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7. Kapitel. Pflichtgefühl und Wahrhaftigkeit

Pflicht, du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nicht drohst, was natürliche Abneigung im Gemüte erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern bloß ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüte Eingang findet, und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenn gleich nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich im Geheimen ihm entgegenwirken.

Kant.

Die Pflicht ist eine Schuld, welche jedermann bezahlen muß, um nicht in Mißkredit oder gar moralische Insolvenz zu geraten. Sie ist eine Verpflichtung – eine Verbindlichkeit – die nur durch freiwillige Anstrengung und entschlossenes Handeln in den Angelegenheiten des Lebens abgetragen werden kann.

Die Pflicht umfaßt das ganze Leben des Menschen. Sie beginnt zu Hause mit den Pflichten der Kinder gegen die Eltern und umgekehrt der Eltern gegen die Kinder. Dann gibt es ferner die Pflichten der Ehegatten, der Herrschaft und des Gesindes. Außerhalb des Hauses sind die Pflichten, die Männer und Frauen einander als Freunde und Nachbarn, als Arbeitgeber und Arbeitnehmer, als Befehlende und Gehorchende schulden. Daher sagt Paulus: »So gebet nun jedermann, was ihr schuldig seid. Schoß, dem Schoß gebühret, Zoll, dem Zoll gebühret, Furcht, dem Furcht gebühret, Ehre, dem Ehre gebühret. Seid niemand nichts schuldig, denn daß ihr euch untereinander liebet, denn wer den andern liebet, der hat das Gesetz erfüllt.«

So umschließt die Pflicht das ganze Leben, von unserer Geburt bis zum Tode – Pflichten gegen Vorgesetzte, Untergebene und Gleichstehende – Pflichten gegen den Menschen und gegen Gott. Wo eine Macht zu gebrauchen oder zu leiten ist, da gibt es auch eine Pflicht. Denn wir sind nur Verwalter und müssen die uns anvertrauten Mittel zu unserm und anderer Heil benutzen.

Ein ausgebildetes Pflichtgefühl ist die Krone des Charakters. Es ist das Gesetz, das den Menschen in seiner höchsten Stellung erhält. Ohne Pflichtgefühl strauchelt und fällt das Individuum bei der ersten Gegnerschaft oder Versuchung, während hingegen, von ihm begeistert, der Schwächste stark und mutig wird. »Die Pflicht«, sagt Jameson »ist der Mörtel, welcher das ganze Gebäude der Moral zusammenhält; ohne sie kann alle Macht, Güte, Wahrheit, aller Verstand, alles Glück, ja die Liebe selbst nicht von Dauer sein, sondern der ganze Bau der Existenz bricht unter uns zusammen, so daß wir schließlich, erstaunt über unsere Verlassenheit, unter Ruinen sitzen.«

Das Pflichtgefühl gründet sich auf die Gerechtigkeit, welche durch die Liebe, die vollkommenste Art der Güte, eingeflößt wird. Das Pflichtgefühl ist eigentlich nicht ein Gefühl, sondern ein Lebensprinzip, und es zeigt sich in Worten und Taten, die ja besonders durch das Bewußtsein und den freien Willen des Menschen bestimmt sind.

In der erfüllten Pflicht spricht die Stimme des Gewissens, und ohne seinen regulierenden und kontrollierenden Einfluß kann auch der glänzendste und größte Verstand nur ein Irrlicht sein, das in den Sumpf führt. Das Gewissen stellt den Menschen auf seine Füße, während der Wille ihn aufrecht erhält. Das Gewissen ist der moralische Herrscher des Herzens, der rechte Tat, rechten Gedanken, rechten Glauben, rechtes Leben lehrt, und nur durch seinen vorherrschenden Einfluß kann ein edler, aufrechter Charakter vollentwickelt werden.

Das Gewissen kann noch so laut sprechen, ohne energischen Willen verhallt es ungehört. Der Wille wählt frei zwischen rechtem und unrechtem Tun, aber die Wahl bedeutet nichts, wenn ihr nicht sofortige entschlossene Tat folgt. Wenn das Pflichtgefühl stark und die Bahn der Tätigkeit klar vorgezeichnet ist, so ermöglicht ein mutiger Wille, den das Gewissen stützt, den Menschen, auf seiner Bahn wacker auszuschreiten und sein Ziel trotz Widerspruchs und Schwierigkeiten zu erreichen. Und sollte sich doch ein Fehlschlag ergeben, so bleibt wenigstens der Trost, daß es um der Sache der Pflicht willen geschah.

