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22. Kapitel

Im litauischen Zimmer saß der Assessor der Weschkalene gegenüber. Er hatte ihr einen Besuch gemacht, um bei ihr zu frühstücken und ein bißchen mit ihr zu plaudern. Im geheimen trieb ihn der Wunsch, der alten Dame sein Herzeleid zu klagen und sie um Rat zu bitten. Der Alkohol, den er als Betäubungsmittel angewandt hatte, half nichts mehr.

Wo er ging und stand, sah er Wera vor sich. Ihre volle, stolze Gestalt, die verschleierten schwarzen Augen ... das üppige Haar, das sie wie ein dicker Schleier bis zu den Füßen umwallte ... So hatte er sie auf dem Polterabend des Forstmeisters gesehen als Zigeunerin, die dem jungen Paar aus der Hand die Zukunft prophezeite.

»Gnädige Frau, ich muß Ihnen ein Geständnis machen. Ich will Sie um Ihre Hilfe bitten.«

»Die gnädige Frau lassen Sie man ganz beiseite ... an die neue Mode kann ich mich nicht mehr gewöhnen. Ich bin die Weschkalene. Meinen Rat sollen Sie haben, aber erst, wenn Sie sich sattgegessen haben. Ein hungriger Magen ist ein schlechter Berater ... So, nun kommen Sie«, sagte sie, als der Assessor Messer und Gabel beiseite gelegt hatte.

»Nehmen Sie Platz. Und nun sprechen Sie zu mir, als wenn Sie zu Ihrer Mutter sprechen.«

»Weschkalene, ich bin verliebt bis über die Ohren.«

»Das ist nichts Neues für eine alte Frau ... ich weiß schon, in wen.«

»Sie werden sich irren, nicht in die Adusche Steputat.«

»An die habe ich nie gedacht, Herr Assessor. Die Wera steckt Ihnen im Kopf.«

»Nicht bloß im Kopf, verehrte Frau Weschkalene, sondern auch im Herzen.«

»Auch im Herzen? Das habe ich nicht gewußt ... Den Kopf kann man für eine Weile mit Alkohol zur Ruhe bringen, aber nicht das Herz.«

»Das habe ich noch nicht gewußt ... Es ist wahr, ich habe es in den letzten Wochen ein bißchen toll getrieben. Aber Sie haben recht ... Mitten in der Nacht bin ich mit wüstem Kopf aufgewacht, und dann fing das Herz an zu sprechen.«

»So, so? Wissen Sie denn nicht, was man in solchem Falle tut? Man geht hin, wenn der Großvater nicht zu Hause ist. Und wenn er zu Hause ist, schadet es auch nichts. Dann sagt man, lieber Herr Hegemeister, ich habe mit Ihrer Enkeltochter zu sprechen. Ich bin der und der, ein anständiger Mensch, noch nicht vorbestraft. Ich habe eine gute Stellung in der Welt, bin außerdem reich ... würden Sie mir übelnehmen, wenn ich Sie um die Hand Ihrer Enkeltochter bitte? Dann wird der alte Herr Ihnen gerührt die Hand schütteln und wird gehen, die Wera zu holen. Was Sie der für ein Liedchen zu singen haben, werden Sie ja wohl auch schon wissen.«

Herr von Sperling seufzte tief und nickte mit dem Kopf ... »Sind Sie denn solch ein Hasenfuß«, fuhr Weschkalene fort. »Die Sache ist doch nicht so gefährlich. Die Wera ist kein junges Mädchen mehr, sondern eine Witwe.«

Der Assessor sprang auf. »Nein, das ist sie leider nicht ... sondern eine verheiratete Frau.«

»Da schlag' doch Gott den Deuwel tot! Das ist das Neueste, was ich höre. Wieso nicht Witwe ... ihr Mann ist doch tot?«

»Nein, er lebt ... oder vielleicht lebt er auch nicht mehr ... Hören Sie zu. Eines Tages erzählt mir der Hegemeister, daß Weras Mann nicht tot ist, sondern als politischer Verbrecher in einem russischen Gefängnis schmachtet. Wie mir dabei zumute war, können Sie sich wohl denken. Ich hatte Mühe, meine Fassung zu bewahren. Ich bot aber sofort meine guten Dienste an. Ich habe sehr gute Beziehungen nach Rußland ...«

»Das finde ich sehr nett und sehr klug von Ihnen.«

»Ach, gnädige Frau Weschkalene, ich will mich nicht besser machen, als ich bin. Wer in Rußland hinter den Gefängnismauern verschwindet, ist für die Welt tot. Aber ich hätte die amtliche Auskunft in der Hand gehabt.« Er hatte sich wieder gesetzt.

