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Weihnachten in Kakola. Pakarinvintti

Einmal im Jahre naht doch die Zeit heran, wo Festgeläute durch die Lüfte dringt und das Surren der Tretmühle ganz zum Stehen kommt, wo die Menschen den Alltag wie ein altes Gewand abschütteln – einmal, wo es wirklich für alle so ziemlich aus dieselbe Weise Festtag wird, wo die Menschen sich für ein paar kurze Stunden dazu hergeben, froh zu sein und andere froh zu machen.

Das kommt vielleicht daher, weil dieses Fest, welches wir Weihnachten nennen, auf zarten Kinderfüßchen daherkommt und mit kleinen Kinderfingerchen anklopft, so daß die Menschen nicht das Herz haben, es abzuweisen. Alle die Kindheitserinnerungen an die liebe Weihnachtszeit sind ja mit dem Warten vor der Tür verknüpft, und in Gedanken steht man sich wieder mit den eigenen Kinderhändchen nach dem Türschloß der Weihnachtsstube greifen …

Fast überall auf der weiten Welt darf dieses Fest in das Haus hineinschlüpfen und große und kleine Lichter anzünden. Ja, es darf wohl auch tiefer eindringen in Herz und Gemüt, wo es den einen oder andern sonst wohlverschlossenen Winkel aufleuchten läßt.

Durch alle Fenster strömt festliche Helle in die Nacht hinaus. Es ist, als fühle man da, wo der Christbaum angezündet wird, wo Menschen Weihnachtslieder singen und Kinder jubeln, die Heimatwärme und gemeinsame Freude bis tief ins Herz hinein.

Aber ein Ort ist ausgeschlossen, ein Haus ragt dunkel und freudlos zum Dezemberhimmel auf. In Kakola zu Abo merkt man nichts vom Christtag. Sind die Kinderhände der Weihnacht nicht imstande, die großen Tore mit den schweren, schweren Schlössern zu öffnen?

Dort klirren die Ketten wie gewöhnlich, dort fließen Tränen, dort brütet totes Schweigen, oder ertönen harte Worte, Klagen, Verwünschungen.

Immerhin ist in der Bäckerei ein etwas festlicherer Umtrieb zu bemerken: da wird Teig zu Weihnachtsbroten gerührt. Jeder Gefangene soll ein Weißbrot bekommen. Aber es soll nicht an einem heimatlichen, mit einem weißen Tuche bedeckten Tische und mit bekannten lieben Gesichtern ringsherum verzehrt werden; nein, in der bittern Einsamkeit der Gefängniszelle muß der Gefangene es essen unter Verhältnissen und Umgebungen, die in schneidendem Widerspruch zu jedem festlichen Gedanken stehen.

In einem der langen Korridore unterhalten sich die Wärter über einige von den Gefangenen, von denen etwas Besonderes zu berichten ist.

Nordstedt treibt es nicht mehr lange, er wird wohl schon vor Abend tot sein. Aber das ist auch eigentlich das beste, was dem armen Tropfe widerfahren kann. Er hat ja jene abscheulichen, gräßlichen Krankheiten, man darf ihn wegen der Ansteckungsgefahr nicht einmal in die Krankenabteilung schaffen. Die Taubheit hat auch bei ihm zugenommen, man kann sich ihm kaum noch verständlich machen. Nichts ist mehr mit ihm anzufangen, man muß ihn einfach liegen lassen und kann nur ab und zu hineinsehen, ob es noch nicht zu Ende mit ihm ist.

Dann ist da ein anderer, ein junger Mensch, der sich wie ein Rasender gebärdet. Vorgestern hat er dem Wärter seine Schüssel mit Erbsen ins Gesicht geschleudert; zur Strafe ist seither in seiner Zelle nicht sauber gemacht worden, und es steht böse darin aus – mit den Erbsen auf dem Boden – und es stinkt abscheulich. Jetzt hat man ihm das Halseisen angelegt und ihn an die Wand gefesselt, vielleicht beruhigt er sich allmählich.

