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Die Sibirienfahrer

»Ins Morgenland will ich ziehen
Dort wohnt die Herzallerliebste mein.«

Diesen Vers haben die Menschen oft fröhlich gesungen, oder er ist in ihren Herzen erklungen, wenn sie an einem Frühlingstag hinauszogen in die weite Welt, an irgend einen Ort, der längst das Ziel ihrer Sehnsucht gewesen war.

Einerlei wie der Ort hieß, oder wo er lag, für sie war es schließlich doch immer das »Morgenland«. Das Land, wo die Sonne jeden Morgen aufgeht, wo der Garten Eden einst blühte, wo die Träume vom Paradiese noch immer zu Hause sind, wo die Urquellen der Märchen sprudeln, und wo –

Ja, »dort wohnt die Herzallerliebste mein«. Wenn man nicht bei der Ausfahrt seine Hand in eine andere legen konnte, dann dachte man, es müsse dort draußen geschehen können, und das sei eigentlich der Grund, weshalb man fortreise. Über Berge und tiefe, tiefe Täler mochte es gehen, dann aber mußte der andere sich ja finden, dessen Herz in innigstem Takt mit dem eigenen schlug, der die Krone des irdischen Lebens besaß, um einem die Stirne damit zu kränzen.

Es gibt Menschen, die fortreisen müssen – früh am Morgen in der ersten Sommerzeit. Ein Zug wird abfahren, und es geht gen Morgen. Aber nicht dem Märchenland entgegen, nicht dem Sonnenaufgang zu, der »in Edens Morgenröte erstrahlt«, … Nein, nach einem ungeheuren, wüsten, öden, eisig kalten Lande geht es, wo alle Träume im Eis erstarren – nach düsteren Steingruben, in Sklaverei und Gefängnis, Qualen und grenzenloses Elend.

Und dort wohnt keine »Herzallerliebste«, sondern von den Lieben, die einer vielleicht noch hat, wird er nur noch hoffnungsloser geschieden, jetzt, wo Tausende von bitteren, unwegsamen Meilen zwischen ihn und sie gelegt werden.

Zwei Gefangenwagen fuhren mit dem Zuge nach Viborg, und Mathilda, die nun soweit hergestellt war, daß sie, noch stark hinkend, nur mit Hilfe eines Stockes, umhergehen konnte, suchte auf dem Bahnhof Kaipiais ihre Freunde auf und hörte da, daß die Gefangenen von Kakola erst mit einem späteren Zuge kommen würden. In dem gegenwärtigen Zuge befanden sich Männer von Sörnäs in Helsingfors und Frauen von Tavastehus, die auch deportiert werden sollten. Sehr peinlich berührte es Mathilda, als sie sah, daß von den Männern je zwei und zwei aneinander gefesselt waren.

Ein junger Sträfling, ein Mörder, der für die sibirischen Gruben bestimmt war, trug das »große Eisen« und hatte außerdem einen schweren Eisenriegel über beiden Knöcheln, der ihn vollständig am Gehen hinderte. Überdies hatte man im Umtrieb der Reise vergessen, ihm das kleine Kissen umzubinden, das die Gefangenen unter dem Halseisen, an dem das Leibeisen hängt, tragen. Während der Fahrt war der weite Halsring in beständiger Bewegung und scheuerte ihm fortwährend die Schultern, die schon ganz wund waren.

Dieser junge Mensch war sehr abstoßend. Ohne jeglichen Grund, nur aus reiner Mordlust, hatte er einen alten Mann umgebracht, der auf den Markt nach Vasa gefahren war. Jetzt war dieser Mensch rasend und auch verzweifelt. Aber durchaus nicht über seine Tat, nein, er schien ganz abgestumpft und verhärtet zu sein. Nur Mathilda Wrede gegenüber, die ihn im Gefängnis besucht hatte, äußerte er sich etwas wohlwollend. »Das geht doch nicht, daß Sie hier bei uns im Gefangenwagen sitzen«, sagte er gleich. »Die Leute könnten ja meinen, Sie gehörten zu uns.«

Mathilda, die sah, daß das Halseisen ihn quälte, nahm ihr seidenes Halstuch sowie ihr Taschentuch und legte sie ihm unter den Halsring, damit die Schmerzen etwas gelindert würden. Dann sprach sie lange und eindringlich mit ihm, aber vorderhand schien es unmöglich, Reue bei ihm zu wecken. Das eine gab er zu: »Ja, ich habe mich selbst recht in die Patsche gebracht, als ich den alten Tropf totschlug« – im übrigen aber versprach er Mathilda, ihr einmal zu schreiben.

An den Haltestellen der Eisenbahnen waren immer viele Menschen versammelt, die die Gefangenen sehen wollten. Ganz besonders war der Mann mit dem »großen Eisen« der Gegenstand vieler neugieriger Blicke und lauter Bemerkungen. Durch das Gitter starrte er haßerfüllt und höhnisch auf die Menge hinaus. Nur wenn sein Blick aus Mathilda fiel, trat ein etwas menschenfreundlicher Ausdruck in sein Gesicht.

