George R. Sims
Erinnerungen einer Schwiegermutter – Erster Band
George R. Sims

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Vierte Erinnerung.

Mein ältester Sohn John.

»Deine Dich liebende Lottie!«

Die Photographie entfiel beinahe meiner Hand, als mein mütterliches Auge diese Worte erblickte.

Mein ältester Sohn hatte mir und seinem Vater durch sein fahriges Wesen schon schwere Sorgen gemacht, und ich bekam natürlich einen Schreck, als ich in seinem Zimmer die Photographie einer jungen Frauensperson mit obigen Worten in einer weiblichen Handschrift darunter fand. Daß ich das Gesicht des jungen Mädchens aufmerksam betrachtete, als ich meine Fassung einigermaßen wiedergefunden hatte, läßt sich denken. So groß auch mein Schreck gewesen, war doch der erste Eindruck nicht ungünstig. Es war ein gutes, ehrliches Gesicht, und in den Augen lag eine gewisse Sanftmut. Soweit sich nach einer Photographie urteilen ließ, schien das Mädchen auch anständig gekleidet zu sein und sah entschieden aus, wie eine Dame der besseren Stände.

Vielleicht wird man meine Bestürzung eher verstehen, wenn ich beifüge, daß John immer etwas excentrisch und unbedacht war. Schon immer hatte ich gesagt, daß die Frau, die ihn heiratete, eine große Verantwortung übernähme. John verstand den Wert des Geldes nicht zu schätzen, hatte immer ganz wunderbare Ideen und machte manchmal die unbegreiflichsten Geschichten.

Als er das Gymnasium verlassen hatte, wo er, obgleich ein ganz gescheiter und aufgeweckter Junge, weiter nichts zu thun schien, als wegen seiner Possen und dummen Streiche in Ungelegenheiten zu geraten, wurde nach reiflicher Ueberlegung bestimmt, daß er in seines Vaters Geschäft eintreten sollte, und das that er auch. Sein Vater beklagte sich aber bald, daß er nicht ernst bei der Arbeit und sein Einfluß im Comptoir höchst verderblich sei.

Mein Mann erzählte mir, daß er häufig in seinem Privatarbeitszimmer durch schallendes Gelächter gestört werde, und wenn er dann ins Comptoir komme, um sich nach der Ursache des ganz geschäftswidrigen Lärms zu erkundigen, dann fände er, daß Mr. John, wie er genannt wurde, den Commis Geschichten erzählt und sie zum Lachen gebracht hatte.

Das konnte natürlich nicht so weiter gehen. Sein Vater nahm ihn ernstlich vor und beschloß, noch einen Versuch mit ihm zu machen.

Eine Zeit lang benahm er sich etwas besser, und es gelang ihm, seine überschäumenden Lebensgeister zu zügeln, wenigstens solange sein Vater im Geschäft anwesend war, allein nach etwa einem Jahre waren wir doch notgedrungen zur Ansicht gekommen, daß er sich nicht zum Kaufmann eigne.

Einmal hatte es einen heftigen Auftritt zwischen ihm und seinem Vater gegeben. Nachdem John sich in verschiedenen andern Beschäftigungen als untauglich erwiesen hatte, war ihm die Korrespondenz übertragen worden. Er konnte, wenn er wollte, einen ausgezeichneten Brief schreiben, war des Französischen und Deutschen mächtig, und sein Vater meinte, beim Briefschreiben könnte er keine dummen Streiche machen. Aber nach vierzehn Tagen gab es doch Unannehmlichkeiten. Eine der bedeutendsten Firmen, mit der mein Mann in Verbindung stand, beklagte sich über die Art, wie ihre Briefe beantwortet würden, und legte eine Probe bei. Der gute John war wieder vom Uebermutsteufel besessen gewesen und hatte eine geschäftliche Anfrage mit einem witzigen Briefe beantwortet. Mein Mann erzählte mir später, das Schreiben hätte von Kalauern gewimmelt, er hätte beinahe Krämpfe bekommen, als er es gelesen habe, denn der Chef der Firma, an die es gerichtet war, sei ein äußerst strenger und förmlicher Herr, Aeltester einer Dissidentengemeinde, der ein solches Verfahren in Geschäftssachen für sehr ungehörig, wenn nicht geradezu sündhaft halte. Mein Mann hatte sofort selbst einen Entschuldigungsbrief geschrieben, dann John in sein Arbeitszimmer kommen lassen und ihm gesagt, er habe die Hoffnung aufgegeben, einen tüchtigen Kaufmann aus ihm zu machen; er solle nur in Zukunft fortbleiben, sonst richte er das seit beinahe hundert Jahren rühmlichst bekannte Haus Tressider noch zu Grunde.

