George R. Sims
Erinnerungen einer Schwiegermutter – Zweiter Band
George R. Sims

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Elfte Erinnerung.

Die Leute gegenüber.

Niemals hätte ich geglaubt, daß ein netter, ruhiger, liebenswürdiger Mann, wie mein deutscher Schwiegersohn Karl Gutzeit einer war, in Hinsicht auf gewisse Dinge so verrannt sein könnte, als es sich nachher herausstellte. Vor kurzem habe ich einen Aufsatz gelesen, worin der Verfasser zu beweisen sucht, daß jeder Mensch in Beziehung auf einen Gegenstand mehr oder weniger verrückt sei. Der Aufsatz interessierte mich in hohem Grade, denn ich bin nicht mit geschlossenen Augen durchs Leben gegangen, und ich muß zugeben, ich habe selbst beobachtet, daß die meisten Leute in einem besonderen Punkte ihren »Vogel« haben.

Gern lese ich nicht über solche Dinge, denn ich bin der Ansicht, daß wir nachgerade etwas zu viel über uns selbst lernen. Durch die Bacillen, Bakterien und Mikroben und wie das greuliche Zeug alles heißt, das die Gelehrten jeden Tag entdecken, wird das Leben für jemand, der nur ein bißchen nervös ist, zu ungemütlich.

Daß viele Menschen, um es gelinde auszudrücken, in einer Hinsicht überspannt sind, ist zweifellos richtig. Ein Verwandter von mir, ein Onkel, der liebenswürdigste, freundlichste Mann von der Welt, sagte mir selbst einmal, er gehe sehr ungern allein in den Straßen, weil er nur schwer der Versuchung widerstehen könne, an allen Klingelzügen zu reißen und dann wegzulaufen. Wenn er an einem Hause vorüberkäme und den Klingelgriff erblicke, dann hätte er das Gefühl, als ob er daran ziehen müsse, und weil er wisse, daß es schmählich wäre, wenn ein alter Herr, Familienvater und Kirchenältester, bei einer solchen Handlung erwischt werde, nehme er stets eine Droschke oder den Omnibus, wenn er allein ausgehen müsse. Habe er jemand bei sich, dann bäte er seinen Begleiter immer, ihn festzuhalten und unter keinen Umständen an einen Klingelgriff kommen zu lassen.

Ferner kannte ich eine Dame, die das Opfer einer ähnlichen Schwäche war, nur bestand ihre Leidenschaft darin, die Notbremse in den Eisenbahnwagen zu ziehen. Zwar hat sie es nie wirklich gethan, aber sie sagte mir, sie sei nie allein in einem Coupé, wo ihr eine solche Bremse ins Gesicht starre, ohne die größte Versuchung zu fühlen, die Schnur zu zerschneiden, den Griff zu ziehen und zu sehen, was weiter geschehen werde. Sie geriet dann in eine solche Angst, sie könne es wirklich thun, daß ihr der Schweiß in dicken Tropfen auf die Stirn trat und sie sehr dankbar war, wenn noch jemand in den Wagen kam oder sie ihr Reiseziel erreichte.

Ich bin der Ansicht, daß auch die sogenannte Kleptomanie hierher gehört. Ganz achtbare Menschen werden plötzlich vom Verlangen ergriffen, heimlich etwas in die Tasche zu stecken, und dieses Verlangen wird stärker und stärker, bis sie ihm nicht mehr widerstehen können und unterliegen. Ich sprach einmal mit meinem Manne darüber, und er versicherte mir, ein sehr bekannter Herr ginge zu keinem Diner, ohne silberne Löffel und Gabeln in die Tasche zu stecken, und das sei so wohlbekannt, daß niemand mehr darauf achte, da seine Frau stets seine Taschen untersuche und sie – das heißt die Löffel und Gabeln, nicht die Taschen – am nächsten Tage zurückschicke.

