Mendele Moicher Sforim
Schloimale
Mendele Moicher Sforim

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Erstes Buch

Erstes Kapitel

Ungefähr anderthalb Meilen vom Städtchen Armleuten liegt ein kleines Dörflein, von tiefen Wäldern umgeben, durch die ein ziemlich großer, schöner Fluß strömt. An seinem Ufer steht eine Mühle, und darum heißt das Dorf Mühldorf. Auf der einen Seite des Flusses schauen unter Grün und Bäumen drei kleine Häuslein hervor, in denen die einzigen Einwohner, drei Bauernfamilien, leben, und auf der andern Seite des Flusses steht dicht am Wald ein einziges Blockhaus mit kleinen Fenstern und einem hohen, alten Dach. Dort wohnt Chune Mühldorfer mit seiner Familie, der Pächter der Mühle, deren Pachtrecht in seiner Familie vom Vater zum Sohn übergeht. Mühldorf sieht ganz wie ein Nest aus, das in einem Winkel verborgen liegt. Es ist von der Welt losgerissen, den Menschen und der Straße ferne, nur kleine schmale Wege schlängeln sich durch den Wald, durch Täler und Berge, und führen zu den Dörfern, die in der Runde verstreut liegen. Und wenngleich die Menschen hier selten sind und der Lärm und das Tosen der Städte fehlt, so wimmeln dafür in Wald, Sumpf und Feld alle Arten Wesen, Tiere und Vögel; so gibt es hier dafür allerlei Töne zu vernehmen: Vogelsang, Gekrähe, Gequake, Gesumme und Gezirpe im Sommer, das Geheul und Geschrei hungriger Wölfe im Winter, zuweilen auch das Gebrumm eines verirrten Bären – in dieses Konzert mischt sich das Rauschen des Wassers, das auf die Räder hinunterfällt, und das Klappern und Mahlen der Mühle.

Es war der letzte Pejssech-Tag, ein schöner, warmer Frühlingstag. Die goldene Sonne hatte beim Aufgehen die grauen Wolken in der Luft zerrissen und auseinandergetrieben, und ihr strahlendes Antlitz blickte mit milder Freundlichkeit vom blauen Himmel zur Erde herab. Die Geschöpfe Gottes erwachten alle, groß und klein, aus dem langen Winterschlaf und jedes ging munter und vergnügt an seine Arbeit. Frischgelbe Blumen steckten die Köpflein unter dem jungen grünen Gras hervor, blickten heraus und taten schön. Die Weiden am Fluß gingen eilig daran, ihren neuen, grünen Rock anzulegen, und bespiegelten sich im reinen, silberklaren Wasser. Aus den fernen, warmen Ländern der Fremde kehrten Vogelscharen an ihre Stätte zurück. Wildgänse plätscherten irgendwo zwischen Inseln im Fluß. Wildenten trieben sich mit lautem Gepfeife im Röhricht umher. Schwalben flatterten und schwebten in der Luft herum und waren eifrig mit dem Bau und der Wiederherstellung alter und neuer Nester beschäftigt. Willkommen! Das altbekannte Storchenpaar war auch glücklich eingetroffen. Die Störchin stand auf einem Bein, den Kopf auf die Seite geneigt. Sie stand und betrachtete ihr altes Nest oben auf einem Baumwipfel, während er auf seinen langen Stelzen hochfahrend über den Sumpf spazierte und die Pfützen beobachtete, in denen die Frösche sprangen und quakten; ein plötzliches Pick-Pick – und er warf etwas in den weiten, roten Schlund hinein. Überall herrschte Leben und Lust, das flog und das summte, das sang und pfiff. Festtag war es und Frühling war es!