John meinte, er könne nicht einsehen, daß er etwas so Ungeheuerliches begangen habe, aber Kaufleute hätten wahrscheinlich keinen Sinn für Humor, und er versprach, sich in Zukunft eines ernsteren Tones befleißigen zu wollen.

Ihr werdet es kaum glauben, wenn ich euch erzähle, was der nichtsnutzige Junge nun that. Am nächsten Tage beantwortete er eine Anfrage über gewisse Waren und redete den Herrn, an den der Brief gerichtet war, mit »Freund« an, nannte ihn sogar »Du«, und das ganze Schreiben war so gehalten, als ob es von einem Quäker abgefaßt worden sei, und unterschrieben hatte er: »Dein Mitsünder.« Der Brief wäre wirklich abgegangen, wenn mein Mann nicht glücklicherweise ins Comptoir gekommen wäre und den Comptoirdiener, der im Begriffe war, den Brief zu kopieren, fast vor Lachen hätte ersticken sehen.

Das war denn doch ein bißchen zu stark und durfte unmöglich so hingehen. Er hielt also John in Gegenwart aller andern Commis eine furchtbare Standrede, zerriß den Brief, jagte den Diener fort (den er später wieder annahm) und sagte dem Kassierer, er solle Johns Gehalt für den nächsten Monat einbehalten. Das sollte die Strafe sein. Der Kassierer, ein kleiner, schwacher Mann, war augenscheinlich in großer Verlegenheit, als er diesen Befehl erhielt, und mein Mann, der im Geschäft viel scharfsichtiger ist, als zu Hause, merkte sofort, daß etwas nicht in Ordnung war, und rief den Kassierer in sein Privatcomptoir.

»Sie haben mich doch verstanden?« fragte er. »Mr. John erhält nächsten Monat kein Gehalt; Sie behalten es zurück.«

»Ich bitte um Verzeihung,« antwortete der Kassierer und wurde sehr rot, »aber einbehalten kann ich das Gehalt nicht.«

»Und aus welchem Grunde nicht, wenn ich so frei sein darf, zu fragen?«

»Weil Mr. John es schon erhalten hat; er hat es im voraus erhoben.«

Mein Mann war außerordentlich ärgerlich, weil ein junger Mann, der sein Gehalt im voraus erhebt, offenbar über seine Mittel hinaus lebt.

»O,« entgegnete mein Mann, »und welches Recht haben Sie, jemand Vorschuß zu geben? Ich werde die Sache sofort untersuchen. Haben Sie sich Schuldscheine von ihm geben lassen?«

»Selbstverständlich.«

»Bringen Sie mir Ihr Kassenbuch.«

Der Kassierer holte das Kassenbuch, und mein Mann fand, daß John einen Betrag, der das Gehalt für mehr als drei Monate überstieg, erhoben hatte. Er machte dem Kassierer ernste Vorstellungen und drohte ihm mit sofortiger Entlassung, wenn etwas Derartiges wieder vorkomme. Dann sah er sich nach John um, allein dieser hatte seinen Hut genommen und das Comptoir verlassen.

Als mein Mann an jenem Abend nach Hause kam, war er so aufgeregt, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Er erzählte mir das Vorgefallene, und das beunruhigte mich natürlich im höchsten Grade, denn ich konnte mir nicht verhehlen, daß mein ältester Sohn auf Wegen wandle, die wenig Aussicht boten, einen tüchtigen Geschäftsmann, wie sein Vater war, aus ihm werden zu sehen.

