George R. Sims
Erinnerungen einer Schwiegermutter – Zweiter Band
George R. Sims

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Zwölfte Erinnerung.

Zwei meiner Enkelkinder.

Eine Schwiegermutter erwartet selbstverständlich im natürlichen Verlauf der Dinge, Großmutter zu werden, wiewohl manche Schwiegermütter gar nicht begierig nach dieser Ehre sind. Im Worte Großmutter liegt allerdings etwas, was auf hohes Alter hinweist, und es ist ganz begreiflich, daß die Frauen die Zeit, wo die Welt sie als alt ansieht, möglichst lange hinauszuschieben suchen. Wenn ein Mädchen jung heiratet, dann kann es sehr wohl kommen, daß es mit vierzig Jahren eine erwachsene Tochter hat, und wenn diese ebenfalls jung heiratet, kann ihre Mutter mit zweiundvierzig Großmutter sein, wenn sie sich auch noch so gut gehalten hat, und ihr niemand ihr Alter ansieht. Hat sie dann die Eitelkeit der Jugend noch nicht überwunden, so ist es allerdings etwas verdrießlich, mit Großmutter angeredet zu werden.

Ich freue mich, aussprechen zu können, daß mir das Wort nichts als Freude gemacht hat, obgleich ich keineswegs alt war, als mir der kleine Augustus Walkinshaw durch sein Erscheinen in dieser Welt zu diesem Titel verhalf.

Jetzt bin ich ganz Großmama, denn ich habe zehn Enkel, wovon einige rasch zu jungen Männern und Mädchen heranwachsen, und ich habe mich längst in meine Rolle gefunden.

Mr. Tressider hörte sich, glaube ich, zum erstenmal nicht gern Großpapa nennen. Männer sind trotz der allgemein verbreiteten gegenteiligen Ansicht viel eitler als Frauen.

Bald nach des kleinen Augustus' Geburt hatte ich Gelegenheit, mit Mr. Tressider einige ernste Worte über seine alberne Gewohnheit, in Gegenwart Fremder Witze über mich zu machen, zu sprechen. Es war bei einer kleinen Gartengesellschaft, wo er mich dadurch verletzte, daß er einer Dame, der ich ihn eben erst vorgestellt hatte, eine lächerliche Geschichte über mein Zanken mit ihm erzählte. Wir wären einmal in einer Droschke aus dem Theater nach Hause gefahren, und ich hätte ihn ersucht, auszusteigen und nachzusehen, ob der Kutscher nicht betrunken sei. Er hätte sich geweigert, und darauf wäre, wie er behauptete, meine Antwort gewesen: »Wenn du nicht aussteigst, dann thue ich's.« Darauf hätte ich meinen Kopf zum Fenster hinausgestreckt, um dem Kutscher zuzurufen, daß er halten solle, hätte aber dabei vergessen, es niederzulassen, und mein Kopf wäre durch die Scheibe gefahren, so daß er dem Kutscher hätte zwei Schillinge bezahlen müssen, und ich wäre nach unsrer Nachhausekunft zwei Stunden damit beschäftigt gewesen, die Glasscherben aus meinem Hute zu lesen. Was ihn veranlaßt hatte, die Geschichte zu erzählen, war eine Bemerkung der Dame über die Droschke, die sie nach unserm Hause gebracht und deren Kutscher so betrunken gewesen war, daß er nach dem Aussteigen der Dame gleich davon gefahren war, ohne auf sein Fahrgeld zu warten. So, wie John Tressider die Geschichte erzählt hatte, war sie unwahr, obgleich ihr etwas Thatsächliches zu Grunde lag. Aber er erzählte sie so, daß ich in einem ganz lächerlichen Lichte erschien, worin manche Männer ein ganz besonderes Vergnügen zu finden scheinen. Im Augenblick erwiderte ich nichts, sondern warf ihm nur einen vielsagenden Blick zu, aber als die Gäste alle gegangen waren und er allein im Gartenzelte saß und das übrig gebliebene Eis aufaß, nahm ich ihn vor.