Schlimmer noch steht es mit Björklund, der dort in seiner Zelle hin und her rennt und mit einem Schuhmachermesser fuchtelt. Man hat es ihm nicht entwinden können, als er nach getaner Arbeit das Handwerkszeug abliefern sollte. Jetzt ist er ganz wild. Er schwingt das Messer und ruft und schreit, daß in Kakola noch vor Abend ein Leben weniger sein werde. Man kann sein Geschrei weit auf den Gang hinaus hören, und es wird nichts anderes übrig bleiben, als daß mehrere Wärter mit einer Matratze hineingehen, ihn an die Wand drücken, ihn in ein Eisen legen und ihn dann in den Kellerraum hinunterschaffen.

In dieser Art läßt sich der Weihnachtsabend in Kakola an. Ach, wie soll da ein einziger Friedens- und Freudenschimmer den Weg hineinfinden können?

Doch da ist jemand, der jetzt durchs äußere Tor eintritt. Da ist eine, die ihr Fest im eigenen Familienkreise geopfert hat, um zu versuchen, ob sie es nicht ein wenig festlich da drinnen gestalten könne, eine, die mit dem Christfest und der Christfreude im Herzen kommt, um denen, die keine haben, davon mitzuteilen.

Als sie eben ins Gefängnis getreten ist, läßt man ihr von der Bäckerei aus sagen, sie möge doch rasch einmal dahin kommen und den Teig für die Weihnachtsbrote versuchen, ehe mit dem Backen angefangen werde; und sie ist sogleich bereit dazu. Sie lobt den Teig und fragt, ob die Leute nicht ganz zuletzt ein wenig von dem am Rande zurückgebliebenen Teig zusammenscharren wollten, damit auch ein kleines Brötchen für sie gebacken werden könnte; sie möchte so sehr gerne auch eines haben.

Der Bäckermeister strahlt über das ganze Gesicht, denn in der Bäckerei ist eben ausgemacht worden, daß Fräulein Wrede das erste frischgebackene Weißbrot bekommen solle.

Zu diesem soll überdies Zucker genommen werden, und die Frau des Hausmeisters hat ein Ei dazu gestiftet.

Dann macht Mathilda ihre Runde im Gefängnis; ein schwerer, ein ermüdender Gang ist es, mit vielen peinlichen Eindrücken. Etwas erschöpft fühlt sie sich, und das Herz tut ihr weh. Aber wo immer sie eintritt, da erhellen sich düstere, vergrämte Gesichter. Und in diesem hellen Schein liegt doch ein schwacher Abglanz des Festes.

Sie teilt Traktate, Weihnachtsbriefe und -karten aus, dann wird ihr gemeldet, daß Nordstedt im Sterben liege, und sie geht sofort zu ihm.

Sie läßt sich neben der niederen Matratze auf die Knie nieder und beugt sich über den Sterbenden, um ganz nahe an seinem Ohre zu reden – einzelne klare, deutliche Worte von der Weihnachtsbotschaft, die ihm ebenso gelte, wie sie einstmals vor Jahrhunderten den armen Hirten bei Bethlehem gegolten habe. Das Gesicht des armen Kranken ist ganz schmutzig; vorsichtig wischt Mathilda es ihm mit ihrem in etwas Wasser getauchten Taschentuch ab und flößt ihm dann ein paar Tropfen Milch ein. Er bewegt seine stummen, bläulichen Lippen zum Zeichen, daß er das, was sie sagt, versteht, und es ist, als tue ihm ihre sanfte Berührung wohl.

Als sie diese Zelle wieder verläßt, fühlt sie einen schneidenden Schmerz in der Brust, und ihr Mund füllt sich mit Blut. Kann sie ihre Runde vollenden? Sie muß – sie will. Für das herzzerreißende Mitleid, das sie mit ihren Freunden fühlt, ist dieser körperliche Schmerz, den sie ihretwegen leidet, fast eine Linderung.

Dann steht sie vor der Zelle des jungen Gefangenen, und die Wärter raten ihr dringend vom Hineingehen ab. Es sehe greulich bei ihm aus, und es sei ein fürchterlicher Gestank drin! Aber Mathilda erwidert, das sei nur ein weiterer Grund zu einem kurzen Besuch.

Der Gefangene steht ganz beschämt aus, als er Mathilda erblickt, und erklärt sogleich, daß dies kein Aufenthalt für sie sei. Die Lust ist zum Ersticken, aber Mathilda sagt, wenn er es hier aushalten könne, dann könne sie wohl auch einen Augenblick dableiben.