»Er kommt mir nicht wieder ins Comptoir,« sprach mein Mann ärgerlich, »Er verdirbt mir die ganze Gesellschaft und muß sehen, wie er allein fertig wird.«

»Uebereile dich nur nicht,« entgegnete ich, »vergiß nicht, daß er noch sehr jung ist. Ich will 'mal mit ihm reden.«

»Reden kann hier nichts nützen,« versetzte mein Mann, »ich habe es an ernsten Vorstellungen wahrlich nicht fehlen lassen, aber er ist unverbesserlich und das Salz nicht wert, das er ißt. Wenn er heute abend nach Hause kommt, werde ich ihm offen sagen, daß ich meine Hand von ihm abziehe.«

Ich wußte, daß, so ärgerlich mein Mann auch im Augenblick war, er bald wieder ruhiger sein werde, und deshalb machte ich mir keine großen Sorgen, aber ich beschloß, John abzufangen, ehe er mit seinem Vater zusammentraf.

Vor dem Essen kam jedoch der Bediente mit einem Briefe, den, wie er sagte, ein Droschkenkutscher abgegeben hatte.

Er war an meinen Mann gerichtet, der ihn öffnete, las, einen Ausruf der Ueberraschung ausstieß und dann mir reichte.

»Was sagst du dazu?« fragte er.

Der Brief war von John, und soweit ich mich entsinne, lautete er etwa folgendermaßen:

»Lieber Vater! Ich bin zu der Ueberzeugung gekommen, daß ich nie ein guter Kaufmann werde, wozu ich zudem auch gar keine Neigung habe. Aber ich will Dir nicht zur Last fallen und werde für mich selber sorgen. Ob ich Droschkenkutscher oder Omnibusschaffner werde oder zur Bühne gehe, weiß ich noch nicht, werde es Dir aber bald mitteilen. Ich habe mir eine billige Wohnung genommen und werde morgen meine Sachen holen lassen. Sage der Mutter, sie brauche sich keine Sorgen zu machen, ich werde schon meinen Weg finden. Wenn ich Aussicht habe, bei einer Omnibusgesellschaft anzukommen, darf ich dann auf Deine Empfehlung rechnen? Ich glaube, Du kennst den Vorsitzenden der Allgemeinen Omnibusgesellschaft, und ein Wort von Dir wäre mir wohl sehr nützlich.

»Dein Dich stets liebender Sohn

John Tressider.«

Ein netter Brief an einen liebevollen Vater und eine zärtliche Mutter, und noch dazu gerade beim Essen. Natürlich regte er uns furchtbar auf.

»Ach, mein armer Junge!« rief ich aus.

»Das wird ihm ganz gesund sein,« brummte mein Mann.

»Gesund sein!« seufzte ich, und ich sah meinen armen Jungen vor mir, wie er den ganzen Tag in strömendem Regen auf dem Trittbrett eines Omnibus stand und schrie: »Bank – – alte Kentstraße – Highgate Triumphbogen,« und so weiter. »Gesund sein! Wie kannst du so unmenschlich reden, wo du doch weißt, daß dein Sohn John an Rheumatismus leidet und so empfindliche Bronchien von dir geerbt hat? Wenn du ein Vater mit dem Herzen eines Vaters bist, dann läufst du gleich hin und suchst ihn und bringst ihn nach Hause. Lieber Himmel! Wer weiß, was für eine Krankheit er sich holt, wenn er in einer billigen Wohnung bleibt.«

»Ach, papperlapapp! Der ist wahrscheinlich nach einem guten Gasthofe gegangen. John Tressider sieht mir gerade so aus, als ob er sich was abgehen lassen würde. Er muß zur Vernunft kommen.«

»Was kann das nützen, daß er zur Vernunft kommt, wenn er sich den Tod dabei holt?« entgegnete ich. »Du weißt, wie unbesonnen er ist. Es ist deine Pflicht, auf der Stelle fortzugehen und ihn nach Hause zu holen.«

»Ganz bestimmt nicht. Er weiß, wo er zu Hause ist, und kann kommen, wann's ihm beliebt.«

»Wenn du nicht gehst, dann thue ich's,« rief ich entrüstet und rannte hinauf, um meinen Hut aufzusetzen.

Mein Mann folgte mir.