»Sei und bleibe arm, junger Mann,« sagte Heinzelmann, »während andere um dich durch Betrug und Untreue reich werden; sei ohne Macht und Stellung, wenn andere immer höher steigen; trage den Schmerz enttäuschter Hoffnungen, während andere ihren Erfolg durch Schmeichelei erringen; verzichte auf einen gnädigen Händedruck, für den andere kriechen und schweifwedeln. Wappne dich mit deiner Tugend, suche einen Freund und dein tägliches Brot. Wenn du in deiner redlichen Sache in Ehren grau wurdest, so danke Gott und stirb!«

Menschen von hohen Grundsätzen sehen sich oft genötigt, eher alles, was sie achten und lieben, zu opfern, als ihrer Pflicht untreu zu werden. Die alte englische Auffassung dieses erhabenen, aufopfernden Pflichtgefühls drückt sich in den Worten aus, die der seiner Lehnspflicht folgende Dichter an seine Geliebte richtet:

»Dich könnt' ich, o Geliebte, nicht mehr lieben;
Ständ' mir die Ehr' nicht höher noch!«

Und Sertorius sagte: »Der Mann, der auch nur einige Würde besitzt, muß mit Ehren kämpfen und gemeine Mittel, selbst um sein Leben zu retten, verschmähen. So sagte Paulus, von Pflichtgefühl und Glaube begeistert, er sei bereit, nicht nur sich binden zu lassen, sondern auch zu sterben.« Als italienische Fürsten den Marquis von Pescara drängten, die Sache der Spanier, an die ihn seine Ehre fesselte, zu verlassen, erinnerte ihn sein edles Weib Vittoria Colonna an seine Pflicht. Sie schrieb an ihn: »Denke an Deine Ehre, die Dich über Reichtum und Könige stellt; nur durch sie und nicht durch glänzende Titel erwirbt man Ruhm – jenen Ruhm, welchen der Nachwelt unbefleckt zu überliefern Dein Glück und Stolz ist.« Dies war die würdevolle Ansicht, die sie von der Ehre ihres Gemahls hatte; und als er bei Pavia fiel, zog sie sich, obwohl jung und schön und von vielen Bewunderern umschwärmt, in Einsamkeit zurück, um über den Verlust ihres Gemahls zu klagen und seine Taten zu rühmen.

Richtig zu leben heißt energisch handeln. Das Leben ist ein Kampf, der tapfer ausgefochten werden muß. Von hohem ehrenhaften Entschlusse beseelt, muß ein Mensch auf seinem Posten ausharren, und wenn nötig, dort sterben. Wie der alte dänische Held sollte er entschlossen sein, »edel zu wagen, fest zu wollen und nie auf dem Pfad der Pflicht zu straucheln.« Die Kraft des Willens, die Gott uns geschenkt hat, ist eine göttliche Gabe, sei sie groß oder klein, und wir sollten sie nicht aus Mangel an Gebrauch umkommen lassen oder sie an unedle Zwecke verschwenden. Robertson sagte mit Recht, daß die wahre Größe eines Menschen nicht im Streben nach Vergnügen oder Ruhm oder Fortkommen beruht – »nicht daß jeder sein Leben rettet oder seinen Ruhm sucht – sondern daß jeder seine Pflicht erfüllt.«

Am meisten stehen der Pflichterfüllung Unentschlossenheit, Willensschwäche und Wankelmütigkeit im Wege. Auf der einen Seite stehen Gewissen und die Kenntnis von Gut und Böse, auf der andern Trägheit, Selbstsucht, Vergnügungssucht und Leidenschaft. Der schwache unentschiedene Mensch schwankt eine Zeitlang zwischen seinen Entschlüssen hin und her; aber schließlich neigt er sich doch dem einen oder andern zu, je nachdem der Wille in Tätigkeit tritt oder nicht. Wenn er passiv bleibt, wird der niedrigere Einfluß der Selbstsucht oder Leidenschaft vorherrschen, und die Männlichkeit wird verleugnet, auf die Individualität verzichtet, der Charakter wird erniedrigt und der Mensch läßt sich zum Sklaven seiner sinnlichen Begierden machen.

Deshalb ist die Kraft, den Willen gehorsam den Vorschriften des Gewissens auszuüben und dadurch den Impulsen der gemeineren Natur zu widerstehen, von größter Wichtigkeit in der moralischen Erziehung und für die Entwicklung des Charakters absolut notwendig. Es mag vielleicht eine lange, beharrliche Disziplin erfordern, sich die Gewohnheit des rechten Tuns anzueignen, bösen Neigungen zu widerstehen, gegen sinnliche Begierden zu kämpfen und angeborene Selbstsucht zu überwinden; aber wenn man einmal die Praxis der Pflicht gelernt hat, geht sie in Gewohnheit über und ist dann verhältnismäßig leicht. Wahrhaft tapfer und gut ist derjenige, welcher durch seinen freien Willen sich so geübt hat, daß ihm die Tugend zur Gewohnheit geworden ist; ebenso ist der schlecht, welcher seinen Willen untätig und seinen Begierden und Leidenschaften die Zügel schießen ließ, bis ihm das Laster zur Gewohnheit wurde, und ihn zuletzt wie mit Eisenketten festschmiedete.