Und augenblicklich sagt er: »Ich bitte um Entschuldigung, weil ich mich so schlecht aufgeführt habe! Ich bin selbst schuld daran, daß es hier so greulich aussieht.«

Mathilda bleibt auf demselben Fleck stehen und richtet fröhliche und freundliche Worte an ihn.

Nach einem Weilchen fragt er, wie es denn möglich sei, daß sie ihn als Mensch, als ihresgleichen behandle. Sie antwortet: »Weil Sie ein Mensch sind. Und trotzdem Sie Ihre Zelle so abscheulich zugerichtet haben, sehe ich doch sehr viel Gutes und Schönes an Ihnen, das Sie nur hervortreten lassen sollten.«

Da sagt er plötzlich: »Glauben Sie, daß Gott allen Menschen helfen kann?«

»Ja, unbedingt«, antwortet Mathilda.

»Wollen Sie dann um Hilfe für mich beten?«

»Ja, von Herzen gerne.«

»Denn, sehen Sie – ich habe jetzt ein so großes Verlangen, daß ein guter Mensch Gott etwas von mir sagen, so recht auf den Knien für mich beten möchte.«

Mathilda versetzt rasch: »Gott hört uns ebensogut, ob wir stehen oder sitzen.«

»Ja – aber man hat das Gefühl, daß es ernstlicher ist, wenn jemand kniend betet.«

Mathilda Wrede hat an diesem Tag ein neues Kleid an – und sie ist sich wohl bewußt, daß ihr erster unwillkürlicher Gedanke dem entsetzlichen Boden in der Zelle und ihrem Kleide gegolten hat. Aber entschlossen schließt sie nun die Augen, um im Gebet nicht abgelenkt zu werden – kniet auf der Stelle, wo sie steht, nieder und betet für den Gefangenen.

Als sie geendet hat, sagt er: »Nun ist mir, als dürfe ich glauben, daß noch ein guter Mensch aus mir werden kann.«

Sie trennen sich als Freunde, sie verstehen einander. Und – es ist fast unglaublich – ihr Kleid hat nicht einen einzigen Flecken bekommen.

Dann ist da Björklund. Eben jetzt wollen die Wärter ihn in den Keller hinunterschaffen, den wilden Banditen!

Aber Mathilda tritt vor die Tür der Zelle. »Nein«, sagt sie. »Es ist Christtag – heute wird niemand in den Keller geschafft. Jetzt will ich einmal hineingehen.«

Nach einigem Zögern wird ihr die Tür aufgeschlossen, und sie sagt sogleich: »Seien Sie ruhig, Björklund, ich bin's nur.«

»Sind die andern dabei?« schreit er. »Die sollen sich in acht nehmen. Ich schlage sie alle tot!«

»Nein, es kommt niemand mit mir herein«, antwortet Mathilda. Und als sie in der Zelle steht, sagt sie: »Aber was ist nur mit Ihnen los, Björklund?«

»Ich hab' darauf geschworen, daß hier heute noch einer sein Leben lassen muß!« schreit er und schwingt dabei das Messer.

»Das glaube ich nicht«, versetzt sie. »Denn es ist ja heute Weihnachten. Da kann doch sicherlich niemand daran denken, einem andern das Leben zu nehmen. Da ist ja gerade vom Himmel her Leben auf Erden geboren worden, und Gott will uns allen ein Leben geben – neues, reines Leben, damit wir zu ihm kommen können … So, und nun geben Sie mir das Messer, bitte!« Damit streckt sie ihm die Hand entgegen.

»Nein, das tu ich nicht! Sie sagen ja immer, man müsse sein Wort halten, und ich hab' darauf geschworen, daß ich dieses Messer nicht aus der Hand gebe, bis ich es gegen jemand gebraucht habe.«

»Es ist mir lieb zu hören, daß Sie jetzt im Sinne haben, treu im Worthalten zu sein. Das soll man ja auch. Aber bedenken Sie doch, heut ist Heiliger Abend. Wie, wenn Sie mir nun das Messer als Weihnachtsgeschenk geben würden? Der Bäcker schenkt mir ein Weißbrot – mit Ei und Zucker darin – da könnten Sie mir wohl das Messer schenken.«