»Jane,« sagte er, »mach dich doch nicht lächerlich. Du kannst doch nicht in den Straßen umherlaufen und John, John' rufen? Und da du gar nicht weißt, wo du ihn suchen sollst, bliebe dir doch nichts andres übrig.«

»Ich werde auf die Polizeiwache gehen,« antwortete ich, »und dann lasse ich Anschlagezettel drucken und biete eine große Belohnung. Ich werde auch eine Anzeige in die Times setzen.«

»Wenn du einmal anfängst, dann besorg's auch gründlich. Laß die Kanäle und die abgehenden Dampfer in allen Häfen durchsuchen und die Eisenbahnzüge bewachen; es geht in einem hin,« sprach mein Mann. Als er aber sah, wie unglücklich und verzweifelt ich wirklich war, wurde er ernst. »So beruhige dich doch nur, liebe Frau,« sagte er freundlich. »John ist alt und verständig genug, es wird ihm nichts zustoßen, und wenn er heute abend nicht nach Hause kommt, dann werde ich morgen Schritte thun, um ihn zu suchen. Er darf sich nicht einbilden, daß er uns Angst verursacht habe, sonst macht er uns mehr solche Streiche.«

Ich ließ mich überreden, daß keine Gefahr vorhanden sei, und nahm meinen Hut wieder ab, aber ich blieb bis zwei Uhr morgens auf und horchte nach der Hausthür, und als ich endlich zu Bett ging, konnte ich kein Auge schließen. Am andern Morgen war ich zu unwohl, um aufzustehen, aber ich ließ mir von meinem Manne das Versprechen geben, daß er John suchen und mit nach Hause bringen wolle. Bald nachdem Mr. Tressider ins Geschäft gegangen war, kam der Bediente mit einem Brief in mein Zimmer. Ich wußte sofort, daß er von meinem Jungen war.

»Bitte, Madame, ein Droschkenkutscher hat dies gebracht, und es sollte sogleich abgegeben werden.«

Ich nahm ihm das Papier ab und riß es auf. Es war von meinem Sohne, wie ich erwartet hatte.

»Liebe Mutter!« schrieb er: »Willst Du so gut sein und mich um zwölf Uhr am Triumphbogen treffen? Ich will Dir alles erklären. Bitte, bring einen Fünfer mit. Dein Dich liebender Sohn John.«

Sowie ich wußte, daß mein Sohn wohlbehalten war, trat eine Umwälzung in meinen Gefühlen ein: ich wurde sehr zornig, daß er mir so viel Kummer und Angst gemacht hatte.

»Das sind wirklich reizende Zustände,« sagte ich, »wenn eine anständige Mutter zum Stelldichein mit ihrem Sohne an den Triumphbogen gehen muß. ›Bring einen Fünfer mit!‹ Ich muß sagen, das ist ein bißchen stark. Denkt denn der Schlingel, ich könne, wo ich jeden Schilling von meinem Haushaltsgeld notwendig brauche, Fünfpfundnoten aus dem Aermel schütteln?«

Ich steckte aber doch fünf Pfund in die Tasche, ehe ich ausging, nahm einen Omnibus (zu Droschken habe ich mich nie entschließen können, und mein Mann hatte unsern Wagen mit nach der City genommen) und fuhr nach dem Triumphbogen.

Und da stand mein unglücklicher Sohn ganz unverfroren und hatte sogar eine Blume im Knopfloch. Er kam mir sehr lustig entgegen und sprach: »Ich hoffe, du hast dich nicht geängstigt, Mutter, aber die Geschichte ist zu eklig, und ich muß was thun.«

»Nicht geängstigt?« rief ich aus, »Du wirst noch mein Herz brechen, John, ich habe die ganze Nacht kein Auge zugethan. Was ist das für ein Benehmen für einen wohlerzogenen jungen Mann?«

»Nun, fang du nur nicht auch noch an zu schelten,« entgegnete mir der Junge, »ich bin wirklich in einer schauderhaften Klemme.«

Etwas in seinem Tone flößte mir eine unbestimmte Besorgnis ein.