Nur durch die Betätigung seines freien Willens kann man sich Charakterstärke aneignen. Wenn man aufrecht stehen will, muß man es aus eigner Kraft tun, sich nicht durch andere halten lassen! Der Mensch ist der Herr seiner selbst und seiner Taten. Er kann die Lüge meiden und wahrhaft sein, er kann die Sinnlichkeit scheuen und enthaltsam sein; er kann eine grausame Handlung vermeiden und wohltätig und versöhnlich sein. All dies liegt im Bereiche seiner Anstrengungen und Selbstzucht. Und es hängt von den Menschen selbst ab, ob sie frei, rein und gut, oder sklavisch, unrein und elend sein wollen. Unter den weisen Aussprüchen Epiktets finden wir folgenden: »Wir wählen uns unsere Rolle im Leben nicht selbst und können nichts dazu tun; unsere Pflicht besteht nur darin, sie gut zu spielen. Der Sklave kann so frei sein wie der Konsul, und Freiheit ist die höchste aller Segnungen; gegen sie sind alle andern klein und unbedeutend, ohne sie nutzlos und unmöglich. Man muß die Menschen belehren, daß das Glück nicht da ist, wo sie es in ihrer Blindheit und ihrem Elend suchen. Es liegt nicht in der Kraft, denn Myron und Ophellius waren nicht glücklich, nicht im Reichtum, denn Krösus war nicht glücklich, nicht in der Macht, denn auch die Konsuln waren nicht glücklich, auch nicht in allem zusammen, denn Nero, Sardanapal und Agamemnon seufzten und weinten und rauften sich das Haar, sie waren die Sklaven der Umstände und die Narren ihrer Einbildung. Das Glück liegt in dir selbst, in wahrer Freiheit, in der Abwesenheit oder Überwindung jeder unendlichen Furcht, in vollkommener Selbstbeherrschung, in der Zufriedenheit, dem Frieden und einer ebenmäßigen Lebensführung selbst in Armut, Verbannung, Krankheit, ja selbst im Tal des Todes«. Vgl. Epiktets Handbüchlein der Moral mit einer Auswahl seiner Unterredungen. Kröners Taschenausgabe.

Das Pflichtgefühl hält auch den Mutigen aufrecht und stärkt ihn. Als Pompejus sich während eines Sturmes nach Rom einschiffen wollte und seine Freunde ihm wegen der augenscheinlichen Lebensgefahr abrieten, sagte er: »Es ist nötig, daß ich gehe, aber es ist nicht nötig, daß ich lebe«. Was er für richtig hielt, tat er trotz Gefahr und Sturm.

Wie man es erwarten konnte, war die Haupttriebkraft im Leben Washingtons das Pflichtgefühl. Es war das herrschende und gebietende Element in seinem Charakter, das ihm Einheit, Festigkeit und Kraft verlieh. Wenn er seine Pflicht vor sich sah, tat er sie auf jede Gefahr hin mit unbeugsamem Mute. Er erfüllte sie nicht aus Effekthascherei, noch wegen des Ruhms, oder um Ehre und Lohn, sondern in dem Bestreben, das Rechte zu tun und es auf die beste Art zu tun. Doch hatte Washington nur eine bescheidene Meinung von sich, und als ihm das Kommando der Amerikanischen Patriotenarmee angeboten wurde, zögerte er, es anzunehmen, bis man ihn dazu drängte. Als er im Kongreß für die Ehre dankte, die man ihm erwies, als man ihn zu einer so wichtigen Sache berief, auf deren Ausführung die Zukunft seines Vaterlandes großenteils beruhte, sagte Washington: »Wenn unglückliche Ereignisse eintreten sollten, die meinem Ruf schaden könnten, so bitte ich, daran zu denken, daß ich heute in aller Aufrichtigkeit erkläre, ich glaube mich dem Kommando, mit dem ich betraut worden bin, nicht gewachsen.«

Washington verfolgte seine ehrenhafte Bahn durchs ganze Leben, zuerst als Oberbefehlshaber, dann als Präsident, und strauchelte nie auf dem Pfade der Pflicht. Er bemühte sich nicht um Popularität, sondern folgte durch Lob und Tadel seiner eigenen Erkenntnis, oft auf die Gefahr hin, seine Macht und seinen Einfluß zu verlieren. So wurde einst, als es sich um die Ratifikation eines Vertrages, den Jay mit Großbritannien abgeschlossen hatte, handelte, Washington aufgefordert, ihn zu verwerfen. Aber seine Ehre und die Ehre des Landes stand auf dem Spiel, und er weigerte sich. Da erhob sich nun ein heftiges Geschrei gegen den Vertrag, und Washington war so unpopulär, daß der Pöbel ihn sofort gesteinigt hätte. Aber er hielt es für seine Pflicht, den Vertrag zu ratifizieren, und er tat es trotz der Petitionen und Vorhaltungen, die allerorten erhoben wurden. »Während ich lebhafte Dankbarkeit für die vielen Beweise der Zustimmung seitens des Landes fühle,« sagte er zu den Bittstellern »kann ich sie doch nur dadurch verdienen, daß ich der Stimme meines Gewissens gehorche.«

Wellingtons Losungswort war wie das Washingtons »Pflicht«, und niemand war seinem Leitwort treuer. »In diesem Leben gibt es wenig oder nichts,« sagte er einst, »das des Lebens wert wäre; aber mir alle können vorwärts schreiten und unsere Pflicht erfüllen.« Niemand erkannte freudiger als er die Pflicht des Gehorsams und willigen Dienstes an: denn wenn jemand nicht treu gehorcht, so kann er nicht herrschen. Kein Motto steht dem Weisen besser an als das »Ich dien'« und »Es dient auch, wer steht und wartet.«