»John Tressider,« sagte ich, »ich meine, es wäre Zeit, daß du dich benehmen lerntest, jetzt, wo du Großvater bist.«

»Du meine Güte, Jane, laß doch das!« rief er, »wie kann ein Mensch nur auf den Gedanken kommen, einen daran zu erinnern, daß man Großvater ist, während man den sechsten Teller Erdbeereis in Arbeit hat!«

Er behandelte es als Scherz, allein etwas später erwischte ich ihn im Schlafzimmer, wie er vor dem Spiegel stand und sein Haar untersuchte, das noch jetzt sehr stark und nur wenig ergraut ist, und ich weiß ganz bestimmt, daß er bei sich dachte, er sehe nicht im mindesten wie ein Großvater aus. Doch er wollte seine Rache haben. Lange Zeit nannte er mich zu meiner großen Entrüstung nicht anders, als Großmutter, Und? wenn ich irgend etwas sagte, was ihm nicht gefiel, dann sprach er häufig in Gegenwart andrer: »Nur ruhig, meine Liebe, rege dich nicht auf; vergiß nicht, daß du Großmutter bist.«

Allein wir gewöhnten uns bald an die neue Lage, und meine lieben Enkelkinder brachten mir eine ganz neue Freude in mein Leben, obgleich es manchmal zu Zwistigkeiten über die Namen kam, die sie erhalten sollten. Wenn ich einen Namen auswählte, den ich für eins von meinen Enkelkindern für passend hielt, dann hatte sein Vater stets entschiedene Wünsche in andrer Richtung, und ich mußte natürlich nachgeben.

Der kleine Augustus Walkinshaw war anfangs ein sehr zartes Kind, aber seine Mutter machte viel zu viel Wesen von ihm, und ich mußte ihr offen meine Meinung sagen und sie daran erinnern, daß ich neun Kinder aufgezogen hätte und doch wohl etwas davon verstehen müßte. Sie verhätschelte das Kind zu sehr und machte sich Sorge über den geringsten Luftzug, der es traf, und dann quälte sie sich immer wegen der Form seiner Nase.

Eines Tages traf ich das Kindermädchen mit dem kleinen Augustus, wie es rückwärts ging und mit großer Heftigkeit gegen einen Metzgerjungen gerannt wäre, der einen auf einem Kirchturme arbeitenden Dachdecker mit einer Mulde Fleisch auf der Schulter – der Metzgerjunge hatte die Mulde Fleisch auf der Schulter, nicht der Dachdecker – bewunderte, wenn ich es nicht noch rechtzeitig angerufen und vor der Gefahr gewarnt hätte. Und als ich dem Mädchen sagte, es solle sich was schämen, auf öffentlicher Straße mit einem Kinde auf dem Arme so herumzulaufen, entgegnete es mir, es gehe auf Befehl ihrer Herrin so, da ein kalter Wind wehe und das Kind so davor geschützt werde. Ich sprach sofort mit Sabine darüber und sagte ihr, ein solches Verhalten sei ganz lächerlich, da so verzärtelte Kinder immer kränklich blieben. Allein es half nichts, sie war gleich hinterher gerade so übermäßig ängstlich, und als die kleine Sabine geboren war, fing die Geschichte von vorn an. Mir war dieses Benehmen eine Quelle großen Verdrusses, weil meine älteste Tochter sich vollständig zur Sklavin ihrer Kinder machte und sie kaum jemals außer Sehweite ließ, und wenn sie 'mal von Hause weg war, dann befand sie sich fortwährend in einem Zustande der Aufregung, der für ihre Umgebung geradezu peinlich war. Beständig bildete sie sich ein, es werde während ihrer Abwesenheit ihren Kindern etwas Furchtbares zustoßen, und sie wechselte die Kindermädchen so häufig wegen irgend einer eingebildeten Pflichtversäumnis, daß ihr Name niemals aus dem Buche der Gesindevermietungsanstalt verschwand, woher sie ihre Leute bezog.

