Mendele Moicher Sforim
Schloimale
Mendele Moicher Sforim

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Sechzehntes Kapitel

Der Winter, von dem hier die Rede ist, war für Reb Chajem sehr schwer geworden. Das sah man ihm schon am Gesicht an. Reb Chajem war immer ein ernster Mensch gewesen, nachdenklich und zurückgezogen und sprach wenig im Hause. Jeder hatte Respekt, wenn er nur von ihm angesehen wurde. So groß der Lärm manchmal unter den Kindern im Zimmer auch sein mochte, so wurde es doch sofort still, wenn er sich nur an der Tür zeigte, und keines muckste sich mehr. Das war aber nicht darum, weil er wie andere strenge Väter die ganze Familie in Furcht und Respekt versetzte. Ernst war sein Gesicht, aber fast niemals böse. Die Falten auf seiner hohen, schönen Stirn zeigten, wie er in seine Gedanken vertieft war. Seine Augen blitzten – weil er einen feurigen Geist besaß, nicht weil sein Blick verbrennen und vernichten wollte. Im Gegenteil, er war im Herzen zu gut, die Stille bei seiner Anwesenheit im Zimmer schmerzte ihn. Wenn jemandem in der Familie etwas weh tat, so krampfte sich sein Herz zusammen; wenn einem etwas abging, wollte sein Herz brechen. Alle kannten sein Wesen und achteten ihn und gehorchten ihm voll Liebe und Ehrfurcht. Die Leitung des Hauses lag ganz in den Händen seiner Frau. Reb Chajem gab bloß das Nötige und wollte sonst von nichts wissen. Er kümmerte sich nur um seine Geschäfte, um die öffentlichen Angelegenheiten und um die bestimmten Stunden, die er der Thora widmete.

Aber in diesem Winter hatte sich Reb Chajem sehr verändert. Statt ruhiger Nachdenklichkeit lagen Zorn und Ärger auf seinem Gesicht, und wenn er nach seiner Art mit den Händen auf dem Rücken im Zimmer auf und ab ging, geschah das nicht mehr mit kurzen, dichten Schritten, sondern er blieb jeden Augenblick stehen, kniff die Lippen zusammen, biß sie mit den Zähnen, blickte böse und stier vor sich hin und zerrte an seinem Bart, in dem sich plötzlich viel graue Haare zeigten. Er war vor der Zeit gealtert. Er war erst zwei- oder dreiundvierzig Jahre alt.

Die Fleischsteuer war es, die ihn alt machte.

Als die Leute zu verarmen begannen, fing auch sie an, schlecht zu gehen. Man aß jetzt weniger Fleisch. Und außerdem führten manche auswärtiges, das heißt vom Land in die Stadt geschmuggeltes Fleisch ein, das einem die Steuer ersparte und noch billiger war. Der Bann, der wie üblich auf auswärtigem Fleisch lag, half nichts. Not bricht Eisen, sagt man, geschweige denn einen Bann. Armut und Hunger sind kein Spaß und die Fleischsteuer stammt nicht vom Sinai. Und die Aufseher, die nach solchem Fleisch zu suchen und fahnden und es zu konfiszieren hatten, halfen auch nicht viel. Es gab nur Lärm, Widerrede, Unzufriedenheit, Flüche, Tränen und es zog Reb Chajem Haß, Wut und Herzeleid zu.

Aber die Sache hielt sich doch noch halbwegs, da man vor Reb Chajem Respekt hatte. Aber als es sich nach einer Weile herausstellte, daß er seine Pachtrate nicht mehr zahlte, die Kaution verloren und auch noch fremdes Geld eingebüßt hatte, öffnete freches Volk in der Stadt, das ihn haßte, den Mund und schrie und schimpfte sehr laut.

Reb Chajem mit seinem scharfen Verstande hätte alle möglichen Wege gesucht, um aus der Klemme herauszukommen und die schlechten Zeiten zu überstehen. Aber so klug er war, so stolz war er auch und konnte das Gerede der Leute nicht ertragen. Wie, diese Menschlein, die früher vor seinem Blick gezittert, die nicht das Glück gehabt hatten, mit ihm auch nur zu sprechen, die wollten jetzt die Stirne haben, den Mund gegen ihn aufzutun! Nein, es war unmöglich, das zu ertragen! Er nahm sich's sehr zu Herzen, büßte seine Gesundheit und seinen Mut ein.

