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Ödlandsfahrten

Ein weiter Himmel spannt sich über das Ödland aus, und man kann frei umherschauen. Da sind keine Hindernisse, keine engen Grenzen hemmen das Auge. Da empfängt einen die große Einsamkeit, da nimmt einen das große Schweigen gefangen.

Kein menschlicher Laut dringt an das Ohr. Die von andern menschlichen Behausungen meilenweit getrennten Ödlandbewohner können keinen freundlich nachbarlichen Verkehr pflegen. Man ist sozusagen ganz in der Gewalt der starken, wilden Natur.

Und wer in dieser Natur geboren und ausgewachsen ist, für den ist es eine Art Wollust, sich darein zu versenken. Diese Menschen werden schweigsam und so ernst, daß kein Lächeln mehr um ihre Lippen spielt, sie sind nach innen gekehrter und empfindsamer in ihren Gefühlen und von ausgeprägterem Charakter als die meisten andern Menschen. Aber wer aus freundlicheren, bevölkerteren Gegenden kommt, auf den wirkt das Ödland niederdrückend, ja es kann ihn geradezu schwermütig machen.

Wie war es doch der jungen Frau auf Veljelö in Karelen gegangen? Froh und mutig war sie mit dem geliebten Gatten hingezogen, um aus Veljelö einen Musterhof zu machen, um den andern Bewohnern ringsumher eine bessere Ackerbewirtschaftung, ertragsfähigeren Gemüsebau vor Augen zu führen und sie in allerlei Handfertigkeiten im eigenen Heim zu unterrichten. Er und sie hatten wohl geglaubt, da droben in der großen, weiten Natur sei um so mehr Raum für ihr Glück, da hätten sie um so mehr Ruhe, ihre Liebe zu betätigen und zu genießen …

Aber das Ödland raubte der jungen Frau Mut und Freude. Das Ödland starrte ihr entgegen mit seinen abgrundtiefen Augen, die sie gleichsam in sich hineinsaugen wollten – bis ihr angst und bange wurde und sie entfloh. Entfloh – zurück zu ihren Eltern nach Schweden, die sie dann auch nicht mehr verlassen wollte. Dem Manne blieb schließlich nichts anderes übrig, als zu ihr zu kommen.

Und als sie damals gegangen war, erschien das Ödland auch ihm bedrückend und drohend, obgleich er es vorher geliebt hatte. Denn er hatte in Kakola gefangen gesessen, und als er freigelassen wurde, konnte er es nicht menschenfern und einsam genug um sich haben. Mathilda Wrede, die ihm im Gefängnis eine treue Freundin geworden war, hatte dann im Ödland ein kleines Gütchen gekauft und ihn zum Verwalter darüber gesetzt. Und daß sie ihm diese Ausgabe zugeteilt, das hatte ihm den Lebensmut und das Selbstgefühl wiedergegeben. Er fühlte, daß Pflicht und Dankbarkeit ihn nun an seine Ausgabe banden – und eine Zeitlang hielt er es in der Einsamkeit noch aus. Aber dann konnte er nicht mehr – und er zog der Gattin nach.

Ja, nicht wenige sind es, die das Ödland verscheucht hat, wie diese beiden – oder die in ihm zugrunde gegangen sind. – –

Es ist Sommer – jener helle, kurze Sommer mit den langen, strahlenden Tagen, die auch noch fast die ganze Nacht hindurch dauern. Da ertönen unermüdliche Hufschläge durch das weite Ödland, und wo sie vernehmlich werden – auf schlechten, halb ungebahnten Wegen, in längst vergessenen menschlichen Wohnungen, in einsamen, armseligen Gehöften oder Gasthäusern – da wecken sie einen freudigen Widerhall in den Herzen und Gedanken der Menschen. Denn Mathilda, die die Sommerzeit benützt, um herumzureisen und die freigelassenen Gefangenen oder deren Familien aufzusuchen, bringt Gutes mit sich, wohin sie auch immer kommt. Und sie selbst liebt ihre Ödlandbewohner – diese Menschen, die unter dem Kampfe mit Not, Anstrengungen und allerlei Heimsuchungen erstarken und ohne zu murren des Lebens Last tragen lernen.