Die ganze Familie des Pächters war jetzt draußen. Chune saß mit offenem Rock auf der Bank neben dem Hause, betrachtete Gottes schöne Welt und gähnte. Er hatte – man sollt's gar nicht erzählen – bald nach dem Mittag ein bißchen geschlummert. Die älteren Kinder standen um ihn herum und sprachen über wichtige Angelegenheiten: von einem Damm, der irgendwo in der Nähe weggerissen worden war; daß man morgen früh zur Stadt fahren müsse, um dort für den Gutsherrn und für sich verschiedenes Notwendige einzukaufen; von der Mähre, einem alten, ziemlich blinden Tier von bald dreißig Jahren, das vor ihnen im grünen Grase lag und sich – um Vergebung – dehnte, wälzte und die alten, kranken Glieder grade streckte, und von anderen wichtigen Wirtschaftsdingen. Die jüngeren Kinder tollten umher und waren sehr beschäftigt: Die einen standen auf der Brücke neben der Mühle und sahen zu, wie das Wasser durch die offenen Schleusenluken lief und in einem Stück, wie eine Scheibe Glas, heftig und rauschend tief hinunterstürzte, in tausend kleine Spritzer zerschellend, die in der Sonne vielfarbig, wie Brillanten, funkelten. Die andern stellten Schüsseln an Birkenstämme, die aus Einschnitten, die man ihnen gemacht hatte, einen schmackhaften, klaren Saft gaben. Alle waren fröhlich und sahen feiertäglich aus. Zuzik, ein dickbäuchiger Hund mit kurzen Füßen und schwarzen Flecken auf dem schmutzig-weißen Fell, war auch froher Stimmung, er fühlte auch, daß Festtag war. Er hatte heute recht nette Reste unter den Tisch gekriegt und hatte was an Knochen gehabt. Er hob den Schwanz, tanzte, sprang wie toll herum und winselte dabei mit merkwürdigen Hundetönen.

Auf einem freien, grünen Platz im Walde hinter dem Hause saß die Frau Chunes, eine schöne alte, und ihre Tochter, eine junge Frau von einigen und zwanzig Jahren, auf dem Stamm einer großen gefallenen Fichte. Ihr gegenüber saßen andere Kinder auf dem Grase, ein schönes blondes Mädchen mit krausen Locken von fünfzehn Jahren und ein um einige Jahre jüngerer Knabe. Ihr Gesicht und ihr Aussehn waren ganz anders als bei denen dort vor dem Hause. Es war, als seien sie ganz verschiedene Menschen: Die dort waren heiter und feiertäglich, die hier waren in trüben Sorgen und saßen da wie bei den Tischebuww-Kinnes. Mutter und Tochter sahen beide aufgeregt aus. Beide hatten viel auf dem Herzen und unterdrückten jedes Wort. Die eine wartete, daß die andere zu sprechen beginne.

»Nun, Leje«, sagte endlich die Mutter nach langem Schweigen, so, als spräche sie zur Luft. »So hätten wir, Gott sei gepriesen, den Jontew also auch schon hinter uns. Nun, und danach, Leje?«

»Danach kommen Leiden. Die alten Leiden. Also, Mutter, morgen fahre ich.«

»Wenn du noch ein paar Tage unser Gast bleiben würdest, Leje – was würd' es dir schaden?« fragte die Mutter, während sich ihre Augen mit Tränen füllten.

»Ich kann nicht, ich kann nicht«, antwortete Leje und machte eine Bewegung mit der Hand.

»Sie kann nicht«, sagte die Mutter und ihre Tränen strömten. »Es ist ihr bei der Mutter so schwer und unangenehm zumute!«

»Mutter, du siehst ja, daß ich zu dir gekommen bin.«

»Gekommen, sagt sie. Ja, du bist gekommen, ich danke dir. Aber. Das Herz der Mutter fühlt es – es fühlt, daß der Tochter das Herz schwer ist. Sie weilt hier wie auf Nadeln. Sie schweigt, aber ihre Augen sprechen, jeder Blick ist ein Stich, jede Miene voll Ärger und gallenbitter. Um Gottes willen, ich kann's nicht ertragen, es greift mir an die Seele.«

»Mutter!«

»Unglückliche Mutter! Was hätte die elende Mutter tun sollen, wie hätt' sie es besser machen können? Ich hätte mich hinlegen und sterben, vor Hunger umkommen können – den Feinden Zions! –, und was wäre aus den kleinen Würmern geworden?«

»Nun, und jetzt? Was wird denn jetzt aus ihnen werden?« sagte Leje und seufzte aus tiefem Herzen.

