George R. Sims
Erinnerungen einer Schwiegermutter – Zweiter Band
George R. Sims

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Dreizehnte Erinnerung.

Lavinia.

Ich hätte niemals geglaubt, daß meine Tochter Lavinia die beste Partie von der Familie machen würde, aber sie that es. Als Kind war sie ungewöhnlich zart, und ich habe mich fast über sie zu Tode geängstigt, denn sie bekam alles, was in der Luft lag, und war bis zu ihrem achtzehnten Jahre immerfort in den Händen des Doktors.

Aber obgleich so zart, war sie doch das munterste und ausgelassenste kleine Ding, das man sich denken kann. Niemals habe ich ein Kind gekannt, dem so viel zugestoßen wäre. Ehe sie sieben Jahre alt war, hatte sie sich beim Spielen mit Streichhölzern in Brand gesteckt; sie war aus dem Fenster des ersten Stocks aufs Dach des Gewächshauses gefallen und von da in den Garten gerollt, glücklicherweise, ohne sich ernstlich Schaden zu thun; sie hatte sich auf der Straße vor einem Laden den Fuß in ein eisernes Gitter geklemmt und mußte schreiend aushalten, bis ein Schlosser oder etwas Aehnliches geholt worden war und die Stange durchgesägt hatte, und sie war mit dem Kopfe zuerst in ein für ihre Schwester bereitetes heißes Bad gefallen. Sie behauptete immer, sie könne nichts dafür, sie thue nichts, um diese Unfälle herbeizuführen, und ich weiß nicht, ob das Kind nicht in gewisser Weise recht hatte. Aber daß sie vorfielen, ist Thatsache, sie war eben ein kleiner Pechvogel. Sie hatte das Pech, daß sie jede ansteckende Krankheit kriegte, die gerade herrschte, und sie hatte das Pech, daß ihr alle Unfälle zustießen, die Kindern zustoßen können.

Wir nannten sie auch jahrelang »Lavinia, der Pechvogel«, und ich war im stillen fest überzeugt, daß sie ihr ganzes Leben Unglück haben werde. Aber es kam anders. Sie hatte Glück in der Liebe, sie hatte das Glück, eine sehr gute Partie zu machen, und ich muß hinzufügen, sie hatte Glück in der Wahl ihres Gatten.

Sie und Charles Wigram – das ist der Name ihres Mannes – passen vorzüglich zusammen. Beide von ruhiger und liebenswürdiger Gemütsart, nehmen sie das Leben, wie es kommt, und gehen in der gelassenen und zufriedenen Weise durchs Dasein, die ein großer Segen für die ist, die es fertig bringen, es so zu nehmen.

Ich kann's nicht, ich habe es nie gekonnt und werde es nie können. Ich bin eine in hohem Grade empfindsame, nervöse Frau, und die geringste Kleinigkeit bringt mich aus Rand und Band. Auch arten mir meine Kinder in dieser Hinsicht nach; Lavinia ist die einzige Ausnahme. Sie ist so ruhig und gleichmütig wie ihr Vater, und da sie zart ist, müssen wir das als ein Glück ansehen. Wäre sie gewesen, was man einen »Grillenfänger« nennt, dann würde sie wahrscheinlich jung gestorben sein. Sie läßt sich nie aus dem Gleichgewicht bringen, und nun ist sie glücklich verheiratet und mit zwei reizenden Kindern gesegnet, die die ungewöhnliche Neigung zu beunruhigenden Zufällen von ihr geerbt haben. Wie oft sie um Haaresbreite ernsten Gefahren entgangen sind, wie sie Erkältungen, Masern, Keuchhusten, Ziegenpeter und andre Krankheiten gehabt haben, die gerade Mode waren, ist gar nicht zu sagen. Aber sie macht sich nicht so viele Sorgen um ihre Kinder, als ich mir um meine gemacht habe. Sie ist eine treue Mutter, aber sie nimmt es ein für allemal als feststehend an, daß alles schließlich gut abläuft, und sie geht durchs Leben, als ob sie, um mich dichterisch auszudrücken, auf Rosen wandle.