Endlich fand sie ein Mädchen, das ihr und den Kindern gefiel; dieses wurde indes bald Herrin im Hause. Sowohl Sabine als auch Augustus fügten sich ihr – sie hieß Anna – in allem, aus Angst, sie zu beleidigen, und Anna brauchte nur mit Kündigung zu drohen, um alles zu erreichen, was sie wollte. Als sie entdeckte, wie groß ihre Macht im Hause war, wurde sie übermütig, und das war nur natürlich. Die Kinder waren damals etwa vier oder fünf Jahre alt und hatten große Anhänglichkeit an Anna, denn diese war die einzige, die sie verstand und richtig behandelte. Als sie dahinter kam, für wie unentbehrlich meine Tochter sie für das Wohlergehen der Kinder hielt, sagte sie alle Augenblicke, sie müsse gehen, oder sie erzählte den Kindern, ihre »Nanna« müsse sie verlassen, und dann weinten die Kleinen und klammerten sich an sie. Der Gedanke an ein neues Kindermädchen war Sabine indes so schrecklich, daß sie Anna in allem nachgab, und um sie am Ausgehen zu verhindern, erlaubte sie ihr, ihre Bekannten und Freunde im Hause zu empfangen. Als ich eines Abends hinüberging, um meine Tochter zu besuchen, hörte ich viel Lachen und lautes Sprechen in der Küche, während ich durch den Hausflur schritt.

»Allmächtiger Himmel, was ist denn los?« fragte ich, »haben denn die Mädchen ein ganzes Regiment Soldaten unten?«

»O nein, Mama,« entgegnete meine Tochter, »es sind nur Annas Verwandte und einige Freunde: ihr Vater und ihre Mutter, ihre Schwestern und Brüder, die Köchin von nebenan und das Hausmädchen von gegenüber.«

Ich war sehr überrascht, daß meine Tochter einen so großen »Anhang« gestattete, und zögerte nicht, meine Meinung über die Sache auszusprechen, wobei ich sie darauf aufmerksam machte, daß ich solche Zustände nie geduldet hätte. Sabine entschuldigte die Sache damit, daß Annas Geburtstag sei, und da sie nicht gern wollte, daß sie für den Tag ausgehe, habe sie ihr gestattet, ihre Verwandten und Freunde zum Thee einzuladen. Ich erklärte das für ganz ungehörig und sagte ihr, wenn sie nicht vorsichtig sei, werde Anna bald Herrin im Hause sein, und so kam es in der That sehr bald. Sabine war eine hingebende Mutter und bildete sich fortwährend ein, ihre Kinder würden von irgend etwas angesteckt werden, und das war ein Grund, weshalb sie nicht gern sah, wenn Anna ihre Angehörigen besuchte, denn sie fürchtete stets, sie könne die Masern, das Scharlachfieber oder etwas Aehnliches mitbringen. Sie machte sich mit ihrer Angst das Leben furchtbar sauer, und Anna zog natürlich Nutzen daraus.

Eines Tages erzählte sie ihrer Herrin, ihr Vetter, mit dem sie verlobt war, sei von der See zurückgekehrt und sie möchte ihn gern zum Thee einladen, und von da an war beständig ein Matrose zum Thee in der Küche. Anna überwarf sich jedoch bald mit dem Matrosen, und dieser ging wieder zur See. Kurz nachher wurde sie plötzlich sehr fromm und fing an, eine benachbarte Kapelle zu besuchen. Diese Kapelle wurde das Kreuz im Leben meiner Tochter, denn Anna wurde eines der eifrigsten Mitglieder und verlangte, viermal wöchentlich zum Abendgottesdienst gehen zu dürfen, nachdem sie die Kinder zu Bett gebracht hatte. Aus Furcht, sie werde kündigen, wagte Sabine nicht, ihr das abzuschlagen, und wenn Anna in die Kapelle ging, mußte sie selbst bei den Kindern bleiben, denn wenn die kleine Sabine aufwachte und niemand fand, weinte sie nach ihrer »Nanna«.

Ich entsinne mich, daß ich einmal die ganze Familie an Johns Geburtstag zum Essen eingeladen hatte, und daß mir sehr viel daran lag, daß alle kämen.

Im letzten Augenblick aber erhielt ich einen langen Brief von Sabine, worin sie mir erklärte, es sei ein besonderes Fest in Annas Kapelle, wobei diese nicht fehlen dürfe, sie (Sabine) müsse deshalb bei den Kindern bleiben.