Dafür war Weschkalene aufgestanden und ging vor ihm hin und her ... »Na, und was sagt die Wera dazu?«

Der Assessor zuckte die Achseln. »Von da ab wird mir ihr Benehmen unverständlich. Der Hegemeister ging zu ihr in die Küche. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er zurückkam. Wera hätte sich zu sehr aufgeregt. Sie könne mir nicht sofort Auskunft erteilen. Seitdem warte ich auf diese Auskunft, die nur darin besteht, daß mir der Name, der Ort und die Zeit der Verhaftung mitgeteilt wird. Ich werde daraus nicht klug.«

Weschkalene blieb vor ihm stehen. »Da gibt es doch nur zwei Möglichkeiten. Entweder hat die Sache mit dem Mann einen Haken oder mit Ihnen ... das heißt, sie will Ihnen nicht zur Dankbarkeit verpflichtet sein.«

»Sie meinen also damit, daß ich keine Hoffnung hätte? Ich habe es gestern von Mooslehner erfahren, daß der Hegemeister ihm dasselbe schon vor einem halben Jahr erzählt hat.«

»Das macht die Sache immer rätselhafter. Ich bin eine alte Frau und habe schon soviel erlebt in meinem Leben, aber das ist mir noch nicht vorgekommen. Lieber Herr Assessor, da steckt etwas dahinter ... mir ahnt schon so was ... und ich werde dahinter kommen, verlassen Sie sich darauf. Ich wollte sowieso heute nach Makunischken fahren. Ich habe mit dem alten Knasterbart, dem Hegemeister, ein Hühnchen zu rupfen ... Halten Sie sich heute abend zu Hause. Ich komme zu Ihnen, wenn ich etwas erfahren habe.«

Der Hegemeister und Wera sahen gerade beim Kaffee, als der Wagen der Weschkalene vorfuhr ... »Kind, geh 'raus, nimm Weschkalene in Empfang und sag' ihr, ich wäre nicht zu Hause.«

»Aber, Großvater, sie wird dich doch schon durch das offene Fenster gesehen haben.«

»Na, dann darfst du mich aber nicht verlassen, nicht auf eine Minute ... verstehst du?« Er sprang auf und eilte an die Tür. »Willkommen, Georginne ... herzlich willkommen. Was verschafft uns das Vergnügen?«

»Ich komme bloß ein bißchen nahbern und euch die Karten von den Kindern zu zeigen. Die fahren ja jetzt schon zu Schiff in das Morgenland. Für Kaffee danke ich ... ich habe schon zu Hause getrunken.«

Die Postkarten waren besehen, die Fahrt des jungen Ehepaares war gründlich durchgesprochen, da sagte Weschkalene: »Mein Kind, ich will Sie nicht stören, wenn Sie in der Wirtschaft zu tun haben.«

»Oh, ich versäume wirklich nichts.«

»Das lobe ich mir, wenn die Wirtschaft so am Schnürchen geht. Aber Sie haben mich nicht verstanden. Sie müssen uns ein Viertelstündchen allein lassen, ich habe mit Ihrem Großvater etwas zu besprechen.«

Sie legte dem Hegemeister, der auf dem Sofa neben ihr saß, die Hand auf den Arm. »Nun, mein lieber Freund Adam, was wird denn aus uns beiden? Ich habe bis heute gewartet ... aber wer nicht kam, das war der Adam Krummhaar ... genau so wie vor vierzig Jahren. Jetzt bin ich ja nicht mehr so ein schüchternes junges Mädchen wie damals ... Wissen Sie noch, Adam?«

Krummhaar nickte ... Weschkalene fuhr fort, und ihre Stimme zitterte dabei ein wenig. »Da kam so ein junger forscher Heideläufer täglich in unser Haus ... und eines Abends begleitete ich ihn ein Stück Weges auf seinem Heimweg. Meine Eltern hatten schon zu mir gesagt: ›In Gottes Namen, Kind, wenn du den Mann lieb hast‹ ... und da hat der Heideläufer den Arm um mich gelegt und hat mich geküßt und hat mir närrische Dinge ins Ohr geflüstert ... Ich müßte noch ein paar Jahre warten ... Ich habe gewartet. Gestern abend sind es achtunddreißig Jahre geworden.«

»Und vor vierzehn Tagen hat mich derselbe Heideläufer wieder umgefaßt und hat mich geküßt und hat mir etwas ins Ohr geflüstert, was ich nicht recht verstanden habe. Ich glaube, von der alten Liebe, die nicht rostet. Ich wollte mich bloß erkundigen, ob ich mich nicht verhört habe.«

