George R. Sims
Erinnerungen einer Schwiegermutter – Erster Band
George R. Sims

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Zweite Erinnerung.

Miß Sabines Schatz.

»Miß Sabines Schatz!«

Das waren die Worte, die eines Morgens an mein entsetztes Ohr schlugen, als ich ohne den geringsten Gedanken an Horchen zufällig ein Gespräch zwischen dem Zimmermädchen und der Köchin mitanhörte. Ich war in die Küche gegangen, um nach dem Backofen zu sehen, denn die Köchin schob die Schuld immer auf diesen, wenn Kuchen oder Pasteten entweder nur halb gar, oder zu Kohle verbrannt auf den Tisch kamen.

Ich habe jetzt sehr viel Erfahrung im Haushalt, aber noch nie habe ich eine Köchin und einen Backofen gefunden, die zu einander paßten. Mein Ofen backte für einige zu rasch, für andre zu langsam. Was die Köchinnen über den Ofen sagen, weiß ich ganz genau, aber ich möchte sehr gern 'mal hören, was der Ofen über die Köchinnen sagen würde, wenn er sprechen könnte. Und, der Ofen hat die Schuld auf sich zu nehmen, nicht nur, wenn das Gebäck mißrät, sondern auch wegen der Kohlen. Die Art, wie in unsrer Küche die Kohlen verschwinden, ist geradezu entsetzlich. Kaum ist der Keller gefüllt, so ist er auch schon wieder leer, und wenn ich klage und die Dienstboten darauf aufmerksam mache, daß die Kohlen ein kleines Vermögen kosten, und daß mein Mann und ich nicht gern infolge der unsinnigen Verschwendung der Dienstboten unsre alten Tage im Armenhause verleben möchten, dann wird mir stets entgegengehalten, daß der Fehler ganz allein am Roste liege. Es ist ein verschwenderischer Rost, ein Rost, der ungeheure Massen von Kohlen verschlingt, ein Rost, worauf ein kleines Feuer zu unterhalten rein unmöglich ist, und die ganze Hitze geht zum Schornstein hinaus.

Ich habe Unsummen ausgegeben und alles mögliche versucht, um den Ofen und den Rost in Ordnung zu bringen, damit die Dienstboten keine Entschuldigung für ihre Faulheit und Nachlässigkeit haben sollten. Ich habe Backsteine hinter den Rost legen und allerhand Vorrichtungen am Schornstein anbringen lassen, und mein Mann hat sogar einen Sachverständigen zu Rate gezogen, der für seine Untersuchung des Ofens eine Guinee berechnete, an einem regnerischen Tage kam, seine Stiefel nicht abkratzte, seinen nassen Schirm ins Eßzimmer stellte und den ganzen Teppich volltröpfelte. Und dann ging er fort und schickte meinem Manne eine Zeichnung für so eine neumodische Geschichte, die siebzig Pfund kosten sollte und so aussah, als ob das halbe Haus abgerissen werden müßte, um sie aufzustellen.

Als mein Mann mir den Brief des Menschen zeigte, habe ich mit meiner Meinung nicht hinter dem Berge gehalten und mich erboten, ihm schriftlich zu antworten, aber mein Mann, der höchst nervös ist, bat mich, ich möchte es unterlassen, denn das Gesetz verstehe keinen Spaß mit Beleidigungen und sei hierzulande ganz eigentümlich, so daß es gefährlicher sei, einen wirklichen Schwindler Schwindler zu nennen, als einen ehrlichen Mann. Wenn das wahr wäre, entgegnete ich, dann sei das eine Schmach für die, die das Gesetz gemacht haben, und wenn wir Frauen mehr mit der Gesetzgebung zu thun hätten, dann gäbe es nicht so viele dumme Gesetze. Die Behauptung, daß Frauen nicht fürs Parlament taugten, weil sie keine Logik besäßen, ist mir angesichts der von den Männern gemachten Gesetze immer furchtbar abgeschmackt erschienen. Ich möchte wirklich die Frauen sehen, die so unlogische Parlamentsbeschlüsse zu stande brächten, wie sie die Männer seit Jahrhunderten gefaßt haben.