Als man dem Herzog den Unwillen eines Offiziers berichtete, der ein für ihn zu geringes Kommando erhalten zu haben glaubte, sagte Wellington: »Im Verlauf meiner militärischen Karriere bin ich von dem Befehl einer Brigade zu dem eines Regiments und von dem Kommando eines Heeres zu dem einer Division oder Brigade ohne Murren übergegangen, wie mir befohlen war.«

Als Wellington die verbündete Armee in Portugal befehligte, schien ihm das Betragen der einheimischen Bevölkerung weder geziemend noch pflichteifrig, »Wir haben Enthusiasmus in Menge,« sagte er, »und auch viel Vivatrufen. Wir haben Illuminationen, patriotische Lieder und Feste überall. Aber was uns fehlt, ist, daß jeder in seiner Stellung seine Pflicht tue und der gesetzlichen Obrigkeit pünktlich gehorche.« Dieses ideale Pflichtgefühl schien das vorherrschende Prinzip in Wellingtons Charakter zu sein. Es war immer mächtig in seinem Haus und leitete alle Handlungen seines Lebens. Auch teilt es sich seinen Untergebenen mit, die ihm im gleichen Sinne dienten. Als seine Infanterie bei Waterloo ihre arg gelichteten Reihen zu Karrés zusammenschloß, um einen Angriff der französischen Kavallerie zu erwarten, ritt er an sie heran und sagte: »Steht fest, Jungens, denkt daran, was sie in England von uns sagen werden!« worauf die Soldaten erwiderten: »Keine Angst, Sir, wir kennen unsere Pflicht!«

Die Pflicht war auch der beherrschende Gedanke Nelsons. Der Geist, in dem er seinem Vaterlande diente, wurde sowohl durch das berühmte Losungswort »England erwartet, daß jeder Mann seine Pflicht tut« ausgedrückt, das er vor der Schlacht bei Trafalgar der Flotte signalisierte, als auch durch seine letzten Worte: »Ich habe meine Pflicht getan, ich danke Gott dafür!« – Und Nelsons Gefährte und Freund, der tapfere, gefühlvolle, gemütliche Collingwood, der zu der Zeit, wo sein Schiff sich zu der großen Seeschlacht vorbereitete, zu seinem Flaggenkapitän sagte: »Gerade zu dieser Zeit gehen unsere Frauen in England in die Kirche« – Collingwood war wie sein Oberbefehlshaber ein eifriger Jünger der Pflicht. »Tun Sie nach besten Kräften ihre Pflicht«, diese Regel gab er manchem jungen Manne mit auf den Lebensweg. Einem Seekadetten gab er einst folgenden mannhaften und verständigen Rat: »Sie können sich darauf verlassen, es steht mehr in Ihrer als in irgend eines Anderen Macht, Ihr Glück und Avancement zu fördern. Strenge, unermüdliche Pflichterfüllung und geziemendes, respektvolles Benehmen, nicht nur gegen Ihre Vorgesetzten, sondern gegen jedermann, wird Ihnen deren Achtung sichern und der Lohn wird nicht ausbleiben. Sollte das nicht der Fall sein, so bin ich überzeugt, Sie werden Verstand genug haben, um sich durch diese Enttäuschung nicht verbittern zu lassen. Hüten Sie sich sorgfältig, Unzufriedenheit zu zeigen. Das wird Ihre Freunde betrüben, Ihren Feinden ein Triumph sein, und zu nichts Gutem führen. Betragen Sie sich so, daß Sie das beste Los verdienen; sollte es nicht kommen, so wird Sie das Bewußtsein Ihrer guten Lebensführung trösten. Suchen Sie ihren Ehrgeiz darin, der Erste in der Pflichterfüllung zu sein. Achten Sie nicht so sehr darauf, ob die Reihe an Ihnen ist, seien Sie immer zu allem bereit, und wofern Ihre Vorgesetzten nicht unaufmerksam sind, werden sie nicht gestatten, daß man Ihnen mehr zumutet, als sich gehört.«

Diese Pflichttreue soll der englischen Nation eigentümlich sein, und sie zeichnete gewiß unsere größten Staatsmänner mehr oder weniger aus. Wahrscheinlich ging nie ein anderer Feldherr einer anderen Nation mit solchem Signal in den Kampf wie Nelson bei Trafalger – weder »Ruhm«, noch »Sieg« oder »Ehre« oder »Vaterland«, einfach: »Pflicht«. Wie wenige Nationen würden sich um einen solchen Schlachtruf sammeln!