»Jetzt? Wie es auch sein mag – Ejdel ist verlobt und Duwwidel –«

»Ein Knochen im Hals, ein Dorn in den Augen ist er allen. Ejdel ist verlobt, ach, wie nett! Es ist ja ein Jammer das zu hören. Ejdele, was hast du?!« sprang Leje schnell zur Schwester, über deren Gesicht plötzlich ein Zucken gegangen und die wachsbleich geworden war. »Ist dir nicht gut, tut dir etwas weh? Ist es wieder im Herzen?«

»Ach, nichts, Leje, es ist nicht schlimm. Es war bloß so ein Stich.«

»Geh, Herzerl«, sagte die Mutter, »geh ins Haus und leg dich nieder. Geh mit ihr, Duwwidel, und deck sie mit dem Tuch gut zu.«

Die beiden Kinder standen auf und gingen traurig mit gesenkten Köpfen weg.

»Schöne Ergebnisse! Ejdel ist verlobt, ja, das arme Mädel, verlobt, eine unselige Braut«, sagte Leje kummervoll und schüttelte den Kopf. »Eine junge Rose, die kaum zu blühen begonnen hat und schon verwelkt ist.«

»Leje, ich halte es nicht aus! Mein Herz ist voller Wunden und du reißt sie noch weiter. Ach, ach, was habe ich Schuld, was hätte ich tun können? Um Gottes willen, hab' Mitleid, hab' Erbarmen!«

»Nicht doch, nicht doch, Mutti! Komm, wir wollen lieber nachsehen, wo Schloime eigentlich steckt. Wohin verschwindet er denn jetzt so oft?«

»Ich weiß es nicht – wüßte ich so wenig vom Unglück! Er hat diesen Winter, den er hier bei mir war, mit ›Lernen‹ verbracht. Er stand vor dem Morgengrauen auf, um für sich Gemure zu lernen, und am Tage lernte er mit den Kindern. Ich war glücklich über ein solches Kind. Wenn ich ihn ansah, war mein Herz froh. Aber in der letzten Zeit ist er wie verändert. Die Gemure liegt im Winkel, er ist immer in Gedanken versunken, schreibt und treibt irgendwas, was, weiß ich nicht – möge ich ebenso wenig von Leid wissen! Und seit es warm geworden ist und es überall zu wachsen und zu sprießen angefangen hat, irrt er immer ganz allein im Wald umher, immer erregt und heiß. Kannst du dir etwas vorstellen? Es würde ein einziges Mittel geben: Heiraten. Er scheint aber ein großer Pechvogel zu sein.«

»Woran siehst du das, Mutter?«

»Es ist schrecklich, daß man es sagen muß. Drei Mädchen, eine nach der andern, trug man mir für ihn an. Ich reiste, um sie zu sehen. Und was war das Ende? Die eine war einäugig, die zweite hatte eine zerquetschte Nase und die dritte hinkte so ein wenig. Sein Schicksal scheint schon so zu sein. Mit dem Heiraten geht es also nicht – was denn? Wieder auf die Jeschiwe zu gehen, sich ans Lernen zu setzen, davon will er nichts hören. ›Laß mich in Frieden‹ sagt er, ›mit deiner Jeschiwe, mit deinem Praktischen! Ich habe genug gelitten und ›Tage gegessen‹, habe genug die Bank gewetzt und mich herumgetan. Soll ich mich dort so lange herumtun, bis ich abgetan und Schund geworden bin? Pfui! Es gibt bei uns auch ohne mich genug Schund, der abgetan ist.‹ Ist das eine Sprache für den Buben, für einen siebzehnjährigen Menschen! Hast du so was schon gehört? Ich rede von Jeschiwe und er kommt mir mit Schund! . . . Still, da kommt er, er ist allein, vielleicht versuchst du, bist ja seine Schwester, dich mit ihm ein wenig zu unterhalten.«

Ein Jüngling mit schwarzen, krausen Haaren, hoher Stirn und brennenden Augen kam aus dem Wald hervor. Er las im Gehen ein Buch und war so vertieft, daß er nichts um sich beachtete.