Aber das hat nichts mit meinem Backofen und meiner Küche zu schaffen, obgleich ich, wenn ich einmal Zeit habe, meine Ansichten über die gegenwärtige Stellung der Frauen zur Politik gern veröffentlichen möchte.

Mein Mann, meine Söhne und Töchter haben für meinen Standpunkt in Beziehung auf diesen Gegenstand nie rechtes Verständnis gezeigt und mich mit Thränen in den Augen beschworen, doch ja der Frauenliga nicht beizutreten, die vor einigen Jahren gegründet worden ist. Sie thaten so, als ob sie fürchteten, ich könnte, wenn ich 'mal zum Worte käme, das rechte Maß nicht finden. Nun, ich hätte meine Meinung offen ausgesprochen, einerlei ob Zeitungsberichterstatter anwesend gewesen wären oder nicht, aber ich würde ganz bestimmt nichts gesagt haben, dessen sich mein Mann und meine Kinder hätten schämen müssen.

Mein Sohn William war ganz außer sich, als ich erzählte, mehrere Damen hätten mich zum Beitritt aufgefordert und gebeten, die Schriftführerstelle für unsern Stadtteil zu übernehmen.

»Um Gottes willen, Mutter,« sagte er, »denk doch nur nicht daran. Du bist zu ehrlich, zu offen, um thätigen Anteil an den öffentlichen Angelegenheiten zu nehmen. Es wäre dir doch sicher nicht angenehm, von der Vorsitzenden zur Ordnung gerufen zu werden, oder daß dir das Wort entzogen würde, ehe du fertig wärest?«

»Den Menschen möchte ich sehen, der mir das Wort entziehen könnte, ehe ich ausgesprochen habe, was ich sagen will,« entgegnete ich.

»Sie thäten es, Mutter, du kannst dich drauf verlassen,« versetzte William, »und dann gäbe es einen schrecklichen Skandal, und in der Aufregung des Augenblicks sagtest du der Vorsitzenden vielleicht, was du von ihr dächtest, und dann käme nachher im Daily Telegraph ein langer Artikel mit der fett gedruckten Ueberschrift: »Stürmische Auftritte in der Frauenliga. Höchst merkwürdige Rede der Mrs. Tressider. Es wäre wirklich nicht hübsch, Mutter, das meinst du doch auch?«

Ich überlegte mir die Sache und gab den Gedanken des Beitritts auf, aber ich kann in der That nicht begreifen, warum meine Kinder mich immer als solche Megäre hinstellen. Eines Tages, wenn ich nicht mehr da bin, werden sie einsehen, was sie an mir gehabt haben, aber dann ist es zu spät, wie ich ihnen immer sage, wenn sie mich ärgern und zur Verzweiflung bringen. Ich will nicht in Abrede stellen, daß ich ein bißchen hitzig bin, aber ich habe auch wirklich sehr viel zu tragen, was meine Nerven angreift, und auf der andern Seite bin ich sehr leicht zu besänftigen und vergesse sehr rasch.

Als ich hörte, wie die Köchin und das Stubenmädchen in so unpassender Weise über meine älteste Tochter sprachen, wurde ich allerdings »rasend vor Wut«, wie mein Mann immer sagt. Sie hatten mich augenscheinlich nicht gehört, denn sie kicherten und redeten ganz laut. Ich hörte etwas von einem hübschen jungen Manne mit einem dunklen Schnurrbart, und dann kamen die Worte, die mich einen Augenblick starr vor Entsetzen machten, so daß ich wie angewurzelt stehen blieb: »Miß Sabines Schatz!«

Ich frage euch, liebe Leserinnen – das heißt diejenigen von euch, die Mutter sind und Töchter erzogen haben – würdet ihr nicht einen Schreck bekommen haben, wenn ihr zwei einfältige Frauenzimmer von Dienstboten von eurer ältesten Tochter »Schatz« sprechen hörtet, während ihr nicht die blasseste Ahnung habt, daß es überhaupt eine solche Persönlichkeit gibt?