Kurz nach unsrer Verheiratung wohnten wir eine Zeitlang dicht neben einem alten Herrn, der ein berühmter Professor irgend einer –ologie war, ich habe vergessen, welcher. Er war ohne Zweifel geistig vollkommen in Ordnung, denn er war Mitglied vieler gelehrter Gesellschaften, schrieb für die Times u. s. w., aber er war der Schrecken aller Kindermädchen der Nachbarschaft, denn wenn er auf der Straße ging, dann blieb er plötzlich stehen, rang die Hände und stöhnte in der jammervollsten Weise, als ob er die gräßlichsten Schmerzen ausstände. Er konnte nicht anders, er wußte ganz gut, daß es sehr albern war, aber er konnte es nicht lassen.

Ich erwähne diese Fälle nur, um zu erklären, weshalb ich weniger erstaunt war, als ich sonst wohl durch die Entdeckung gewesen sein würde, daß Karl Gutzeit, mein Schwiegersohn und Zahnarzt (d. h. nicht mein Zahnarzt), in einer gewissen Hinsicht verdreht war.

Er hatte die verrückte Vorstellung, daß seine Nachbarn beständig etwas thäten, dem ein Ende zu machen seine Pflicht sei, und geriet infolge dessen in einen recht netten Ruf.

Meiner Tochter Jane fiel zunächst nichts auf, als er sich zu beklagen begann, daß die Leute gegenüber ihre Rouleaux nicht gleichmäßig aufzögen. Er machte sie darauf aufmerksam, daß eins halb, ein andres ein viertel und eins drei viertel in die Höhe gezogen war, was doch gar nicht gut aussähe, und sie stimmte ihm zu. Als er sich aber im Eßzimmer in seinen Lehnstuhl setzte, die Rouleaux gegenüber unverwandt anstarrte und erklärte, sie ärgerten ihn und er werde hinübergehen und die Leute ersuchen, sie zu ändern, da lachte sie ihn aus.

»Lieber Mann,« sagte sie, »wie thöricht, sich von einer solchen Kleinigkeit ärgern zu lassen. Sieh doch nicht hin.«

Darauf behauptete er jedoch, er könne es nicht lassen, und nun wurde sie besorgt, namentlich weil sie bemerkte, daß er nervös mit den Füßen umhertrippelte und daß seine Mundwinkel zuckten. Als er aber eines Tages plötzlich aufsprang, über die Straße lief und an dem Hause gegenüber anklopfte, bekam sie einen gewaltigen Schreck.

Er kehrte in großem Zorn zurück und sagte, die Leute seien »Biester«; sie hätten ihn schwer beleidigt und ihm gesagt, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, und von dem Augenblick an faßte er eine tiefe Abneigung gegen die Leute gegenüber und bildete sich ein, sie ärgerten ihn absichtlich.

Eines Tages sah er zum Fenster hinaus und bemerkte, daß die Frau eines Kutschers in dem vom Operationszimmer aus sichtbaren Stallhofe Wäsche zum Trocknen aufgehängt hatte. Sofort rannte er über die Straße und verlangte von dem ihn empfangenden Kutscher, er solle die Wäsche abnehmen und die Waschleine entfernen, da sie häßlich sei. Der Kutscher wurde grob und empfahl ihm, sich an einen Ort zu begeben, den man auf der Karte von Europa vergeblich suchen wird, und das erzürnte Karl so, daß er spornstreichs zu seinem Rechtsanwalt lief und den Kutscher wegen Beleidigung verklagen ließ. Dadurch entstand eine große Erbitterung gegen ihn, und die Leute in dem Hofe gingen sogar so weit, daß sie im Schutze der Nacht häßliche Anspielungen auf seine Herkunft und seinen Beruf an seine Thür schmierten, wie z. B. »deutscher Schmutzfink« und »alter Zahnreißer«, welche Bezeichnung an ihm hängen blieb.

Die arme Jane erzählte mir, Karl werde ganz grau vor Wut, wenn sie »alter Zahnreißer« hinter ihm herriefen, und manchmal, wenn sie in einer Droschke saßen, müsse sie ihn mit aller Kraft festhalten, sonst würde er hinausspringen und seine Quälgeister anfallen, und dann gäbe es sicher Blutvergießen.