Der Aufenthalt der Gefangenen in Viborg erstreckte sich über eine Woche, denn da wurden die letzten Vorbereitungen zu der endgültigen Abreise getroffen. Unter anderem wurde den Gefangenen die eine Hälfte des Kopfes kahl geschoren und sie wurden in lange, grau und schwarz gestreifte Mäntel aus grobem, schwerem Tuch gekleidet.

Einige von ihnen wurden als Kolonisten nach Sibirien geschickt, andere als Sträflinge in die berüchtigten Grube zu Nerschinsk. Drei unglückliche Männer, denen es geglückt war, von Sibirien zu entfliehen und die den endlos langen Weg zu Fuß zurückgelegt hatten, wurden nun wieder nach Sibirien zurückgebracht.

Das erste, was Mathilda in Viborg unternahm, war, mit Erlaubnis des Schloßhauptmanns, jedem der Gefangenen ein großes Korinthenbrot zu schicken. Daß das Kuchenbrot ihnen schmeckte, ist selbstverständlich, aber der freundliche Gedanke tat ihnen vielleicht ebenso wohl.

Mathilda besuchte so viele von den Gefangenen, als ihr möglich war, und war auch den ganzen Tag mit ihnen zusammen. Ach, sie erlebte dabei Auftritte, die so herzzerreißend waren, daß sie kaum wiedergegeben werden können! Mathilda schreibt selbst darüber: »Nur wer selbst in diese blutenden, brechenden Herzen hineingeschaut hat, kann es ganz verstehen.«

Von dem heißen Drang beseelt, die traurigen Umstände dieser Armen etwas zu mildern, wünschte Mathilda, sie mit ihnen zu teilen, soweit es ihr möglich war. Obgleich es erst Juni war, raste doch ein paar Tage lang ein heftiger Schneesturm mit beißender Kälte, und im Viborger Gefängnis, wo die Sibirienfahrer interniert waren, wollte die Wärmeleitung nicht funktionieren, so daß die Gefangenen jämmerlich froren. Eines Tages traf Oberstaatsanwalt Grotenfelt, der eben zur Inspektion in Viborg weilte, mit Mathilda Wrede zusammen, die soeben ganz blau gefroren aus einer Gefängniszelle trat. Er machte ihr Vorwürfe, weil sie ihren warmen Mantel abgelegt hatte. Sie aber erwiderte: »Warum sollte ich es warm haben, wenn die Gefangenen frieren müssen? Dann müßten mich die Ärmsten ja nur um meine warmen Kleider beneiden und könnten an gar nichts anderes mehr denken.«

Ein paar Gefangene, die im oberen Flur standen und diese Erwiderung hörten, ließen sie sogleich an ihre Kameraden weitergehen. Alle wurden gerührt, daß »ihr Fräulein Mathilda« fror, nur weil sie es nicht besser haben wollte als ihre gefangenen Freunde.

Mathilda sehnte sich sehr danach, ihre Kakolaer Freunde wiederzusehen – und diese sehnten sich auch nach ihr. Vom Gefangenzug aus hatten sie alle nach ihr ausgespäht, und sie rückten sehr nahe zusammen, damit Mathilda Platz bei ihnen bekommen könnte. Als sie sie nicht entdeckten, waren sie höchst enttäuscht, und sie trösteten sich erst, als sie hörten, daß sie schon mit dem ersten Gefangenzug nach Viborg gekommen sei.

Hier überreichte ihr der Aufseher eine schöne Reisetasche, die die Gefangenen für sie gemacht hatten. Außerdem erhielt sie Forsbergs Stiefel und noch mehrere andere kleine Geschenke. Sie hätte alle diese Sachen gerne bezahlt, aber keiner der Gefangenen wollte etwas davon hören.

Noch mehr freute sie eine Nachricht, die ihr der Aufseher überbringen konnte. Der heftige »Eisenbeladene«, den Mathilda am ersten Tag in Kakola besucht hatte, der schlimmste von den dortigen Verbrechern, war jetzt viel umgänglicher und hatte sowohl den Direktor als auch den Gefangenwärter um Verzeihung gebeten. Sie hatten es gewagt, ihm das Leibeisen abzunehmen, und er führte sich fortgesetzt gut auf.

Mathilda besuchte in diesen Tagen neunundzwanzig Gefangene von Kakola, siebzehn von Villmanstrand, zehn von Helsingsors, neun von Tavastehus und außerdem noch verschiedene andere. Forsberg war ja unter den Sibirienfahrern, und sie war sehr gespannt, zu sehen, ob die Veränderung, die mit ihm vorgegangen, echt und von Dauer war. Aber sobald sie ihn sah, verwandelte sich die Spannung in Freude! Der Ausdruck in seinem Gesicht war nicht mißzuverstehen. Er bekannte auch ganz freimütig seinen Glauben, und einer von seinen Kameraden war schon sehr stark von ihm beeinflußt worden.

