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8.

Am nächsten Morgen, als Sara die Augen aufschlug, war sie im selben Augenblick ganz wach, ihr Gehirn so scharf und klar, als sei ihr ein großes Glück oder Unglück widerfahren. Wie ein Blitz durchfuhr es sie, daß etwas ganz Außergewöhnliches geschehen sei, weit über die Grenzen dessen hinaus, das sie bisher gekannt hatte.

Etwas, das nie wieder ungeschehen zu machen war. Und etwas, von dem niemand in der Welt etwas wissen durfte, außer ihr und Anders. Es war etwas Geheimnisvolles, das sie beide noch enger aneinander kettete: ihr teueres Geheimnis, das sie verband gegen alle Vernunft.

Sie hatte ihm alles gegeben. – –

Und sie lächelte, von Glück berauscht, bei diesem Gedanken. Sie und Anders waren nicht mehr zwei Wesen. Sie schloß die Augen in Erinnerung an das vertraulichste zwischen zwei Menschen, das Zärtlichste, das Seligste, das sie jemals erlebt hatte ...

Aber dann fuhr es wie ein eisiger Kälteschauer durch das Ganze. Was hatte sie verloren, verloren für ewige Zeiten!

Sie fühlte sich allein draußen, wo die Stürme brausen, wo das Unwetter unerbittlich über den Geschöpfen dieser Erde tobt. Und die Angst malte sich auf ihrem Gesicht – wie der Schatten von etwas Dunklem, das über unserem Haupte daherbraust.

Aber mochte es nun Glück oder Unglück sein; auf alle Fälle bedeutete es einen Schritt tiefer hinein in das wunderbare Leben. Einen Schicksalsschritt vielleicht.

All dieses durchfährt auf einmal ihre Nerven, zittert durch ihr Wesen. Es erhöht das Lebensgefühl.

Sie springt aus dem Bett; noch länger darin zu liegen, ist ihr unmöglich.

Sie schlüpft in einen grauen Unterrock mit roten Streifen, und dann, erfaßt von einem plötzlichen Gedanken, eilt sie zum Spiegel.

Ob ihr wohl irgendeine Veränderung anzumerken ist? Sie streicht sich über das Gesicht und schaut. Sie kann nichts entdecken, keine Spur.

Sie bindet ihren Rock, während sie dasteht und tief nachsinnt.

Wieder muß sie zum Spiegel hin; sie hat keine Ruhe. Sie führt die Finger über die Augen und starrt ihr Bild an, als sei es das einer Fremden; sie selber kann keine Veränderung entdecken ...

Boels Holzschuhe ertönen draußen auf dem Pflaster; nun schlägt sie ein paar donnernde Schläge an die Tür. Sara muß sich beeilen.

Doch erst noch einen Blick auf den Fjord werfen! Von ihrem Fenster aus kann sie ihn zwischen zwei Pappelstämmen sehen, und das erste, was sie am Morgen tut, ist stets, auf den Fjord hinaus zu blicken; es ist etwas Eigenartiges an ihm, er zieht den Blick an. Aber heute hat sie es vergessen.

Noch schnell einen Blick hinaus, bevor sie geht. Unten, über den Strandwiesen, schweben leichte Morgennebel. Die Sonne hat noch nicht die Übermacht; ihre Strahlen funkeln im Tau, der an den Grashalmen hängt. Es ist noch Dämmerung in der Luft. Die Schiffe spiegeln sich trotzdem im Wasser, bis hinauf an das weiße Topsegel. Sie gleiten noch nicht vorwärts, sie schlafen gleichsam noch, oder sie werden festgehalten auf dem blanken Wasser und sind versunken in Träumereien.

Solch ein kleines Bild wirkt auf Saras Seele wie ein Ton.

Boel und sie gehen miteinander über den Hof, jede mit ihrem Milcheimer auf dem Arm. Sara hat Boel noch nicht angesehen; sie kann sich nicht dazu entschließen und weiß daher nicht, wie Boel aussieht, oder woran sie denkt. Aber sie fürchtet ihre Zunge, und sie ist froh, daß sie schweigt. Die helle stille Morgenluft, die sich auf sie herabsenkt, macht stumm.

Und nachdem sie zu melken begonnen haben, singt Boel auf ihre eigene Art: gurgelnde Laute ohne Melodie. Da begreift Sara, daß Boel nichts Besonderes bemerkt hat, und während die Strahlen von den Eutern schäumend und dampfend in die süße Milch hineinprasseln, gibt sie sich ihren heimlichen Gedanken hin.