Als Jane mir diese Dinge mitteilte, hielt ich es für meine Pflicht, ein ernstes Wort mit Karl zu reden, und that das auch, aber ich erntete schlechten Dank für meine Güte, Karl wurde ganz aufgeregt, und behauptete, es bestünde eine Verschwörung gegen ihn in der Nachbarschaft, um ihm in seinem Geschäft zu schaden, weil er ein Ausländer sei.

Natürlich entgegnete ich ihm, das sei abgeschmackt und er sei zu empfindlich, wie das so viele Deutsche sind. Sie sind nicht an unsre etwas derbe englische Art gewöhnt, steifen sich auf ihre Würde und sehen Geringschätzung und Kränkungen, wo keine beabsichtigt sind. Karls verdrehte Idee betreffs des Benehmens seiner Nachbarn gegen ihn beunruhigte mich ernstlich; denn ich fürchtete, daß sie zu wirklichen Unannehmlichkeiten führen werde, ich bat daher Jane, zu versuchen, ihn dahin zu bringen, daß er solche Kleinigkeiten nicht mehr beachte, aber anstatt besser, wurde es schlimmer, denn er fing jetzt auch an, sich mit den Leuten nebenan zu streiten und Briefe zu schreiben. Briefe schreiben ist stets ein Fehler, besonders wenn man sie in der Hitze schreibt und sich nicht die Zeit dazu nimmt.

Die Leute gegenüber, deren Rouleaux Karl so geärgert hatten, besaßen zwei Söhne, und diesen war es ein Hauptspaß, ihn zu necken. Kam er ans Fenster, dann traten sie auf ihren Balkon und thaten so, als ob sie Zahnweh hätten. Sie hielten sich die Nacken und stöhnten ganz erbärmlich. Natürlich hatten sie das volle Recht, auf ihrem Balkon zu thun, was sie mochten, aber Karl war wütend, schrieb einen Brief an ihren Vater und sandte ihn hinüber. Nun war der Vater auch entrüstet und schrieb zurück, daß, wenn es Karl schon ärgere, Leute zu sehen, die nur so thäten, als ob sie Zahnweh hätten, dann könne er sich vorstellen, wie unangenehm es für sie sei, beständig Menschen mit wirklichem Zahnweh aus- und eingehen zu sehen, und manchmal kämen welche aus dem Hause, die ihre Kinnladen in einer Weise festhielten, als ob sie ihnen zerbrochen seien. Er hatte die Unverschämtheit, ziemlich unverblümt anzudeuten, Karl sei ein öffentliches Uebel, und es gereiche der Gegend zum Schaden, daß jemand da, wo sonst nur Privathäuser seien, einen »Laden« für künstliche Zähne eröffnet habe.

Das trug auch nicht gerade dazu bei, das nachbarliche Verhältnis zu bessern, und unglücklicherweise traf es mit der Zeit zusammen, wo Karl sich plötzlich in den Kopf setzte, daß auch die Leute nebenan ihn zu belästigen begännen. Er behauptete, der Kamin im Operationszimmer rauche, wenn das Eßzimmer im nächsten Hause geheizt werde. Sofort schickte er hin und beschwerte sich, und der alte Herr, ein sehr geachteter Börsenmakler, kam herüber und verlangte mit Karl zu sprechen. Er fragte ihn, wie er dazu komme, ihm eine so unverschämte Anfrage wegen seines Eßzimmers zu schicken, und es kam zu heftigen Worten.

»Ich will Ihnen was sagen,« sprach der alte Herr zuletzt, »Sie sind eine verwünschte Plage für die ganze Gegend, und wenn Sie nicht bald machen, daß Sie von hier fortkommen, dann werden wir alle ausziehen. Kümmern Sie sich um Ihr eigenes Geschäft und lassen Sie Ihre Nachbarn in Frieden.«

Die arme Jane, die sich im nächsten Zimmer befand und alles mit anhörte, ging hierauf wie zufällig hinein, weil sie fürchtete, es werde zu Thätlichkeiten kommen, worauf der alte Herr seinen Hut ergriff und eilig das Haus verließ, aber Karl hatte einen Feind mehr, und Jane sagte, es sei wirklich furchtbar, sie wage gar nicht mehr auszugehen, denn die Leute starrten sie so an.