Kurz nach dem Schiffbruch der »Birkenhead« auf der Höhe der afrikanischen Küste – wo die Offiziere und Mannschaften mit einer Freudensalve untergingen, da sie die Frauen und Kinder in den Booten eingeschifft sahen – sagte Robertson aus Brighton mit Bezug darauf: »Ja, Güte, Pflichtgefühl, Opfermut – diese Eigenschaften ehrt England. Das Volk gafft und staunt wohl manchmal wie ein Bauernbursche über mancherlei – Eisenbahnkönige, Elektrobiologie und anderen Kram, aber nichts regt sein großes Herz so bis in die tiefsten Tiefen auf als das Recht. Man legt sich den Schal recht ungraziös um die Schultern und ist in einem Konzertsaal nicht recht am Platze, da man eine schwedische Nachtigall kaum von einer Dohle zu unterscheiden weiß. Aber – Gott sei Dank! – man weiß seine Söhne so zu erziehen, daß sie wie Männer inmitten von Haien und Wogen untergehen, ohne Effekthascherei, als ob die Pflichterfüllung die natürlichste Sache von der Welt wäre, und man hält nie lange einen Helden für einen Schauspieler, oder einen Schauspieler für einen Helden.«

Es ist etwas Großes um dieses Pflichtgefühl einer Nation, und so lange es dauert, braucht keiner an ihrer Zukunft zu verzweifeln. Doch wenn es verschwunden oder erstorben ist und sich der Durst nach Vergnügung oder selbstsüchtiger Vergrößerung eingenistet hat, dann wehe der Nation, denn ihre Auflösung steht bevor. Wenn je verständige Beobachter in ihrer Ansicht über die Ursachen einig waren, welche das jüngste beklagenswerte Unglück der französischen Nation herbeiführten, so schreiben sie all dieses dem Mangel an Pflichtgefühl und Wahrhaftigkeit bei den Führern wie bei dem Volke zu. Das objektive Zeugnis des Barons Stoffel, der vor dem Kriege französischer Militärattaché in Berlin war, darf über diesen Punkt als maßgebend angesehen werden. In seinem in den Tuilerien aufgefundenen Privatberichte an den Kaiser, verfaßt im August 1869, etwa ein Jahr vor dem Ausbruch des Krieges, machte Baron Stoffel darauf aufmerksam, daß das hochgebildete und disziplinierte deutsche Volk von einem hohen Pflichtgefühl beseelt sei und es nicht unter seiner Würde hielte, das Edle und Erhabene aufrichtig zu verehren, wohingegen Frankreich in jeder Beziehung den traurigen Gegensatz bildete. Dort hätte das Volk über alles gespottet und die Fähigkeit, etwas zu achten, verloren, und Tugend, Familienleben, Patriotismus, Ehre und Religion wären einer frivolen Generation nur Gegenstände der Lächerlichkeit. Dem bemerkenswerten Bericht des Barons Stoffel entnehmen wir folgende Stellen, da sie ein mehr als vorübergehendes Interesse bieten: »Keiner, der in Berlin gelebt hat, wird leugnen, daß die Preußen energisch, patriotisch und von jugendlicher Kraft sind; unverdorben durch sinnliche Genüsse, sind sie mannhaft, haben ernste Überzeugungen und halten es nicht unter ihrer Würde, das Edle und Erhabene aufrichtig zu verehren. Was für einen traurigen Gegensatz bietet dagegen Frankreich dar. Da es über alles gespottet hat, so hat es die Fähigkeit verloren, etwas zu achten. Tugend, Familienleben, Patriotismus, Ehre, Religion werden einem leichtfertigen Geschlecht als passende Zielscheiben des Witzes dargestellt. Die Theater sind Schulen der Schamlosigkeit und Gemeinheit geworden. Tropfenweise wird das Gift in das Herz einer unwissenden und entnervten Gesellschaft eingeflößt, die weder die Einsicht noch die Energie hat, ihre Institution zu verbessern oder – was der notwendigste Schritt sein würde – besser unterrichtet und sittlicher zu werden. Von den edlen Eigenschaften des Volkes stirbt eine nach der anderen aus. Wohin ist der Großmut, die Treue, der Zauber unseres Esprit und unsere frühere Seelengröße? Wenn dies so weiter geht, so wird das edle französische Volk nur noch durch seine Fehler bekannt sein. Und Frankreich ahnt dabei nicht, daß, während es sinkt, andere Völker es überholen, ihm auf dem Wege des Fortschrittes zuvorkommen und es auf eine untergeordnete Stufe in der Welt herabdrücken.«

Doch hat es auch Zeiten gegeben, wo Frankreich große pflichteifrige Männer besaß; aber sie gehören alle einer verhältnismäßig entfernten Vergangenheit an. Das Geschlecht der Bayard, Duguesclin, Coligny, Duquesne, Turenne, Colbert und Sully scheint ausgestorben zu sein und keine Nachkommenschaft hinterlassen zu haben. Es hat wohl auch in der Neuzeit manchen großen Franzosen gegeben, der den Ruf der Pflicht erhob, aber seine Stimme war die eines Predigers in der Wüste. De Tocqueville gehörte zu ihnen; aber wie alle Leute seines Schlages wurde er geächtet, eingekerkert und aus dem öffentlichen Leben verbannt. Einst schrieb er an seinen Freund Kergorlay: »Wie Du finde ich immer mehr das Glück in der Pflichterfüllung. Ich glaube, kein anderes ist so tief und wahr. Es gibt nur ein großes Ziel in der Welt, das unserer Anstrengungen wert ist, das ist das Wohl der Menschheit.«