Wo immer sie von Armen, Kranken oder Unglücklichen hört, da sucht sie sie auf, ohne die weiten Entfernungen unwegsamer Moore oder die öden Wälder zu fürchten. –

Eines Tages ist sie unterwegs zu einer blutarmen Familie. Es geht tief in den Wald hinein, und dann ist der Weg nicht mehr zu erkennen. Der Kutscher steigt ab und sagt, nun müßten sie sich zu Fuß weiter durcharbeiten.

Mathilda hat eine Reisetasche, einen Pack Bücher und einen Mantel bei sich. Sie fragt, ob sie diese Sachen wohl im Wagen liegen lassen könne. Der Mann steht zum Himmel auf und antwortet: »Gewiß, es wird heute sicher nicht mehr regnen.« Etwas anderes ist nicht zu fürchten.

Immer tiefer geht es in den Wald hinein. Dann taucht ein Haus auf. Und darinnen herrscht bittere Not und großes Elend. Jetzt ist auch noch Krankheit dazu gekommen. Das ist fast das allerschlimmste. Zwar die Kinder sind gesund; lustig und zerlumpt springen sie draußen umher – aber die Kuh ist krank geworden, und dann geht ja das Ganze nicht mehr!

Mathilda ist diesmal reichlich mit Geld versehen. Freunde und Verwandte haben sie für ihre Ödlandreise ausgestattet, damit sie nicht mit leeren Händen zu den Armen dort kommen muß. Gottlob, sie kann in ihren Beutel greifen und austeilen! Aber das beste ist doch fast, daß sie nach der Kuh steht und guten Rat zu geben vermag. Denn sie liebt nicht nur die Tiere, sondern versteht sich auch auf deren Behandlung und Wartung.

Das ist für die bekümmerte Frau eine große Aufmunterung; sie ist indes sichtlich überrascht, denn auf dergleichen verstehen sich doch die vornehmen Leute sonst nicht. »Gehören Sie denn nicht zu den richtigen Herrenleuten?« fragte sie. – »O doch, einigermaßen«, versetzt Mathilda lächelnd.

Das dankbare Ehepaar will Mathilda durchaus bis zu ihrem Wagen zurückbegleiten.

Weiter, weiter geht es … tiefer hinein in die Wälder … und wieder hinaus. Da liegt eine kleine Wiese, wo ein älterer Mann eben das Gras mäht. Hier muß es sein!

Es ist ein heller, schöner Tag. Das Bild, das Mathilda vor sich steht, ist freundlich und ansprechend. Aber vor ihrem inneren Blick taucht eine dunkle, enge Gefängniszelle auf, und in dieser sitzt ein junger Mensch – ein Mörder mit zehn Jahren Zuchthaus vor sich.

Hier oben hat er gewohnt – auf dem Hofe, der dort drüben hervorschimmert – bei seinen Eltern, frommen Christen, die ihre Kinder in Zucht und Vermahnung des Herrn auszogen. Sein älterer Bruder wohnte mit seiner jungen Frau auch bei ihnen im Hause.

In einem Sommer, zur Zeit der Heuernte, bekam der jüngere Bruder eines Tages starke Kopfschmerzen mit heftigem Fieber. Er fühlte sich sehr krank, aber die andern verstanden es nicht recht. Ein Arzt war ja nicht zu haben – und einen zu holen, wäre ihnen auch gar nicht eingefallen.

Als die andern am nächsten Morgen auf diese Wiese gingen, fühlte er sich viel zu elend, um mitzugehen. Der Vater und der Bruder sagten nichts darüber, aber die Schwägerin, die ihn ohnedies nicht recht leiden konnte, wurde aufgebracht.

»Du bist doch ein rechter Faulpelz«, sagte sie. »Wegen so ein bißchen Kopfweh bleibst du liegen und läßt die andern sich mit dem Heu abschinden, ohne auch nur einen Finger zu rühren.«

So schalt und zankte sie den ganzen Tag, während sich doch seine Schmerzen immer mehr steigerten und ihm das Fieber die Gedanken verwirrte.