»Liebes Kind,« sprach ich, »wenn er mein Mann wäre, dann würde ich mit aller Entschiedenheit auftreten und ihn zur Vernunft bringen,« Und ich hätte das auch gethan, aber Jane war zu ängstlich, um offen zu sprechen; sie fürchtete, seine Gefühle zu verletzen. Sie hing mit großer Hingebung an ihm und verteidigte ihn, so gut sie konnte. Sie erklärte, er sei, abgesehen von dieser Sucht, mit seinen Nachbarn zu streiten, der liebenswürdigste und beste Mann, den eine Frau sich wünschen könne, und das war er auch ganz entschieden. Aber was konnte das nützen?

»Das ist alles recht schön und gut,« sprach ich zu meinem armen Kinde, »aber er macht sich widerwärtig und verhaßt, und wenn euch eines schönen Abends die Fenster eingeworfen werden und die Steine treffen dich, was hast du dann von seiner Liebenswürdigkeit und Hingebung?«

Nachdem der kleine Karl geboren war, ging's eine Zeitlang besser, und er beachtete die Dinge, womit man ihn ärgern wollte, weniger. Denn daß vieles absichtlich gethan wurde, unterliegt keinem Zweifel; indes er war allein daran schuld, weil er zuerst angefangen hatte, Kleinigkeiten übelzunehmen und sich unnachbarlich zu verhalten. Es gibt nichts Unleidlicheres, als einen unangenehmen und streitsüchtigen Nachbarn, wie ich aus Erfahrung weiß, denn ich habe 'mal neben einer alten Dame gewohnt, die uns beständig Scherereien machte. Bald war es unser Hund, der im Vorgarten bellte, bald hatten die Kinder ihre Bälle über die Mauer geworfen, oder die Dienstboten einen Teppich ausgeklopft, der wirklich nicht viel größer war als eine Thürmatte. Und wie mich das Frauenzimmer wegen einer meiner Lieblingskatzen gequält hat, ist gar nicht zu sagen. Es war die harmloseste Katze in der Welt, aber sie geriet manchmal in den Nachbargarten und sonnte sich auf dem Rasen. Dann kam die Person heraus, schrie das arme Tier an und schimpfte es, und ich wußte sehr wohl, daß die Schimpfworte eigentlich mir galten. Aber ich bin auch nicht von gestern, und wenn meine Katze zurückkam, dann spielte ich dasselbe Spiel und richtete einige Bemerkungen an sie, die auch für die Katze nebenan bestimmt waren. Zuletzt wurde die Geschichte ganz unausstehlich, indem die Frau sogar die Unverschämtheit hatte, wenn meine Töchter übten, eine Grobheit herüber sagen zu lassen und zu verlangen, daß das Klavier an eine andre Wand gestellt werde. Sie wolle uns verklagen, wenn wir es nicht thäten. Nun ging ich aber selbst hin, und als die Hausthür geöffnet wurde, trat ich gleich ein, ohne erst lange zu fragen, ob sie zu Hause sei, und dann habe ich ihr meine Meinung so unverblümt gesagt, daß sie uns in Ruhe ließ und bald darauf auszog.

Nachdem der liebe Kleine geboren war, hörte ich lange Zeit nichts von Karl, denn ich ging aufs Land, und Jane erwähnte in ihren Briefen nichts von ihren Unannehmlichkeiten, weil sie mich nicht beunruhigen wollte und vielleicht auch, weil sie fürchtete, ich könne denken, Karl sei zu excentrisch, um ein ganz zufriedenstellender Gatte und Vater zu sein.

