Mendele Moicher Sforim
Schloimale
Mendele Moicher Sforim

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Zehntes Kapitel

Als Schloimale in die Jeschiwe gekommen war und dort den Mischmasch der armen und elenden Schüler sah, die von nah und von fern kamen, und das große Durcheinander in ihrem Lernen, in ihren Sitten und ihren Ansichten, da erzitterten die Flügel seiner Phantasie und seine Hoffnungen schwanden. Er hatte geglaubt, er könne sich hier zu einer hohen Stufe im Lernen aufschwingen und neue Gefährten finden, die in der Lehre forschten und sich seiner Kenntnisse in der Heiligen Schrift erfreuten, und auch er würde nicht so einsam, fremd und verlassen sein wie in seiner Heimat – und er kam und sah diese ganze Unordnung vor sich! Trotzdem verzweifelte er nicht an der Jeschiwe und war bereit, sich den Schülern anzuschließen und sie aus vollem Herzen zu lieben. Die Seele Schloimales war ihrem ganzen Kerne nach aus Liebe, Ewigkeitssehnen, Zuneigung und Freundschaft zusammengesetzt und flammte wie Feuer zum Docht hin, sie strebte, sich in brüderlicher Freundschaft an jemanden zu heften. Aber die Schüler wichen ihm wie dem Feuer aus. Warum? Weil feuchtes Holz nicht Feuer fangen will – bei den Menschen ist das der Haß des Unwissenden gegen den Geistigen. Schloimales gute Eigenschaften legten ihm die Schüler zum Bösen aus, sie verdächtigten ihn, er strebe nach Macht, sei hochmütig und verachte sie im Herzen. Und dazu neideten sie ihm noch das Glück, daß er rasch alles Notwendige gefunden hatte. Der Glückliche wird betrogen – man schmeichelt ihm offen und schmäht ihn im geheimen, der Mund spricht freundliche Worte, und das Herz sinnt Übles. Am stärksten haßte ihn der Pinsker, das Haupt und der Anführer der ganzen Gesellschaft. Schloimale paßte ihm nicht in den Kram. Er fühlte sich in seiner Gegenwart wie der festsitzende Nagel in der Wand, der gegen seinen Willen von einem Magneten langsam aus seiner Stellung herausgezogen wird.

So lagen anfangs die Dinge zwischen Schloimale und seinen Gefährten. Aber die Zeit tut ihre Arbeit und verändert alles in der Welt. Das Verlangen nach Brüderlichkeit und Freundschaft auf seiten Schloimales und das Abnehmen des Hasses der Schüler ließen die Fernstehenden einander im Lauf der Zeit näher treten.

Die Jeschiwe und ihre Schüler, alles bei seiner ganzen Peinlichkeit, zogen Schloimale langsam und allmählich, wie ein großer von Grün bedeckter Sumpf, in sich hinein, bis er keinen Kopf und keinen Willen mehr hatte, keine Lust zum Lernen und keinen Gedanken an sein Ziel. Als er sich mit der Bande zusammentat und ihn sein Herz zu ihnen zog, fügte er sich ihrem Willen, und ganz neue Gelüste wurden in seinem Herzen geboren: Er verbrachte die Zeit mit ihnen in knabenhaftem Tun, mit Unterhaltungen, nutzlosem Geschwätz und Geplauder und gab sich diesen Kindereien von ganzem Herzen hin.

Im Mutterleibe ist der Mensch ein völlig selbständiges Wesen. Kommt er auf die Welt und ist auf die Menschen angewiesen, so wird er ein halbes Geschöpf – der eine Teil gehört ihm selbst, der andere der Gesellschaft. Für sich ist er so, wie er geschaffen wurde, und in der Gesellschaft, in der Gemeinschaft, ist er wie eine Münze mit abgegriffenem, nicht zu erkennendem Bilde. Die Gesellschaft raubt ihm seine Persönlichkeit, ertötet seine Einsicht und sein Gewissen, nimmt ihm den freien Willen, versklavt seinen Mund und seine Zunge, daß sie nach dem Willen seiner Partei sprechen, erzieht ihn zur Heuchelei und Schmeichelei, zu Trug und Lug, zu Verleumdung und grundlosem Haß, alles in der Einbildung, daß er sich dadurch nütze, bis er schließlich sein Herz und seine Seele für ein erträumtes Linsengericht verkauft. Hier lauert der böse Trieb, um den Menschen in seine Netze zu ziehen, er überredet ihn und trägt reiche Beute davon. Auch den Klugen fängt er, trägt Wirrnis in seinen Geist und hetzt ihn gegen den guten Trieb, der ihm Lebenselexier aus den Quellen des Heiles bietet – aus alten Büchern der Seelenheilung, daß er seine Leidenschaften kühle und lindere.