»Warum bist du denn so in Gedanken, Schloime?« fragte ihn die Schwester lächelnd und hielt ihn an.

»Ah, Leje«, kam Schloime zu sich, blickte aber gleich wieder ins Buch zurück.

»Du bist ja irgendwo in der Ferne, bist ja gar nicht auf dieser Welt«, sagte Leje und legte die Hand auf sein Buch. »Was gibt es denn eigentlich dort, sag', bitte?«

»Dort gibt es das nicht, was es hier gibt«, erwiderte Schloime und sah die Schwester an. »Hier gibt es Leid . . .«

»Der Jontew ist vorüber, Schloime«, sagte Leje mit Tränen in den Augen. »Morgen fahre ich; was es zu sprechen gibt, wollen wir heute sprechen. Komm!«

Die Mutter ging mit einer Ausrede ins Haus und ließ die Kinder allein. Die Geschwister spazierten, in ein sehr eingehendes, anscheinend sehr wenig vergnügliches Gespräch vertieft, auf und ab.

Inzwischen kam die Nacht herab. Stiller und immer stiller wurden die Geräusche ringsumher. Die Sterne flackerten am Himmel auf, einer nach dem andern. Wald und Feld schwiegen, alles ruhte, vom milden und warmen Frühlingswind gestreichelt und eingewiegt. Die Nachtigall sang ihnen ein schönes Lied, Frösche quakten und erzählten ihre alten Geschichten – und Gottes Geschöpfe schliefen ein. Im Schatten der Bäume und des Schilfs schlief auch der nebelbedeckte Fluß. Er war ganz still, nur hie und da sprang von unten ein Fisch empor und versetzte ihm einen Schlag.

Drüben bei Chune Mühldorfer aber war jetzt die ganze Familie wach – das Pejssechfest wurde aus dem Hause geschafft. Dieses Hinausschaffen des Festes mit allen seinen Siebensachen macht die jüdische Seele melancholisch. Ach, mein Gott, wie wunderbar ist doch der parewe Topf für Pejssech, der große, bauchige Beutel, die Spülschüsseln, Flaschen und Gläser! Ein Glas, das an allen Abenden des ganzen Jahres einfach ein Gefäß ist – am Pejssechabend ist es ein Pokal. Es funkelt, es hat Sprache erhalten, es erinnert manchmal auch an alte Zeiten, die es erlebt hat, und Enkel hören den Gruß der Ahnen. Der Übergang vom Festtag zum Werktag fällt überhaupt schwer aufs jüdische Gefühl, aber ganz besonders trüb ist die Stimmung des Juden, wenn er sich vom Pejssechfest verabschiedet – die Herrenzeit ist vorüber und er muß wieder unters Joch!

Am nächsten Morgen fuhr ein Wagen aus Mühldorf weg, höchstpersönlich von der alten Mähre gezogen, die gestern – um Vergebung – sich dehnend im Gras gelegen und sich frank und frei herumgewälzt hatte. Oben im Wagen saß Leje in einem großen Kissen auf Paketen. Einer der Söhne Chunes saß auf dem Kutschbock und hatte eine Peitsche in der Hand, nicht etwa aus irgend einem Anlaß und um, behüte, gar die arme alte Mähre zu beleidigen – sie war beinahe doppelt so alt wie er und hatte schon seinen seligen Großvater gezogen –, sondern bloß, weil es sich eben gehört. Sie ging gelassen ihres Weges, trabte hübsch fein, wie es ihr paßte, und Zuzik, der Hund, ließ als treuer Gefährte nicht von ihr: Bald trieb er sich vor ihr herum und kam ihr zwischen die Beine, bald wieder sprang er ihr an den Hals und kläffte ihr hangend die Ohren voll, dann wieder jagte er plötzlich Hals über Kopf davon, schnitt ganz in der Ferne den Weg ab, stellte sich hin und erwartete sie mit heraushängender Zunge und fliegenden Flanken. Unter solchem Spielen und Springen fuhr der Wagen nach einigen Stunden auf dem Marktplatz Armleutens vor.


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