Schließlich begriff er nur noch eins: die scharfen Worte, die ihm wie Nadeln in den Kopf drangen, mußten ein Ende haben …

In der Nacht stand er auf und erschlug die Schwägerin.

Aber als es geschehen war – ach, da wurde ihm klar, was er Furchtbares getan hatte! Und obgleich schwer krank, schleppte er sich am nächsten Morgen hinunter und stellte sich selbst dem Gericht.

In dem kleinen Dorfarrest war er ganz außer sich vor Verzweiflung … Er flehte den Pfarrer an, die Gemeinde doch für ihn beten zu lassen.

Jedermann im Kirchspiel war überzeugt, daß diese unglückselige Tat nur im Fieberwahn der Krankheit begangen worden sei, denn die Leute auf diesem Hose waren, das wurde fast einstimmig anerkannt, eigentlich die besten von allen ringsum. – –

Mathilda steigt aus dem Wagen und steht über die Wiese hin, die sich grünschimmernd im Sonnenschein ausbreitet. Gerade auf diese Wiese hatte der Ärmste an jenem verhängnisvollen Tag nicht mitgehen können. Die gebeugte Gestalt dort drüben – das muß der Vater sein!

Mathilda hat den Sohn oft in Kakola besucht, und nun bringt sie Grüße von ihm an alle da oben – in erster Linie an die Eltern. Kurz nachher sitzt sie auf der Wiese neben dem Vater, bringt ihm den Gruß von dem Sohne und erzählt, erzählt … Alles, was sie von ihm weiß, berichtet sie, wie es ihm geht, wie seine Gemütsstimmung ist, wie er sich nach Hause sehnt …

Sie gehen zusammen nach dem Gehöfte. Da kommt die Mutter ihnen entgegen. Mathilda muß ihr alles noch einmal erzählen. Und ganz ruhig fällt ein liebevolles Wort ums andere über den Sohn von ihren Lippen. Sie weiß es gewiß, nur die Krankheit war schuld daran, sonst hätte er in jener Nacht das Schreckliche sicher nicht getan.

»Als er noch ein kleiner Junge war«, sagte sie, »und den weiten Weg in die Schule nach dem Kirchdorf machen mußte, gaben wir ihm ja immer Wegzehrung mit. Jetzt ist er in Gottes Schule, das ist eine strenge, schwere Schule, aber ich bitte den lieben Gott jeden Tag, daß er doch Gottes Führung und Gottes Willen erkennen lerne – – wenn er dann ausgelernt hat, bekommen wir ihn wieder hierher. Aber jetzt möchte ich Ihnen ein wenig Wegzehrung nebst den herzlichsten Grüßen von uns für meinen Jungen mitgeben.«

Dann sagt sie ein paar Bibelsprüche her, die Mathilda dem jungen Gefangenen wiederholen soll, »denn Gottes Wort, das ist Wegzehrung«.

+

Der Sommer ist weiter vorgeschritten, und auch der August neigt sich seinem Ende zu. Die Nächte sind schon länger und dunkler, der Himmel ist überzogen, und ein feiner Staubregen verschleiert alles ringsum wie ein Nebel.

Mathilda bricht von einer Herberge in Kuopio auf, obgleich es schon etwas spät am Tage ist. Aber wer weiß – vielleicht regnet es morgen in Strömen, und sie hat keine Zeit zu verlieren!

Der Kutscher, mit Namen Otto, steht recht jugendlich aus, scheint aber seine Sache zu verstehen. Rasch geht es vorwärts. Sie haben einen Weg von zweiundzwanzig Kilometern vor sich.

Jetzt fahren sie in tiefen Wald hinein, der Abend wird dunkler, der Nebel dichter. Irgendwo da herum wohnt ein freigelassener Gefangener, das weiß Mathilda, und ihn will sie im Vorüberfahren begrüßen.

»Hör, mein Junge«, sagt sie zu Otto, »wenn wir an die Grenzpfähle zwischen Kuopio und dem Vasabezirk kommen, dann mußt du das Pferd anhalten. Und dann streich ein Zündholz an, denn ich muß einen Schimmer von meinem geliebten Heimatort sehen. Dort bin ich geboren, und dort hab' ich sehr lang gewohnt.«

Kurz nachher fährt Otto langsamer. »Ja, hier muß die Grenze sein«, sagt er, indem er das Pferd anhält.