»Der Trieb des Menschen ist böse von seiner Jugend auf«, von der Stunde an, da er geboren ward, und der Mensch verachtet den guten Trieb, aber in Wirklichkeit baut er sich aus beiden auf. Beide drängen den Menschen zur Handlung und sind die Ursachen all seines Tuns. Gäbe es die Triebe und Gelüste nicht in der Welt, die bewegenden Triebfedern des Menschen – der trieblose Mensch wäre ein Schiff ohne Steuer, und jedes tote Vieh wäre mehr als er. Die Leidenschaft erregt, entzündet, befeuert den Menschen, und der gute Trieb reguliert das allzu hitzige Gelüst und bringt es auf das richtige Maß.

Weder ein Engel noch ein Tier ist der Mensch. Des Menschen Größe ist in seiner Begierde und in ihrer Überwindung.

Doch dies alles bezieht sich auf einen reifen Menschen, den das Leben bearbeitet und im Kampf gegen Schickung und Fügung abgehärtet hat. Aber wie hätte es sich in aller Strenge auf Schloimale beziehen können? Wie hätte das heißblütige Kind, das wie seine Altersgenossen an der Schwelle des Lebens stand und dessen Palast noch nicht betreten hatte, schon ein Selbstüberwinder sein und den Tand der Welt, der ihm Freude bereitete und sein Herz anzog, besiegen sollen, bloß im Gedanken an den Talmud und sein Fortkommen? Und so näherte sein Verlangen nach Liebe, sein Suchen nach Freunden und Herzlichkeit und der fast ganz ausgelaugte Haß seiner Gefährten die Entfernten. Schloimale wurde in die Bande aufgenommen. Der »Windhund« schloß sich an ihn an und wurde sein Freund. Sie wurden ein Herz und eine Seele und verübten ihre Streiche gemeinsam. Sie gingen beide müßig und führten die Befehle des »Kerls«, des Oberanführers aus. Schloimale wurde sehr beliebt, man lobte ihn in seiner Gegenwart und hinter seinem Rücken: »Es gibt keinen zweiten Gefährten wie ihn! Er sieht wie ein stilles Wässerlein aus – aber wie tief ist es!« Das Ansehen Schloimales stieg so hoch, daß er gar bis zum »Beutel«, zum Jeschiwe-Beutel, gelangte! Bei den Sitzungen am warmen Ofen und vor dem Feuer mit den siedenden Töpfen voll Graupensuppe, gebackenen und gekochten Kartoffeln an den Winterabend führte Schloimale den Vorsitz. Er redete selber oder lauschte der Vereinssprache, den Ansichten, Geschichten, Gesprächen, den Einfällen und Witzen über die Hausfrauen, Köchinnen und Dienstmädchen, über das Essen, über den Kiggel, nach dem sie so lüstern waren, über die Vorlesungen und das Lernen, um das sie sich nicht kümmerten, über Gelehrte, Jeschiwe-Leiter, Fondssammler, Aufseher – die alle in Grund und Boden verdammt wurden. Kurz, Schloimales lebhafte Natur und nach Freundschaft lechzende Seele ließ sich vom bösen Triebe immer tiefer in die Gesellschaft hineinziehen. Er fühlte sich unter seinen Gefährten nicht mehr einsam und wurde gleich ihnen ein echter »Freiherr« – das hieß frei von vielen Dingen der Frömmigkeit und des Judentums. Er wurde frei vom fleißigen Lernen des Talmuds und auch der Heiligen Schrift, die er in der Kindheit so gut kannte, frei vom Beten, in dem so viel Erhabenheit, Innigkeit, Trost, himmlische Schönheit, so viel Seelen-Sehnsucht, heiliges Verlangen und flammende Verbindung mit Gott und seiner Glorie lag, wie er es früher in seinem Gebete fühlte, als er in T-z unter Chassidim wohnte. Jetzt hatte er nichts zu sagen, ob er auf den Inhalt seines Gebetes achtete oder nicht. Es wurde so hinuntergeschlurrt – er war ja ein »Freiherr«.

