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15.

Sara denkt nur an das eine. Das heißt, sie denkt nicht direkt daran; sie umkreist es und sieht nichts scharf; die eine Einzelheit unterscheidet sich nicht von der anderen; sie wagt nicht, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen, will sie nicht sehen. Das Ganze fließt in ein Halbdunkel zusammen, und darüber brüten ihre Gedanken.

Dieser grübelnde Ausdruck liegt beständig auf ihrem Antlitz und verändert sich nur in Gegenwart anderer. Dann heuchelt sie eine Munterkeit, als ob alles in bester Ordnung sei.

Eines Tages sitzen sie und Boel in der Küche bei einem Täßchen Vormittagskaffee; es ist Waschtag.

Maren, die Wiesenhofbäuerin, die Sara beobachtend aus- und eingegangen ist, öffnet die Tür und ruft sie zu sich herein.

»Ich möchte dich etwas fragen,« sagt die Hausmutter und schreitet einmal im Zimmer auf und ab.

Sara beißt die Zähne zusammen und runzelt die Brauen. Sie wappnet sich.

Maren bleibt vor ihr stehen, und indem sie ihre Gestalt von oben bis unten mustert, sagt sie:

»Es ist doch nichts mit dir los?«

»Mit mir!« – Wie kommst du auf die Idee!«

Maren richtet ihren Adlerblick auf sie: »Bist du schwanger?«

»Nein!« ruft Sara ihrer Hausmutter ins Gesicht. Ihre Augen sind ganz wild vor Haß und krankhafter Erregung, so daß die resolute Wiesenhofbäuerin zurückweicht.

»Ihr könnt mir ja wohl glauben, wenn ich es Euch sage! – Es ist fürchterlich, daß Ihr mich nicht in Ruhe lassen könnt!«

Sara sieht sich selber nicht mehr ähnlich.

Marens Mundwinkel ziehen sich nach unten.

»Du bist, weiß Gott, trotz alledem 'ne rechte Bergdirne!« sagt sie höhnisch.

Da zeigt sich ein merkwürdiges Zucken in Saras Antlitz, sie ballt die Fäuste und krümmt den Rücken, und die arme Bergdirne sieht die Wiesenhofbäuerin derartig an, daß dieser angst wird und sie hastig sagt: »Du kannst jetzt gehen!«

Sara fährt hinaus ins Brauhaus. Sie reißt die eiserne Tür der Feuerstelle unter dem Waschkessel auf; das rot-gelbe Licht fällt auf die draußen lagernde graue Asche und auf Saras sprühende Augen und rote Arme, und nachdem sie Reisig und dicke Wurzelenden hineingestopft hat, schlägt sie dir Tür krachend zu.

Boel blickt nach ihr hin. Sara fliegt an das Waschfaß, reibt und reibt, auf und ab an dem zinnernen Waschbrett, daß ihr der Schweiß von den Augenwimpern tropft.

Sie arbeitet, als gälte es das Leben. Es ist etwas da, das sie verschlingen, sie in den Abgrund hineinzerren will. Sie hält sich nur noch aufrecht durch Arbeit; je mehr es zieht und zerrt, desto mehr arbeitet sie. Über diesem Abgrund brüten ständig ihre Gedanken.

Wenn sie hin und wieder mit dem Rücken der Hand das Haar zurückstreicht, blickt sie seitwärts hinauf, und es liegt ein tiefer Schmerz, es liegt Verzweiflung in diesen Augen.

Ein Wäschestück nach dem anderen wandert hinüber in die Spülwanne. Die Haut löst sich von ihren verschrumpften, halb verbrühten Fingern, sie achtet nicht darauf.

Boel läuft hinaus, um zu melken; sie muß das heute allein besorgen. Inzwischen spült Sara, taucht die nasse Wäsche in das klare Wasser und hebt sie dann hoch empor, damit das Wasser abläuft – erst die groben grauen Stücke für die Knechtekammer, und danach die weißen Linnenlaken, die so fein gewebt sind, daß das blanke Wasser an ihnen herabrinnt. Nachdem sie damit fertig ist, packt sie den Rand des Fasses und wälzt das riesige Gefäß auf die Seite, so daß das Wasser in einer großen Woge sich über die Steindiele ergießt.

»Oh–h!« ruft sie beinahe laut und greift sich an die Hüfte. Sie muß sich aus die Wäschebank setzen, solche Schmerzen verspürt sie.

Nachdem sie aber vorüber sind, kommt ein Augenblick, da das verstörte in ihrem Antlitz wie von milder Hand hinweggewischt erscheint und ihr Blick ganz ruhig wird.

Sie hat nämlich gespürt, wie sich ein lebendes Wesen in ihrem Innern umgekehrt hat.

In diesem Augenblick existiert für sie weder Himmel noch Erde – nur Glück, Glück, ein reiches Glücksgefühl, das ihr zum Herzen strömt.