Als ich das vernahm, fühlte ich, wie mir das Blut heiß zu Kopfe stieg, und ich hatte die größte Lust, geradeswegs in die Vorratskammer zu gehen, wo die beiden Frauenzimmer schwatzten, und sie zu fragen, wie sie sich erfrechen könnten, so von ihrer jungen Herrin zu sprechen, aber es gelang mir mit einer gewaltigen Anstrengung, mich zu beherrschen. Ich fürchtete, ich könnte zu viel sagen, und wenn, was ich jedoch kaum für möglich hielt, meine Sabine diesen Frauenzimmern wirklich Grund gegeben hatte, ihren Namen mit dem des jungen Mannes in Verbindung zu bringen, dann war es besser, ich hörte die Wahrheit von meiner Tochter selbst.

Sabine spielte gerade oben Klavier und sang irgend ein einfältiges italienisches oder deutsches Lied; die beiden Sprachen sind mir eine so bekannt, wie die andre, denn ich schäme mich nicht, es zu sagen, in meiner Jugend wurde von jungen Mädchen nicht mehr als ihre Muttersprache und ein bißchen Französisch verlangt, aber meine älteste Tochter Sabine und die zweite, Maud, »die Schönheit der Familie«, wie ihre Brüder und Schwestern sie nennen, sind wirklich sehr bewandert in fremden Sprachen, obgleich sie ihnen bis zum gegenwärtigen Augenblick noch nicht viel Nutzen gebracht haben, ausgenommen, daß sie manchmal zusammen sprechen können, ohne daß ich sie verstehe.

Ich habe ihnen häufig gesagt, daß sich junge Mädchen nicht in einer Sprache unterhalten dürfen, die ihre Mutter nicht versteht; sie sagen aber immer, sie müßten in der Uebung bleiben, wenn sie nicht vergessen sollten, was sie gelernt haben, und der Grund läßt sich ja hören, aber es wäre mir doch lieber, sie sprächen ihr Deutsch oder Italienisch, wenn sie allein zusammen sind und nicht in meiner Gegenwart.

Auf meiner Tochter Sabine vielseitige Bildung bin ich immer stolz gewesen, und ich schäme mich nicht, einzugestehen, daß ich stets gehofft habe, sie würde eine glänzende Partie machen. Zur Zeit, wo die Unterhaltung in der Vorratskammer mir den furchtbaren Schreck einjagte, war sie eben achtzehn Jahre alt, und obgleich ihr Vater manchmal sagte: »Es sollte mich gar nicht wundern, wenn Sabine sich nächstens verlobte«, hatte ich doch noch nie ernstlich an so etwas gedacht.

Keins von meinen Mädchen ist jemals gewesen, was die Welt »gefallsüchtig« nennt; sie schlagen in dieser Hinsicht mir nach. Tressider war der erste junge Mann, der mich vor andern Mädchen auszeichnete, und sobald ich mir darüber klar war, daß auch ich ihn liebte, habe ich ihm das durchaus nicht verborgen, und von der ersten Stunde an, wo wir uns verstanden, habe ich ihm – das kann ich mit gutem Gewissen versichern – auch nicht die geringste Ursache zur Eifersucht gegeben. Auch meinen Eltern habe ich nicht verhehlt, daß ich liebte. Ich zog meine Mutter sofort ins Vertrauen, und mein lieber Vater erkundigte sich sogleich über Johns weltliche Verhältnisse, und sobald wir uns überzeugt hatten, sie seien derart, daß er einer Frau ein behagliches, wenn auch nicht gerade luxuriöses Heim bieten könne, gab ich John einen zarten Wink, es sei angebracht, daß er eine Unterredung mit meinem Vater nachsuche, wenn er wirklich eine Verbindung mit mir wünsche.

In so strengen Grundsätzen aufgewachsen, die, wie ich höre, jetzt als altmodisch verlacht werden, konnte ich es nicht für möglich halten, daß eins meiner Kinder ohne Wissen und Billigung ihrer Mutter und ihres Vaters sein Herz vergeben hätte.