Zu Mathilda sagte er: »Acht Tage vorher noch hätte ich darauf geschworen, daß niemand, und am allerwenigsten ein so junges Fräulein wie Sie, den Mut haben würde, mit Wilhelm Forsberg allein zu sein, mit ihm, der seinerzeit der Schrecken von Österbotten genannt wurde. Ich war ganz erstaunt, als ich hörte, daß Sie nie einen Gefangenwärter bei sich haben wollten, und es ist auch andern wie mir ergangen; als wir sahen, daß Sie keine Angst vor uns hatten, bekamen wir Vertrauen zu Ihrer Religion.«

Mathilda war verschiedene Male bei Forsberg, und er sagte oft: »Der Abschied von Ihnen wird mir schrecklich schwer werden. Aber«, fügte er einmal hinzu, »ich weiß, daß er auch Ihnen schwer fällt. Ich denke mir, daß es Ihnen genau so zumute sein muß, wie einer Mutter, die von ihren Kindern für immer Abschied nehmen muß.«

Und das zwanzigjährige Mädchen ging auf diesen Gedanken ein und erwiderte, ja genau so gehe es ihr, aber er und sie trennten sich ja nicht wie die, so keine Hoffnung haben, denn sie glaubten an einen Ort, wo man sich wiedersehe, »wo alle die zusammenkommen, die Jesus Christus angenommen.«

Unter den Gefangenen, die Mathilda besuchte, war auch ein Mann aus Uleaborg, ein besonders widerwärtiger, heimtückischer und bösartiger Mensch. Dieser sagte zu Mathilda: »Es ist nur gut, daß sie endlich auch den Weg zu mir gefunden haben! Aber warum sind Sie nicht gestern gekommen? Da war ich in guter Laune und ganz anständig. Heute jedoch, das muß ich Ihnen sagen, kann ich nicht für das einstehen, was ich tue – denn ich habe sieben Teufel in mir! Und heute morgen war ich auf dem Punkt, den Gefangenwärter zu erwürgen.«

Er sah höchst unheimlich aus, aber Mathilda erwiderte sofort: »Dann ist es ja gerade gut, daß ich heute gekommen bin. Jetzt muß ich sehen, ob es mir nicht gelingt, Sie zu lehren, wie man sieben böse Geister aus seinem Herzen austreiben kann.«

Ein anderer Sträfling sagte zu ihr: »Ich bin jetzt schon ein älterer Mann, aber Sie sind der erste Mensch, der mir wirkliche Güte und wirkliches Wohlwollen erzeigt hat.«

Dann mußte sie seine Geschichte anhören – und die war sehr traurig. Seine Mutter war gestorben, als er noch ganz klein war, seinen Vater hatte er nie gekannt. Unter fremden Menschen war er aufgewachsen, in ärmlichen Verhältnissen, hatte niemals ein freundliches Wort gehört, dagegen lauter Flüche und Schimpfreden. Und er wurde schlecht, weil er kaum wußte, was gut sein hieß.

Je näher der Abschied heranrückte, desto schwerer wurde es Mathilda ums Herz, desto verzweifelter wurden die Gefangenen. Oh, es war nicht zum Ertragen, daß sie für immer fortgeschickt werden sollten, fort vom Vaterland und von allem, was dieses für sie hatte – fort nach dem weit, weit entfernten, furchtbaren Ort!

Schon am Abend vor der Abreise mußte Mathilda Lebewohl sagen. Am nächsten Morgen, gerade vor der Abfahrt, ging es nicht mehr. Und einer von den Gefangenen sagte zu ihr: »Es ist auch am besten, daß Sie nicht bei dem letzten traurigen Abschied von allem, was wir hier auf Erden lieb haben, sind, das wäre zu schwer für Sie! Und wir sehen ja auch schrecklich aus, wenn wir in Scharen daherkommen mit unseren geschorenen Köpfen und den langen, häßlichen Mänteln. So schickt man uns für immer aus unserem eigenen Lande fort.« Und damit brach er in lautes Weinen aus.

Als Mathilda am letzten Abend das Gefängnis verließ, nachdem sie sich verabschiedet und immer wieder verabschiedet hatte, standen alle Gefangenen an den Fenstern und streckten durch die Gitter hindurch die Arme nach ihr aus. Sie war ganz überwältigt und aufs tiefste erschüttert von allem, was sie gesehen und erlebt hatte. Noch niemals war ihr Herz von so tiefem Kummer erfüllt gewesen, noch nie hatte sie so grenzenloses Mitleid empfunden.

Einer der Gefangenen rief ihr schluchzend nach: »Lebewohl, du unseres Vaterlandes geliebte Tochter, du, der einzige wahre Freund der Gefangenen!«

Forsberg, der vielleicht der betrübteste von allen war, suchte, das sah sie wohl, um ihretwillen Herr über seinen Schmerz zu werden – aber eine Träne um die andere lief ihm trotzdem über die Wangen herab.

Während Mathilda auf all den Jammer zurückschaute, dachte sie: »Solange Gott mich am Leben läßt, will ich diesen, den unglücklichsten von allen, meine ganze Liebe schenken.«

Dort drüben im Osten, in dem bitteren Elend, dem sie jetzt entgegengeführt wurden, erwartete sie keine »Herzallerliebste«. Aber einen Teil ihres Herzens sollten sie jedenfalls auf ihrem schweren Wege mitnehmen dürfen.


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