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Der Beruf

Eine Art geistliches Pfingstwetter ging über Finnland hin.

Ein Rauschen wie von großen Schwingen brachte die Menschen dazu, das Haupt aufzurichten – sich über die Mühen und Sorgen der Tretmühle des Alltags und die betrügerischen Lüste der Welt nach reineren, freieren Höhen hinziehen zu lassen.

– Das kleine Mädchen war indessen wohl achtzehn Jahre alt geworden. Nun war sie erwachsen, und die Zeit der Reife hatte ihr Gemüt mit seltsamer Unruhe erfüllt.

Dies ist ja die Zeit, wo die Jugend fühlt, wie neue Fähigkeiten und neue Wünsche im Herzen aufsteigen, und sie schaut sich um nach der Welt, die erobert, nach dem Wirkungskreis, der in Angriff genommen werden soll – kurz nach dem, worauf die eigene Persönlichkeit hinweist. Doch vor allem muß diese eigene Persönlichkeit herausgefunden werden.

Mathilda fühlte starke Kräfte in sich gären. Sie fühlte den Drang und hatte Mut und männlichen Willen, um sich ihr Reich zu gewinnen, ja, sie trat schon fast wie eine Königin auf – trug ihr junges Haupt hoch, das wie von einer unsichtbaren Krone etwas wie nach hinten gedrückt zu werden schien.

Aber das Reich? – Wo lag es?

Ach, das Reich war da … es erwartete sie. Dunkel wie die Nacht tauchte es am Rande des Horizonts auf … Trostlos mit ungeheuren, sonnenlosen Ebenen, von Schatten bevölkert, wie das Reich der Unterwelt selbst – wohin Proserpina von ihrem Spiel auf den blumigen Wiesen weggeführt wurde. Aber bis jetzt sah Mathilda es noch nicht heranrücken.

Die Mannigfaltigkeit des Lebens zog sie an, dessen Lichtseite lockte. Sie liebte den Verkehr mit andern Menschen, Gedankenaustausch, Witz und Scherz. Und mit der strahlenden Welt der Kunst fühlte sie sich auch verwandt. Sie hat selbst gesagt, ihr erster Theaterbesuch habe ihr einen solch überwältigenden Eindruck gemacht, daß sie kaum wisse, bis wohin es sie hätte mitreißen können.

Vielleicht auf die Bühne selbst? Wer kann es wissen? Sie hatte jenen Funken, der das Entscheidende ist – der sich durchbrennt, aus welchem Wege es auch immer sein mag.

Aber noch wußte sie nicht, wohin sie gehen sollte.

Daher kam all die suchende Unruhe. Ja – sie kam auch noch von etwas anderem, und hauptsächlich im tiefsten Innern gerade von diesem.

Im Hause Wrede herrschte eine helle, freundliche Frömmigkeit, in der sich das kleine Mädchen während ihrer ganzen Kindheit gekonnt hatte, in dem sicheren Gefühl, Gottesdienst sei eine weitere Freude.

Jetzt war das mit einem Male anders geworden.

Es war ihr wohl das geschehen, daß ihr im eigenen Innern das Auge aufgegangen war für die größte Kluft … die eigentliche, die entscheidende – die Kluft, woher jede andere Kluft stammt:

Die Kluft zwischen dem sündigen Menschen und Gott.

»Gott ist ein Licht, und in ihm ist keine Finsternis.« Ein Land in sonnenheller Klarheit, wo der Mensch, der als Gottes Gedanke entstanden war, »vor seinem Antlitz wandeln sollte und tun, was recht ist«. Und dann – –

O die unergründliche Trennung, die stattgefunden hatte! Die tiefe, unwiederbringliche Trennung!

»Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.« – »Die ganze Welt liegt im argen.« Nun war da ein Land in nächtlicher Finsternis, wo Gefangene gefesselt waren – ach, mehr als um Hand und Fuß – gefesselt am Herzen und am Willen, gezwungen unter das Joch der Sünde und des Todes …

Und keine Möglichkeit war da, sich loszureißen und das eigentliche Ich zu verwirklichen, die wahre Persönlichkeit auszuleben für den, der im Lichte seine Heimat hat und doch unrettbar davon getrennt ist.