Nun fiel mir aber mit einiger Besorgnis ein fast vergessener Vorfall ein. Sabine war fünfzehn Jahre alt und befand sich in einem Pensionat in Clapham, als ein Junge aus einer Knabenschule, die ihre Plätze in der Kirche dem Pensionat gerade gegenüber hatte, so frech war, ihr in der Zeichensprache der Taubstummen zu telegraphieren, daß er sie liebe, und sie um Mitteilung ihres Namens zu bitten. Der kleine Schlingel war erst vierzehn; es handelte sich also nur um eine Kinderei, aber Sabine hatte bei dieser Gelegenheit, wie ich leider zugeben muß, anstatt die Sache der ersten Lehrerin zu melden, in derselben Zeichensprache geantwortet und ihren Namen angegeben. Und der gräßliche Junge – er war der Sohn eines Barons in Indien, und das Leben in dem heißen Klima und unter Wilden war vielleicht mit Schuld daran – hatte die Unverschämtheit gehabt, einige Tage später einen Brief an sie ins Pensionat zu schmuggeln, der in der schwülstigsten Sprache geschrieben war.

Durch diesen Brief kam die ganze Geschichte an den Tag, denn meine Tochter zeigte ihn ihrer Busenfreundin, der Nichte der Lady Smith, deren Mann früher einmal Lord Mayor von London gewesen war. Glücklicherweise fiel der französischen Lehrerin das schuldbewußte Aussehen der beiden Mädchen auf, und da sie merkte, daß etwas nicht in Ordnung war, hielt sie die Augen offen, wie das nur eine französische Lehrerin kann. Sie erwischte den Brief, nahm ihn an sich und zeigte den Vorfall der Vorsteherin an, und nun kam natürlich alles an den Tag. Sabine, die, wie alle meine Kinder, zur Wahrheitsliebe erzogen worden ist, legte ein volles Geständnis ab und brachte in die Ferien, die bald darauf begannen, eine Strafarbeit mit und einen Brief von der Vorsteherin, der alles erklärte.

Ich war natürlich sehr ärgerlich, und wenn mich ihr Vater nicht daran verhindert hätte, dann wäre ich zum Vorsteher des Knabenpensionats nach Clapham gegangen und hätte ihm ordentlich meine Meinung darüber gesagt, was ich von der Beaufsichtigung in seiner Schule hielte. Aber mein Mann machte seine gewöhnlichen einfältigen Einwendungen, und so wurde die Sache nach einer tüchtigen Strafpredigt für Sabine nicht weiter verfolgt.

Ich muß noch erwähnen, daß das Kind – denn das war sie noch – sein Benehmen aufrichtig bereute und versprach, so etwas nie mehr thun zu wollen, und sie hätte es auch diesmal nicht gethan, aber die Mädchen wären so daran gewöhnt gewesen, sich in der Zeichensprache der Taubstummen zu unterhalten, daß sie dem Jungen geantwortet hätte, ohne sich etwas Schlimmes dabei zu denken.

Seit der Zeit hat sie mir auch nicht einen Augenblick wieder Ursache zur Sorge gegeben, und ich meinte auch, nie beobachtet zu haben, daß sie auf Bällen und in Gesellschaften Aufmerksamkeit erregte – nicht halb soviel, als die um ein Jahr jüngere Maud, »die Schönheit der Familie«, wie ich schon erklärt habe.

Die arme Maud wurde wirklich in sehr lästiger Weise umschwärmt und mußte ihrer Brüder Spott über die Anzahl der jungen Männer, die bis über die Ohren in sie verliebt sein sollten, über sich ergehen lassen. Allerdings waren einige junge Herren unsrer Bekanntschaft eifrige Besucher unsres Hauses, ehe Maud verlobt war, und ihre Besuche hörten gleich danach auf. Wenn ich an den Teil meiner Erfahrungen komme, werdet ihr begreifen, was das eine Last für mich war – besonders ein Herr, der viel zu alt für sie war, denn er war schon dreißig und hatte einen großen roten Schnurrbart. Er war der Bruder einer Miß Mosenthal, einer vertrauten Freundin Sabines, und holte seine Schwester immer bei uns ab, und dann hatte er zur großen Belustigung meiner Jungen eine gewaltige Baßposaune auf dem Verdeck seiner Droschke liegen.

Wenn die Jungen ihre Schwester mit ihm neckten, wie das so Jungenart ist, war sie höchst entrüstet, und ich hatte wirklich Mitleid mit ihr, denn obschon der junge Mosenthal reich war, wollte mir der Gedanke, daß meine schöne, anmutige Maud einen Mann mit einem roten Schnurrbart und einer Baßposaune heiraten sollte, gar nicht gefallen. Es war schon schlimm genug, daß das Ungetüm vor unsrem Hause auf dem Verdeck der Droschke wartete, aber eine solche große Posaune im Hause zu haben, wäre doch eine furchtbare Zugabe zum Leben gewesen, zumal, wenn er sie wirklich spielte.