Es mußte rasch gehen, er hatte keine Zeit. Schnell die Hand-Twillen berührt, die Finger geküßt und »poissejech« gesagt! Den Kopf schnell gebückt: »borchi!« Alle fünf Finger über die Augen gelegt: »echo-o-od!« Hopp-hopp: »kudoisch!« Ein Schlag ans Herz: »uschamni!« Ausgespuckt: das Beten war aus? »Chasche-Giete, für einen Pfennig gekochte Erbsen!« Chasche-Giete war eine hochgewachsene, gute, alte Frau, die jeden Morgen nach dem Gebet zur Jeschiwe kam und sich mit einem in Lappen gehüllten Topf weich zerkochter Erbsen an die Tür stellte, worauf die armen Schüler heißhungrig auf den Topf losstürzten, wie die Bienen auf Honig.

Eine mächtige Anziehung übte auf Schloimale auch sein Nachtquartier aus. In den scharfen Frösten erwartete den fast sommerlich Gekleideten ein erquickend warmer Bankofen als Nachtlager. Außerdem verlangte es ihn sehr, die Unterhaltung und die schönen Geschichten der Leute zu hören, die am Abend von ihrer Tagesarbeit heimkehrten und sich vor dem Schlaf ein wenig am Plaudern ergötzten und dies und jenes mit Witz und Neckerei besprachen. Wie man am Fasttag den Abend erwartet, so sehnte sich Schloimale nach dem Abendessen seines »Tages«, schnell mit dem Essen fertig zu werden und in sein Quartier zu kommen.

Am Abend, wenn die Schüler um die langen Tische herumsaßen, auf denen mit rötlichem Licht dünne, schmelzende Unschlittkerzen dunkel brannten, schaukelten Schloimale und sein Freund, der »Windhund«, den Körper über dem Traktat Kidduschin, den man damals an der Jeschiwe lernte, sie sprachen in der Talmudweise, runzelten die Stirnen, argumentierten mit dem Daumen – alles, als ob sie lernten. Schloimale lernte vor:

»Ejn ariße bas jißruul ochles – eine Verlobte ißt nicht« und der »Windhund« wiederholte: »eine Verlobte ißt.«

»Was redest du?!« fuhr ihn Schloimale an, »ißt nicht! ›Ejn‹ steht ja, ›ejn ochles bitrimme‹!«

»Aha, ja, ja!« fuhr der Windhund wie aus dem Schlaf auf. »Eine Verlobte ißt nichts!«

»Du Goi!« rief Schloimale. »Die Verlobte ißt nicht ›Nichts‹, sondern von der Hebe ißt sie nicht!«

»Aha! Jetzt verstehe ich's«, sagte der Windhund und fuhr mit dem Daumen heftig hin und wider. »Das Wort ›ejn‹ steht ein wenig zu weit, da habe ich's übersehen. Jetzt geht's gut: ›Sie ißt nicht von der Hebe.‹«

»Was meinst du, liebes ›Windhündlein‹, dauert's noch lang bis zum Abendbrot? Sag weiter: ›ad schetikunes lechippe‹ bis sie auf dem Bankofen schlafen geht . . . hm . . . also noch einmal: ›Ochles bitrimme‹ – will ich sagen: ›Ejn ochles‹ sie ißt nicht – ach, wie ich essen möchte, und mit dem Essen fertig sein und die Glieder gerade strecken!«

So lernten sie zur Hälfte und plauderten zur Hälfte – plötzlich war's Schluß. Die Kerzen waren geschmolzen und ausgegangen, die Bücher wurden zugeklappt, und jeder ging zu seinem »Tag«, um Abendbrot zu essen.


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