Dann zündet er ein Streichholz an. Und während besten unsicherer, flackernder Schein einen Augenblick den Weg und die nächsten hohen Nadelholzbäume beleuchtet, dringt eine Woge von Kindheitserinnerungen auf Mathilda ein … Ach, der Vasaer Bezirk! Die heimatliche Erde! …

Dann knallt Otto mit der Peitsche, und das Pferd trabt weiter. Nach einer Stunde etwa hält Otto wieder an und sagt:

»Hier ist es wohl, hier herum muß der Mann wohnen.«

Mathilda meint, das Haus des früheren Gefangenen liege dicht am Wege. Sie bittet Otto, abzusteigen und dem Manne zu sagen, sie warte hier im Wagen und möchte ihn gerne sprechen.

Der Junge geht; seine Schritte ertönen ferner und ferner, dann verhallen sie ganz.

Da sitzt sie – allein auf dem kleinen zweirädrigen Wagen mitten in dem finsteren, rauschenden Walde und wartet, wartet … Das Pferd wird ungeduldig, es zerrt an den Zügeln. Mathilda muß es die ganze Zeit zu beruhigen suchen. Das Warten deucht ihr endlos. Stunden – Jahre sind vergangen, seit Otto sie verließ! Dann ertönen Schritte durch das Dunkel – rasche, hastige – –

»Wer da?« ruft Mathilda. »Bist du es, Otto?« – Die Schritte halten jäh an, kommen aber dann aus den Wagen zu. Und – Gott sei Dank – es ist der, den sie aussuchen will, ihr lieber Gefangener!

Er war zu Bett gegangen und eingeschlafen, als Otto an die Tür seiner Hütte wetterte, die ein gutes Stück vom Wege ablag. Er fuhr aus und öffnete die Tür. Da sagte ihm Otto nur, draußen auf dem Wege im Wagen warte jemand auf ihn und wolle ihn sprechen. Da der Mann aber nur bedingungsweise freigelassen war, bekam er Angst, es könnte der Vogt sein, der ihn zu holen gekommen sei. Doch zog er sich rasch an und lief, was er konnte, nach der angegebenen Stelle, während Otto bedächtig hinterher trottete.

Als er nun aber seinen besten Freund von den im Gefängnis verbrachten Jahren steht, da ist seine Freude wahrhaft überwältigend. Ehe Mathilda weiterfährt, ladet sie ihn aus den nächsten Tag zum Frühstück in der Herberge ein, die sie an diesem Tag noch erreichen will.

Spät in der Nacht treffen sie ein. Eine schläfrige, schon halb ausgezogene Wirtin weist Mathilda ein Zimmer an und schilt den Kutscher, weil er so spät in der Nacht noch mit Gästen ankomme.

Er verteidigt sich damit, daß sie unterwegs im Walde von einem freigelassenen Gefangenen aufgehalten worden seien – und kurz nachher tritt die Wirtin zu Mathilda ins Zimmer, sieht sie ehrerbietig an und vertauscht dann die Bettbezüge mit frischen, sehr viel feineren. An die Wand über dem Bett befestigt sie ein weißes Tuch, auf dem mit mächtigen Buchstaben »Gute, geruhsame Nacht!« gestickt ist.

Als dies getan ist, wendet sie sich an Mathilda und sagt: »Ich weiß, daß Sie die Tochter unseres früheren Landeshauptmannes und der ›Freund der Gefangenen‹ sind. Deshalb lege ich Ihnen auch meine besten Bettbezüge auf, und Sie sollen auch zu essen bekommen, obgleich es schon spät in der Nacht ist, denn Sie müssen nach der langen Fahrt sehr müde und ausgehungert sein.«

Nicht lange nachher tritt sie wieder herein mit Brot, Butter, Milch und warmen Kartoffeln nett auf einem Brett angerichtet.