Eines Tages kam sie in den Garten ihres Landhauses und erblickte ihren fünfjährigen Jungen auf der obersten Sprosse einer hohen Leiter, die die Arbeiter beim Ausbessern des Daches hatten stehen lassen. Ich hätte geschrieen und die Hände gerungen. Meine Tochter Lavinia that nichts dergleichen. Sie blickte ruhig in die Höhe und sprach: »Du ungezogener Junge, gleich kletterst du aufs Dach, und da bleibst du, bis ich dich hole.«

Sie wartete, bis der Junge das an dieser Stelle flache Dach erreicht hatte, ging dann ruhig die Treppe hinauf und holte ihn durchs Bodenfenster herein.

Ich hätte so was nicht fertig gebracht, und wenn es mein oder des Kindes Leben gegolten hätte, aber das ist einer der Vorteile, wenn man keine Nerven hat und alles gelassen hinnimmt. Ich glaube, ihre vollkommene Ruhe in einem Augenblick großer Gefahr hat ihr den Gatten gewonnen, obgleich auch ihr unfreiwilliger Hang zu Unfällen etwas damit zu thun hatte.

Sie und ihre Schwester ritten eines Morgens in Begleitung ihres Reitlehrers spazieren, und sie trabte um eine Ecke, während der Stallmeister abgestiegen war, um einen Gurt am Sattel ihrer Schwester fester zu ziehen. Gerade als sie um die Ecke bog, ließ ein nichtsnutziger Junge einen Drachen dicht vor der Nase ihres Pferdes steigen, und dieses ging durch. Lavinia schrie nicht, sondern hielt sich so fest, als sie konnte, und versuchte, ihr Pferd zu zügeln, allein das Tier hielt nicht eher an, als bis es seinen Stall erreicht hatte, und dann rannte es durch die offene Thür, so daß sie sich fast flach auf den Rücken des Pferdes legen mußte, um der Gefahr zu entgehen, sich den Kopf am Thürbalken zu zerschmettern.

Sowie die Stallknechte das Tier gefaßt hatten, glitt sie hinunter und bestieg ein andres, das gerade hereingeführt worden und noch gesattelt war.

»Um alles in der Welt, Fräulein,« riefen die Stallknechte. »Sie wollen doch nicht wieder fortreiten?«

»Natürlich,« antwortete Lavinia, »ich muß machen, daß ich wieder zu meiner Schwester komme, sonst ängstigt sie sich,« und sie ritt ihrer Schwester entgegen, die bald nachher mit dem Stallmeister, beide totenbleich, ankam. Das war in der That sehr brav von ihr und zeigt, wie ruhig sie alles hinnimmt, und dieser Vorfall hatte zuerst Mr. Wigrams, eines in der Nähe wohnenden jungen Herrn, Aufmerksamkeit auf sie gelenkt. Er hatte auf der Straße gesehen, wie das Pferd in den Stall rannte, und war sehr erstaunt, Lavinia sofort auf einem andern wiedererscheinen zu sehen, so ruhig und gesammelt, als ob nichts Ungewöhnliches vorgefallen wäre.

Er war mit einem meiner Söhne bekannt und schon mehrere Male in unsrem Hause gewesen; nach diesem Vorfalle aber erzählte er jedermann, es sei das unerschrockenste Benehmen gewesen, das er jemals von einer Dame gesehen habe, und von da an erwies er Lavinia sehr viel Aufmerksamkeiten, wenn er sie auf Bällen oder in Gesellschaft traf, und schließlich verlobten sie sich.

Es war eine ausgezeichnete Partie, denn bei all ihrer Unerschrockenheit und Ruhe war meine liebe Lavinia doch nicht dazu gemacht, ein hartes Leben zu ertragen oder einen armen Mann zu heiraten. Charles Wigram lebte bei seiner Mutter, einer Witwe, und hatte neben Erwartungen von einigen reichen Verwandten schon jetzt ein schönes Einkommen. Sehr bald, nachdem er angefangen hatte, Lavinia auszuzeichnen, starb ein Onkel und hinterließ ihm dreißigtausend Pfund Sterling. Mit dem, was er von seinem Vater geerbt hatte, genügte es, um seine Verhältnisse sicher und sehr behaglich zu gestalten, und ich wußte, daß Lavinia gut versorgt war. Das Durchgehen ihres Pferdes sei diesmal von einigem Nutzen für sie gewesen, meinte ich, aber ich war immer in einer gräßlichen Angst, wenn sie später ausritt, und fand nicht eher Ruhe, als bis sie glücklich wieder zu Hause war.