Von starkem Willen, von aufrechtem Selbstgefühl, wie Mathilda war, wollte sie den Kampf doch nicht aufgeben, sondern sie versuchte unter Anspannung aller Kräfte die volle Entfaltung ihrer Persönlichkeit zu erreichen … Nur war ihr immer, als ob sie da, wo sie einen Schritt vorwärts kam, immer wieder zwei zurückglitte, ja, daß es schlimmer mit ihr würde anstatt besser.

Dann kam ein Abend – ein ganz gewöhnlicher Abend war es –, wo sie mit ihrem Vater und ihrer Schwester in eine Gesellschaft gehen sollte, aber vorher noch einen Laienprediger hören wollte, der in Vasa sehr stark besuchte Erweckungspredigten hielt.

Wie die meisten Anfänger und Laien predigte er über einen der großen Texte, einen von denen, die mehr entwickelte Redner am liebsten auf der Seite lassen, teils weil sie »von selber predigen«, so daß es überflüssig ist, mehr darüber zu sagen, teils auch, weil sie ihnen übermächtig sind. »Der Text ist mir zu mächtig«, sagte Luther.

Immerhin – dieser Mann predigte über Johannes 3, 16: »Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingeborenen Sohn gab –«

Und die Wahl war gut. Möglicherweise war es mehr der Text als die Auslegung, was den Ausschlag gab; eines ist gewiß: für Mathilda gewann das Wort Leben.

Auf einmal sah sie, was geschehen war – sah es als lebendige Wirklichkeit.

Von seiner Seite aus, drüben im Lichte, hatte Gott seine Liebe hinüberströmen lassen auf die Welt, die in ihrer tiefen, unrettbaren Finsternis schmachtete.

Nun war keine Trennung mehr da. Gott hatte die Kluft ausgefüllt mit seinem eigenen Herzen.

Er hatte sein Herz hingegeben, um hinüber zu gelangen.

Und die Welt, die dadurch gerettet worden war, diese Welt war sie selbst, Mathilda Wrede!

Sie war diejenige, die nun aus der Sklaverei der Sünde und des Todes »in die herrliche Freiheit der Kinder Gottes« eingehen durfte. – –

+

Als Mathilda nach der Predigt in den Festsaal trat, war ihr, als sei ihre Heimat nun in einer ganz andern Welt als zuvor.

Ein großer anregender Kreis war versammelt, und Mathilda wurde gefragt, ob sie einen Genuß von der Versammlung gehabt und was der Laienprediger gesagt habe.

Offensichtlich erwartete man in der Gesellschaft einen jener lustigen, am liebsten etwas spöttischen Berichte – an denen sich Mathilda mit ihrem stark ausgeprägten Sinn für Humor wohl auch früher schon selbst mit ergötzt hatte.

Aber jetzt sagte sie nur ruhig: »Ja, und wenn ihr es hören wollt, werde ich versuchen, es euch zu erzählen.«

Und dann strömten die Worte über ihre Lippen, die sich ihr so heiß ins Herz gebrannt hatten – während ihr helle Tränen über die Wangen liefen.

Ganz hingerissen von ihrem Bericht, merkte sie nicht gleich, daß ihre Zuhörer höchst überrascht aussahen – dann verlegen wurden und es ihnen recht unbehaglich zumute zu sein schien.

Doch plötzlich wurde ihr das klar; da brach sie rasch ab und ging in das anstoßende Gemach, wo ihr Vater mit einigen andern Herren beim Teeglas saß.

Als der Vater das tiefbewegte Gesicht seiner Tochter gewahr wurde, stand er beunruhigt aus und fragte, ob sie krank sei.

Sie aber antwortete: »Nein. Krank bin ich allerdings gewesen, aber ich glaube, ich werde jetzt ganz gesund werden.«

Dann bat sie ihren Vater, sie nach Hause zu begleiten, und auf dem Heimweg sagte sie ihm, sie stehe an einem entscheidenden Wendepunkt ihres Lebens.

Während der Vater in die Gesellschaft zurückkehrte, begab sie sich in ihr eigenes Gemach.

