt sich zu geringe Mühe, sie auch kleine Schrecken und Ärgernisse ertragen zu lehren. Diese kleinen Übel werden, wenn man sie nachsichtig behandelt, leicht zu krankhafter Empfindlichkeit und werden der Fluch ihres Lebens, da sie ihre Umgebung und sie selbst in einem Zustande chronischen Mißbehagens halten.

Das beste Heilmittel dieses Gemütszustandes ist eine gesunde moralische und geistige Disziplin. Geistige Stärke ist für die Entwickelung des Charakters der Frau ebenso wichtig wie für den des Mannes. Sie verleiht ihr die Fähigkeit, die Geschäfte des täglichen Lebens zu erledigen und die Geistesgegenwart, die sie in den Stand setzt, wenn es not tut mit Kraft und Nachdruck zu handeln. Der Charakter erweist sich bei dem Manne wie bei der Frau als der beste Schutz der Tugend, der beste Lehrer der Religion, das beste Mittel gegen die Wirkung der Zeit. Körperliche Schönheit vergeht schnell; aber Schönheit des Geistes und Charakters wächst mit dem Alter.


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