Ich hatte auch so viele andre Dinge, worüber ich mir Sorge machte, daß ich ganz froh war, in ihren Briefen nicht auch noch schlechte Nachrichten zu finden; ich versuchte mir also einzureden, Karl habe die Thorheit seines ewigen Streitens eingesehen und verhalte sich, wie es von einem ruhigen, verständigen englischen Bürger erwartet wird.

Kurz vor Weihnachten kam ich zurück, und am Weihnachtstage aßen, wie gewöhnlich, alle meine Kinder mit ihren Familien bei uns zu Mittag. Ich hatte es gern, wenn sich am Weihnachtstage die ganze Familie in ihrem alten Heim vereinigte, und soweit es möglich war, haben meine Kinder diesen Wunsch auch stets erfüllt, obgleich in den letzten Jahren der Raum unsres Hauses dadurch aufs äußerste in Anspruch genommen wurde. Unsre Weihnachtsessen sind freilich manchmal durch Streitigkeiten gestört worden, aber diese waren nie ernster Art. Ich bin der Ansicht, daß ein Weihnachtsmahl nicht immer ein Förderer des Friedens ist, besonders bei einer Familie, die an Verdauungs- und gichtischen Beschwerden leidet. Meine Mädchen bleiben auch nach Putenbraten und Plumpudding wahre Engel, aber meine Jungen werden leicht, was wir »stänkerisch« nennen, und dann fangen sie an, sich in einer Weise aufzuziehen, die gelegentlich zu kleinen Unannehmlichkeiten führt.

Bei dieser Gelegenheit bemühten wir uns alle, sehr liebenswürdig zu sein, und es verlief auch alles ganz glatt, bis John unglücklicherweise anfing, Karl zu necken, indem er ihn fragte, ob er seinen Nachbarn hübsche Weihnachtskarten geschickt habe. Karl gab eine etwas brummige Antwort, die ich auf Rechnung des Plumpuddings setzte, denn das ist eine Speise, woran Deutsche nicht gewöhnt sind, John aber warf ich einen warnenden Blick zu und versuchte, die Unterhaltung auf etwas andres zu lenken. Das half aber nichts, denn John, der nun einmal das Necken nicht lassen kann, obgleich er selbst außerordentlich empfindlich ist, sagte zu Karl, er meine, da nun einmal Weihnachten sei, müsse er seinen Nachbarn Ständchen bringen und das bekannte Lied: »Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen« mit Begleitung einer Bande böhmischer Musikanten vor ihren Thüren singen. Karl wurde dunkelrot und rief John zu, er möge sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern.

»Das ist gerade das, was deine Nachbarn von dir verlangen, alter Freund,« versetzte John, der sehr viel kalte und warme Pastete gegessen hatte und noch fortwährend Rosinen und Mandeln knabberte, obschon er wußte, daß das das reinste Gift für ihn war. Karl wurde wütend, sprang auf, zog seinen Ueberrock an, stülpte seinen Hut auf und rannte hinaus, und ehe wir recht wußten, was vorgefallen war, hörten wir, wie er die Hausthür hinter sich zuschlug.

Die arme Jane warf aus thränenden Augen einen vernichtenden Blick auf John.

»Warum mußt du denn alle Menschen ärgern!« rief sie, lief hinaus und stürzte, ohne sich die Zeit zu nehmen, etwas auf den Kopf zu setzen, hinter Karl her. John, dem es leid that, daß er die Veranlassung zu einem peinlichen Auftritt gegeben hatte, folgte ihr, und ich konnte es nicht unterlassen, offen meine Meinung auszusprechen, daß es ganz schmählich sei und daß meine Schwiegersöhne und -töchter wirklich versuchen könnten, den Weihnachtstag ohne Zank zu verleben, denn wir wären vielleicht nicht mehr oft alle zusammen. Mein Mann war natürlich wie gewöhnlich nicht da, wo er hätte sein sollen. Er hatte sich unmittelbar nach dem Essen in seine Stube zurückgezogen, um zu genießen, was er eine ruhige halbe Stunde für sich nannte. Ich ging hinunter und fand ihn mit seiner Pfeife und der Times in der Hand, der Times von gestern, denn am Weihnachtstage war keine erschienen.