Aber als sie beide einmal gleichzeitig den Eimer in das große Meiereifaß leeren, fragt Boel: »Wie hast du dich denn gestern amüsiert?«

»Danke,« antwortete Sara ausweichend, »gut!«

»Ja, ich hörte wohl, als ihr heimkamt.«

»Na,« denkt Sara.

Aber Boel fügt nur hinzu: »Deshalb brauchst du doch wirklich nicht rot zu werden, ha, ha!«

Sobald das Melken und der Morgenimbiß vorüber sind, soll Sara die Zimmer säubern. Es ist ihr heute nicht lieb, der Wiesenhofbäuerin zu begegnen. Sie gibt sich daher die äußerste Mühe mit allen Ecken und den anderen Schwierigkeiten, damit die Hausmutter nichts findet, das ihr Veranlassung zu einem bösen Worte geben könnte.

Es gibt einen Ruck in ihr, als die Wiesenhofbäuerin eintritt. Sara hört sie nicht kommen, denn die Türen stehen offen, und Maren geht in lautlosen Pantoffeln. Und sie sieht sie auch nicht, doch merkt sie an sich selber, daß sie nun gerade hinter ihr steht.

Die Wiesenhofbäuerin besieht sich verschiedenes. Sara kann ihre Bewegungen hören; es ist ihr, als zögere sie so lange. Nun räuspert sie sich! Sara errötet und kehrt ihr ständig den Rücken zu, während sie sich fieberhaft beeilt.

Doch die Hausmutter entfernt sich, und Sara wendet sich so viel, daß sie ihr scharfes, kräftiges Profil zu sehen bekommt.

Erleichtert atmet Sara auf.

Bald darauf kehrt die Frau jedoch zurück und sagt: »Höre, Sara, ich möchte etwas mit dir besprechen.«

So, nun kommt es.

»Sieh, unser Garten ist ein wenig vernachlässigt, und nun habe ich gedacht, daß du das übernehmen könntest. Du wirst gewiß Zeit dazu finden. Du bist ja sehr tüchtig!« fügt sie, so freundlich es ihr nur möglich ist, hinzu.

Da kehrt Sara sich schnell um und antwortet froh: »Ja, das kann ich gut!«

»Schön. Das ist also abgemacht – ich werde dich schon schadlos halten.«

Die Wiesenhofbäuerin entfernt sich von neuem, und Sara sinkt auf einen Stuhl mit dem Staubtuch in der zitternden Hand.

»Ach, Gott sei Lob und Dank!«

Es kommt Ruhe über Sara. Sie geht hin, betrachtet sich im Spiegel und ordnet etwas an ihrem Haar.

Plötzlich verschwindet sie hinaus in den Gang, wo Anders seine Kammer hat. Natürlich, sie hatte es sich ja gleich gedacht; sein Zeug liegt noch da, wo er es heute morgen beim Ausziehen hingelegt hatte, staubig und feucht von Schweiß. Sie hängt es auf den Gartenzaun, breitet es auseinander in der Sonne und eilt wieder hinein.

In diesem Augenblick gleitet Niels, der Wiesenhofbauer, durchs Zimmer. Er bleibt stehen, sieht sich ringsum und nähert sich Sara.

»Du bist ein wackeres kleines Mädchen!« sagt er und streichelt sie freundlich.

Welche Ähnlichkeit Anders Stimme mit der des Vaters hat!

Niels schlingt den Arm um Sara und flüstert ihr etwas zu. Aber sie schüttelt ihn hastig und energisch von sich ab.

»Na, na, na,« murmelt er und stolpert aus dem Zimmer.

Da die Mannsleute beim Heuen sind, so kommt sie nicht mit Anders in Berührung vor dem Mittagessen. Sie sieht ihn nicht an. Erst als rings umher eifrig von gleichgültigen Dingen geredet wird, wagt sie es, vorsichtig den Blick zu ihm zu erheben.

Er lächelt ihr zu mit einem so guten, stillen Lächeln, das von niemand bemerkt wird. Sie erwidert es nicht, senkt aber den Kopf und bewahrt dieses Lächeln in ihrem Herzen wie eine zärtliche Liebkosung.

Dann hört und sieht sie nichts mehr von dem, was um sie her geschieht. Sie denkt nur an das, von dem niemand hier etwas weiß, das niemand kennt und niemand versteht.