Wenn die Mädchen ein wenig länger als gewöhnlich ausblieben, dann ging ich hinaus und schaute vor der Hausthür nach ihnen aus. Einmal, wo sie etwa eine halbe Stunde später kamen, als ich sie erwartete, fanden sie mich händeringend an der Thür des Vorgartens, und Lavinia sagte, sie müsse unter diesen Umständen die Spazierritte in London aufgeben.

Es thue mir sehr leid, entgegnete ich, aber ich sei so nervös und ängstlich, daß ich nicht anders könne, und obgleich sie mich wahrscheinlich für sehr thöricht hielten, sei es doch nur mein liebendes Mutterherz und ein Nervensystem, das durch die von einer großen Familie unzertrennlichen Sorgen und Schwierigkeiten, sowie einen Mann, der nie zu Hause sei, wenn etwas Unangenehmes vorfalle, erschüttert sei.

Als Lavinia und Mr. Wigram verheiratet waren, lebten sie auf dem Lande, auf einer reizenden Besitzung in Oxfordshire, die er gekauft hatte, und ich sah nicht so viel von meiner Tochter, als ich wohl gewünscht hätte. Aber wenn sie in die Stadt kamen, wohnten sie bei uns, und bei diesen Besuchen hatte ich Gelegenheit, Mr. Wigrams Charakter kennen zu lernen und zu sehen, wie herrlich sie zusammen paßten.

Ich glaube, wenn eine Bombe zwischen ihnen geplatzt wäre, während sie zusammen auf dem Sofa saßen, keins von beiden würde seinen Platz übereilt verlassen haben. Sie hatten es niemals eilig. Zum Beispiel entsinne ich mich noch, wie ich einmal mit ihnen in der Oper war und wir beim Hinausgehen in ein großes Gedränge gerieten. Unser Wagen fuhr vor, wurde aber von der Polizei wieder weggeschickt, weil er den Weg versperrte, worüber ich höchst entrüstet war, weil ich sah, daß wir wenigstens eine halbe Stunde warten mußten, ehe er wieder vorfahren konnte, und da es regnete, war es unmöglich, auf die Straße zu gehen und ihn aufzusuchen. Mr. Wigram und Lavinia aber blieben vollkommen ruhig. »O, das ist ja ganz schön,« sagte er; »kommt nur her, wir wollen uns setzen, bis er wieder vorfährt. Bis dahin werden die meisten Leute fortgefahren sein.« Und darauf setzte er sich ganz kaltblütig im Vestibül oder Foyer, oder wie's im Opernhaus genannt wird, auf ein Sofa, zog eine Zeitung aus der Tasche und fing an, die »Städtischen Neuigkeiten« zu lesen, und Lavinia nahm an seiner Seite Platz. Da wurde ich ärgerlich und sagte ihnen meine Meinung, aber er sah mich an und sprach ganz ruhig: »Was kann's nützen, sich aufzuregen? Wir werden schon nach Hause kommen.«

Ich könnte nicht so sein; ich muß mich ärgern, und ich habe niemals eine Minute länger warten können, als unbedingt nötig war. Die ruhigen, gelassenen Leute, die die Dinge nehmen, wie sie kommen, sind wahrscheinlich viel glücklicher, aber diese Ruhe ist ihnen angeboren; sie kommt nie später, wenn man sie nicht mit zur Welt bringt.

Nie trete ich eine Reise an, ohne schon Stunden, bevor der Wagen kommt, in einem Zustande der größten Nervenaufregung zu sein. Ich bin unruhig, ob alles richtig gepackt und nichts vergessen ist, ich mache mir Sorgen, daß während meiner Abwesenheit etwas schief gehen möchte, ich werde ängstlich und ungeduldig, wenn der Wagen nicht auf die Minute da ist, und ich habe nicht eher Ruhe, als bis ich im Zuge sitze, und dann mache ich mir während der ganzen Zeit meiner Abwesenheit Sorgen wegen des Hauses, der Dienstboten, Mr. Tressiders und der Kinder, und so geht's weiter, bis ich wieder nach Hause komme, und dann fangen die Sorgen erst recht an, denn ich finde sicher, daß etwas Unangenehmes vorgefallen ist.