Sie fühlt sich so stark und mutig. Sie durchbricht alles, sie fegt sie alle zur Seite.

Was können sie ihr in Wirklichkeit anhaben; sie ist in ihrem Recht, wie eine leuchtende Fackel schwebt es vor ihr her. – Sie sieht sich selbst und ihre Zukunft. Ein kleines Zimmer, in dem auch die Kommode des Tischlers Lars ihren Platz hat, ein kleines, gemütliches Zimmer, wo sie mit ihrem Kinde auf dem Schoß sitzt. Oh – niemand in der Welt ist so glücklich wie sie ...

Aber da hört sie Boel und Maren kommen von verschiedenen Seiten.

Ihr Ausdruck verwirrt sich von neuem. – Es ist die Schande, die Schande, die Schande! – Und ihre Eltern! ach, daß sie die Ursache all des Elends sein muß, das über sie hereinbrechen wird ... Nein!

Und wieder umfängt sie die Dunkelheit von allen Seiten. Das Ganze war nur wie ein Lichtschimmer, der auf einen sonst nächtlich dunklen Weg fällt.

*

In einer Nacht zur Zeit des Frühlingsanfangs tritt Sara hinaus aus dem Tor des Wiesenhofes. Mit schweren Schritten geht sie die Allee hinunter.

Nach kurzem Bedenken wendet sie sich zur Rechten und schreitet ganz still die Landstraße entlang, die an den Hallumer Höhen vorbeiführt. Bei Flint-Christians Haus schlägt sie plötzlich links den Feldweg ein, der sich bis an den Fuß der Berge hinzieht.

Von dort aus führen Wege nach verschiedenen Richtungen, außer dem Fußsteig, der am Weidenhäuschen endet. Sie zögert; eigentlich weiß sie selber nicht, was sie will.

Da plötzlich stöhnt sie laut auf und jammert; sie setzt sich auf einen Hügel, ächzt und wiegt den Oberkörper hin und her.

Als aber die Schmerzen vorüber sind, richtet sie sich auf und schreitet den Fußsteig entlang, als hätte sie einen Entschluß gefaßt. Die weißgetünchten Mauern des Weidenhäuschens sieht man vom Bergabhang herabschimmern.

Aber in dem Augenblick, da sie die Hand an die Türklinke legen will, bleibt sie wie erstarrt stehen. Sie taumelt ein paar Schritte rückwärts. Sie kann nicht hineingehen durch diese Tür.

Sie wendet sich der östlichen Seite des Hauses zu. Dort reicht das Strohdach so weit herab, daß sie es mit ausgestreckter Hand erreichen kann. Die niedrige Mauer mit den gewölbten Flächen zwischen den schiefen Trägern und Pfosten – wie genau kennt sie jede Einzelheit –, auf jenem Nagel dort pflegen des Vaters Socken zum Trocknen aufgehängt zu werden.

Sie schleicht um das Haus herum, aber vermeidet es, sich vor den Fenstern zu zeigen. Die alte, an der Südseite wachsende Weide sieht aus wie ein Gespenst. Sie geht auf die Nordseite zu, wo eine Torfschicht am Fuße der Wand aufgestapelt ist, um die Erdmassen etwas gegen den Wind zu schützen und festzuhalten. Dorthin setzt sie sich und lehnt das Haupt fest an die heimatliche Hütte; auf der anderen Seite der Lehmwand stehen die Betten der Eltern.

Dann beginnen die Wehen von neuem. Sie beißt die Zähne zusammen, um den Schmerz zu bezwingen. Sie schrumpft zusammen und wird zu einem kriechenden Klumpen.

Nach einer Weile steht sie wieder auf und eilt davon, eilt fort vom Weidenhäuschen, gen Osten zu.

Hier wandert sie nun umher, bald auf diesem, bald auf jenem Wege, auf und ab, auf und ab. Sie ist der einzige Mensch dort in den Bergen.

Plötzlich steht sie vor der Mergelgrube des Skarpholtmannes, diesem dunklen Loch, das schon so viele Unglückliche in sich aufgenommen hat.

Und da rauscht es ihr heiß vor den Ohren. – Sie sinkt hinein ins Heidekraut. Ein Schrei tönt durch die einsame, öde Nacht, daß die kleinen Vögel erschreckt auf- und davonfliegen, ein Schrei, in dem das Weh der ganzen Welt zu liegen scheint.

– – – Auf einmal hat sie ein Gefühl der Erleichterung. Ohne zu sehen, was es ist, stößt sie mit einer Bewegung der Hand etwas in die Grube hinunter, aus deren Tiefe ein deutliches Plumpsen zu ihr herauftönt.

Darauf schwankt sie davon, so schnell die Beine sie tragen können; doch dann und wann fällt sie, wenn ihr Fuß gegen eine Wurzel oder einen Hügel stößt.