»Was soll das heißen, John?« rief ich, »Quäl mich nicht; sag mir alles.«

»Ja, siehst du, Mutter, ich wußte, daß es Krawall mit dem Alten geben würde, wenn er merkte, daß ich das Geld vom Kassierer geborgt hatte, und darum hielt ich es fürs beste, nicht dabei zu sein, wenn er das Schlimmste erführe. Weit davon ist sicher vor dem Schuß, weißt du. Die Sache ist nämlich die: ich stecke in Schulden, und diese niederträchtigen Gläubiger wollen sich nicht länger vertrösten lassen. Sie haben mir gedroht, sie wollten die Rechnungen dem Alten schicken, und da dachte ich, es wäre besser, wenn ich mich ein bißchen im Schatten hielte.«

»Wieviel Schulden hast du, John?« fragte ich mit zitternder Stimme. »Zwanzig Pfund?«

»Zwanzig Pfund! Du lieber Himmel, Mutter, du denkst doch nicht, daß ich wegen lumpiger zwanzig Pfund von Hause fortlaufen würde? Ich fürchte, zweihundert wird der Wahrheit näher kommen.«

Ich war über dieses Geständnis entsetzt, wie das jede Mutter gewesen wäre.

»Was hast du denn mit all dem Gelde angefangen, John?« rief ich aus.

»Ich habe das Geld gar nicht gehabt, Mutter, ich bin es schuldig. Siehst du, die Sache ist so gekommen: Das Gehalt, das mir der Alte gibt, ist furchtbar klein, und statt meine Kleider und Sachen damit zu bezahlen, habe ich sie auf Rechnung genommen, und da hänge ich denn nun an allen Ecken. Ich habe die Leute beruhigt, solange ich konnte, aber einige wollen jetzt nicht mehr warten, und die Rechnungen werden dem Alten wohl ins Haus geschickt werden. Ich hatte mich gestern entschlossen, alles zu gestehen, aber er geriet in eine solche Wut über den Brief und sagte dem Kassierer, er solle mir kein Geld mehr geben, und da dachte ich, das Gewitter wäre nun einmal losgebrochen, und es wäre wohl besser, wenn ich aus dem Wege ginge, bis es vorüber ist.«

»Was dein Vater dazu sagen wird, wenn er's hört, weiß ich nicht. Es wird sicher einen Auftritt geben,« sagte ich. »Wie konntest du nur so leichtsinnig sein, John? Ein Junge von deinem Alter, es ist ganz schrecklich, geradezu sündhaft.«

»Ich bin kein Junge mehr,« entgegnete er ganz gekränkt, »und das ist es eben, was du und der Alte nicht begreifen wollt. Ich bin zwanzig Jahre alt, und da ist man ein junger Mann.«

»Ich fürchte, John, du bist unsolid,« versetzte ich. »Du hast in dem schrecklichen Billardsaal, wo du abends immer hingehst, schlechte Gesellschaft kennen gelernt. Aus jungen Leuten, die in den Billardsälen umherlungern, ist noch nie etwas Ordentliches geworden. Das führt zum Wetten, Spielen und Trinken und allen möglichen schrecklichen Dingen. Bist du auch im ›Wellington‹ Geld schuldig?«

Der »Wellington« war ein Wirtshaus in unsrer Nachbarschaft, mit einem Billardzimmer, und ich hatte gehört, daß abends dort immer viele junge Leute verkehrten.

»Ja, siehst du, Mutter, die Sache läßt sich doch nun einmal nicht ändern,« entgegnete John, »ich hänge da auch ein bißchen. Einer oder zwei von den jungen Leuten haben mir etwas abgewonnen, aber sie haben es stehen lassen, weil sie wissen, daß ich in der Patsche sitze.«

»O, sie haben dir im ›Wellington‹ Geld abgewonnen, was?« fragte ich, »Das habe ich mir gedacht. Ich werde heute nachmittag zum Wirt gehen und ihm sagen, was ich von ihm halte, daß er einem Haufen dummer Jungen Gelegenheit gibt, zu spielen und zu trinken.«

John wurde bis unter die Haare rot, »Ums Himmels willen, Mutter,« rief er, »mach nur keinen Unsinn; der Wirt hat gar nichts damit zu thun, das ist ein sehr achtbarer Mann.«