Niemand außer ihr und Anders.

Nach dem Essen findet Anders Gelegenheit, ihr die Hand zu drücken, und ein geheimer Freudenstrom durchrinnt dabei ihre Brust.

Aber als er sie küßt, ist es ihr, als sei an diesem Kusse etwas, das nicht sein sollte.

Sie schaut ihm beim Fortgehen nach, sieht seinen weichen, leicht wiegenden Gang, der ihm so gut steht, wie sie meint; und die Locken, den Hals und die Ohren. Sie fühlt einen fast unwiderstehlichen Drang, diesen Körper von oben bis unten zu liebkosen.

Während der Mittagsstunde schlafen alle im Wiesenhofe, sogar »Thor« schnarcht im Schatten der großen Ulme mitten im Hofe, nur dann und wann von Flöhen gestört.

Aber Sara kann nicht schlafen. Sie geht zur Weißdornhecke und bürstet Anders Zeug. Sie schleicht hinein und holt die Benzinflasche, um einige Flecke zu entfernen. Sie liebkost beinahe das Zeug; und nachdem es nun so gut und rein geworden ist, hängt sie es im Korridor auf. Dort kann er es dann selber nehmen; sie lächelt glücklich dabei.

Und dann hüpft sie wieder hinaus und geht in den Garten, wo sie sich auf eine Bank niederläßt, mit dem Vergißmeinnicht und den Herzblümchen vor Augen und daneben das Rosenbeet und der feine rote Flachs, der so innig still und warm aussieht.

Dies ist der Garten der Glücksträume.

Sara ist wirklich hübsch. Sie selber steht in Blüte. Die Sonne spielt in ihrem goldenen Haar und küßt ihre reifen Lippen, und aus ihren großen blauen Augen glänzt Unschuld und Reinheit ihrer jungen Liebe.

Am Nachmittag wird Heu eingefahren. Es sind zwei Wagen unterwegs. Während der Großknecht Sören in der Wiese auflädt, lädt Anders daheim in der Scheune ab. Sie begegnen sich meistens auf halbem Wege und fahren mit dem leeren Wagen so schnell, daß die Ketten rasseln und der Heubaum zwischen den Pferden hin und her hüpft, so daß man das Rummeln des Erntewagens weit hinaus über die Felder hört.

Die Knechte gabeln das Heu hinauf auf den Heuboden, von dort befördert Boel es mit der Heugabel weiter bis hinein ins Halbdunkel, wo Sara steht, die es dem Häusler Mads zuträgt, der es zusammenpreßt und ganz hinein in die dunklen Winkel stopft, bis hinauf unter den Giebelbalken, wo er zwischen den Spinngeweben umherkriecht.

Jeder hat es eilig und alle sind in der besten Laune; sie lächeln und nicken sich zu und treiben allerhand Possen. Sie haben so viel überflüssige Kraft, diese Menschen; sie spielen. Es ist ein eigenartiges Vergnügen, das Heu unter Dach zu schaffen, namentlich wenn es so trocken und gut ist wie an diesem Tage.

Und wie es duftet! Da ist das Riedgras von der oberen Wiese des Hofes; übrigens ist es ein Gemisch von Düften von hundert verschiedenen Gräsern und Kräutern zugleich. Die Essenz ist geblieben. Nachdem der Körper dahingemäht ist, atmet noch jede Blumenseele ihren ganz besonderen Duft aus. Und das Leben der Wiese ist darin enthalten, wiedererstanden in verfeinerter Weise sind die lieblichsten Würzen der Welt, herrlicher und wohlriechender als alle köstlichen Wasser auf der Königin Toilettentisch.

Dieses Heu umfangen diese Menschen und begraben ihr Antlitz darin; sie verlieren unterwegs von dem Überfluss; sie schlingen, schlucken diesen köstlichen Heuduft, der über Felder und Teiche, über Wälle und Fußsteige des Wiesenhofes strömt.

Dieser Dunst steigt ihnen zu Kopf; sie werden ganz verrückt. Knecht und Mädchen können sich nicht begegnen im Heu, ohne sich gegenseitig anzustoßen.

»So nimm doch!« ruft Sören, der Großknecht, oben auf dem Fuder.