Ich war entrüstet und schrieb ihr einen sehr ernsten, wenn auch durchaus mütterlichen Brief und sagte ihr, wenn Anna mein Mädchen wäre, würde ich dieser Kapellenlauferei sehr bald ein Ende machen. Ich hätte durchaus nichts dagegen, wenn Dienstboten fromm wären – im Gegenteil – allein ich sei der Ansicht, daß ein Dienstmädchen, das verlange, jede Woche viermal in die Kapelle gehen zu dürfen, ihre Pflicht gegen ihre Herrschaft nicht erfülle, was doch sozusagen auch zur Frömmigkeit gehöre. Man nehme Dienstboten, damit sie die Hausarbeit verrichten, nicht, damit sie in die Kapelle liefen.

Anna blieb noch lange bei ihnen, auch als die Kinder schon so groß geworden waren, daß sie eines Kindermädchens nicht mehr bedurften, einfach, weil weder Sabine, noch Augustus den moralischen Mut hatten, ihr zu kündigen, denn sie wußten, daß die Kinder, die wirklich sehr an ihr hingen, einen Auftritt machen würden. Schließlich ging sie aus freien Stücken, um einen Stadtmissionar zu heiraten, und ich weinte ihr keine Thräne nach. Für meinen Geschmack gab es viel zu viel »Anna« in meiner Tochter Haushalt.

Augustus junior entwickelte sich zu einem aufgeweckten Burschen, war aber außerordentlich zart. Er wuchs so rasch, daß er nicht nur aus seinen Kleidern, sondern auch aus seinen Körperkräften herauswuchs, und da er, wie gesagt, sehr zart war, gaben ihm seine Eltern in allem nach. Er zeigte schon früh eine ganz ungewöhnliche Neigung zur Astronomie und stand immer in der Nacht auf, um die Sterne durch sein Schlafstubenfenster zu betrachten, und wirklich wußte er für ein Kind viel zu viel von Mars, Venus, Saturn und dem Mond.

Als er etwa zwölf Jahre alt war, schenkte ihm sein Onkel John ein großes Teleskop, das auf so einer dreibeinigen Stellage stand und wirklich ein vorzügliches Instrument war. Anfänglich hatte es Augustus junior im Garten aufgestellt, allein da die Sterne die berechtigte Eigentümlichkeit haben, erst nach eingebrochener Nacht zum Vorschein zu kommen, und dann das Gras vom Abendtau feucht war, geriet seine arme Mutter in schreckliche Angst, indem der Doktor die Nachtluft für schädlich für ihn erklärt hatte. Das Teleskop wurde also nach seinem Schlafzimmer gebracht, und da das Fenster ziemlich klein war, mußte er sich auf den Fußboden legen, wenn er den Mond sehen wollte, weil es auf andre Weise nicht möglich war, dem Instrument den richtigen Erhöhungswinkel zu geben. Es war schon für den Jungen schlimm genug, daß er statt im Bett auf dem Magen lag und Mars und Venus anstarrte, allein er bestand darauf, daß ihn sein Vater und seine Mutter bei seinen astronomischen Entdeckungen unterstützten, und so mußte denn die arme Sabine sich auf den Fußboden legen, den Mond ansehen und so thun, als ob sie sich im höchsten Grade für die Ringe des Saturn und die Satelliten des Jupiter interessiere. Es war mir ja ganz recht, daß der Junge sich mit etwas Wissenschaftlichem beschäftigte, obgleich ich etwas Verständlicheres und Nützlicheres als Sterne vorgezogen hätte, aber ich meinte doch, Sabine gehe etwas zu sehr auf seine Wünsche ein, indem sie sich bereit finden ließ, Abend für Abend auf dem Fußboden zu liegen und ein Auge an das Teleskop, das andre zuzuhalten und den Mond zu betrachten. Sie gestand mir, sie sehe nie mehr, als einen unbestimmten Schimmer, und ihre Lage auf dem Fußboden sei nicht nur unschön für eine ausgewachsene Familienmutter, sondern auch manchmal schmerzhaft.