Aber auch in De Tosquevilles wohlwollender Natur war ein deutlich wahrnehmbares Element der Ungeduld. Im selben Briefe, in dem obenerwähnte Stelle steht, sagt er: »Manche wollen anderen nützen, obwohl sie sie verachten und andern, weil sie sie lieben. In den Diensten der ersteren liegt immer etwas Unvollkommenes, Rauhes und Verächtliches, das weder Zutrauen noch Dankbarkeit einflößt. Ich möchte zu der zweiten Klasse gehören, aber oft kann ich es nicht. Ich liebe die Menschheit im ganzen genommen, aber ich treffe beständig mit Individuen zusammen, deren Gemeinheit mich empört. Ich kämpfe daher täglich gegen eine allgemeine Menschenverachtung.«

Obgleich Frankreich seit Ludwig XIV. der unruhige Geist Europas war, so erhoben doch von Zeit zu Zeit ehrliche und treue Männer ihre Stimme gegen die stürmischen und kriegerischen Neigungen des Volkes und predigten nicht nur ein Evangelium des Friedens, sondern suchten es auch zu verwirklichen. Von diesen Männern war der Abbé de St.-Pierre einer der mutigsten. Er hatte sogar die Kühnheit, die Kriege Ludwigs XIV. zu tadeln und seinen Anspruch auf den Beinamen des »Großen« zu leugnen, wofür er durch Ausschließung von der Akademie bestraft wurde. Der Abbé war ein ebenso enthusiastischer Agitator für ein System internationalen Friedens, wie ein Mitglied der modernen Friedensfreunde. Wie Joseph Sturge nach Petersburg ging, um den Zaren für seine Pläne zu gewinnen, so ging der Abbé nach Utrecht zu der dort tagenden Konferenz, um ihr sein Projekt vorzulegen, wonach der Weltfrieden durch einen Friedenskongreß gesichert werden sollte. Natürlich sah man ihn für einen Schwärmer an und der Kardinal Dubois charakterisierte seinen Plan als den »Traum eines ehrlichen Mannes«. Aber der Abbé hatte seinen Traum aus dem Evangelium geschöpft, und wie konnte er den Geist des Herrn, dem er diente, besser betätigen, als indem er sich bemühte, die Schrecken und Greuel des Krieges abzuschaffen? Die Konferenz war eine Versammlung von Vertretern aller christlichen Staaten, und der Abbé verlangte nur von ihnen, sie sollten die Lehren, zu denen sie sich bekannten, verwirklichen. Es war umsonst: die Potentaten und ihre Vertreter hatten nur taube Ohren für ihn. Der Abbé von St.-Pierre lebte mehrere hundert Jahre zu früh. Aber er entschloß sich, seine Ideen nicht verloren gehen zu lassen und veröffentlichte im Jahre 1713 sein »Projekt des Ewigen Friedens«. In demselben schlug er die Errichtung eines europäischen Reichstages oder Senates vor, der sich aus Vertretern aller Staaten zusammensetzen sollte und vor den alle Fürsten ihre Beschwerden zu bringen hätten, bevor sie zu den Waffen griffen. Etwa achtzig Jahre nach der Veröffentlichung dieses Planes fragte Volney: »Was ist ein Volk? Ein Individuum der großen menschlichen Gesellschaft. Was ist ein Krieg? Ein Duell zwischen zwei Einzelvölkern. Was sollte eine Gesellschaft tun, wenn zwei ihrer Mitglieder sich bekämpfen? Dazwischentreten und sie zur Ruhe bringen. In den Tagen des Abbé von St.-Pierre war dies nur ein Traum: aber zum Heil für die menschliche Gesellschaft beginnt er sich jetzt zu verwirklichen.« Aber ach! wie wenig hat sich Volneys Prophezeiung erfüllt! Die fünfundzwanzig folgenden Jahre waren von seiten Frankreichs durch blutigere und schrecklichere Kriege ausgezeichnet, als sie die Welt bis dahin gekannt hatte.

Der Abbé war jedoch kein bloßer Träumer. Er war ein tätiger, praktischer Philanthrop und begründete manche soziale Verbesserung, die seitdem allgemein angenommen ist. Er war der Gründer von Industrieschulen für arme Kinder, durch die sie nicht nur eine gute Erziehung erhielten, sondern auch ein nützliches Handwerk lernten, von dem sie sich ernähren konnten, wenn sie aufgewachsen waren. Er befürwortete die Revision und Vereinfachung der Gesetzbücher, was später Napoleon ausführte. Er schrieb gegen Duell, Luxus, Spiel und Klosterleben, wobei er den Ausspruch von Segrais anführte, daß der Hang zum Klosterleben die Blatternkrankheit des Geistes sei. Er verwandte sein ganzes Einkommen zu wohltätigen Zwecken – nicht zu Almosengeben, sondern indem er armen Kindern, Männern und Frauen die Gelegenheit bot, sich selbst zu helfen. Sein Ziel war dabei immer, denen dauernd wohlzutun, die er unterstützte. Er behielt seine Wahrheitsliebe und seine Freimütigkeit bis zuletzt. Im Alter von achtzig Jahren sagte er: »Wenn das Leben eine Glückslotterie ist, so war mein Los eins der besten«. Als Voltaire ihn auf seinem Totenbette fragte, wie er sich fühlte, sagte er: »Als ob ich eine Reise aufs Land machen wollte.« In diesem friedlichen Geisteszustand starb er. Aber so ausgesprochen hatte sich St.-Pierre gegen die Korruption in höheren Kreisen gewandt, daß Maupertuis, sein Nachfolger in der Akademie, ihm keine Lobrede halten durfte: erst nach zweiunddreißig Jahren erwies D'Alembert seinem Gedächtnis diese Ehre. Die wahre warmherzige Grabschrift des guten, die Wahrheit liebenden und redenden Abbés war: »Er liebte viel«.