»Ich muß wirklich sagen, John Tressider,« sprach ich, »ich sollte denken, du könntest am Weihnachtstage wohl 'mal ohne die Times, die du gestern schon einmal gelesen hast, fertig werden. Wärest du da gewesen, wo du hingehörst, an der Spitze der Familie, dann hättest du einem schmachvollen Auftritt vorbeugen können.«

»He?« entgegnete er. »Was ist denn schon wieder los?« Ich erzählte ihm das Vorgefallene und ersuchte ihn, seinen Hut aufzusetzen, Karl und John schleunigst zu folgen und sie zurückzubringen. Ich zweifelte nicht daran, daß sie ihren Zank irgendwo auf der Straße fortsetzten, und die Vorstellung, daß meine arme Jane ohne Hut dabei stehe, ihnen händeringend zuhöre und noch dazu am Weihnachtstage, war zu viel für mein mütterliches Herz.

Ehe ich jedoch Mr. Tressider zu genügender Erkenntnis seiner Pflicht und aus seinem Sorgenstuhle aufgerüttelt hatte, klingelte es, und als die Thür aufging, hörte ich Karls Stimme im Hausflur. Ich lief hin und fand, daß er sich mit John ausgesöhnt hatte und zurückgekommen war, aber meine arme Jane zitterte vor Kälte, denn es wehte ein scharfer Ostwind.

Daß ich Karl sagte, er solle sich was schämen, sich so von seinem Aerger fortreißen zu lassen und seine arme Frau an einem so bitter kalten Nachmittag aus ihrem warmen und glücklichen Heim zu treiben, versteht sich von selbst; allein er runzelte die Stirn, grunzte etwas, was ich nicht verstand, und ging dann ins Wohnzimmer.

Glücklicherweise hatte der Zank keine weiteren Folgen, und wir verbrachten den Rest des Tages ganz vergnügt zusammen, abgesehen von einer kleinen Störung, die durch Augustus Walkinshaw junior veranlaßt wurde. Dieser war unbemerkt über einen großen Topf mit chinesischen, in Syrup eingemachten Früchten geraten und hatte beinahe den ganzen Inhalt aufgegessen. Dabei war sein schöner, neuer Matrosenanzug eine einzige, klebrige Masse geworden, und als ich ihm ein paar wohlverdiente Klapse gab, fing er an zu heulen und wurde dann plötzlich totenblaß und so krank, daß er hinauf und zu Bett gebracht werden mußte.

Ich hatte Karl versprochen, am Neujahrstage bei ihnen zu frühstücken, und ging ziemlich früh hin, da ich gern vorher eine ruhige Aussprache mit Jane haben wollte. Während wir redeten, kam der Bediente mit einem Päckchen, das mit einer Neujahrskarte an der Hausthür abgegeben worden war.

»Schicke hinunter, liebes Kind, und laß deinen Mann heraufkommen,« sagte ich, da es an Karl überschrieben war. »Wir wollen es zusammen auspacken, vielleicht ist es ein Neujahrsgeschenk von einem seiner Kunden.«

»Höchst wahrscheinlich,« entgegnete Jane, »er hat schon mehrere, worunter einige sehr schöne, erhalten.«

Der Bediente bat Herrn Gutzeit, nach dem Zimmer seiner Frau zu kommen, wo wir saßen, und als Karl eintrat, sagte ich: »Karl, hier ist wieder ein Neujahrsgeschenk für dich; wir sind furchtbar neugierig.«

Er lachte und meinte, er sei ein Glückspilz, denn er habe eine Menge freundlicher Andenken erhalten, ein Beweis, daß er, wenn er auch bei den gräßlichen Leuten gegenüber nicht beliebt sei, doch anderswo eine Menge Freunde habe. Er fing an, das Päckchen zu öffnen, und als er das braune Papier entfernt hatte, kam ein kleines Kistchen zum Vorschein, das zugenagelt war. Er zog sein Messer hervor und hob mit der großen Klinge den Deckel ab. Sowie dieser nachgab, sprangen zwei ungeheure, scheußliche Kanalratten ins Zimmer.