Der Gefangene stellt sein Schreien ein. Seine sinnlose Aufregung fängt an nachzulassen, aber er bleibt bei seiner Weigerung: »Nein, ich geb' es nicht her!«

Plötzlich sagt Mathilda: »Nun, dann also nicht. Aber – wenn ich Ihnen nun das Messer wegnehme, dann brechen Sie ja Ihr Wort nicht.«

Der Gefangene versetzt zögernd: »Nein – aber –«

»Strecken Sie die Hand her«, fährt Mathilda fort, »dann will ich es versuchen!«

Unwillkürlich streckt er ihr die Hand entgegen. Mathilda ergreift sie und fängt an, einen von seinen Fingern aufzubiegen. Aber hurtig macht er ihn wieder zu. »Nein, nein«, sagt sie, »das muß ausgemacht sein, daß Sie die Finger, die ich aufbekommen habe, nicht wieder zumachen. Sonst kostet es zu viel Zeit. Jetzt versuch' ich es noch einmal.«

Gegen seinen Willen muß der Gefangene lächeln, als sie aufs neue seine Finger aufzubiegen versucht. Das ist ja wie ein Spiel. Lange, lange ist es her, daß er sich an einem Spiel beteiligt hat! Aber es ja auch Heiliger Abend …

Behutsam biegt Mathilda seine Finger auf: einen, zwei, drei. »Das ist gut! So jetzt – jetzt kann ich das Messer fassen! Und nun nehme ich es Ihnen weg – dann haben Sie es nicht hergegeben.«

Hierauf setzt sie sich zu dem Gefangenen und spricht in fröhlichem Tone mit ihm. Als sie geht, ist der große, starke Mann ganz ruhig und freundlich wie ein Kind.

Auf dem Gang draußen stößt Mathilda auf einen der Wärter, dem sie das Messer übergibt: »Melden Sie Björklund des Messers wegen nicht, versprechen Sie es mir, denn es ist ja Heiliger Abend«, sagt sie. »Björklund hat im Sinn, von jetzt an ein sehr guter Mensch zu werden, der immer sein Wort hält. Bloß deshalb hat er auch das Messer nicht hergeben wollen – denn er hatte sich geschworen, es nicht zu tun. Aber ich durfte es ihm gleich wegnehmen.«

Der Wärter lächelt gutmütig. An Björklunds Zuverlässigkeit glaubt er nicht so recht, er neigt viel eher zu der Anschauung, daß ihm ein kleiner Aufenthalt im Keller recht gut getan hätte. Aber es ist ja Heiliger Abend – wie Fräulein Wrede sagt – da mag es ihm für diesmal hingehen.

Weiter, weiter – von Zelle zu Zelle … Überall wünscht Mathilda »Gesegnete Weihnachten!« und alle Gefangenen erwidern: »Auch Ihnen gesegnete Weihnachten!« Der schlimmste von den Verbrechern sagt: »Gott lohne es Ihnen!«

Als sie am Abend das Gefängnis verläßt, um nach dem ihr zur Verfügung gestellten kleinen Zimmer in der Wohnung des Direktors zu gehen, strahlt in der ganzen Stadt heller Weihnachtskerzenschein zu allen Fenstern heraus. Da sind viele tausend strahlende Weihnachtsbäume – viele tausend warme, glückliche Heimstätten, wo gesungen und gejubelt wird – –

Nur das große Gefängnisgebäude ragt einsam und dunkel ohne Lichterglanz in die Nacht empor, es steht außerhalb aller Festfreude.

Nein, nein – es steht dennoch innerhalb. Denn Gottes Liebe umfaßt alle Seelen dort drinnen – Gottes Weihnachtsgabe wird jedem einzelnen von ihnen dargereicht. Und wenn es Mathilda gelungen ist, die lichtbringende Botschaft in die düsteren Zellen, in die umnachteten Herzen zu bringen – dann hat sie selbst den frohesten Weihnachtsabend gehabt, trotz Entbehrung und Einsamkeit und Heimweh.

+

Es ist an einem Herbstabend, einem rauhen, dunkeln, kalten Abend. Der Regen klatscht in rauschenden Strömen in den Gefängnishof, und der Wind jagt ununterbrochen heulend um den großen Bodenraum über der Bäckerei – Pakarinvintti, wie dieser Raum genannt wird – ein häßlicher, unheimlicher Ort!