In dunkler Nacht und tiefer Einsamkeit wandte sie sich nun an Gott – so von ganzer Seele wie noch nie. Sie hatte selbst gesagt, es sei eigentlich ein trotziges Gebet gewesen, das sie in jener Stunde an Gott gerichtet habe. Das ist möglich, – aber jedenfalls wurde es erhört.

Es ist ja auch nicht in erster Linie das Gebet, worauf es ankommt, sondern das Herz, das dahinter schlägt.

Und das ihrige war vollkommen aufrichtig. Es gab sich hin in Gottes Hand fürs ganze Leben, ohne Bedingung, ohne Vorbehalt.

Und sie fühlte, daß es angenommen wurde.

Da überkam sie eine unaussprechlich tiefe Ruhe, und kurz nachher sank sie in einen ruhigen, sanften Schlummer.

Am nächsten Morgen erwachte sie so überströmend glücklich, fühlte sie sich so jubelnd frisch, daß ihr war, als müsse ihr Herz vor lauter Glück zerspringen.

Eilig mußte sie hinunter und ihren Vater umarmen – ja alle im Hause. Am liebsten hätte sie die ganze Welt umarmt. – –

+

Daß ihr Leben jetzt und alle Tage in Gottes Hand war und ausschließlich in seinem Dienste verwendet werden mußte, darüber war sich Mathilda sofort klar. Aber wo er ihr einen Platz anweisen und sie zur Arbeit verwenden würde, das ahnte sie nicht – und machte sich auch keine Sorgen darüber, es sogleich herauszufinden.

Da ereignete sich etwas ganz Alltägliches – das aber entscheidende Bedeutung erhielt.

Das Schloß an ihrer Zimmertür war entzwei – es ging weder auf noch zu; um es auszubessern, wurde ein Sträfling, der Schmied war, geholt.

Dann stand dieser gefesselt in dem weißen Zimmerchen und arbeitete an dem Schloß – während der Schatten des Gefängnisses aufs neue lang und düster in das helle Gemach fiel.

Mathilda sagt selbst, es sei ihr peinlich gewesen, und in ihrem Innern habe sich ein starker Widerwille erhoben, den sie habe überwinden müssen, ehe sie mit dem Manne sprechen konnte. – Wehrte sie sich etwa unbewußt gegen das Los, das sie erwartete? – Mehrere seiner Bemerkungen gefielen ihr indes recht gut. Sie wagte ihm gegenüber ein paar Worte über Gott und ihr eigenes großes geistliches Erlebnis zu sagen – und merkte bald, daß sie auf guten Boden fielen.

Der Mann schaute auf, richtete seine Augen auf Mathilda und sagte: »Ach, gnädiges Fräulein, Sie sollten zu uns hinauskommen und so mit uns reden. Wir hätten es wohl nötig.«

Um ihm eine Freude zu machen, versprach Mathilda, ihn am nächsten Sonntag im Gefängnis zu besuchen.

Aber als sie diese Absicht ihrem Vater mitteilte, widersetzte sich dieser aufs bestimmteste; davon könne ganz und gar nicht die Rede sein.

Da richtete sich das junge Mädchen gerade auf und sagte: »Ich hab' es versprochen.«

Der Vater kämpfte einen Augenblick mit sich selbst, dann sagte er: »Wenn du es versprochen hast, mußt du es tun. Aber der Gefangenwärter muß dabei sein.«

Am nächsten Sonntag besuchte Mathilda in Begleitung von Aufseher und Gefangenwärter zum erstenmal das Gefängnis in Vasa.

Diesem Besuche folgten andere. Mathilda fühlte, daß es die freudlosen Menschen erfreute. Und ihr Drang, etwas von dem Frieden, den sie selbst gewonnen hatte, andern mitzuteilen, war so stark und lebendig, daß er den Widerstand des Vaters, die Bedenken der mütterlichen Schwester und andere Hindernisse überwand. Aber daß hier ihr eigentlicher Beruf lag, fiel Mathilda doch immer noch nicht ein.