Wäre John Tressider mit einer großen Posaune behaftet gewesen, oder irgend einem andern musikalischen Instrument dieser Art, dann würde ich wohl gesagt haben: »Wenn es sich um die Posaune und mich handelt, John, dann mußt du wählen, aber dasselbe Dach kann uns nicht beschirmen.« Gott sei Dank! Mein Mann ist nicht musikalisch. Die Mädchen mit ihrem Klavier und Tommy, mein Jüngster, der wirklich ein musikalisches Genie ist und alles spielen kann, und der von Kindheit an eine ganze Stube voll Trommeln, Pfeifen, Ziehharmonikas und Maultrommeln und eine schauderhafte Vorrichtung aus Pfeifen gehabt hat, womit er die Treppe auf und ab geht und Puppentheatermann spielt, und gewöhnlich den Morgen wählt, wo ich mein Kopfweh habe, um vor meiner Schlafstubenthür »God save the Queen« zu dudeln, das ist wahrhaftig genug Musik im Hause, und man braucht nicht auch noch eine Baßposaune zum Schwiegersohn zu nehmen.

Mein Jüngster ist Thomas getauft, aber jedermann nennt ihn »Tommy Tressider«, und ich habe mir das auch angewöhnt. Der Junge hat eine glänzende Laufbahn vor sich, und ich werde nicht eher ruhen, bis ich seinen Vater überredet habe, ihn nach Eton oder Harrow und später auf die Universität zu schicken. Es gibt wirklich nichts, was er nicht könnte, und obgleich er noch nicht elf Jahre alt ist, hat er doch schon mehr Schulpreise gewonnen, als irgend einer seiner Mitschüler. Der Schelm sitzt ihm freilich im Nacken, aber das ist ja bei allen Jungen seines Alters so, und ich sage seinen Schwestern, sie müßten stolz auf ihn sein. Einmal mußte ich meiner Tochter Jane einen strengen Verweis erteilen, weil sie sagte, Tommy könne sich alles herausnehmen, da er mein »Verzug« sei. Ich habe keinen »Verzug«, alle meine Kinder, verheiratet oder nicht, sind mir gleich lieb, aber Tommy ist der Jüngste und noch ein Kind, und ich glaube, wenn wir älter werden, fühlen wir uns besonders zu dem Kinde hingezogen, das noch ein Kind ist, obschon alle unsre Kinder für uns stets Kinder bleiben.

Ich habe eine liebe Tante, beinahe neunzig Jahre alt, aber noch ganz gesund und rüstig, obgleich ihr Gedächtnis sie manchmal im Stiche läßt. Sie wohnt bei ihrem verheirateten Sohne und spielt jeden Abend Whist, wie sie das viele, viele Jahre gethan hat. Ihre Enkel sind jetzt alle junge Herren und Damen, aber oft legt sie plötzlich ihre Karten hin und sagt: »Seid 'mal ruhig, ich glaube, ich höre eins von den Kindern weinen.« Die arme, liebe Tante. Das jüngste von den Kindern ist jetzt zweiundzwanzig, aber sie bildet sich immer noch ein, sie wären oben in der Kinderstube, und in ihrem liebenden Herzen werden sie nie zu Männern und Frauen heranwachsen.

Das ist natürlich ein Fall von geistiger Altersschwäche, aber für viele von uns wachsen die Kinder wirklich nicht heran. Wenn Euer Sohn fünfzig alt ist, bleibt er immer »Euer Junge«, und Eure Tochter bleibt »Euer Mädchen«, auch wenn sie vierzig alt ist, und das ist, glaube ich, einer der Gründe, weshalb Schwiegermütter so leicht mißverstanden werden. Ihre Kinder heiraten, aber für sie sind sie noch ihre Kinder, und sie ist vielleicht etwas zu sehr geneigt, sie sich als Kinder zu denken und sich ihnen gegenüber als sorgende und wachsame Mutter zu benehmen.