Natürlich weiß ich sehr wohl, daß das sehr thöricht ist, aber ich kann meine Natur nicht ändern, und meine Natur ist, mir Sorgen zu machen. Meine Tochter Lavinia und mein Schwiegersohn Wigram können auch ihre Naturen nicht ändern, und die lassen sie alles leicht nehmen.

Einmal gaben sie, während ich bei ihnen in Oxfordshire zum Besuche war, eine große Gartengesellschaft, wozu fast die ganze Nachbarschaft eingeladen war. Sie hatten umfassende Vorbereitungen getroffen und beim Zuckerbäcker der nahe gelegenen Stadt viele Sachen wie Eis und dergleichen bestellt. Am Tage, wo die Gesellschaft stattfinden sollte, regnete es wie mit Kannen, und es herrschte ein heftiger Sturm.

»Du meine Güte!« rief ich, als ich aus dem Fenster blickte und sah, was für Wetter war. »Bei dem Wetter wird kein Mensch kommen.«

Natürlich erwartete ich, daß meine Tochter und ihr Mann sehr unruhig sein würden, besonders da sie sich auf eine große Anzahl von Gästen eingerichtet hatten. Allein nichts dergleichen, Lavinia betrachtete sich den Regen, der in Strömen vom Himmel fiel.

»Nein,« sagte sie, »ich glaube nicht, daß viele kommen werden.« Und Charles lachte und meinte: »Wenn überhaupt jemand kommt, wäre es rätlich, nach dem nächsten Irrenhause zu schicken.« Darauf zündete er sich eine Cigarre an, ging ins Billardzimmer und spielte den ganzen Vormittag mit sich selbst Billard, gerade als ob nichts Unangenehmes vorgefallen wäre.

Der Regen hörte den ganzen Tag nicht auf, und am Nachmittag wehte ein solcher Sturm, daß im Park ein paar Bäume umgerissen wurden. Keine Menschenseele kam, und das war unter den Umständen auch nicht zu verwundern.

Ich hätte mich in eine furchtbare Aufregung über eine solche Verdrießlichkeit hineingearbeitet; Lavinia und ihr Mann thaten das aber nicht. Sie machten ihre Späße über die Masse von Erfrischungen, die im Hause waren, und fragten, wie viel Eis ich mich zu essen getraute, und als die Zeit vorüber und es sicher war, daß niemand mehr komme, ließen sie das Eis hereinbringen, worauf wir uns alle an den Tisch setzten und vertilgten, soviel wir konnten. Den Rest erhielten die Dienstboten, und am nächsten Tage wurde das Backwerk und alles, was sich nicht hielt, unter die Leute des Gutes und die Schulkinder verteilt. Und nicht einen Augenblick von Anfang bis zu Ende ließen der enttäuschte Wirt und die Wirtin durch das geringste Zeichen merken, daß sie der Vorfall verdrossen oder geärgert hätte. Sie nahmen die Sache so ruhig hin, als ob es gar nichts Besonderes wäre, und am Abend saßen sie zusammen und sprachen über das Wetter und freuten sich, denn das Land hatte Regen sehr nötig.

Mein Schwiegersohn ist auch Friedensrichter und muß die Leute wegen Obststehlens, Rübenausreißens, unbefugten Holzlesens und Gehens auf verbotenen Wegen verurteilen.

Eines Tages hatte er als Richter bei der Verurteilung eines sehr übel verrufenen Menschen wegen Mißhandlung des Dorfwirtes zu vierzehn Tagen Gefängnis mitgewirkt. Der Kerl, der nach dem, was ich später hörte, wohl nicht ganz recht im Oberstübchen war, glotzte die Beamten an, während er abgeführt wurde, und als seine Augen auf Mr. Wigram fielen, auf den er einen Zahn hatte, weil er (der Kerl, nicht Mr. Wigram) früher Pächter gewesen, wegen schlechter Aufführung aber entlassen worden war, rief er: »Warten Sie nur, bis ich wieder frei komme, dann werde ich's Ihnen schon eintränken!« Mr. Wigram ließ den Menschen sofort wieder vorführen und stellte den Antrag, die Strafe zu verschärfen, da man nicht dulden dürfe, daß Richter im offenen Gerichtshofe bei Ausübung ihres Amtes bedroht würden, und der Kerl erhielt einen Monat.