Anderthalbhundert Gefangene, die sich im Steinbruch bei Kakola abschinden und abschleppen müssen, sind nach vollendetem Tagewerk da hinaufgeführt worden, wo sie sich bis zum Abendbrot aufhalten dürfen.

Sie haben ihre tropfnassen Mäntel die Wände entlang aufgehängt, von denen nun ein qualmender Dunst herströmt. Die mit scharfem, schlechtem Geruch erfüllte Luft benimmt einem fast den Atem.

Da und dort sind kleine Lampen angebracht, die aber das Dunkel in dem ungeheuer großen Raum, wo ein trostloses Grau in Grau herrscht, nicht zu zerstreuen vermögen. Graue Wände, graue Kleider, graue Gesichter …

Und eine graue Stimmung, die hoffnungslos niederdrückend sein würde, wenn die Leute nicht versuchen würden, ihr mit Geschrei und Spektakel etwas aufzuhelfen. Einige von den Gefangenen schälen Kartoffeln oder haben sonst eine Arbeit vor. Die meisten jedoch unterhalten sich gegenseitig nur mit schmutzigen Geschichten, die dröhnendes Gelächter Hervorrufen, aber nicht ein bißchen mehr Leben oder Licht in die graue Wüstenöde dieses Raumes bringen.

Da ertönt plötzlich eine warme, lebhafte Stimme von der viereckigen Öffnung her, zu der eine steile Treppe hinaufführt: »Guten Abend, meine Freunde, guten Abend!«

Ist es – kann es wirklich sein? … Alle wenden die Köpfe dorthin. Nein, nein, es ist unmöglich! Wie sollte sie darauf kommen, sich hierher zu begeben? Und die Wärter würden sie schon davon abbringen.

Ja, das haben sie natürlich auch versucht und ihr gesagt, es sei ein sehr gefährlicher Ort, sie solle sich nicht hineinwagen. Aber es ist nicht leicht, Mathilda von dem abzubringen, was sie will, von dem, was sie für ihre Pflicht hält.

»Guten Abend, meine Freunde!« Ja, ja, sie ist es! Jetzt steht sie mitten in dem Bodenraum.

Die grauen Gestalten scharen sich um sie. Einer nimmt ihr den Mantel, ein anderer die Mütze ab – alle drängen sich herbei, um sich ihr dienstfertig zu bezeigen, ihr etwas Freundliches zu erweisen.

»So, also hier sitzt ihr und ruht von der Arbeit draußen aus!« sagt sie. »Und wollt ihr gern eine Geschichte hören? Soll ich euch eine erzählen?«

Durch das ganze große Pakarinvintti ertönt es: »Ja – ja – ja!« Und einzelnen von den Kameraden, die nicht sogleich ihre Gespräche unterbrochen und geschwiegen haben, wird energisch Ruhe geboten.

Sind das dieselben Menschen, die noch vor ein paar Augenblicken den Raum mit häßlichen Reden, Spottgelächter und rohen Ausdrücken erfüllt haben?

»Nun wohl«, beginnt sie, »da ist mir eine hübsche kleine Geschichte von einem Fischer eingefallen, der eines Morgens am Strande seine Netze reinigte. Es war ein sonnenheller Frühlingstag, und während der Fischer da arbeitete, erblickte er plötzlich einen jungen, starken Adler, der sich ganz in der Nähe auf einem Steinhaufen niedergelassen hatte. Es war ein außerordentlich schönes Tier, und der Fischer freute sich über dessen stolze Haltung.

Doch plötzlich schüttelte der Adler seine Federn mit einem heftigen Ruck und schoß wie ein Pfeil hinauf in die blaue Luft. Höher und höher stieg er. Er sah aus, als wolle er geradeswegs in die Sonne hineinfliegen.

Bald hob er sich nur noch hoch droben wie ein kleiner schwarzer Punkt vom Hellen Morgenhimmel ab.