Eines Abends, als ich in ihrem Hause war, schleppte mich der kleine Augustus ebenfalls hinauf, um mir einen Kometen zu zeigen, oder irgend ein andres wunderbares Ding, das er mit dem von seinem Onkel erhaltenen Teleskop entdeckt hatte. Als er aber verlangte, ich solle mich flach auf den Magen legen, um durch das Teleskop zu sehen, erklärte ich, sein Wort sei mir eine ausreichende Bürgschaft für das Vorhandensein des Kometen, und ich wolle lieber warten, bis er fürs unbewaffnete Auge sichtbar sei, ehe ich meine Meinung über ihn abgebe. Augustus war sehr entrüstet, daß seine Großmutter so wenig Interesse für die Himmelskörper bewies, aber ich erklärte ihm, daß in meinem Alter Kenntnisse, die nur durch längeres Liegen auf dem Magen, Zuhalten eines Auges und Anpressen des andern an ein Stückchen Glas zu erlangen seien, wenig Reiz für mich hätten. Ich wußte sein Interesse für die Astronomie zwar sehr zu würdigen, aber ich sagte ihm, daß ich das meinige infolge besonderer Umstände auf das Beobachten einer Sonnenfinsternis durch ein über der Lampe geschwärztes Stückchen Glas beschränkt habe. Nach dieser Erklärung betrachtete er seine Großmutter, glaube ich, mit etwas geringschätzigen Augen, und er zog mich nie wieder ins Vertrauen hinsichtlich der Himmelskörper. Allein ich hörte von seiner Mutter, daß er in einem Monat drei verschiedene Sterne entdeckt, die er noch nie vorher gesehen hatte, und daß er sich drei verschiedene Male erkältet habe, und zwar einmal so schwer, daß er zu Bett liegen mußte und Senfpflaster auf die Brust bekam. Und gerade in der Nacht, wo er das Senfpflaster liegen hatte, kam seine arme Mutter zu ihrem nicht geringen Schrecken gerade in sein Zimmer, als er, bloß mit Nachthemd und Senfpflaster bekleidet, vor dem offenen Fenster auf dem Boden lag und die Venus betrachtete. Doch er erklärte, es sei ihm nichts andres übrig geblieben, denn es sei ihm plötzlich eingefallen, daß gerade in der Nacht etwas mit diesem Planeten einträte, was erst in hundert Jahren wieder vorkomme, und da er vermutlich nur wenig Aussicht habe, die Erscheinung dann studieren zu können, habe er es für erforderlich gehalten, diese Gelegenheit nicht zu versäumen.

Meine arme Sabine war natürlich außer sich, schmeichelte ihn wieder ins Bett, deckte ihn sorgfältig zu und schrieb am nächsten Tage an John. Sie hoffe, sagte sie ihm, er werde nie wieder einer besorgten Mutter liebevolles Herz brechen, indem er einem schwachen Kinde mit zarter Brust ein Teleskop schenke, das nur bei offenem Fenster gebraucht werden könne.

In der letzten Zeit ist mein Enkel Augustus kräftiger geworden, und obgleich seine hingebende Mutter darüber jubelt, wird ihre Freude doch erheblich dadurch beeinträchtigt, daß er mit Leidenschaft körperliche Uebungen, namentlich Cricketspiel und Radfahren, treibt. Beim Cricket hat er übrigens meistens Pech, obgleich seine Mitschüler behaupten, er sei ein guter Spieler. Einmal ist er schon mit einem geschwollenen und blauen Auge nach Hause gekommen, da ihm ein Ball hineingeflogen war, und einmal hat er sich den Fuß verrenkt. Er spricht nie seine Absicht aus, zum Cricketspiel zu gehen, ohne seiner Mutter Herzklopfen zu verursachen, und auch seine Abenteuer beim Radfahren machen ihr große Sorgen, Ich fürchte, er ist etwas wagehalsig. Vielleicht sieht er auch den Himmel an und studiert die Sonne, statt auf den Weg zu achten; jedenfalls hat er eine ganz eigentümliche Fertigkeit, sich ganz ungeheuer rasch und plötzlich von seinem Rade zu trennen und seinem Gesicht, seinen Knieen und seinen Kleidern auf der Landstraße beträchtlichen Schaden zuzufügen, ganz zu schweigen von der furchtbaren Abnützung seiner Anzüge. Im ganzen würde Sabine, glaube ich, glücklicher sein, wenn er sich auf sein Teleskop beschränkte. Beschäftigt er sich in seiner Schlafstube damit, die Sterne zu begucken, dann weiß sie wenigstens, was aus ihm geworden ist, geht er aber zum Cricketspiel oder zum Radfahren, dann hat sie immer ein Vorgefühl, er werde auf einer Tragbahre wieder nach Hause gebracht werden.