Als Mr. Wigram am Nachmittag nach Hause kam, erzählte er seiner Frau den Vorfall. »Der schwarze Jack (unter diesem Namen war der Mensch in der Nachbarschaft bekannt) hat mir heute gedroht, und ich habe ihm dafür einen Monat aufgebrummt. Wenn er wieder frei wird, werden wir ein wenig aufpassen müssen; denn er wird vielleicht versuchen, in den Hühnerhof oder den Park zu gelangen und irgend etwas anzustellen.«

Hätte Mr. Tressider mir erzählt, er sei bedroht worden, dann hätte ich eine furchtbare Angst gehabt. Es ist ihm auch thatsächlich einmal etwas Aehnliches zugestoßen, und ich habe jahrelang in Furcht gelebt und denke noch jetzt nicht gern daran.

Mr. Tressider ging nämlich eines Abends auf der Straße, als plötzlich ein Mann aus dem Gedränge auf ihn stürzte, ihm Uhr und Kette wegriß und damit entfloh. Mein Mann schrie: »Dieb, Dieb, Dieb!« und rannte hinterher. Der Kerl wurde angehalten und der Polizei übergeben, und mein Mann erschien bei der Gerichtsverhandlung als Zeuge gegen ihn. Man erkannte einen alten Verbrecher in dem Verhafteten und er erhielt zwölf Monate. Als er die Anklagebank verließ, rief er meinem Manne zu: »Dafür sollen Sie büßen, wenn ich wieder frei bin.«

Nachdem mir Mr. Tressider dies mitgeteilt hatte, vermochte ich den Gedanken nicht los zu werden, daß man ihn eines Tages ermordet auf der Straße oder im Garten finden, oder daß dieser Mensch in der Nacht einbrechen und ihn im Bett umbringen werde. Ich wurde ganz nervenschwach darüber, und als etwa ein Jahr später mein Mann einmal nicht zu Tische nach Hause kam, wie ich erwartete, und es sehr spät wurde, ohne daß ich ein Telegramm oder sonst eine Nachricht von ihm erhielt, da war ich fest überzeugt, der Mensch habe seine Drohung ausgeführt. Als Mitternacht kam, aber kein John, da ging ich aus und rannte geradeswegs nach der Polizeiwache – ich zitterte wie Espenlaub – und gab dem Inspektor alle Einzelheiten betreffs meines Mannes Aeußeren, der Kleider, die er anhatte, der Zeichen in seiner Wäsche und so weiter an. Dann ging ich wieder nach Hause, setzte mich im Vorgarten auf einen umgestülpten Blumentopf und schluchzte, bis ich seine Schritte hörte. So außer mir ich aber auch war, konnte ich es doch nicht unterlassen, ihm ordentlich meine Meinung zu sagen. Seine Entschuldigung, er habe einen alten Schulkameraden getroffen, mit dem er gegessen habe und dann ins Theater gegangen sei, ließ ich nicht gelten. Er habe auch einem Droschkenkutscher zwei Schillinge gegeben und ihn beauftragt, mir ein Briefchen zu bringen; allein ich habe nichts erhalten, der Kutscher muß wohl die zwei Schillinge in die Tasche gesteckt und das Briefchen zerrissen haben. Ich entgegnete, es sei grausam, mir eine solche Angst einzujagen, namentlich, wo gerade der Mensch aus dem Gefängnis gekommen sei, der ihm Rache geschworen habe, und dann sagte ich ihm, ich sei auf der Polizeiwache gewesen und hätte dort eine vollständige Personalbeschreibung von ihm abgegeben.