Aber dann wurde der Punkt wieder größer und größer – – der Mann sah, daß der Vogel herabsank. Doch es war kein ruhiges Sichherniedersenken mit ausgebreiteten Schwingen. Der Fischer erkannte deutlich, daß der Vogel sich nicht mehr in der Höhe halten konnte. In rasender Eile stürzte er herunter … stürzte schließlich Hals über Kopf wenige Meter vom Land entfernt ins Wasser.

Der Fischer sprang in sein Boot – mit ein paar Ruderschlägen war er bei dem Adler und hob ihn zu sich ins Boot. Aber der König der Vögel war tot.

Als der Fischer ihn näher untersuchte, entdeckte er eine kleine Kreuzotter, die sich in der Brust des Adlers festgebissen hatte. Während der Vogel aus dem Steinhaufen ausruhte, war die kleine Schlange unter seine warmen Federn gekrochen – und ihr giftiger Biß hatte dem stolzen Himmelsflug, dem kraftvollen jungen Leben ein Ende gemacht.

Warum hatte der Adler die reine, klare Luft, die hohen Zinnen, wo er daheim war, verlassen – sich so tief, so tief heruntersinken lassen, wo die Schlange aus Beute wartet? Das war sein Tod.«

Mathilda hält einen Augenblick inne – dann fragt sie: »Soll ich euch sagen, was ich dachte, als ich diese Geschichte hörte?«

»Ja, ja – ja, sagen Sie es!« ertönte es ringsum.

»Seht, ich meine, wir alle hatten etwas von einem Adler an uns, damals, als wir noch jung waren und das Leben hell und vielversprechend vor uns lag. Wir wollten auch gern in die Höhe hinauf, wollten etwas Großes erreichen. Nach allem, was hell und rein war, sehnten wir uns, und wir fühlten, daß wir im Lichte daheim sein sollten.

Aber drunten in den finsteren Spalten zwischen den Steinen, da lagen Schlangen und lauerten auf uns. Und das Schlimmste war, daß wir uns da drunten niederließen und festsetzten. Wir vergaßen das Auffliegen, wir vergaßen, dem Lichte zuzustreben. Einige von uns wurden müde, andere bequem, sie wollten sich nicht anstrengen … für andere wieder waren es wohl die irdischen Genüsse, die sie an die Erde banden … Wir blieben in den Niederungen – und da kamen die Schlangen und bissen uns. Sie bissen uns in die Hand, den Fuß oder ins Herz. Wir versuchten es vielleicht, wieder aufzusteigen, aber es ging nicht mehr. Wir konnten nur sinken – sinken. Und unter uns sahen wir das rauschende Meer des Todes, das schon auf uns wartete, um uns zu verschlingen.

Der Fischer konnte dem armen jungen Adler nicht mehr helfen, er konnte nur feststellen, daß er tot war – und ihn vielleicht bedauern. Aber seht, es gibt eine ausgestreckte Hand, die uns retten kann. Uns kann Hilfe werden gegen den Schlangenbiß – es kann so weit mit uns kommen, daß wir wieder fliegen können, ob unsere Schwingen auch noch so gebrochen waren.

Aber wir müssen immer darauf bedacht sein, uns nicht auf niederen, gefährlichen Plätzen niederzulassen. Wir müssen uns zusammennehmen und fest beschließen, daß wir nach oben wollen. Und vor allem müssen wir die Hand ergreifen, die nach uns ausgestreckt ist.

Wollen wir uns nicht alle Mühe geben, damit wir wieder fliegen können wie einst, als wir jung waren? Wollen wir das nicht versuchen und innehalten, bis wir ganz ins Licht emporgekommen sind?«

Und wieder tönt von allen Seiten durch Pakarinvinttis feuchte Dunkelheit der Ruf: »Ja, ja, ja, das wollen wir!«

Ach, hier sind Adler mit gebrochenen Schwingen! Alle, alle, die sich auf dem unheimlichen Bodenraum um Mathilda scharen! Von Schlangen gebissen in Hand und Fuß und Herz ist jeder einzelne von ihnen. Lange, lange ist es her, seit sie sich droben in der Luft auf Schwingen gewiegt haben!

Aber Mathilda gibt den Glauben nicht auf, daß sie einmal wieder flugfähig werden können – daß der Tag kommen kann, wo sie »neue Kraft kriegen, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler« – wo sie sehen darf, wie sie höher und höher steigen, dem Licht entgegen.


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