Eines Tages hatte sie zu einem der Gefangenen gesagt, sie werde an einem bestimmten Tage wiederkommen. Aber gerade an diesem Tage wurde ihr ein Besuch in Aussicht gestellt, den sie nur sehr ungern versäumt hätte. So dachte sie denn, sie könne den Besuch im Gefängnis aufschieben. Aber in der darauffolgenden Nacht geschah etwas Merkwürdiges. Sie wußte nicht recht, wie es war: schlief sie oder war sie wach? War es eine Erscheinung oder ein Traum? …

Ein Gefangener kam in ihre weiße Stube herein … mit schweren Ketten an Hand und Fuß, die klirrten, indem er näher trat … Mitten im Zimmer blieb er stehen und sah sie mit unsäglich traurigen Augen an. Sie wußte nicht, ob er es war, der sprach, aber ganz deutlich vernahm sie die Worte: »Tausende von armen, gebundenen Seelen seufzen nach Leben, Freiheit und Frieden. Sag' ihnen ein Wort von ihm, der sie freimachen kann, solange du noch Zeit dazu hast!«

Danach verschwand er.

Angstvoll und unruhig warf sie sich auf ihrem Lager hin und her. »Ist diese Erscheinung mir nur gesandt worden, weil ich meinen Besuch im Gefängnis morgen nicht aufgeben darf?« dachte sie. »Oder – kann es wirklich der Wille des Herrn sein, daß die Gefangenen für mich in allererster Linie kommen sollen?«

Sie war jung und von sehr zarter Gesundheit, und nun stand sie hier einer Riesenaufgabe gegenüber, die sie nicht überschauen konnte, an die zu denken schon genügte, sie bis aus die Erde niederzubeugen.

Lange, lange lag sie da und kämpfte mit widerstreitenden Gefühlen. Um ihr Gemüt etwas zu beruhigen, schlug sie endlich die Bibel auf.

Ihr Blick fiel auf die Worte Jeremias 1, 6-8: »Ach Herr, Herr, ich tauge nicht zu predigen, denn ich bin zu jung. Der Herr aber sprach zu mir: Sage nicht, ich bin zu jung; sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen, was ich dich heiße.«

Diese Worte waren ja wie eine Antwort. Mit einem Gebet um Bestätigung, wenn sie es so auffassen solle, schlug sie die Bibel an einer andern Stelle auf – obgleich diese Art, eine Entscheidung zu suchen, womit man ja auch mehr als vorsichtig sein sollte, ihr sonst gar nicht lag.

Diesmal traf sie auf ein Wort in Hesekiel 3, 9-14: »Ja, ich habe deine Stirne so hart wie einen Demant, der härter ist denn ein Fels, gemacht. Darum fürchte dich nicht, entsetze dich auch nicht vor ihnen, daß sie so ein ungehorsames Haus sind. Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, alle meine Worte, die ich dir sage, die fasse zu Herzen und nimm sie zu Ohren. Und gehe hin zu den Gefangenen deines Volkes und predige ihnen und sprich zu ihnen.« – –

Sie verbrachte die ganze Nacht wachend.

Als die Sonne aufging, kleidete sie sich an und ging in dem kalten, klaren Märzmorgen hinunter an den Strand.

Dort, in der Stille der Natur, mit dem unendlichen Meere vor sich, wanderte sie auf und ab, Stunde um Stunde, bis sie sich zu der vollen Hingabe in Gottes Willen diesem eigentümlichen Beruf gegenüber, den er für sie bereit hielt, hindurchgerungen hatte. Erschien er ihr auch übermächtig, überwältigend – sie war bereit, ihn zu ergreifen.

Denn wer es erfahren hat, daß die größte Kluft im Leben für einen selbst ausgefüllt werden kann, der kann auch glauben, daß die andern zu überwinden sind – daß die Liebe, die von Gott kommt, jede Kluft überbrücken kann.

An diesem Tage gab sie alles andere auf und war zur festgesetzten Zeit im Gefängnis. Und gerade dieser Tag wurde zu einem Wendepunkt in dem Leben des Mannes, den sie besuchte.

Daß die Gefangenen ihr durch eine besondere Berufung ans Herz gelegt worden waren, daran konnte sie nicht zweifeln. Aber wie ergreifend und weittragend ihre Arbeit sich erweisen würde, das ahnte sie doch nicht.

+

Dazwischen sah es indes doch aus, als ob ihre Gefängnistätigkeit einen jähen Abschluß finden sollte.