Am nächsten Tage frühstückt also Mathilda noch mit ihrem Gefangenen in dieser Herberge, dann verabschiedet sie sich aufs herzlichste von ihrer wohlwollenden Wirtin und fährt weiter.

An diesem Tag will sie einen andern Freund von Kakola aufsuchen, der nicht weit entfernt einen kleinen Hof hat.

Als Mathilda dahergefahren kommt, steht der Mann eben vor seinem Hause und bestreicht einen Wagen mit Teer. Im selben Augenblick wirft er das Rad weg, stürzt mit ausgestreckten Armen auf den Wagen zu, hebt Mathilda heraus und trägt sie bis in die Stube hinein, wo seine Frau mit ihrem Kinde sitzt.

»Nun kann ich sie euch endlich zeigen!« ruft er entzückt und stellt Mathilda gerade vor die beiden hin.

Die Leutchen wissen nicht, was sie ihr alles zuliebe tun sollen. Sie tragen auf, was sie vermögen, sie muß den ganzen Hof in Augenschein nehmen. Überall wird sie herumgeführt, sie muß über Gatter klettern und über Gräben springen, denn draußen auf der Wiese ist ein junges Füllen, das sie durchaus sehen soll. Außerdem haben die Leutchen auch Kühe, Kälber, Hühner, Schweine …

Die Freude über Mathildas Besuch ist so groß, daß es ihr schwer fällt, sich loszureißen – aber sie hat noch eine lange Fahrt vor sich und muß weiter.

+

Im Gefängnis zu Kakola war ein Gefangener – ein Mann von herkulischer Gestalt und gebieterischem Wesen –, mit dem Mathilda sich besonders befreundet hatte. Sie hatte ihm versprechen müssen, bei ihm zu Gast zu sein, wenn er wieder frei sei und ihr Weg sie in die Gegend führe, wo er zu Hause war.

Sie hatte später gehört, daß in der ganzen öden und unwirtlichen Gegend, die sich durchaus keines guten Rufes erfreute, gerade sein Hof der berüchtigtste von allen sei und dort sozusagen jede Stube ihre blutige Erinnerung habe. Aber sie hatte ihm versprochen, bei ihm zu übernachten, und dieses Versprechen wollte sie nun halten.

Sie fährt mit dem Zuge. Als dieser endlich an einer einsamen kleinen Aussteigstelle hält, sieht sie ihren Gastgeber, kräftig und riesengroß, wie einen Häuptling unter den andern losgelassenen Gefangenen stehen, die er sich von nah und fern herbeigeholt hat, damit sie alle Mathilda willkommen heißen könnten.

Während sie aus dem Zuge steigt, bleiben indes alle ganz unbeweglich stehen; keine Mütze wird abgenommen, kein Willkommgruß ertönt.

Sehr überrascht und etwas verstimmt tritt Mathilda auf die Schar zu und reicht dem Häuptling die Hand, während sie guten Tag sagt.

In demselben Augenblick fliegen alle Mützen von den Köpfen, und aller Hände strecken sich ihr entgegen. Dann ergreift ihr Gastgeber das Wort: »Fräulein Wrede, Sie müssen verstehen – ich hatte zu den andern gesagt: ›Solange der Zug hält, rührt sich keiner oder drückt auf irgendeine Weise aus, daß er Sie kennt. Denn man kann nie wissen, ob es ihr angenehm ist, wenn die andern sehen, von welcher Art ihre Freunde hier sind.‹ Deshalb blieben sie alle stocksteif stehen wie ich auch. Aber jetzt, wo Sie uns selbst begrüßen und wir sehen, daß Sie sich unserer nicht schämen, können wir Ihnen ja gleich sagen, wie froh wir sind, Sie hier zu sehen.«

Mathilda fährt mit nach seinem Hof, die andern kommen hinterher, und den ganzen Tag hindurch ist für jeden, der Mathilda gerne sehen will, der gedeckte Kaffeetisch bereit.

Hinter dem Saal liegt das Zimmer, das für sie bestimmt ist – offenbar das beste im Haus. Aber aus der Beschreibung, die ihr von dem Hofe gemacht worden ist, kann sie sich ausrechnen, daß gerade dieses Zimmer auch das berüchtigtste ist, gerade das, in dem die schlimmsten Dinge geschehen sind.