Darüber wurde er wütend und hatte wirklich die Kühnheit, zu sagen, ich hätte mich furchtbar lächerlich gemacht und würde die Zielscheibe des Spottes für die ganze Nachbarschaft abgeben, Frauen, die eheliche Zuneigung für ihre Männer an den Tag legen, sind in deren Augen natürlich immer lächerlich, aber wenn wir einmal nicht mehr da sind, dann vermissen sie uns doch.

Es dauerte ein volles Jahr, bis ich aufhörte, mir wegen Johns Sorge zu machen, wenn er länger ausblieb, als ich erwartete, denn immer mußte ich an den Menschen denken, der die Uhr und Kette gestohlen und dann Rache geschworen hatte. Aber jetzt sind es schon viele Jahre her, und es ist meinem Manne nie etwas auf der Straße zugestoßen. Ich glaube, der Mensch hat sich eines Bessern besonnen, als er aus dem Gefängnis kam, oder er ist vielleicht auch von neuem verurteilt worden, ehe er Zeit gefunden hatte, an seine Rache zu denken.

Meine Tochter und ihr Mann waren nicht ganz so glücklich. Etwa zwei Monate nach dem Zwischenfall mit dem schwarzen Jack saß Lavinia eines Sommerabends spät im Eßzimmer, das nach dem Rasenplatz geht, als sie wahrzunehmen glaubte, daß sich etwas im Schatten der Bäume bewege, Charles war in der Stadt, von wo er erst mit dem letzten Zuge zurückerwartet wurde, und der Kutscher war bereits nach dem Bahnhofe gefahren, um ihn abzuholen. Die Mädchen hatten die Erlaubnis zum Besuche eines Cirkus, der in der Nähe seine Vorstellungen gab, und so war außer Lavinia niemand im Hause, als die Köchin, eine dicke und sehr furchtsame Person, und die Amme, die sich einer heftigen Erkältung wegen zu Bette gelegt hatte.

Lavinia, die keine Furcht hatte, und wenn ihr mitten in der Nacht ein Geist erschiene, rief: »Wer da?« doch als sie keine Antwort erhielt, glaubte sie, sie habe sich getäuscht. Sie stand auf, ging ans andre Ende des Zimmers, um ein Streichholz zu holen und die Lampe anzuzünden. Da, als sie während des Suchens nach den Streichhölzern ein Geräusch hörte und sich umwandte, sah sie, daß die Glasthüre offen und ein Mann im Zimmer stand.

Sie hatte keine Zeit mehr, noch weiter zu suchen, und es war zu dunkel, um mehr als nur unbestimmte Umrisse sehen zu können.

»Wer sind Sie, und was wünschen Sie?« fragte sie vollkommen ruhig.

»Ich bin der schwarze Jack und muß Mr. Wigram sprechen,« war die Antwort.

»Er ist nicht zu Hause,« versetzte sie ebenso ruhig, obgleich sie nun wußte, mit wem sie es zu thun hatte, »Wollen Sie wiederkommen, oder seine Rückkehr abwarten?«

Der Mann schien über ihre Ruhe überrascht zu sein und trat mit zögernden Schritten etwas mehr in die Mitte des Zimmers. In diesem Augenblick berührte ihre Hand etwas Kaltes auf dem Buffett, und sie erkannte an der Form, daß es eine Pistole war. Sie nahm sie rasch auf und trat entschlossen auf den Menschen zu.

»Ich will Ihnen nichts zu leide thun, aber da Sie kein Recht haben, zu dieser Stunde hierher zu kommen, und Sie vielleicht beabsichtigen, mir etwas zuleide zu thun, so schieße ich Ihnen diese Pistole ins Gesicht ab, wenn Sie sich nicht augenblicklich dort auf den Stuhl setzen,« und sie wies auf einen Stuhl.

Der Mann zögerte.

Sie spannte die Pistole; er hörte das Knacken des Hahnes, steckte die Hand in die Tasche und brachte etwas zum Vorschein, was wie ein Totschläger aussah.

»Ihre Späße können Sie sich bei mir sparen,« rief er, »oder –«

»Setzen Sie sich, oder ich schieße!«

Sie erhob die Pistole, und dunkel, wie es war, konnte der Mann doch sehen, daß sie sie auf ihn richtete.