Ich stieß einen entsetzten Schrei aus und sprang, so gut ich konnte, auf einen Stuhl, und Jane schrie ebenfalls aus Leibeskräften und kletterte auf einen andern Stuhl, während die gräßlichen, geängsteten Ratten aus einer Ecke des Zimmers in die andre schossen. Karl rief einige furchtbare deutsche Worte aus, und als ihm eine der Ratten zwischen die Beine rannte, jagte ihm die Furcht, sie könne ihm im Hosenbein hinaufklettern, einen solchen Schrecken ein, daß er in die Luft sprang. Dabei fiel er und riß die Tischdecke, woran er sich halten wollte, mit allem, was darauf war, mit sich. Eine große Vase voll Blumen versuchte er zwar zu retten, aber sie entglitt ihm, fiel mit großem Gepolter zu Boden und ging in tausend Stücke. Darüber schrieen wir noch lauter als zuvor, so daß die Dienstboten ins Zimmer gestürzt kamen. Als sie aber die Ratten sahen, rafften sie ihre Röcke zusammen und nahmen Reißaus.

Furchtbar fluchend erhob sich Karl wieder. Glücklicherweise fluchte er deutsch, was ich nicht verstand, aber meine Tochter, die es verstand, muß ganz entsetzt gewesen sein.

»So schreit doch nicht so!« rief er ganz ärgerlich. »Die Ratten fürchten sich ja mehr vor euch, als ihr vor ihnen.«

Hierauf ergriff er die Feuerzange und fing an, nach den Ratten zu schlagen, traf aber meist nur den Fußboden oder sonst etwas, und die Ratten, die sich hinter einem Vorhange versteckt hatten, kamen wieder hervor und rasten in der Stube umher, Karl immer hinter ihnen.

Endlich gelang es ihm, sie totzuschlagen, aber ach! In welchem Zustande befand sich Janes reizendes Zimmerchen! Karl hatte in seiner Wut mit der Feuerzange um sich geschlagen, ohne Rücksicht, wo er hintraf und hatte eine Menge hübscher Sachen zerstört, ehe es ihm gelungen war, die Ratten zu töten.

Als wir etwas ruhiger geworden und ich von meinem Stuhle wieder herabgeklettert war und mein Zittern überwunden, und Jane ihre Thränen getrocknet, die ihr der Anblick ihres zu Grunde gerichteten Zimmers abgepreßt hatte, sah ich mir das Kistchen etwas näher an und fand auf dessen Boden eine Karte, worauf in einer ungebildeten Handschrift geschrieben war: »Prost Neujahr, alter Zahnreißer!«

Karl riß mir die Karte aus der Hand. »Das wußte ich gleich,« rief er, als er sie angesehen hatte. »Das haben die Halunken da drüben gethan! O, wenn ich sie nur in Deutschland hätte, ich schösse sie tot, wie tolle Hunde, wie tolle Hunde schösse ich sie tot.«

Wir beruhigten und überredeten ihn, sich keine weiteren Unannehmlichkeiten zu machen, da es unmöglich sei, den Urheber zu entdecken, und um Janes willen willigte er endlich ein, die Sache nicht weiter zu verfolgen, aber ich bin ganz gewiß, daß es die Leute gegenüber waren, die ihm den häßlichen Streich gespielt hatten, denn als ich ins Eßzimmer ging und dort ans Fenster trat, sah ich, wie gegenüber zwei boshafte Jungengesichter unser Haus beobachteten und dabei grinsten wie Teufel.

Allein ich bin der Ansicht, daß selbst Ratten ihre guten Seiten haben, denn seit jener Zeit läßt Karl seine Nachbarn und diese ihn in Ruhe. Leute, die versuchen, ein glückliches Heim mit Kanalratten zu zerstören, schrecken vor nichts zurück, und Karl scheint zum Entschlusse gekommen zu sein, nichts mehr zu thun, was ihre unangenehme Aufmerksamkeit auf ihn lenken könnte.


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