Meine Enkelin Sabine hat schriftstellerische Anlagen. Schon im Alter von sechs Jahren pflegte sie kurze Geschichten auf ihre Schiefertafel zu schreiben, mit sieben griff sie, mit schrecklichen Folgen für die Tischdecken, ihre Schürzen und ihre Finger, zu Feder und Tinte, und mit zehn Jahren begann sie ihre eigene Lebensgeschichte und Erinnerungen zu schreiben, die sich hauptsächlich mit dem Leben und den Abenteuern der verschiedenen Katzen und Hunde beschäftigten, die zur einen oder andern Zeit Glieder der Familie gewesen waren.

Ihr Bruder hält ihre Geschichten für »Quatsch«, aber ihr Vater und ihre Mutter erblicken Anzeichen zukünftiger Größe darin. Die Erzählungen haben die Besonderheit, daß in keiner einzigen auch nur die entfernteste Andeutung auf Jungen vorkommt; mit Ausnahme der Hunde und Katzen sind alle Charaktere weiblichen Geschlechts. Selbst in den Märchen, die sie schreibt, werden keine Jungen erwähnt, alle Feen sind junge Damen, und unter keinen Umständen haben sie Liebhaber oder wissen überhaupt etwas von Liebe, außer der Liebe zu einander und zu ihren Hunden und Katzen.

Die Feenkönigin überschüttet einen Kanarienvogel mit Koseworten und verwandelt einen bösen Hund in einen Mistkäfer, aber noch nicht einmal ein Säugling männlichen Geschlechtes kommt in der ganzen Sammlung vor, womit meine Enkelin Sabine mehrere Hefte gefüllt hat.

Die Unterhaltung der handelnden Personen ist in gewissem Sinne realistisch, denn sie ist dem Leben entnommen. Die kleine Sabine hat nämlich die Gewohnheit, ihrer Eltern Gespräche in ihren Geschichten zu verwerten, was bei einer Gelegenheit zu ganz überraschenden Folgen führte.

Augustus Walkinshaw ist, wie alle Männer, zuweilen etwas krittelig. Eines Abends, wo die kleine Sabine im Zimmer saß und eine Geschichte schrieb, ohne daß er es wußte, ärgerte er sich über eine Schachtel Streichhölzer. Nachdem er ein halbes Dutzend angestrichen hatte, ohne daß eins gehörig anging, rief er: »Hol der Teufel die Streichhölzer; ich wollte, der Mensch, der sie gemacht hat, säße, wo der Pfeffer wächst!«

Nicht lange danach unterhielt sich die Mutter der kleinen Sabine einmal mit dem Geistlichen der Gemeinde, der sie besuchte, und erzählte ihm, wie gern die Kleine Geschichten schrieb. Der Geistliche bat, einige Proben sehen zu dürfen, und die stolze Mutter ließ sich unschwer überreden, ging hinauf und brachte das ihrer Tochter neueste Leistungen enthaltende Heft herunter.

Der Geistliche las einige Seiten mit großem Interesse. Zwei junge Prinzessinnen haben ihre Last mit ihrem Hausmädchen, das an seinem Ausgehsonntage nie um zehn Uhr zu Hause ist. Sie kommen überein, ihre Patin, eine Fee, zu bitten, das unartige Mädchen in eine Kröte zu verwandeln, wenn es jemals wieder über die Zeit ausbleibe. Am nächsten Sonntag kommt das Mädchen um elf, und die Prinzessinnen sind so entrüstet, daß sie ihre Patin herbeirufen und sie bitten, das Mädchen sofort in eine Kröte zu verwandeln. Die Patin läßt einen großen Zauberkessel ins Zimmer bringen, und als das Holz daruntergelegt ist, ergreift sie eine Schachtel Streichhölzer, um das Feuer anzuzünden, aber ein Streichholz nach dem andern versagt, und endlich ruft die Feenpatin: »Hol der Teufel die Streichhölzer; ich wollte, der Mann, der sie gemacht hat, säße, wo der Pfeffer wächst!«

Als der Geistliche soweit gekommen war, ließ er das Heft sinken.