Er setzte sich auf den Stuhl.

»So, nun werde ich Ihnen sagen, was ich vorhabe,« sprach Lavinia. »Ich werde Sie hier behalten, bis Mr. Wigram wieder da ist, der in ein paar Minuten kommen wird. Sie können dann Ihre Angelegenheiten mit ihm besprechen, denn ich verstehe vermutlich doch nichts davon. Aber da Sie wahrscheinlich hungrig sind, will ich klingeln und Ihnen etwas zu essen bringen lassen. Möchten Sie gern etwas essen?«

Der Mann zögerte eine Weile, nahm dann aber das Anerbieten an. Lavinia ging rückwärts nach dem Klingelzug und klingelte, worauf die Köchin eintrat.

»Bringen Sie für diesen Herrn etwas kaltes Fleisch, Brot und Gurken,« sagte sie zu dieser.

Die Köchin konnte im Dunkeln nicht sehen, wer es war, und fragte deshalb: »Soll ich das Gas anzünden?«

»Nein, wir brauchen noch kein Licht, bringen Sie nur, was ich gesagt habe.«

Die Köchin entfernte sich, und sowie sie gegangen war, erhob Lavinia die Pistole wieder, um dem Menschen zu zeigen, daß sie auf alle Fälle vorbereitet sei. Die Köchin kam bald zurück, und der wahrscheinlich sehr hungrige schwarze Jack machte sich über das Essen her und ließ es sich gut schmecken. Er war noch damit beschäftigt, als das Knirschen von Rädern im Kies hörbar wurde und Mr. Wigram vorfuhr.

»Ich glaube, ich will lieber gehen,« sagte der schwarze Jack, als er das Geräusch hörte.

»Nein,« entgegnete Lavinia, »wenn Sie sich von der Stelle rühren, schieße ich.«

Nun kam Mr. Wigram herein und war sehr überrascht, seine Frau im Dunkeln zu finden, während ein Fremder im Lehnstuhle saß und mit der Vertilgung von kaltem Braten und Gurken beschäftigt war.

»Der schwarze Jack ist so freundlich gewesen, mir einen Besuch zu machen, lieber Mann,« sprach Lavinia, »und ich habe ihn gebeten, doch so lange zu bleiben, bis du kämest; sei doch so gut und mache Licht.«

Mr. Wigram zündete sehr erstaunt das Gas an, und Lavinia steckte die Pistole in die Tasche, hielt sie aber in einer Weise, daß der schwarze Jack sehen konnte, sie sei jeden Augenblick zum Gebrauche bereit. Mr. Wigram ging auf die Sache ein, gab Jack eine Cigarre und begann, als diese brannte, sich mit ihm zu unterhalten. Er sagte ihm, was für ein Thor er sei, und das Ende war, daß Jack sein Bedauern aussprach und versicherte, Mr. Wigram sei ein famoser Kerl und seine Madame lasse sich auch nicht ins Bockshorn jagen. Mr. Wigram versprach ihm, daß, wenn er – Jack – versuchen wolle, sich zu bessern, er – Mr. Wigram – nicht nur über diesen nächtlichen Besuch Schweigen beobachten, sondern sich auch nach Arbeit für ihn umsehen werde. Der schwarze Jack verließ das Haus mit Segenswünschen für den Mann, den zu schädigen, wenn nicht ihm Schlimmeres anzuthun, er gekommen war, und als er sich entfernt hatte, sprach Lavinia: »Charley, was meinst du wohl, womit ich den schwarzen Jack im Schach gehalten habe? Hiermit!« Und sie zog eine kleine Kinderpistole ihres ältesten Sohnes aus der Tasche.

Ihr Mann brach in Lachen aus und sagte, sie sei ein kleiner Schlaukopf. Aber als ich die Geschichte hörte, konnte ich doch die Bemerkung nicht unterdrücken: »Nun, Lavinia, du bist wirklich das ruhigste und gelassenste Frauenzimmer, das mir je vorgekommen ist. Wo du nur deine Nerven her haben magst?«

Sie sah mich an und lachte.

»Nicht von deiner Seite der Familie, Mama,« antwortete sie, und ich widersprach ihr nicht.


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