Ein Jahr später, im Sommer 1884, legte nämlich ihr Vater sein Amt als Gouverneur des Vasa-Bezirkes nieder, und die Familie siedelte nach Rabbelugn über.

Schweren Herzens trennte sich Mathilda von den vielen Freunden, die sie im Gefängnis gewonnen hatte, und sie schrieb ihnen fleißig Briefe. Aber wie sollte ihr Verkehr mit ihnen fortgesetzt werden können?

Im Herbst mußte sie wegen eines bösartigen Zahnleidens eine Reise nach Helsingfors unternehmen. Dort begegneten ihr eines Tages auf der Straße einige Gefangene unter Bewachung. Sie blieb stehen und sah ihnen nach, während sie an ihre gefesselten Freunde dachte, von denen sie nun getrennt war.

Da stieg plötzlich der Gedanke in ihr aus, warum sie sich denn von ihnen trennen lasse, wenn sie den festen Glauben habe, daß ihr Beruf bei ihnen sei?

Rasch von Gedanken und stark an Willen, wie sie war, ging Mathilda dann sogleich zu dem Gefängnisdirektor, dem Oberstaatsanwalt Grotenfelt, stellte sich als die Tochter des Gouverneurs von Vasa vor und bat um die Erlaubnis, sämtliche Gefängnisse und Strafanstalten in Finnland besuchen zu dürfen, um, wie ein Freund, geistlich auf die Gefangenen einwirken zu können.

Der Oberstaatsanwalt hörte sie freundlich an, fragte aber gleich, wie sich denn ihr Vater zu der Sache stelle?

Mathilda mußte einräumen, daß er noch nichts davon wisse, sagte aber, sie habe mit seinem Einverständnis schon ein Jahr lang die Gefangenen in Vasa besucht und sei also der Meinung, er werde gegen eine Erweiterung ihrer Tätigkeit nichts einzuwenden haben.

Dann fragte Grotenfelt, wie alt sie sei. »Zwanzig Jahre.« – »Nicht gerade ein hohes Alter«, bemerkte er. – »Nein, aber dieser Fehler verbessert sich ja mit den Jahren von selbst«, erwiderte sie.

Er lächelte und sagte, daß er gerade auf Grund ihrer Jugend geneigt sei, ihr Gesuch zu bewilligen. »Wenn Sie älter wären, würde ich mehr als bedenklich dabei sein. Es ist ja ein sehr weitgehendes Verlangen. Aber in zwei, allerhöchstens drei Monaten werden Sie wohl eingesehen haben, daß ein Ballsaal ein fröhlicherer und passenderer Aufenthaltsort für Sie ist als eine Gefängniszelle. Und ich gebe Ihnen die Erlaubnis, weil sie nicht sehr lange benützt werden wird.«

Darauf erhielt sie die schriftliche Ermächtigung, die Gefängnisse in Helsingfors, Abo, Tavastehus und Villmanstrand zu besuchen, sowie ein Empfehlungsschreiben an die dortigen Direktoren.

Während ihres zehntägigen Aufenthalts in Helsingfors besuchte Mathilda nun gleich die beiden Gefängnisse, teilte Traktate unter die Gefangenen aus und redete mit ihnen. Im Sörnäser Gefängnis traf sie mit mehreren ihrer Vasaer Gefangenen zusammen, und auf beiden Seiten herrschte große Freude über das Wiedersehen.

Ihre erste eigentliche Gefängnisreise machte Mathilda im nächsten Januar nach Villmanstrand. Der Direktor und auch der Pfarrer empfingen sie freundlich, aber für ihre Arbeit zeigten beide recht wenig Verständnis.

Kurz nachher war sie im Bezirksgefängnis in Biborg, und im April fuhr sie nach Abo, um Kakola zu besuchen.

So also begann ihre Tätigkeit, die nicht, wie Oberstaatsanwalt Grotenfelt meinte, nach kurzer Zeit wieder aufgegeben wurde, sondern die sich über mehr als ein Menschenalter erstreckte, für die Mathilda Wrede ihr ganzes Leben einsetzte, für die sie alles andere opferte, und bei der sie das Leben gewann – ein Leben in Tiefen und auf Höhen – mit unaussprechlichem Reichtum und vollem Ersatz für alles, was es sie kostete.


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