»Du meine Güte!« sagte er, »ich hätte nicht geglaubt, daß ein Kind von sieben Jahren seinen Feen so starke Ausdrücke in den Mund legen würde.«

Die arme Sabine nahm das Buch, las die Geschichte und wurde feuerrot. Sofort war ihr klar, daß das Kind die Worte von seinem Vater aufgeschnappt hatte. Unter diesen Umständen hielt sie es für geraten, das Heft zu schließen und davon abzusehen, dem Geistlichen noch mehr Geschichten zuzumuten, denn sie fürchtete, daß selbst noch stärkere Ausdrücke ihren Weg in die Unterhaltung der Feen gefunden haben möchten.

Kleine Töpfe haben große Henkel, und Eltern können nicht vorsichtig genug sein, wenn sie in Gegenwart ihrer Kinder sprechen. Ich habe 'mal ein kleines Mädchen gekannt, das in einer Kindergesellschaft zum Entsetzen der Anwesenden einen sehr starken Ausdruck brauchte, weil ihr ein Junge zufällig auf den Fuß getreten hatte, und das war ganz allein die Schuld ihres Papas. Dieser litt an der Gicht und hatte denselben Ausdruck gerade an dem Morgen gebraucht. als der Bediente beim Zurechtstellen des Schemels, worauf der kranke Fuß ruhen sollte, diesen zufällig berührt hatte.

Hauptsächlich sind Hunde die Helden in der kleinen Sabine Geschichten, und das kommt daher, weil ihre Mutter und ihr Vater in wirklich übertriebener Weise an einem Bullterrier »Jack« hängen, Jack ist Herr des Hauses: wenn er sich auf den Sorgenstuhl legt, dann wartet Augustus, bis es ihm gefällig ist, sich wieder zu erheben; macht er sich's zu einem Mittagsschläfchen auf dem Sofa im Empfangszimmer bequem, dann wagt niemand, ihn zu stören. Er trägt ein großes Messinghalsband, worauf sein Name, seine Wohnung und eine fabelhafte Belohnung für den ehrlichen Finder, im Falle er verloren gehen sollte, eingraviert sind. Schläft der kleine Jack abends auf Sabines Schoß ein, dann geht sie, um seinen Schlummer nicht zu unterbrechen, nicht eher zu Bett, als bis er von selbst wieder erwacht ist. Wenn der kleine Augustus erkältet ist und zu Bett liegen muß, dann wird die alte Wiege, die zuletzt für die kleine Sabine gebraucht morden ist, als Bett für Jack hergerichtet und in des kleinen Augustus Schlafzimmer gestellt, Jack speist mit der Familie, er hat seinen eigenen Stuhl und ist darauf abgerichtet, aus einer kleinen Porzellanschüssel zu fressen, die ihm die Kinder zu seinem letzten Geburtstage geschenkt haben und die den Namen »Jack« in goldenen Buchstaben trägt. Jack hat für den Winter einen Ueberrock, weil seine Brust etwas empfindlich ist, auch besitzt er einen Regenmantel für feuchtes Wetter, kurz und gut, es wird ein Wesen um ihn gemacht, als ob er ein Mensch wäre. Eines Tages hatte er sich verlaufen, und als er zurückgebracht wurde, umarmten und küßten sie ihn alle der Reihe nach. Und einmal, wo Jack wirklich ernstlich an Lungenentzündung erkrankt war und der Tierarzt die Hoffnung auf seine Wiederherstellung ziemlich aufgegeben hatte, da war die ganze Familie – – – Allein ich muß die Geschichte der Walkinshaws und der Nacht, wo sie glaubten, Jack werde sterben, für eine andre Gelegenheit aufsparen.

Ich kam zufällig an jenem Abend ins Haus und konnte meine Meinung über dieses alberne Gethue nicht zurückhalten, denn Augustus und Sabine waren wahrhaftig ganz so einfältig, wie meine Enkel. Ich sagte, es sei abgeschmackt, obgleich ich selbst Tiere sehr gern habe. Als ich eintrat, standen sie alle weinend um ihn. Er lag auf einem Teppich, und als Augustus, der jüngere, aufsah und mich erblickte, sprach er zu dem Hunde: »Jack, lieber Jack, sieh doch, da ist deine liebe Großmama, um dich zum letztenmal zu besuchen.«

Ich bin selbst eine gefühlvolle Frau, aber auf Bullterriers erstreckt sich meine Empfindsamkeit nicht.


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