Das Pflichtgefühl steht in engem Zusammenhang mit Wahrhaftigkeit des Charakters; der pflichteifrige Mensch ist vor allem wahr in Worten und Werken. Er sagt und tut das Rechte auf die rechte Weise und zur rechten Zeit.

Wahrscheinlich empfiehlt sich kein Ausspruch Lord Chesterfields der Billigung aller männlich Gesinnten mehr als der, daß die Wahrheit den Erfolg des Ehrenmannes ausmache. Clarendon sagt von Falkland, einem der edelsten und reinsten Männer seiner Zeit, daß »er die Wahrheit so streng verehrte, daß er ebensowenig hätte heucheln als stehlen können«.

Frau Hutchinson erteilte ihrem Gatten das schönste Lob, wenn sie ihn einen durchaus wahrhaftigen und zuverlässigen Mann nannte: »Er gab nie eine andere Absicht vor oder versprach nie etwas, das außer seiner Macht stand, noch versäumte er die Erfüllung dessen, was er tun konnte.«

Wellington war ebenfalls ein strenger Anhänger der Wahrheit. Ein Beispiel dafür mag genügen. Als er taub wurde, konsultierte er einen berühmten Ohrenarzt, der, nachdem er alles vergeblich versucht hatte, sich entschloß, ihm eine scharfe ätzende Lösung ins Ohr zu spritzen. Sie verursachte einen heftigen Schmerz, aber der Patient ertrug ihn mit gewohntem Gleichmut. Eines Tages sprach zufällig der Hausarzt vor und fand den Herzog mit erhitzten Wangen und geröteten Augen, und wenn er sich erhob, taumelte er wie ein Trunkener. Der Arzt bat um die Erlaubnis, ins Ohr schauen zu dürfen und fand eine heftige Entzündung, die, wenn ihr nicht schleunigst Einhalt getan würde, binnen kurzem das Gehirn erreichen und den Herzog töten mußte. Es wurden sofort starke Gegenmittel angewandt und die Entzündung beseitigt. Aber der Gehörnerv war gänzlich zerstört. Als der Ohrenarzt von der Gefahr hörte, in welche sein Patient durch sein Mittel geraten war, eilte er sofort nach Apsley House, um sein Bedauern auszudrücken. Aber der Herzog sagte nur: »Verlieren Sie kein Wort darüber, Sie taten es in der besten Absicht.« Der Arzt sagte, es wäre sein Ruin, wenn es bekannt würde, daß er die Ursache der Leiden und Lebensgefahr Seiner Gnaden wäre. »Aber das braucht ja niemand zu erfahren: halten Sie nur reinen Mund und verlassen Sie sich darauf, ich werde nichts davon sagen.« – »Dann werden Ew. Gnaden mir erlauben, Sie wie gewöhnlich zu besuchen, um dem Publikum zu zeigen, daß Sie mir Ihr Vertrauen nicht entzogen haben?« – »Nein,« sagte der Herzog freundlich aber fest »das kann ich nicht, denn das wäre eine Lüge.« Er wollte keine Unwahrhaftigkeit begehen, wie er keine sagen wollte.

Ein anderes Beispiel von Pflichttreue und Wahrhaftigkeit in der Erfüllung eines Versprechens möge hier aus dem Leben Blüchers erwähnt werden. Als er auf schlechtem Wege am 18. Juni 1815 Wellington zu Hilfe eilte, ermutigte er seine Leute durch Worte und Gebärden. »Vorwärts, Kinder – vorwärts!« »Es ist unmöglich, es geht nicht,« war die Antwort. Aber immer wieder trieb er sie an. »Kinder, wir müssen vorwärts kommen; ihr sagt, es geht nicht, aber es muß gehen! Ich habe es meinem Bruder Wellington versprochen – versprochen, verstanden! Ihr werdet doch nicht wollen, daß ich mein Wort breche!« Und es ging.

Die Wahrhaftigkeit ist das Band, das die Gesellschaft zusammenhält, ohne sie könnte sie nicht existieren und würde sich in Anarchie und Chaos auflösen. Ein Haushalt kann nicht durch Lügen regiert werden, viel weniger eine Nation. Sir Thomas Browne fragte einst: »Lügen die Teufel?« »Nein,« gab er selbst zur Antwort, »denn dann könnte selbst die Hölle nicht bestehen.« Keine Betrachtung kann die Verleugnung der Wahrheit, welche die Herrscherin des ganzen Lebens sein sollte, rechtfertigen.

Von allen Lastern ist das Lügen vielleicht das niedrigste. In manchen Fällen geht sie aus Verdorbenheit und Lasterhaftigkeit hervor, in manchen andern aus moralischer Feigheit. Doch denken viele Leute davon so leichtsinnig, daß sie ihre Dienstboten zum Lügen veranlassen; dann dürfen sie auch nicht überrascht werden, wenn sie von ihnen belogen werden.