»Hallo, mein Freund! Ich werd' schon das nehmen, was du mir zustecken kannst!« antwortet Boel übermütig und lädt einen ganzen Haufen auf ihre Gabel, so daß die Halme niederrieseln und in den Kleidern, dem Haar, den Ohren, dem Mund hängen bleiben. Aber Boel pustet, ruft nur »hu–i« und stampft im Heu herum bis an die Knie.

Der Wiesenhofbauer bewegt sich vorsichtig unten in der Scheune; in kleinen Zwischenräumen begibt er sich ins Haus, um Bier zu trinken. Die Weste steht offen über dem Magen, und er genießt seine Pfeife in langsamen Zügen. Er muß in der Nähe sein; dieser Heuduft zieht ihn an. Es sind auch so viele Jugenderinnerungen damit verknüpft.

»Na, wieviel macht es denn aus, Mads?« ruft er zum Häusler hinauf.

»Was?« ruft Mads zurück; er ist ganz hineingekrochen in den hintersten Winkel, wie eine Maus.

»Wieviel es in diesem Jahre ausmacht?«

»O, es ist, weiß Gott, alles so fest und, voll, daß man kaum weiß, wo man damit hin soll – püh!«

»Du solltest nur 'mal zu uns 'raufkommen, Väterchen,« sagt Boel, »wir würden dir schon ordentlich die Seiten kitzeln, ha, ha, ha!«

»Hä, hä, – ich wag es nicht, Boel; ich wag es bei Gott nicht!«

»Wenn ich dich recht kenne, Wiesenhofbauer, dann wirst du wohl schon früher 'mal auf einem Heuboden gespielt haben.«

»Hä, hä, hä!«

Dann ruft Mads, der Häusler, von oben her aus seinem Mauseloch: »Wenn das so weiter geht, dann mußt du, hol mich der Satan, zum nächsten Jahre anbauen!«

Überall herrscht die vortrefflichste Stimmung.

Die Knechte sind in Hemdsärmeln; der Schweiß perlt nur so 'runter. Das Blut hämmert in den Schläfen stärker, immer stärker nach jedem Fuder. Sie sind vergnügt, ausgelassen, halb wild; denn das Heu ist so prächtig geraten; und wie es duftet! Sie feuern die Pferde an, die mit erhobenen Mähnen und weit aufgerissenen Nüstern dahinjagen und den Heuduft einsaugen. Der leere Wagen rattert über das Steinpflaster, und von der entgegengesetzten Seite preßt das volle Fuder sich mit Mühe und Not durch das Tor.

So oft sie kann, beugt Sara sich vor, um Anders' Locken zu sehen, wenn er davonfährt. Im übrigen ist sie froh, so unbemerkt im Halbdunkel des Heubodens bleiben zu können, wo niemand sie sehen kann und niemand sie anredet, weil alle so beschäftigt sind.

Es kommt eine Ruhepause. Mit den Händen im Schoß sitzt sie in dem süßen, würzigen Heu und denkt an das, was sie erlebt hat – und doch geht alles so wie sonst seinen gewohnten Gang. Sie denkt an die Nacht, die vergangen, und an Anders' warme Lippen ...

Aber Boel, die sich ausgestreckt hat, so lang sie ist, muß natürlich ihr Mundwerk laufen lassen, und sie ruft mit einem Seufzer: »Wer jetzt seinen Schatz hier hätte, was, Sara!«

»Du bist wohl nicht recht gescheit!« antwortet Sara und kaut an einem Strohhalm.

»Was sagtest du eben, Boel?« fragt der Häusler von oben herunter.

»Ach, ich vergaß ganz, daß du auch noch da bist, ich sagte übrigens, daß – ja, du bist zu alt, Mads, ha, ha, ha!«

»Die alten Ochsen sind's, die die steifen Hörner haben, Boel, und ich bin, hol's der Satan, noch springlebendig!« Mads Feueraugen funkeln dort oben im Nest.

Dann steht wieder das volle Fuder in der Scheune; die Pferde prusten; ihnen ist wohl zu Mut, und der Großknecht Sören fragt, ob sie da oben wach sind, und schwingt dabei seine blanke Stahlforke.

Es wird Heu eingefahren bis zur Bettzeit. Sara sinkt müde in die Kissen. Sie horcht auf Fußtritte, achtet auf den kleinsten Laut. Aber trotzdem wünscht sie, er möchte heute abend nicht kommen.

Bald hebt und senkt sich ihre Brust in gesunden ruhigen Atemzügen.


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