»Mutter«, ruft dein Sohn vielleicht, wenn er zum Manne herangewachsen und verheiratet ist, »ich bin ja kein Kind mehr.« In seinen eigenen Augen vielleicht nicht, aber in seiner Mutter Augen doch; da ist er ein Kind und wird es stets bleiben.

Ich bin keine empfindsame Frau, wie ich mir schmeichle, aber an etwas kann ich nicht denken, ohne daß nur die Thränen in die Augen treten: die Geschichte von der lieben alten Mutter, die am Sterbebette ihres Sohnes saß – eines durch ein ausschweifendes Leben vorzeitig gealterten und gebrochenen Mannes von sechzig Jahren – der seinen ergrauten Kopf vom Kissen hob und an der Mutter Busen legte, während sie betete: Gott möge ihr ihr Kind, »ihren lieben Kleinen« lassen.

Manche Leute würden es vielleicht nicht schwer finden, über eine Frau, die einen alten grauhaarigen Mann »ihren Kleinen« nennt, zu lachen; für mich aber ist die Geschichte immer ein schönes Gedicht gewesen – tief empfunden und wahr – denn für ein liebendes Mutterherz gibt es keine Zeit. Ihre Kinder sind immer ihre Kinder – mögen sie auch alt, grau und gebeugt sein, sie bleiben »ihre Kleinen«.

Und das ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb eine Mutter besonders am Jüngsten hängt, dem, der noch nicht aufgewachsen ist und sich nicht ärgert, wenn er als Kind betrachtet wird. Ich versuche gewiß stets, ganz gerecht zu sein, aber ich kann es nicht mit ansehen, wenn die andern meinen armen Tommy immer ins Unrecht setzen wollen; und seine Schwestern, obgleich sie durchaus keine bösartigen Mädchen sind, verleumden ihn wirklich manchmal.

Ich habe hier früher von Tommy sprechen müssen, als ich eigentlich beabsichtigt hatte, weil er mir die Wege zur Aufklärung des Geheimnisses betreffs – um mich der eleganten Ausdrucksweise der Dienstmädchen zu bedienen – »Miß Sabines Schatz« beträchtlich ebnete.

Als ich ins Wohnzimmer trat und Sabine am Klavier sitzen sah, waren mir einen Augenblick ihre Schulstreiche ins Gedächtnis gekommen, und ich hatte die Besorgnis – natürlich eine sehr einfältige Besorgnis – es könne wieder so eine Taubstummenalphabetgeschichte im Gange gewesen sein. Sabine ohne weiteres zu fragen, hatte ich keine Lust, denn es war mir unangenehm, ihr sagen zu müssen, daß die Dienstboten über sie geklatscht hatten, und ich blieb einen Augenblick zögernd in der Thür stehen, Sabine bemerkte mich offenbar nicht, denn sie ließ sich nicht im Singen stören. Plötzlich sah ich, wie Tommy mit einem von den ekligen Dingern, die sie »Rückenkratzer« nennen – Gott mag wissen, wo er es her hatte – unter dem Tische hervorgekrochen kam, und ehe ich's hindern oder einen Laut von mir geben konnte, war er hinter Sabine und fuhr ihr mit dem Dinge den Rücken hinunter. Sabine schrie natürlich und sprang beinahe in die Luft – ich hätte es auch gethan – und als sie sich umdrehte, sah sie Tommy.

»O, du gräßlicher Junge,« rief sie und gab ihm im Aerger eine gewaltige Ohrfeige. Tommy ist ein braver Junge, aber die Thränen traten ihm doch in die Augen.

»Du Feigling!« rief er, »Du weißt, daß du nur ein Mädchen bist und daß ein Mann ein Mädchen nicht schlagen kann, aber du sollst schon noch dafür büßen. Wenn ich deinem Laternenpfahl wieder einmal auf der Straße begegne, dann gebe ich ihm eine ins Gesicht, und dann muß er mit mir boxen.«

»Du ungezogener Junge! Was willst du mit Laternenpfahl sagen?«

»O, ja; als ob ich nicht alles wüßte? Ich habe wohl gesehen, wie er gestern immerzu vor dem Hause auf und ab gegangen ist und nach deinem Fenster gesehen und gegrinst hat. Ja, und du hast ihm Kußhände zugeworfen. Glaubst du, ich wüßte nicht alles? Wart nur, bis die Mama hinter deine Schliche kommt, weiter sage ich nichts. Die wird ihn schon belaternenpfahlen und ihm seinen Standpunkt klar machen.«

Das war mehr als ich anhören konnte; rasch trat ich ins Zimmer.