Der Hegemeister hatte seine Pfeife ausgehen lassen und beiseite gestellt. »Weschkalene, wir sind beide alt geworden, ich bin siebzig Jahre.«

»Bloß fünf Jahre älter als der Forstmeister, der sich ein junges Weib geheiratet hat. Adam, eine Frau vergißt nie, sie vergibt alles, aber sie vergißt nichts. Ich habe deine vier Söhne und deine Tochter über die Taufe gehalten und freue mich über jeden Brief, den ich von ihnen bekomme. Da habe ich während der Hochzeit einen Brief von deinem Ältesten, dem Fritz, bekommen. Er schreibt: Tante Georginne, wir haben gehört, daß Wera wieder heiraten wird. Was soll dann aus unserem alten Herrn werden, wenn er Pension nimmt?«

»Das ist nicht richtig, die Wera wird nicht heiraten.«

»Wollen Sie Ihre Hand dafür ins Feuer legen, Adam?« Sie nahm seine Hand. »Adam, ich weiß, daß Sie in der Nacht etwas im Krönchen hatten. Wenn Sie das, was Sie damals mir sagten, jetzt als 'ne Dummheit ansehen?«

Er legte seine andere Hand auf die ihre. »Nein, Georginne, nein. Ich habe meine verstorbene Frau von Herzen lieb gehabt. Sie wissen ja, daß ich neun Jahre um sie geworben habe. Aber wie ich Sie auf der Hochzeit so sah, in der Tracht, in der ich Sie damals gesehen und geküßt habe, da wachte etwas in mir auf ...«

»Wo? Im Kopf oder im Herzen?«

»Das wird wohl aus dem Herzen gekommen sein, denn der Kopf war ziemlich ausgeschaltet.« Georginne zog ihre Hand zurück und stand auf.

Ein schelmisches Lächeln lag auf ihrem Gesicht. »Herr Hegemeister Krummhaar, ich kann nicht mehr sagen: sprechen Sie mit meinen Eltern. Nein, schreiben Sie an Ihre Söhne, daß Sie auf Ihre alten Tage, wenn Sie Pension nehmen, mit der Tante Georginne zusammenziehen wollen. Sie müßten sich allerdings mit mir der bösen Welt wegen in aller Stille von dem Standesbeamten trauen lassen.«

Jetzt sprang der alte Herr auf und faßte sie um. »Georginne, ist das dein Ernst?«

»Ja, mein Adam ... aber nun ganz vernünftig, wie es sich für zwei so alte Leute schickt.«

Hand in Hand saßen sie nebeneinander auf dem Sofa. »Meine Kinder wissen es schon ... Dein Fritz auch. Er freut sich schon darauf, mich als liebe Mutter anreden zu können.«

»Ja, ja«, meinte der Hegemeister lachend. »So was kommt von so was ... ein Urgroßvater, der sich ein junges Weib nimmt. Da ist der Forstmeister ja noch der reine Waisenknabe gegen mich. Georginne, ich bitte dich bloß um eins: den Mund halten, bis wir auf dem Standesamt sind.«

»Das will ich dir versprechen, Adam. Aber nun wollen wir uns mal darüber klar werden ... Du nimmst zum Frühjahr Pension.«

»Einverstanden.«

»Die Wera heiratet im Winter.«

»Das stimmt nicht. Das weißt du noch nicht ... die Wera ist nicht Witwe ... ihr Mann lebt noch.«

»Das ist mir egal, die Wera heiratet im Winter.«

Der Hegemeister schüttelte den Kopf, aber er wagte keinen Widerspruch mehr. »Der Forstmeister nimmt auch zum Frühjahr Pension.«

»Da bist du sehr im Irrtum, den kenne ich besser.«

Georginne lachte über das ganze Gesicht ... »Ich habe es ihm geschrieben. Er muß doch Weschkallen übernehmen. Ich habe mich genug gerackert in meinem Leben, ich will noch ein paar Jahr Ruhe haben. Ich habe gestern den Platz neben der Kirche in Lasdehnen gekauft... da wird uns der Krause ein hübsches Häuschen hinsetzen. Wenn wir von der Hochzeitsreise zurückkommen, ist es fertig.«

»Hochzeitsreise?«

»Jawohl... Du sollst es nicht schlechter haben als mein Schwiegersohn. Wir machen genau dieselbe Reise.«

Krummhaar legte den Arm um sie: »Georginne, du bist doch ein Prachtweib.«

»Ja, aber ich mußte so alt werden, um das zu hören. Aber nun sind wir ja beide im reinen, nun ruf' mir mal die Wera 'rein.«