»O, ja, sehr achtbar, das bezweifle ich keinen Augenblick. Wenn's nach mir ginge, dann würden alle diese Orte von der Polizei geschlossen.«

»Aber, liebe Mutter, wenn auch du dich von mir abwendest, dann habe ich keinen Freund mehr auf der Welt, und dann bleibt mir nichts andres übrig, als nach Amerika zu gehen und das Ueberfahrtsgeld abzuverdienen.«

»Schwätz kein albernes Zeug,« antwortete ich, aber doch etwas freundlicher, denn ich fürchtete, er könne wirklich etwas derart thun. »Wie kann ich dir helfen? Zweihundert Pfund habe ich nicht.«

»Nein, aber ich dachte, wenn du mir einen Fünfer mitgebracht hättest, dann könnte ich's noch ein paar Tage aushalten, während du es dem Alten vorsichtig beibrächtest und ihn überredetest, mir aus der Patsche zu helfen.«

Nun, das Ende vom Lied war, daß ich einwilligte, mit seinem Vater zu sprechen, aber nur unter der Bedingung, daß er sofort nach Hause zurückkehre. Ich glaube, er hätte lieber die fünf Pfund genommen und wäre noch eine Weile ausgeblieben, aber ich ließ mich auf nichts ein.

Am Abend brachte ich die Sache so schonend als möglich seinem Vater bei, der natürlich tief bekümmert war. »Was soll aus dem leichtfertigen Strick werden?« sagte er, »er wird unsre grauen Haare mit Jammer in die Grube bringen.«

Ich bat aber sehr inständig für meinen Jungen, und so willigte er endlich ein, ihm die Schulden zu bezahlen und noch einen Versuch mit ihm in der City zu machen. Und das that er, allein John konnte sich nicht daran gewöhnen, und gerade, als ich schon angefangen hatte, zu verzweifeln, daß jemals etwas Ordentliches aus ihm werden würde, kam er eines Tages zu mir und erzählte mir, er habe für eine von ihm geschriebene und vom »Family Herald« angenommene Geschichte fünf Pfund erhalten.

Ich wußte, daß er mit der Feder ganz gewandt war und immer zu seinem Vergnügen Verse und dergleichen geschrieben hatte, aber nie war mir der Gedanke gekommen, daß John zum Schriftsteller erblühen werde. Natürlich war ich sehr stolz, und als ich es seinem Vater erzählte, sagte ich: »Hinter John steckt mehr, als wir denken; er kann die Familie vielleicht noch berühmt machen.«

Aber die Annahme der Erzählung verdarb ihn vollends zum Geschäftsleben. Die Comptoirarbeit wurde ihm widerwärtiger denn je. Er saß immer bis spät in die Nacht hinein in seinem Schlafzimmer und schrieb, und dabei erklärte er, er könne keinen andern Beruf ergreifen, als den des Schriftstellers. Auch fing er an, Samtröcke zu tragen und eine greuliche schwarze Thonpfeife zu rauchen, sehr zum Entsetzen seiner Schwestern, die meinten, es sei geradezu eine Schande, daß er so auf der Straße umherlaufe. Allein er sagte, er sei ein geborener Zigeuner (was er damit sagen wollte, weiß ich nicht), und die feine Gesellschaft sei ihm widerlich; er werde sich hüten, sich zum Sklaven leerer Formen machen zu lassen.

Endlich kam auch sein Vater zur Ueberzeugung, daß weitere Versuche, einen Geschäftsmann aus ihm zu machen, aussichtslos seien. Er solle sich selbst seine Laufbahn begründen, und bis er auf eigenen Füßen stehen könne, möge er im Hause bleiben und solle jährlich hundert Pfund haben, John schrieb nun sehr viel zu Hause, ging aber auch oft aus und besuchte Schriftstellerklubs, und dann und wann kamen ganz komisch aussehende Menschen, um ihn zu besuchen. Etwas Geld verdiente er zwar mit seiner Schreiberei, aber von einer Laufbahn war noch nichts zu verspüren, und die Sache machte mir großen Kummer, weil ich immer gehofft hatte, ihn dermaleinst in seines Vaters Stellung zu sehen, wenn dieser sich zurückziehen würde. Aber William blieb stetig im Geschäft und war überhaupt ganz anders als John, und es war zu dieser Zeit, wo John noch im Hause war und schrieb, daß ich in sein Zimmer kam und die Photographie seiner ihn liebenden Lottie entdeckte.