»Sabine,« sprach ich, »was soll denn das alles bedeuten? Was in aller Welt meint denn Tommy mit dem Laternenpfahl?«

Sabine wurde rot, wie eine Päonie, und Tommy stieß ein leises Pfeifen aus.

»Komm 'mal her, Tommy,« fuhr ich streng fort, »jetzt erklär mir 'mal alles. Wer ist Sabines Laternenpfahl?«

»Du mußt mich entschuldigen, Mama,« entgegnete Tommy, »aber was ein ordentlicher Junge ist, der petzt keine Mädchen an.«

»Das ist mir ganz einerlei, ich will es wissen. Sabine, vielleicht wirst du so gut sein, mir alles zu erklären.«

»O, Mama,« rief meine Tochter halb schluchzend, »es ist – es ist alles nur Unsinn von Tommy. Bitte, laß mich in meine Stube gehen; der ungezogene Junge hat mich so erschreckt, daß ich mich ganz elend fühle.«

»Gut, mein Kind, geh in deine Stube,« antwortete ich ganz ruhig, »aber wenn du dich besser fühlst, dann erwarte ich, daß du mit einer offenen Erklärung zu mir kommst, wer der Laternenpfahl ist, der nach deinen Fenstern sieht und dem du Kußhände zuwirfst. Ich will dir nur sagen, daß ich schon ein Vögelchen habe pfeifen hören.«

»O, Mama, liebe Mama, sei nur nicht böse, und ich – ich will – will dir alles sagen, aber, bitte, laß mich jetzt gehen.«

»Sabine, mein Kind,« entgegnete ich freundlich, zog sie an mich und legte ihren Kopf auf meine Schulter, »beruhige dich nur; ich bin nicht böse, aber es darf keine Geheimnisse zwischen uns geben, besonders dieser Art, denn ich gehe wohl nicht irre, wenn ich annehme, daß der Laternenpfahl, wovon dein Bruder gesprochen hat, ein junger Herr ist. So, mein liebes Kind, nun geh in deine Stube, beruhige dich, und wenn du dich wieder wohler fühlst, dann komm zu mir, und wir wollen uns in meinem Zimmer aussprechen.«

Sabine, die immer ein weichherziges Mädchen war, brach vollständig zusammen, als ich so gütig sprach, denn sie hatte wahrscheinlich einen Sturm erwartet, obgleich es mir vollkommen rätselhaft ist, weshalb meine Kinder immer erwarten, daß ich ihnen an den Kopf fahren werde. Sie preßte das Taschentuch an die Augen und ging hinaus.

Tommy folgte ihr und sah sehr niedergeschlagen aus. Als sie draußen waren, hörte ich ihn sagen: »Sabine, es thut mir furchtbar leid. Ich wußte nicht, daß die Mutter so nahe war, sonst hätte ich mir lieber die Zunge abgebissen, als geplappert. Weine doch nicht, Sabine, und wenn du herunter kommst, kannst du mich hauen, so viel du willst, und ich werde Gus Walkinshaw nie wieder ›Laternenpfahl‹ nennen.«

»Gus Walkinshaw!« Vor Schreck blieb ich wie angewurzelt stehen. Gus Walkinshaw, der Sohn unsres Pfarrers, ein junger Mann ohne die geringsten Aussichten, denn er hatte mehrere Brüder und stand sechs Fuß zwei Zoll in seinen Strümpfen – nicht, daß ich ihn jemals in Strümpfen gesehen hätte – aber meine Jungen hatten mir gesagt, das sei seine Größe. Und von dem sprach Tommy als ›Laternenpfahl‹ und meine Köchin und mein Stubenmädchen als »Miß Sabines Schatz!«

Sechs Fuß zwei Zoll, keine Aussichten, und meine Tochter Sabine war die kleinste der ganzen Familie, denn sie war kaum fünf Fuß groß.

Kein Wunder, daß ich schauderte. Das war eins von den Dingen, worauf ich nicht vorbereitet war: daß ich die Schwiegermutter eines Riesen werden sollte!


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