Außerdem hatte Reb Chajem noch eine innere Wunde, die ihm viel Schmerz bereitete. Das war seine Tochter Leje. Leje war sehr begabt, sie war tüchtig und klug und hatte einen festen Charakter. Nach der Mutter war sie die Lenkerin und Leiterin im Hause und alle gehorchten ihr. Reb Chajem hatte sie gut verheiratet, wie es sich ihm ziemte. Der Mann war aus einer guten Familie von auswärts, und er hatte sie zu Kest bei sich. Der junge Mann war ein recht feiner Mensch, führte ein ordentliches Leben und war bei jedermann im Hause beliebt. Reb Chajem widmete täglich einige Stunden, um mit ihm und einigen andern Schwiegersöhnen aus Bürgerhäusern Thora zu lernen. Darunter befanden sich welche aus größern Städten, was in ihrer Kleidung und ihrem Gebaren zu erkennen war. Diese Gesellschaft hielt sich zusammen und führte sich so merkwürdig auf, daß man sie in der Stadt scheel ansah und munkelte, sie wären ein wenig »neumodisch«.

Was man damals in Armleuten unter neumodisch verstand, würde heute sogar den »Altmodischen« alt und verschimmelt erscheinen. Aber wie dem auch sei, jedenfalls wurde gemunkelt. Daraus entstanden Redereien und Intrigen und Zank zwischen Schwiegervätern und Schwiegersöhnen, sowie zwischen Männern und Frauen, bis die Gesellschaft auseinanderfiel. Auch zwischen Reb Chajem und seinem Eidam bildete sich allmählich eine Verstimmung und Spannung heraus. Für die anderen aber hieß es: Leje hat mit ihrem Mann zu tun. Die Eheleute leben nicht im Frieden miteinander. Es kam so weit, daß man den jungen Mann wieder zu seinen Eltern schickte und daß Leje noch im selben Winter den Scheidebrief nahm. Leje mit ihrem festen Charakter schien es ruhig zu ertragen. Aber Reb Chajem fühlte, daß in ihrem Innern eine Wunde war, daß ihr Herz schwer litt. Ihr Weh ließ ihn nicht ruhn und brach ihm das Herz, da er an der Tochter schuldig zu sein glaubte und sie innig liebte. Wäre Leje nur mit einem einzigen Wort zu ihm gekommen, dann hätte er sie liebreich getröstet und es wäre ihm vielleicht leichter zu Mute geworden. Aber Leje schwieg – und dieses Schweigen war ihm zur Qual. Leje hatte große Ehrfurcht vor ihm, sie wäre für ihn durch Feuer und Wasser gegangen, sie blickte mit Liebe zu ihm auf – und eben das war der Stachel in seiner Wunde. Reb Chajem sah vor Leid sehr schlecht aus. Frau und Kindern wollte das Herz brechen, wenn sie ihn ansahen. Sie fühlten, daß ihr einziger Halt wankte, daß bloß noch ein paar Wogen des Leidozeans zu kommen brauchten, um ihn umzustürzen und daß sie dann alle in den tiefen Abgrund stürzen würden.

Sehr schwer war dieser Winter für Reb Chajem, sehr, sehr schwer.

Am Pirem-Abend beim Festmahl saß Reb Chajem mit den Seinen am Tisch. Er hatte sich ermannt und Mut gefaßt, um ein fröhliches Gesicht zu zeigen und alles zu erfüllen, so wie er es jedes Jahr zu tun pflegte. Neben ihm lag ein Beutel mit Kleingeld für milde Gaben. Arme Leute kamen herein und Reb Chajem gab mit freundlichem Gesicht und gutem Wort. Bürgerkinder kamen mit Tüchlein und veranstalteten verschwiegene Sammlungen. Die einen taten es für eine unglückliche verarmte Familie, die im geheimen litt, die andern für einen armen Mann aus bester Familie, für eine elende Witwe mit armen, kleinen Würmlein – und Reb Chajem gab und wartete mit Pirem-Leckereien auf. Da kam die Gesellschaft der »Heiligen Beamten«: Schamußem, Musikanten, Badewärter, Hochzeitsspaßmacher, Totengräber, Pirem-Komödianten – und alle nahm Reb Chajem mit »Willkommen!« und einem Gläslein auf und gab ihnen was.