Jetzt werdet ihr meine Empfindungen begreifen, und daß ich einen furchtbaren Schreck kriegte.

Wie sich die Sache weiter entwickelte, werde ich erzählen, wenn ich so weit bin. Für jetzt muß ich nochmal auf meine älteste Tochter Sabine und Mr. Augustus Walkinshaw zurückkommen.

Johns wegen war es zwischen Augustus und seiner Mutter zu heftigen Worten gekommen, und bei ihren engherzigen und eigentümlichen Ansichten und Johns Samtrock und Thonpfeife wunderte mich das gar nicht.

Er war ihr eines Tages als Miß Tressiders ältester Bruder gezeigt worden, und die Dame, die das gethan, hatte hinzugesetzt: »Sie kennen doch gewiß den Bruder ihrer zukünftigen Schwiegertochter?«

Sie war sehr entrüstet, daß sie mit John und seiner Thonpfeife verwandt werden sollte, und sprach mit Augustus darüber. Dabei hatte sie augenscheinlich etwas gesagt, was dieser für eine Beleidigung unsrer Familie hielt, denn er war ärgerlich geworden und hatte Sabine alles wiedererzählt, und daß er wegen Johns Thonpfeife einen Zank mit seiner Mutter gehabt habe.

Und Sabine, die auch ihren Stolz besitzt, hatte für ihre Familie Partei genommen, obgleich sie der Ansicht war, daß John ihr keine Ehre mache. Es war zu einigen unfreundlichen Worten zwischen ihr und Augustus gekommen, und dann hatte sie den vorhin erwähnten dummen Brief geschrieben.

Es war nur ein Zank, wie er zwischen Liebenden wohl 'mal vorkommt, und sie versöhnten sich auch gleich wieder, aber für mich war es nicht angenehm, zu wissen, daß sich Augustus' Mutter über uns aufhielt und in gewisser Weise auf uns herabsah. Das ist etwas, was ich nie habe vertragen können, und es war sehr hart, daß ich jetzt in Folge des Eigensinns meiner Kinder damit beginnen mußte, besonders nach dem Heidengeld, das ihre Erziehung gekostet hat.

Aber lieber verschluckte ich meinen Stolz, als daß ich Unannehmlichkeiten herbeiführte, und deshalb gab ich meine Absicht, zu Mrs. Walkinshaw zu gehen, auf und begann mit den Vorbereitungen zur Hochzeit.

Es war beschlossen worden, daß, wenn Sabine und Augustus heirateten, dieser sein Vermögen in einem Gute anlegen und Landwirt werden sollte, was seinen Neigungen und Kenntnissen entsprach. Als er etwas gefunden zu haben glaubte, was ihm geeignet schien, fuhr ich mit Sabine hin, um es mir anzusehen.

Augustus hatte ein Gut gewählt, das fünf Meilen von Dingsda lag, und obgleich wir eine kleine Meinungsverschiedenheit hatten, da es mir nicht gefiel, daß ich fünf Meilen von der nächsten Eisenbahnstation fahren sollte, wenn ich meine Tochter 'mal besuchen wollte, hatte ich doch schließlich nachgegeben, weil Augustus mir versicherte, daß vom geschäftlichen Standpunkt aus der Kauf sehr vorteilhaft sei.

Als sie dort eingerichtet waren, und meine Sabine, die an Gesellschaft und nahe Nachbarn gewöhnt war, kennen lernte, was es hieß, in einer einsamen Gegend zu wohnen, namentlich, wenn der Mann mitten in der Nacht fünf Meilen reiten muß, um einen Tierarzt zu einem Preisschwein zu holen, das sich überfressen hat, oder etwas Aehnliches, da hat sie oft genug ihrer Mutter Worte gedacht.

Aber meine mütterlichen Sorgen und meines armen Kindes Erfahrungen in ihrem neuen Heim (fünf Meilen von Dingsda) sollen bei einer späteren Gelegenheit berichtet werden.


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