So irrt sie umher, bis im Weidenhäuslein Licht angezündet wird und sie die Gestalt ihres Vaters mit kleinen trippelnden Schritten seiner steifen Beine auf dem nordöstlichen Fußsteig sich hat entfernen sehen.

Dann schleppt sie sich bis an die heimatliche Hütte.

Die Mutter entsetzt sich. Aber Sara ist ganz ruhig und sagt, daß sie einige Tage krank gewesen ist, und da habe Maren, die Wiesenhofbäuerin, gemeint, daß es am besten wäre, wenn sie eine Zeitlang nach Hause käme.

Sie geht sofort zu Bett und schläft augenblicklich ein.

Der Mutter Mißtrauen ist indessen wach geworden; sie untersucht Saras Kleidung. Und in dem Augenblick wo sie Blutflecke entdeckt, wird sie so weiß wie eine Kalkwand. Jegliches Leben erstirbt auf ihrem Antlitz. Das ist das Entsetzen.

Und dann läßt sie sich in einen Stuhl fallen.

Es dauert nicht lange, da erscheint ein Bote vom Wiesenhof, ob Sara hier sei, denn die Nacht über sei sie nicht zu Bette gewesen.

Es ist kein Zweifel mehr möglich.

Ach du lieber Himmel! Und Jakob ist nicht zu Hause.

Sie schickt den kleinen Paul zum Vater. Sara schläft fest und ruhig. Aber Dortes Züge drücken das Entsetzen aus.

Sie geht aus und ein. Die meiste Zeit steht sie am Hausgiebel und späht, ob Jakob nicht bald zu sehen sein sollte.

Als ob ihr das Rettung bringen könnte. – –

Schließlich sieht sie, wie er angehumpelt kommt, mit der einen Hand an der schmerzenden Hüfte. Er läuft so schnell er kann; denn es ist in den vierzig Jahren, die er nun im Weidenhäuschen gewohnt hat, niemals vorgekommen, daß man einen Boten nach ihm gesandt hat; es muß daher etwas ganz Fürchterliches geschehen sein. –

»Es ist wohl etwas los mit Sara?« fragt er atemlos.

»Ja!«

»Sie soll doch nicht –?« er blickt hinauf zu seiner Frau.

»Es ist noch schlimmer.«

»Ein Kind?«

»Ach es ist viel, viel schlimmer, Jakob. O, du lieber Gott im Himmel!« ruft Dorte verzweifelt.

Jakob Weidenhäusler beugt sein Haupt. Einen Augenblick schweigt er, dann sagt er leise: »Nun ist es also doch gekommen. Ich habe immer gedacht, es könnte uns wohl kaum immerfort so gut gehen. Es müßte ein Unglück kommen! – Aber nun waren schon so viele Jahre darüber hingegangen.«

Sie gehen hinein. Sara schlägt die Augen auf und blinzelt. Sie kann wohl nicht recht begreifen, daß sie hier zu Hause liegt, hier drinnen im Weidenhäuschen. Aber als sie sieht, wie traurig die Eltern dasitzen, verfinstert sich ihr Blick.

»Es ist wohl am besten, du sagst alles, wie es ist, Sara!« beginnt die Mutter.

»Was denn?« Sara versucht, sich zusammen zu nehmen.

»Wo warst du heute nacht?«

»Heute nacht?!« Sara will nicht nachgeben.

Aber da geht Jakob auf sie zu. Er setzt sich auf den Bettrand und ergreift ihre Hand.

»Mein liebes Sarachen!« sagt er so innig und weich.

Es bedarf keiner Worte weiter. Beim Klang dieser milden Stimme schmilzt der Eispanzer, mit dem Sara ihr Herz umgürtet hat. Laut aufschluchzend wirft sie sich dem Vater an den Hals.

Jakob bleibt auf dem Bettrande sitzen und hält Saras Hand in der seinen.

Dort sitzt er lange, lange, und still und unaufhaltsam rinnen ihm die Tränen an den Wangen herab.

Zuletzt küßt er sie.

Ein freudiges Schluchzen entringt sich dabei Saras Brust.

In derselben stillen Weise bittet Jakob um seinen Sonntagsanzug.

Dem Recht und dem Gesetz muß Genüge geschehen, wenn auch die Menschen noch so sehr darunter leiden müssen. Er will hinuntergehen und mit dem Hardesvogt sprechen – das ist übrigens solch ein netter Mann. Es wird nichts weiter gesprochen.

Doch Jakob nähert sich Sara, bevor er geht. Er kann merken, daß ihre Augen sehnsüchtig jeder Bewegung folgen. Er blickt sie voll innerer Güte und Barmherzigkeit an.

Aber Jakobs Mundwinkel zittern dabei.

Dann tritt er seinen schweren Gang an hinauf über die Hügel; schwer sind seine Füße, und tief traurig ist sein Gemüt.

»Ach ja!« seufzt er aus tiefster Seele. »Das Schicksal trifft uns alle, alle!«


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