Ssure wieder war damit beschäftigt, das Schlachmunes in Empfang zu nehmen, das die Nachbarn und Bekannten durch Knaben, Mädchen, arme Jeschiwe-Jünger und Dienstmädchen schickten. Auf den zugedeckten Tellern lagen Fladen, Kaiserbrötlein, Hamans-Taschen, Möhnlein, Zuckerfischlein und Backwerk mit den Namen Waschtis, Seeresch' oder der Königin Ester in Zuckergußlettern oben drauf; um diese schönen und guten Dinge, von denen nur eins oder zwei auf einem Teller lagen, waren einige gedörrte Pflaumen oder ein paar Mandeln und Nüsse in schöner Ordnung aufgelegt; manchmal lag auf einem Teller bloß ein gewaschener Hering in Essig und Honig – der kam von einem, der in allem die Einfachheit liebte und sich um schönen Tand nicht kümmerte, sondern der überall hübsch bürgerlich was Solides haben mußte.

Und während Ssure den Bringern Botenlohn gab und den Absendern ihre Wünsche und Segnungen überbringen ließ, stürzten sich die Kinder auf die gebrachten Geschenke, betrachteten mit glänzenden Augen jedes Stücklein und ordneten sodann alles aufs Neue, um es andern Leuten wieder als Geschenke zu schicken. Der eine bekam statt seines Fladens eine Hamans-Tasche, der andere statt seiner Waschti eine Seeresch, der dritte statt seiner Mandeln eine Feige oder einen roten Apfel. Selbstverständlich waren die Meinungen darüber geteilt, es gab auch manchmal Streit, hin und wieder setzte es einen Puff und Knuff, aber was wollte das sagen, man schluckte es ruhig hinunter, denn wer machte sich in der Freude aus solchen Kleinigkeiten etwas?

Alles schien so wie in jedem Jahre zu sein und war doch anders. Die armen Leute waren zwar dieselben, die milden Gaben aber nicht mehr die früheren. Von den vielen Gästen, die sich immer zum Mahl einfanden, um sich's gut gehen zu lassen und die ganze Nacht in Lust und Tanz zu verbringen, waren heute grad nur ein paar arme Verwandte da. Reb Chajem sang »Die Rose Jakobs« und die Kinder begleiteten ihn, aber seine Stimme war nicht die gleiche wie einst. In seinem Gesang klang es wie ein Weinen einer zerwühlten, leidenden Seele, wie die Melodie der »Klagelieder«. »Die Rose Jakobs« war wie eine abgerissene Rose, die schön zu sein scheint, der die Farbe zu Gesicht steht – die aber im Innern keinen Saft und kein Leben hat und nur noch im Verlöschen atmet. Reb Chajem tat sich Gewalt an, kam in Feuer und wandte sich tröstend an die armen Verwandten: »Unbesorgt, Juden! Immer nur hoffen, nie den Mut verlieren! Wohl dem, der auf Gott vertraut! Er mag sich sorgen!« Aber diese Worte kamen nur von seinen Lippen. Die Sorge lag wie ein Blutegel tief eingefressen im Herzen Reb Chajems. Schmerz und Qual blickten ihm aus den bekümmerten Augen.

Ssure merkte es sehr wohl und ihr Herz wollte brechen. Sie ging in einen Winkel, als ob sie dort etwas zu tun hätte, legte die Hände vor das Gesicht und weinte in der Stille.

Leje fühlte dasselbe wie Ssure, sie wußte, warum ihre Mutter in den Winkel gegangen war, aber sie beherrschte ihr Gemüt und blieb am Tische sitzen. Sie blickte voll Erbarmen auf die Kinder und schob ihnen ein bißchen Zuckerwerk in die Hände, damit die armen Kleinen Freude hätten. Dafür aber wurde bei Nacht das Kissen auf ihrem Lager von ihren Tränen feucht.


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