Es hat nur eine Tür nach dem Saal, und als sich Mathilda spät am Abend zurückzieht, tauchen die Erinnerungen an alle die unheimlichen Ereignisse, die sie darüber gehört hat, in ihrer Seele aus. Sie kleidet sich aber doch ruhig aus; es ist ganz still aus dem Hofe und auch still in dem Stall draußen.

Doch gerade als sie ins Bett steigen will, hört sie ein Geräusch nebenan – Schritte sind es. Schleichende Schritte, die immer näher auf ihre Tür zukommen.

Regungslos bleibt Mathilda neben dem Bett sitzen, die Schritte halten vor ihrer Tür an. Sie hört etwas vor der Tür rascheln – wie wenn sich jemand tastend daran zu schaffen mache oder sich an ihr reibe.

Kurz nachher wird wieder alles still. Aber das ist ganz sicher, draußen vor der Tür ist jemand, jawohl. Soll sie aufbleiben und abwarten, was weiter geschehen wird?

Nein, sie geht ruhig zu Bett und schläft unter dem »Schatten der Flügel«, die auch über sie ausgebreitet sind. – –

Am nächsten Morgen fragte ihr Gastgeber, wie sie geschlafen habe. »Danke – sicher und gut.«

»Ich hoffe, Sie haben mich nicht gehört«, sagte er. »Ich ging so leise wie ich konnte.«

»Doch, ich hörte, daß jemand im Saal war. Sind Sie das gewesen?«

»Ja, Sie verstehen, ich habe ja die Verantwortung für Sie, solange Sie bei uns zu Gast sind. Und wenn Sie mir die Ehre, unter meinem Dache zu schlafen, zuteil werden lassen, dann ist es eine Ehrensache für mich, ganz sicher zu sein, daß niemand Sie stören oder belästigen kann, damit nicht das kleinste Haar auf Ihrem Haupte gekrümmt wird. Deshalb – hab' ich selbst heut nacht vor Ihrer Tür geschlafen. – Das Zimmer hat keinen andern Ausgang – wenn also jemand hereingewollt hätte, so hätte er über mich wegschreiten müssen. Aber –« er wirft seinen Häuptlingskopf zurück, während ein stolzes Lächeln um seine Lippen spielt – »es ist keine Gefahr vorhanden, daß sich jemand darauf einlasten wollte.«

In allen den Armenhäusern, wo Mathilda vorüberkommt, läßt sie Kaffee kochen, was ja immer mit großer Freude ausgenommen wird. »Ach, seit der Herr Pfarrer tot ist, hat uns wahrlich kein Mensch mit Kaffee bedacht. Und das ist schon mehrere Jahre her«, sagt einmal eine alte Frau. »Der Gouverneur von Kuopio ist einmal hier gewesen, aber der hatte nicht so viel Menschenverstand, daß er uns einen Tropfen Kaffee gegönnt hätte.«

Überall findet Mathilda bekümmerte, betrübte Menschen, die eine nie ruhende Sehnsucht tief im Herzen tragen … Und immer findet Mathilda den Weg in diese niedergedrückten Herzen. –

Einmal kommt ein alter Bewohner des Armenhauses dahergehumpelt, um sich von ihr zu verabschieden. »Nun leben Sie wohl, Fräulein Wrede«, sagt er. Und mit einer Handbewegung nach oben fährt er fort: »Ich bin jetzt ein alter Mann und werde bald da hinaus versetzt werden. Aber dann werde ich gewiß nicht vergessen, Grüße von Ihnen auszurichten.«

Mathilda fragt: »Was wollen Sie denn von mir ausrichten?« – »Ich werde sagen«, versetzt er, »sie wird schon kommen – sobald sie hier unten mit ihrer ganzen Herde fertig geworden ist.«

Ach nein, dann wird sie nie kommen! Denn fertig – wann könnte sie mit ihrer Schar, die täglich größer wird, fertig werden?

Aber fertig werden mit sich selbst – ja, das ist es wohl, was erreicht werden soll – durch alle die andern, mit denen man nie fertig wird.


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