»Mit wem willst du sie denn verheiraten?«

»Das weiß ich noch nicht ... erst muß ich mir mal Klarheit verschaffen, was denn überhaupt mit ihr los ist. An den Mann glaube ich nicht ... Du kannst inzwischen zum Assessor 'rübergehen, damit ihm nicht die Zeit lang wird. Aber gib dich nicht gleich als glücklichen Bräutigam zu erkennen.«

»Komm mal her, mein Kind«, sagte sie zu Wera, die mit verlegener Miene hereintrat. »Komm, setz' dich hier neben mich. So, mein Kind, ich habe etwas sehr Wichtiges mit dir zu besprechen. Du hast leider keine Mutter mehr, da mußt du schon denken, ich wäre deine Großmutter, der du dein Herz öffnen sollst.«

Mit unbewegter Miene saß Wera, hochaufgerichtet, neben ihr. »Ich wüßte nicht, was ich Ihnen anzuvertrauen hätte.«

»Ich will mich nicht in dein Vertrauen drängen, mein Kind, aber zwischen Frauen bespricht sich so etwas leichter.«

»Ach, Sie kommen wohl im Auftrage des Herrn Assessors?«

»Du hast dich wohl versprochen. Wolltest du nicht Mooslehner sagen?«

Weras Gesicht war in einem Augenblick wie mit Blut übergossen. Sie erhob sich schnell. »Weschkalene, an mir werden Sie sich keinen Kuppelpelz verdienen. Ich bin eine verheiratete Frau.«

Weschkalene stand auf und faßte sie um. »Kindchen, daran glauben bloß die Männer. Mir müssen Sie das nicht erzählen ... ich bin schon zu alt dazu. Und ich weiß, was das heißt, einen Mann lieb haben, mehr zu lieben als das eigene Leben.«

Sie zog sie an der Hand nach dem Sofa. Wera folgte ihr willenlos. In ihr schrie es ... »'raus aus der Lüge« ... Schluchzend barg sie ihr Gesicht an der Schulter der alten Frau, die ihr sanft mit der Hand über den Kopf und die weißen Backen strich.

Dann kam es leise wie ein Hauch von ihren Lippen: »Tante Weschkalene ... ich habe keinen Mann ... mein Kind hat keinen Vater.«

Fest legten sich die Arme der alten Frau um sie ...

»Ich habe das alles erfunden. Erst die Witwenschaft aus Angst vor dem Großvater und dann den Mann, als Mooslehner um mich warb. Ich konnte es ihm doch nicht sagen.«

»Das verstehe ich alles«, sagte Weschkalene ruhig und ein gütiges Verstehen lag in ihrer Stimme. »Du hast ihn sehr geliebt?«

»Mehr als mein Leben ... Er war Inspektor auf dem Gut ... gegen Abend kam die Bande vor das Schloß gezogen ... Die Männer schossen aus den Fenstern ... Die Bande wich zurück ... Eine Viertelstunde später flammten die Wirtschaftsgebäude auf ... Ich lag in meinem Zimmer auf den Knien und betete. Da kam er zu mir 'rein, einen Streifschuß an der Stirn. Ich sprang auf und wischte ihm das Blut ab... Wera, sagte er zu mir, das wird unsere letzte Nacht sein.«

Weschkalene bog sich zu ihr und küßte sie auf die Stirn... »Du armes Kind, du... brauchst mir nichts mehr zu sagen.« In fester Umarmung saßen die beiden Frauen lange. Dann beugte sich Weschkalene zu Veras Ohr. »Ist er gefangen oder tot?«

»Tot ... Er hatte einen Schuß durch die Brust bekommen... Am Morgen kamen die Revaler Dragoner und befreiten uns.«

 

Die Schatten der Dämmerung erfüllten das Zimmer. Georginne stand auf. »Laß die Toten ruhen, mein Kind. Das Leben hat auch sein Recht auf dich. Du bist jung und schön. Der Assessor ist in dich verliebt bis in die Fingerspitzen. Sei offen zu mir, ich stehe dir näher, als du vermutest.«

»Nein, Tante ... der Assessor hat nichts bei mir zu hoffen.«

»Na, dann ist es der Mooslehner. Ich bin sehr mit dir einverstanden. Art paßt besser zu Art.«

»Tante, nein, ich heirate nicht ...«

»Das überlaß du ruhig mir, mein Kind. Das Leben ist so lang ... und du brauchst einen Vater für deinen Jungen. Nun weine nicht. Unsere Tränen müssen bloß mal laufen, wenn sie nötig sind für den Mann ... oder still im Verborgenen. Gute Nacht, mein Kind.«

»Gute Nacht.«


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