Sir Harry Wottons satirische Beschreibung eines Gesandten als »eines rechtschaffenen Mannes, ausgesandt um für das Wohl seines Vaterlandes zu lügen«, brachte ihn, als sie bekannt wurde, bei Jakob I. in Ungnade. Denn ein Gegner behauptete, sie richte sich gegen des Königs Grundsätze. Daß es nicht Wottons wahre Ansicht von der Pflicht eines ehrlichen Mannes war, geht aus den Versen über den »Charakter eines glücklichen Lebens« hervor, worin er den Mann preist:

Dess' Richtung ist die Redlichkeit,
und höchstes Gut Wahrhaftigkeit.

Aber die Lüge nimmt viele Gestalten an: Diplomatie, Ausflüchte, moralischer Vorbehalt, und in der einen oder anderen Gestalt beherrscht sie alle Klassen der Gesellschaft. Bisweilen erscheint sie als Doppelsinn und moralischer Kniff – wobei die Tatsachen so gedreht und gewendet werden, daß man ein ganz falsches Bild gewinnt – eine Art Lüge, die ein Franzose als ein »Umgehen der Wahrheit« bezeichnete. Es gibt sogar engherzige und unredliche Naturen, die sich ihrer jesuitischen Geschicklichkeit in der Doppelzüngigkeit rühmen, die es verstehen, sich schlangengleich um die Wahrheit zu winden und aus moralischen Hintertüren zu entschlüpfen, um ihre wahre Überzeugung zu verbergen und den Konsequenzen eines offenen Eingestehens zu entgehen. Alle Institutionen und Systeme, die sich auf solche Ausflüchte gründen, müssen sich naturgemäß als falsch und hohl erweisen. »Sei eine Lüge noch so gut,« sagt George Herbert, sie kommt doch an den Tag.« Das offene Lügen, obwohl dreister und schamloser, ist doch weniger verächtlich als solche Winkelzüge und Doppelzüngigkeit.

Die Unwahrhaftigkeit zeigt sich in vielen anderen Gestalten: In teilweisem Verschweigen und Übertreiben, im Verschleiern oder Verheimlichen, in angeblicher Übereinstimmung mit den Ansichten anderer; in trügerischer Haltung, im Versprechen oder Erwecken von Hoffnungen, die man nicht zu erfüllen gedenkt; oder auch durch Verschweigen der Wahrheit, wo es Pflicht wäre, sie auszusprechen. Es gibt auch Leute, welche alles sein wollen, das Eine sagen und das Andere tun, wie Buney aus Mr. Facing-both-ways (Doppelblick), die sich nur selbst betrügen, während sie andere zu betrügen meinen – die, da sie ganz und gar unaufrichtig sind, kein Vertrauen erwecken und als betrogene Betrüger enden.

Andere sind unwahr in ihren Ansprüchen und schreiben sich Verdienste zu, die sie nicht wirklich besitzen. Der Wahrhaftige ist dagegen bescheiden und prahlt nicht mit seinen Taten. Als Pitt von seiner letzten Krankheit befallen war, kam die Nachricht von den großen Taten Wellingtons in Indien nach England. »Je mehr ich von seinen Heldentaten höre,« sagt Pitt, »um so mehr bewundere ich die Bescheidenheit, mit der er das Lob für seine Verdienste aufnimmt. Er ist der Einzige meines Wissens, der auf seine Taten nicht eitel war, so viel Grund er dazu doch gehabt hätte.«

Ebenso sagte Professor Tyndall von Faraday, daß »ihm Anmaßung aller Art, im Leben wie in der Philosophie, verhaßt war.« Dr. Marshall Hall war ein Mann von ähnlichem Geist, von mutiger Wahrhaftigkeit, pflichttreu und mannhaft. Einer seiner vertrautesten Freunde sagte von ihm, daß er überall, wo er eine Unwahrhaftigkeit oder eine unredliche Absicht antraf, sie bloßstellte und sagte: »Ich will und kann nie meine Zustimmung zu einer Lüge geben.« Sobald er einmal Recht und Unrecht erkannt hatte, folgte er dem Recht, ohne Rücksicht auf die Schwierigkeit, ohne sich um seinen Nutzen oder seine Neigungen zu bekümmern. Keine Tugend suchte Dr. Arnold den jungen Leuten mehr einzuflößen als die Wahrhaftigkeit, die männlichste der Tugenden, ja sogar die Basis aller wahren Männlichkeit. Er nannte die Wahrhaftigkeit »moralische Reinheit«, und er schätzte sie höher als jede andere Eigenschaft. Wenn er eine Lüge entdeckte, behandelte er sie als schweres moralisches Vergehen; aber wenn ein Schüler eine Aussage machte, vertraute er ihr voll und ganz. »Wenn Sie das sagen, ist es genug, natürlich glaube ich Ihrem Wort.« Durch dieses Vertrauen und diesen Glauben erzog er die jüngeren Leute zur Wahrhaftigkeit; sie sagten schließlich untereinander: »Es ist eine Schande, Arnold zu belügen – er glaubt einem ja stets.«


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